KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung

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KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung
HUMBOLDT
Nr. 113 / 2021

                      KOSMOS    Forschung – Diplomatie – Internationalität

                    LISH
                 ENG ON:                                                          ZU DEN STERNEN
                    SI
                 VER SE                                                         Wie Blaualgen den Mars
                      A
                  PLE VER                                                           bewohnbar machen
                     NO
                 TUR
                                                                                  AUF DEM BODEN
                                                                                 Wie Psychologie gegen
                                                                             invasive Ameisenarten hilft

                         Wissenschaft
                        kommunizieren
                            Zwischen Preprint und Shitstorm: Wege
                                 aus der Verständigungskrise
KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung
HUMBOLDTIANER*INNEN PERSÖNLICH

                  KEINE SCHEU
                  Beim Shape Note Singing ist
                  musikalische Vorbildung
                  nicht wichtig. Es zählen Spaß
                  und Engagement.

                        AUS VOLLEM HERZEN
               Das Bild zeigt mich bei einem Shape Note Singing-Treffen        Irland gegangen bin, habe ich dort einen Kurs dazu an der
               in München – vor Corona, als gemeinsames Singen noch            Uni angeboten – ein großer Erfolg. In Irland ist eine rich-
               selbstverständlich war. Shape Note Singing ist eine Tradi-      tige Bewegung entstanden. Wir haben uns überall zum
               tion, die vor allem in den Südstaaten der USA verbreitet        Singen versammelt, selbst in Pubs. Wir Shape Note Singers
               ist. Sie geht zurück auf das Liederbuch „The Sacred Harp“       treffen uns für ganze Tage oder Wochenenden zu Conven-
               von 1844. Die Notenköpfe darin sind als Dreiecke, Qua-          tions, manchmal mit mehr als 100 Menschen. Das geht in
               drate, Kreise oder Rauten dargestellt. Das soll es einfa-       der Coronapandemie natürlich nicht. Wo möglich singen
               cher machen, vom Blatt zu singen, auch ohne musikalische        wir in kleineren Gruppen draußen. Gemeinsames Online-
               Vorbildung. Für mich ein sehr egalitärer Ansatz: Es geht        singen probieren wir auch, das ist allerdings schwierig, da
               nicht darum, perfekte Konzerte zu geben, sondern um die         es minimale Zeitverzögerungen gibt. Manchmal singt eine
               Freude am gemeinsamen Singen aus vollem Herzen. Da              Person vor, die anderen schalten sich stumm und singen
               gehört es dazu, dass wir uns – statt zum Publikum – ein-        mit. Das ist nicht optimal, aber besser als nichts!
               ander zugewandt im Quadrat nach den Stimmlagen So­-                 In meiner Forschung beschäftige ich mich auch mit den
               pran, Alt, Tenor und Bass aufstellen.                           sozialen und kulturellen Faktoren, die Kreativität beein-
                   Ich bin Ethnomusikologin. Musik hilft mir, Gesell-          flussen. Beim Shape Note Singing beobachte ich immer
               schaften und menschliche Erfahrungen besser zu verste-          wieder: Es ist wichtiger mit voller Stimme zu singen, als
               hen: Der Blick durch das musikalische Fenster gibt mir ein      jeden Ton zu treffen. So verschwindet die Angst, es zählt
               tieferes Verständnis, wie die betroffenen Menschen globale      die Freude am Singen und man wird freier, sich selbst aus-
               Phänomene wie etwa den Klimawandel, Migration oder              zudrücken. Genau darin liegt für mich ein Schlüssel zur
               politische Unruhen erleben. Und ich bin überzeugt, dass         Kreativität.           Aufgezeichnet von TERESA HAVLICEK
               wir Musiktraditionen anderer Kulturen nur erfassen kön-
               nen, wenn wir sie selbst erfahren. Als ich 2017 als Professo-
               rin nach Würzburg gekommen bin, habe ich deshalb einen                   PROFESSORIN DR. JUNIPER LYNN HILL aus
               Studiengang mit Praxisteil entwickelt. Shape Note Singing                den USA hat den Lehrstuhl für Ethnomusiko­
               war der erste Kurs, den ich dafür organisiert habe. Es gibt              logie der Universität Würzburg inne. 2007/2008
               auch Kurse über afrikanische und arabische Musik, sogar                  war sie Humboldt-Forschungsstipendiatin in
               fränkische Volksmusik war schon dabei.                                   Bamberg. Im Mai 2021 wurde sie als Scout für
Foto: privat

                   Ich selbst habe das Shape Note Singing in meiner Stu­                das Henriette Herz-Scouting-Programm der
               dienzeit in den USA kennengelernt. Als ich dann 2009 nach                Humboldt-Stiftung ausgewählt.

                                                                HUMBOLDT KOSMOS 113/2021                                                     3
KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung
EDITORIAL                                                                INHALT
Foto: Henning Mack

                     Liebe Leserinnen und Leser,

                     bei der Wissenschaftskommunikation ist es ein

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   Christiane Heinicke, Illustration: Martin Rümmele
                     wenig wie bei einer Achterbahnfahrt: Freude

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   Fotos: Humboldt-Stiftung / Julian Maehrlein,
                     und Schrecken liegen dicht beieinander.
                         Einerseits ist während der Pandemie die viel

                                                                                                                  06                                                         12                                                                                      28
                     beschworene Scientific Literacy, das allgemeine
                     Grundverständnis für Wissenschaft, zweifelsfrei
                     gestiegen. Machen Sie den Supermarkttest und
                     sprechen Sie am Kühlregal eine beliebige Person
                     auf Covid-19 an. Mit einiger Wahrscheinlichkeit
                     werden Sie mit einem kundigen Fachreferat über
                     Aerosole, mRNA-Impfstoffe und die Tücken der
                     jüngsten Virusmutation belohnt.
                         Anderseits könnten Sie bei diesem Versuch
                     auch auf einen vehementen Gegner von Imp-                                                                                              SCHWERPUNKT
                     fungen treffen, der über staatliche Bevormun-
                     dung schimpft und Ihnen vielleicht sogar über                            03      HUMBOLDTIANER*INNEN PERSÖNLICH                12	
                                                                                                                                                       Das heiße Thema                                                                        24           DEUTSCHLAND IM BLICK
                     ein Komplott erzählt, in dessen Hintergrund                                      Aus vollem Herzen                                Warum gute Wissenschaftskommunikation schwierig ist                                                 Der Kommunikationsboom
                     Bill Gates die Fäden zieht.
                         Zwischen diesen Polen bewegt sich die Wis-                           06 NACHGEFRAGT                                        21 Kurzatmige Wissenschaft                                                                28           FORSCHUNG HAUTNAH
                     senschaftskommunikation. Sie ist ungleich                                	Was Forscher*innen antreibt und woran               	Gastkommentar: Was die Forschung jetzt ändern muss                                                   Der Marsianer
                     schwieriger geworden, seit das Verbreiten von                               sie arbeiten
                     Falschnachrichten in Teilen von Medien und                                                                                     22 „Man kann es nicht kalkulieren“                                                        32           NACHRICHTEN
                     Politik zugenommen hat und Filterblasen in                                                                                     	Interview: Kommunikationswissenschaftler Hektor
                     sozialen Medien Verschwörungstheorien und                                                                                         Haarkötter über Strategien gegen Shitstorms                                            34           GESICHTER AUS DER STIFTUNG
                     Aggression auf ein neues Niveau gebracht                                                                                                                                                                                              Wer hinter den Kulissen dafür sorgt,
                     haben. Hinzukommen die Krise traditioneller                                                                                                                                                                                           dass alles läuft
                     Medien und hausgemachte Probleme der Wis-
                     senschaft wie voreilige Veröffentlichungen von
                     Studien.
                         Mehr über diese Herausforderungen, wie
                     Wissenschaftler*innen mit ihnen umgehen und                              TITELILLUSTRATION   Martin Rümmele / Raufeld Medien   IMPRESSUM HUMBOLDT KOSMOS 113

                     wie gute Wissenschaftskommunikation trotzdem
                                                                                                                                                    HERAUSGEBERIN Alexander von Humboldt-Stiftung   PRODUKTION & GRAFIK Raufeld Medien GmbH                     DRUCK Bonifatius GmbH, Paderborn
                     gelingen kann, lesen Sie in dieser Ausgabe.                                                                                    CHEFREDAKTION Georg Scholl (verantwortlich),    Nina Koch (Projektleitung),                                 REDAKTIONSANSCHRIFT
                                                                                                                                                    Teresa Havlicek                                 Daniel Krüger (Kreativdirektion), Karo Rigaud               Alexander von Humboldt-Stiftung
                                                                                                                                                    REDAKTION Nina Hafeneger, Ulla Hecken,          (Kreativdirektion), Carolin Kastner ­(Art­direktion)        Redaktion Humboldt Kosmos
                     GEORG SCHOLL
                                                                                                                                                    Lisa Purzitza                                   ERSCHEINUNGSWEISE 2 × jährlich                              Jean-Paul-Straße 12, 53173 Bonn, Deutschland
                     Chefredakteur                                                                                                                  ÜBERSETZUNGEN INS ENGLISCHE                     AUFLAGE DIESER AUSGABE 44 000                               presse@avh.de, www.humboldt-foundation.de
                                                                                                                                                    Dr. Lynda Lich-Knight                                                                                       ISSN 0344-0354

                     4                                                  HUMBOLDT KOSMOS 113/2021                                                                                                                HUMBOLDT KOSMOS 113/2021                                                                       5
KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung
NACHGEFRAGT

                                                                                                   FRAU PINILLA,
                                                                                                   WIE ENTSTEHEN
                                                                                                   AUS STAUB
                                                                                                   PLANETEN?
                                                                                                   Um Sterne, Staub und Babyplaneten kreist die Arbeit der Astrophy­
                                                                                                   sikerin Paola Pinilla. Mithilfe irdischer Hochleistungsteleskope ist
                                                                                                   sie regelmäßig im kosmischen Kreißsaal unterwegs. Pinilla beob­
                                                                                                   achtet protoplanetare Scheiben, die um junge Sterne rotieren.
                                                                                                   In den Scheiben sammeln sich Gas und Staub, die bei der Sternen­
                                                                                                   geburt übrig geblieben sind – und aus denen wiederum neue Plane­
                                                                                                   ten entstehen.
                                                                                                       Die Staubpartikel in diesen Scheiben sind mikroskopisch klein und
                                                                                                   bestehen aus Mineralien. Sie sind an wasserstoffhaltiges Gas gekop-
                                                                                                   pelt, mit dessen Hilfe sie sich innerhalb der Scheiben bewegen. Dabei
                                                                                                   kommt es zu Kollisionen, die Partikel haften aneinander, sammeln
                                                                                                   weitere Staubteilchen ein, werden größer und durch die Zusammen-
                                                                                                   stöße kompakter. So entstehen schließlich kieselsteinähnliche Gebilde,
                                                                                                   die sogenannten Planetesimale, Vorläufer und Bausteine neuer Plane-
                                                                                                   ten. „Wir wollen vollständig erklären können, unter welchen physika-
                                                                                                   lischen Bedingungen neue Planeten geboren werden und welche Fak-
                                                                                                   toren ihre Diversität beeinflussen“, umschreibt Paola Pinilla ihre
                                                                                                   Forschung, in der sie ihre Beobachtungsdaten mit Modellrechnungen
                                                                                                   kombiniert.
                                                                                                       Da Gas meist unsichtbar ist, ist es schwer zu beobachten. Daher
                                                                                                   setzt sie numerische und dynamische Simulationen des Gases ein, um
                                                                                                   die Bedingungen und physikalischen Prozesse innerhalb einer pro-
                                                                                                   toplanetaren Scheibe zu untersuchen. Dabei spielen Faktoren wie der
                                                                                                   Drehimpuls im Scheibeninneren, magnetische Felder, die geringe
                                                                                                   Schwerkraft oder die Kollisionsgeschwindigkeit der Partikel eine Rolle.
                                                                                                   Paola Pinilla geht davon aus, dass die nächsten fünf bis zehn Jahre
Foto: Humboldt-Stiftung / David Spaeth

                                                                                                   revolutionäre Beobachtungen neuer Planeten bringen werden, die sie
                                                                                                   auch ihrem persönlichen Ziel näher bringen werden: zu verstehen,
                                                                                                   wie einst aus Staub unser Sonnensystem entstanden ist, samt unserer
                                                                                                   Erde.                                           Text ESTHER SAMBALE

                                                                                                   DOKTORIN PAOLA PINILLA leitet als Sofja Kovalevskaja-Preis­
                                                                                                   trägerin am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg die
                                                                                                   Forschungsgruppe „The Genesis of Planets“.

                                         6                 HUMBOLDT KOSMOS 113/2021   HUMBOLDT KOSMOS 113/2021                                                          7
KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung
NACHGEFRAGT

        HERR CZACZKES,
        WIE WOLLEN SIE
        INVASIVE AMEISEN
        ÜBERLISTEN?

                                                                                                                                                                                                                                                FRAU ACKERMANN,
                                                                                                                                                                                                                                                WIE MACHEN SIE

                                                                                                                                                                                               Foto: Humboldt-Stiftung / Nikolaus Brade
                                                                                                                                                      Foto: Humboldt-Stiftung / David Spaeth
                                                                                                                                                                                                                                                BERUFSMUSIKER*INNEN
                                                                                                                                                                                                                                                WIEDER FIT?

Sie fahren auf Schiffen oder im LKW quer über den Globus mit, ver­        Die einzige Abhilfe gegen invasive Ameisen sei letztlich, sie wieder los-                                                                                       Plötzlich krampfen die Finger oder Gesichtsmuskeln beim Musizie­        An der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover arbei-
steckt in der Erde eines Blumentopfes oder einer Kiste voll Obst. Die     zuwerden, erklärt Czaczkes. Er stellte fest: Finden Ameisen Futter mit                                                                                          ren und machen nicht mehr das, wozu sie zuvor schon tausende Male       tet sie gemeinsam mit dem Neurologen Eckart Altenmüller an einer
Ausbreitung invasiver Ameisenarten lässt sich kaum verhindern. In         geringerem Zuckergehalt vor als erwartet, hören sie auf zu fressen und                                                                                          in der Lage waren. Dystonie ist eine neurologische Störung, die sich    Studie und behandelt zurzeit 40 Musiker*innen: Durch gezieltes Üben
fremden Ökosystemen können sie aber großen Schaden anrichten,             setzen weniger oder keine Pheromone ab, mit denen sie ihre Artgenos-                                                                                            meist in Muskelverkrampfungen äußert und zu unkontrollierbaren          von Bewegungen sollen Abläufe im Gehirn neu programmiert werden,
weil heimische Tierarten nicht gelernt haben, sich zu schützen.           sen anlocken können. Finden sie aber Futter mit unerwartet hohem                                                                                                Bewegungen führt. Ein Phänomen, über das man wenig weiß, außer          die dort gespeichert, aber blockiert sind. „Dafür zerlegen wir die Bewe-
   Der Verhaltensbiologe Tomer Czaczkes erforscht, wie Argentinische      Zuckergehalt, setzen sie ihren Duftstoff besonders stark ab. „Ameisen                                                                                           dass es schon viele Karrieren beendet hat.                              gungsabläufe in ihre Einzelteile und lernen sie von Grund auf neu“,
Ameisen Entscheidungen treffen. Er möchte herausfinden, ob und wie        können offenbar ebenso wie Menschen Enthusiasmus und Frustration                                                                                                   „Für Berufsmusiker*innen ist Dystonie absolut verheerend”, sagt      erklärt Ackermann. Bisher dauert eine Dystonie-Behandlung oft
man invasive Ameisen durch Erwartungsmanagement überlisten kann.          empfinden“, sagt Czaczkes. „Ich will herausfinden, ob man solche psy-                                                                                           die australische Musikmedizinerin und Physiotherapeutin Bronwen         ­mehrere Jahre. Mit Ackermanns Therapieansatz konnten einige
Dazu bezieht er erstmals deren kognitive Fähigkeiten ein. „Beim Men-      chologischen Effekte bei der Bekämpfung invasiver Arten nutzen                                                                                                  Ackermann. „Oft am Höhepunkt der Karriere verweigert der Körper          Musiker*innen schon nach sechs Monaten wieder spielen.
schen gelingt es uns, ihn mit psychologischen Tricks dazu zu bringen,     kann.“                                          Text MARLENE HALSER                                                                                            den Dienst und man kann plötzlich nicht mehr spielen.” Etwa drei Pro-                                                   Text MARLENE HALSER
etwas zu kaufen, was er eigentlich nicht braucht”, sagt er. Ähnliche                                                                                                                                                                      zent aller Musiker*innen erkranken laut Ackermann daran, besonders
Mechanismen sucht er bei invasiven Ameisen, um sie beispielsweise dazu    DOKTOR TOMER CZACZKES kam 2013 als Humboldt-Forschungssti­                                                                                                      häufig Violinist*innen oder Flötenspieler*innen, die extrem übungs-     PROFESSORIN DR. BRONWEN JANE ACKERMANN von der Uni­
zu bringen, mit Gift präpariertes Futter in den Bau zur Königin zu tra-   pendiat an die Universität Regensburg, wo er heute als Gewinner eines                                                                                           intensive Instrumente spielen, die ein hohes Maß an Schnelligkeit und   versity of Sydney, Australien, ist Humboldt-Forschungsstipendiatin
gen, statt es liegen zu lassen.                                           ERC Starting Grants 2020 eine Nachwuchsforschungsgruppe leitet.                                                                                                 Präzision erfordern.                                                    an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover.

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KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung
NACHGEFRAGT

                                                                                                                                                                                                                                                   FRAU PAZ,
                                                                                                                                                                                                                                                   WIE HÄLT ES
                                                                                                                                                                                                                                                   DAS RECHT
                                                                                                                                                                                                                                                   MIT DEM ANTI­
                                                                                                                                                                                                                                                   SEMITISMUS?

       FRAU MOLEFE, WARUM SOLLTEN

                                                                                                                                                    Foto: Humboldt-Stiftung / Julian Maehrlein

                                                                                                                                                                                                 Foto: Humboldt-Stiftung / Nikolaus Brade
       WIR AUF FRAUEN HÖREN, UM DEN
       KLIMAWANDEL ZU BEKÄMPFEN?

Extreme Trockenheit und Dürre; wenn es regnet, dann so heftig,            stellen, dass Frauen Zugang zu Technologien, Wissen und Mikrofi-                                                                                                  Jüdische Menschen müssen in Deutschland immer wieder Anfein­              von Antisemitismus, erklärt Paz. Sie verweist auf ein Urteil des Amts-
dass es zu Überschwemmungen kommt – so äußert sich der Klima­             nanzierung erhalten.                                                                                                                                              dungen oder Übergriffe erleben. Politiker*innen versprechen, mit          gerichts Wuppertal, das den versuchten Brandanschlag auf die dortige
wandel in Botswana. Mit den Folgen sind dort im Alltag insbeson­              Molefe schlägt beispielsweise vor, dass Stellen in Regierungsminis-                                                                                           allen Mitteln des Rechtsstaates gegen den Antisemitismus vorzuge­         Synagoge 2014 nicht als antisemitisch motivierte Straftat ahndete. Das
dere Frauen konfrontiert, sagt die Umweltwissenschaftlerin und            terien geschlechtersensibel zugeteilt werden und vor allem Frauen auf                                                                                             hen. Aber verfügt das Recht überhaupt über adäquate Mittel, um            Gericht folgte der Erklärung der Täter, sie hätten die Aufmerksamkeit
Humangeografin Chandapiwa Molefe.                                         dem Land in die Formulierung einer künftigen Klimapolitik mit ein-                                                                                                Judenhass zu bekämpfen? Zu dieser Frage forscht die Rechtswissen­         auf den Gaza-Konflikt lenken wollen. Für Paz „ein Skandalurteil“. Sie
   In Botswana sind es zumeist Frauen, die als Kleinbäuerinnen Pflan-     bezogen werden. „Mit meiner Arbeit will ich die Frauen in Botswana                                                                                                schaftlerin Reut Y. Paz.                                                  fordert: „Wir müssen die Gesetze und die Rechtswissenschaft einer
zenbau betreiben. Obwohl der Klimawandel unmittelbar ihre Existen-        stärken, denn sie sind entscheidend, wenn wir die Folgen des Klima-                                                                                                  Sie vergleicht Fälle der Rechtsprechung aus Deutschland, Polen,        kritischen Revision unterziehen und herausarbeiten, wie das Recht
zen bedroht, stehen Frauen und ihre Perspektiven bislang kaum im          wandels aufhalten wollen“, betont Molefe. Vorschläge für konkrete Maß-                                                                                            dem Vereinigten Königreich, Israel und Frankreich: Wie begegnet das       sein Versprechen einlösen kann, den ‚ältesten Hass der Welt‘ wirkungs-
Fokus der Politik. Das will Molefe ändern. „Frauen sind das Rückgrat      nahmen wird sie nun erarbeiten, zunächst stehen jedoch die Analyse                                                                                                Recht Antisemitismus? Wo bekämpft es, wo ignoriert oder fördert es        voll zu bekämpfen.“                           Text MAREIKE ILSEMANN
unseres Landes“, sagt sie und zitiert ein afrikanisches Sprichwort:       der Situation vor Ort sowie Interviews mit Stakeholder*innen in Bots-                                                                                             ihn sogar? Gesetzeswerke werden durch die Diskurse der Zeit und die
„Mosadi ke thari ya Sechaba.“ Sie entwickelt Handlungsempfehlun-          wana an.                                         Text ESTHER SAMBALE                                                                                             Haltung der beteiligten Personen bestimmt, betont Paz. Dabei reagiert     DOKTORIN REUT Y. PAZ leitet an der Justus-Liebig-Universität
gen, die den politischen Entscheider*innen in Botswana künftig als                                                                                                                                                                          das Recht mit Zeitverzögerung auf historischen Wandel. Bis dahin          ­Gießen das Projekt „Antisemitismus aus der Perspektive des Rechts:
Leitfaden dienen sollen, um Geschlechterperspektiven in die Klima-        CHANDAPIWA MOLEFE ist als Internationale Klimaschutzstipen­diatin                                                                                                 sind die Gerichte gefragt, das Recht entsprechend zu interpretieren.      Verheißungen oder Unschärfen?“. 2010 bis 2012 war sie Humboldt-
anpassungsstrategien des Landes einzubeziehen. So will sie auch sicher-   zu Gast bei der internationalen Organisation PlanAdapt in Berlin.                                                                                                 Deutschland fehle bis heute eine für die Justiz verbindliche Definition   Forschungsstipendiatin an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung
SCHWERPUNKT

                                         Stammzellen lassen sich mit
                                         Zitronensäure umprogrammieren

     LABORUNFALL                         Heilung
     in russischem                       von
     Atomzentrum
     war Absicht!                        Krebs
     Soziologe veröffentlicht
     vorläufige Studie
                                         in Sicht?                                                                                                  DAS HEISSE
     Pleite-Alarm wegen Corona ++ Erste Hotels müssen schließen                                                                                     THEMA
     Forscher verbieten
     URLAUBSREISEN
                                                                                                                                                    Die Erde wird wärmer, das Virus grassiert und Wissenschaft soll mehr denn
                                                                                                                                                    je erklären und Lösungen anbieten. Wenn Zusammenhänge komplex, Antworten
                                                                                                                                                    unsicher und die Sorgen groß sind, ist gute Wissenschaftskommunikation
                                                                                                                                                    gefragt – und doch so schwierig. Woran das liegt und was helfen kann.

                                                                                                                                                    Text KILIAN KIRCHGESSNER

                                                                                                                                                    D
                                                       NICHTS ALS FAKE NEWS!
                                                                                                                                                                 ie Drohung kam in einem wattierten Umschlag.     fasste er lapidar in einem Satz zusammen, der legendär

                Aids
                Malariamittel
                                                       Das gilt für die ausgedachten Zeitungs-
                                                       headlines, Chatverläufe und Studientitel,                                                                 Ein kleines Plastikfläschchen steckte darin,     geworden ist: ,,Ich war das Stinktier beim Picknick.“
                                                       die diesen Beitrag illustrieren. Inspiriert                                                               dazu die maschinengeschriebene Botschaft             Für viele Wissenschaftler*innen ist es eine neue Erfah-
                                                       wurden sie überwiegend von echten Bei-                                                                    „trink das – dann wirst du immun“. Adressat      rung, dass ihnen Ablehnung so offen und aggressiv entge-

                      heilt
                                                       spielen. Wie gut Sie darin sind, zwischen
                                                                                                                                                    der Botschaft war Christian Drosten, jener Virologe von der   genschlägt. Mit Gegenargumenten umzugehen, vielleicht
                                                       ausgedacht und real zu unterscheiden,
                                                       können sie bei unserem Fake News-Quiz
                                                                                                                                                    Berliner Charité, der in Deutschland während der Corona-      auch mit Skepsis, das gehört zu ihrem Handwerkszeug.
                                                                                                     Illustrationen: Raufeld Medien / Karo Rigaud

                                                       auf unserer Website testen.                                                                  pandemie Politik und Öffentlichkeit berät und mit sei-        Aber pauschale Ablehnung, gar Morddrohungen? ,,Tech-
                                                                                                                                                    nen Mahnungen zum Symbol für einen vorsichtigen Kurs          nik und Wissenschaft greifen immer stärker in Bereiche
                                                                                                                                                    geworden ist. Drohungen und Hassbotschaften, so berich-       ein, die sehr lebensnah sind“, sagt Martin Carrier, Wis-
                                                                                                                                                    tete er, bekam er schon früh. Der amerikanische Immuno-       senschaftsphilosoph von der Universität Bielefeld: „Das
                                                                                                                                                    loge Anthony Fauci, der seit den 1980er Jahren Berater der    Higgs-Boson hat von der öffentlichen Meinung nicht viel
                                                                                                                                                    US-Präsidenten ist, stieß ebenfalls auf ablehnende Reak-      zu fürchten. Aber wenn es um das Klima geht, um Ernäh-
                                                                                                                                                    tionen. Seine Zusammenarbeit mit dem früheren US-Prä-         rung und Gesundheit, dann tritt die Wissenschaft vielen
                                                       www.humboldt-foundation.de/                                                                  sidenten Donald Trump, der seine Warnungen und Rat-           Leuten auf die Füße.“ Und je aufgeheizter eine gesellschaft-
                                                       das-heisse-thema                                                                             schläge zumeist ignorierte und ihn öffentlich anfeindete,     liche Diskussion ist, desto mehr Reaktionen bekommen ›

12                          HUMBOLDT KOSMOS 113/2021                                                                                                                                               HUMBOLDT KOSMOS 113/2021                                                      13
KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung
„
SCHWERPUNKT

                                                                                                                                         GRAFIK 1
       9                                    128 Kommentare
                                                                                                                                         Wie beurteilen Sie die Rolle von Wissenschaftskommunikation in Wissenschaft und Forschung?
                                                                                                                                         Wissenschaftskommunikation …
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                                                                                                                                         … ist Bestandteil des Jobs eines*r Wissenschaftler*in.

            Meuterin
                                                                         IN DEN STAATEN
            Achtung !                                                                                                                                                4 21                         49     24    2
            Covid-Impstoff soll DNA manipulieren.                        IST DER TON                                                     … hat einen positiven Einfluss auf eine Karriere in der Wissenschaft.
            Ziel: neue Rezeptoren für Psychophar-
                                                                         ENTSPANNTER
                                                                                                                                                                                                                                            stimme über­
            maka der vierten Generation. Merkel                                                                                                                                                                                             haupt nicht zu
            plant, dass Impfkommission Impfe für                                                                                                               9    28                      38     14          12
            Kinder ab 5 Jahren anordnet.
                                                                         ALS BEI UNS.“                                                   … bringt Wissenschaft und Forschung inhaltlich weiter.
                                                                                                                                                                                                                                            stimme eher
                                                                                                                                                                                                                                            nicht zu

                                                                                                                                                                                                                                            stimme
                                                                                                                                                           8   36                           37    14           4                            eher zu

                   QuerKopf                                                                                                              … dient vor allem der Werbung für wissenschaftliche Einrichtungen.
                   Klar und dann Gehirnwäsche unter                                                                                                                                                                                         stimme voll
                                                                                                                                                                                                                                            und ganz zu
                   Pillen. Unterrichte mein Kind ab so-
                   fort nur noch zuhause. Ungeimpft,                      nen unter Wissenschaftler*innen mitbekämen, das Hin-                            7 38                               39    12          4
                   aber schlau      . Passt auf euch                      terfragen und Überprüfen, dann schimpften viele gern, die                                                                                                         kann ich nicht
                                                                                                                                         … stellt Forschungsergebnisse häufig unzutreffend dar.                                             beurteilen
                   und eure Kinder auf!                                   Forschenden hätten ja selbst keine Ahnung. „Dabei gibt es
                                                                          nichts Schlimmeres als Konsens unter Bedingungen der
                                                                                                                                                                                                                                          Angaben in Prozent.
                                                                          Unsicherheit“, sagt Carrier, der der Humboldt-Stiftung als                  8   47                           30    8                 7
                                                                                                                                                                                                                                          Abweichungen in der
                                                                          wissenschaftlicher Gastgeber, Gutachter und einstiger Teil-    … geht auf Kosten der Qualität von Wissenschaft und Forschung.
                                                                                                                                                                                                                                          Summe sind rundungs­
                                                                                                                                                                                                                                          bedingt. (n ≥ 5 659)
                   Freedom Spirit                                         nehmer des TransCoop-Programms verbunden ist.
                   Masernimpfung wirkt nur für                                                                                                                                                                                            Quelle aller Grafiken
                                                                                                                                             30           47                    15 3                           4                          siehe Seite 20.
                   Rezeptoren bei Ritalin. Deshalb                        NATIONALHELD*INNEN ODER HASSFIGUREN
                   jetzt Covid und mRNA-Technik.
                   Das Geld kommt von der Industrie.
                                                                          Tatsache ist: Fragen, zu denen Wissenschaft etwas beitra-
                   Hoffe, Drosten und Merkel halten                       gen kann, werden auch künftig immer näher heranrücken
                   wenigstens ordentlich die Hand                         an „lebensnahe Bereiche“, so Carrier – beim Klimawandel
                   auf!                                                   etwa, bei sozialen Fragen oder eben bei Pandemien. Wie
                                                                          gehen Forschende mit diesem gewachsenen Interesse um,          cherorts wurden Virolog*innen während der Pandemie zu           urteilt Pistor. Dank Twitter werde sie auf Kolleg*innen
                                                                          welche Strategie wählen sie für ihre Kommunikation? Im         Nationalheld*innen, in anderen Ländern zu Hassfiguren.          aus anderen Weltregionen aufmerksam, auf Forschende
                                                                          Netzwerk der Humboldt-Stiftung lassen sich dazu viele                                                                          aus anderen Disziplinen, auf lohnende Bücher. Und sie
                                                                          Ideen und Ansätze finden – immer abhängig von der For-         TWITTERN LOHNT SICH                                             gibt ihre eigenen Gedanken weiter: ,,Wenn man den Luxus
                                                                          schungsrichtung und der jeweiligen Herkunftsregion.            Wie unterschiedlich das Kommunikationsverhalten ist,            hat, in Ruhe über Dinge nachzudenken, sollte man seine
                                                                              Ganz frische Erfahrungen mit der Kommunikation hat         erfährt Katharina Pistor immer wieder: Die deutsche Juris-      Gedanken auch mit einer breiteren Öffentlichkeit teilen“,
                                                                          beispielsweise Rafael Radi. Der Biochemiker und Hum-           tin ist Professorin an der renommierten Columbia Law            sagt sie. Gehässige Kommentare seien die Ausnahme. Das
           Wissenschaftler*innen, die sich zu ihren Forschungsthe-        boldt-Forschungspreisträger war der leitende Kopf eines        School in New York und begeisterte Twitter-Nutzerin. „Der       liegt sicherlich auch am Thema, schließlich haben juris- ›
           men öffentlich äußern.                                         multidisziplinär besetzten Wissenschaftsbeirats (Honorary      Ton auf Twitter ist in den USA entspannter“, beobachtet
              Ein neues Phänomen seien Anfeindungen gegen For-            Scientific Advisory Group) in Uruguay, der in der Pandemie     sie, „die Reaktionen sind weniger brüsk und besserwisse-
           schende indes nicht, sagt Carrier und geht zur Illustra-       gegründet wurde, um die Regierung zu beraten. „Natürlich       risch als beispielsweise in Deutschland.“ In Pistors Beiträ-
           tion weit zurück: „Als Darwin 1859 sein Hauptwerk ‚On          gab es negative Reaktionen, aber eher marginal“, berich-       gen geht es um aktuelle Gerichtsentscheidungen in ihren
           the Origin of Species‘ veröffentlichte, riss das die Leute     tet Radi. Er wählte genau aus, wo er auftrat: ,,Wir hielten    Fachgebieten Wirtschafts-, Kapitalmarkt- und Gesell-

                                                                                                                                                                                                                                ++GRIPPEVAKZIN++
           regelrecht aus den Stühlen.“ Die Evolutionstheorie warf        uns von Diskussionen fern, in denen Feindseligkeit Vor-        schaftsrecht ebenso wie um die Feier des Abschlussjahr-
           die religiös geprägten Vorstellungen von der Entwick-          schub geleistet wird.“ Außerdem hatte sein Team „sorgfäl-      gangs an ihrer Universität und auch mal um den Nach-
           lung des Lebens über den Haufen. Darwin wurde zur              tig ausgearbeitete öffentliche Stellungnahmen“ verfasst, die   barshund Cucchi. „Anfangs war ich skeptisch und dachte,                           10

                                                                                                                                                                                                                                  Impfschäden um
           Zielscheibe, nicht nur von Fanatiker*innen. ,,Seitdem sind     exakt belegt und dadurch nur schwer anfechtbar waren.          Twittern fresse nur meine Zeit“, sagt die Max-Planck-For-                         20
                                                                                                                                                                                                                           30
                                                                                                                                                                                                                           40
           weltanschauliche Fragen beim Umgang mit wissenschaft-          „Wenn wir öffentlich auftraten, bezogen wir uns auf diese      schungspreisträgerin. Trotzdem ließ sie sich darauf ein.                          50
                                                                                                                                                                                                                           60
           lichen Ergebnissen immer weniger wichtig geworden“,            Stellungnahmen. Wir versuchten, persönliche Meinungen          Drei Jahre ist das her, sie schrieb damals ihr populärwis-

                                                                                                                                                                                                                                  bis zu 100%
                                                                                                                                                                                                                           70
                                                                                                                                                                                                                           80
           sagt Carrier. Stattdessen mündeten Forschungserkennt-          rauszuhalten“, sagt Rafael Radi. Die Öffentlichkeit habe       senschaftliches Buch „Der Code des Kapitals“. ,,Das wollte                        90
                                                                                                                                                                                                                          100
           nisse heute oftmals in konkrete Handlungsempfehlungen,         auch in kritischen Pandemie-Phasen den Wissenschaftsbei-       ich auf Social Media bewerben und nahm mir vor, bis zum

                                                                                                                                                                                                                                  wahr­­schein­licher
           von der Gesundheits- bis zur Klimaforschung – und da           rat unterstützt – und sogar die Regierung dafür kritisiert,    Erscheinen bei 1 000 Follower*innen zu sein“, sagt sie. Das
           würden sie vielen Menschen unbequem. Verändert hät-            wenn sie weniger Maßnahmen umsetzte als vorgeschlagen.         Ziel erreichte sie spielend – und wurde zur begeisterten
           ten sich also vor allem die Motive für die Anfeindungen.       Von solcher Rückendeckung aus der Öffentlichkeit können        Nutzerin. ,,Man kriegt eine ganze Menge mehr mit; auch
           Und wenn Teile der Öffentlichkeit dann noch Diskussio-         Mediziner*innen in anderen Ländern nur träumen: Man-           von Leuten, mit denen man sonst weniger zu tun hat“,

14                                                           HUMBOLDT KOSMOS 113/2021                                                                                                       HUMBOLDT KOSMOS 113/2021                                                  15
KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung
SCHWERPUNKT

                                                                                                                                         GRAFIK 3

     Rechenfehler in internationaler Klimastudie                                                                                         Inwieweit treffen die folgenden Umstände auf Sie persönlich und Ihr Engagement

     Arktis schmilzt
                                                                                                                                         in der Wissenschaftskommunikation zu?

                                                                                                                                         Ich habe nicht ausreichend Zeit.

     nur langsam!
                                                                                                                                                                                3 14                    41               42

                                                                                                                                         Es gibt für mich nicht genug Anlässe.

                                                                                                                                                                      9    27                            45        18

                                                                                                                                         In meinen Projekten fehlt es an Ressourcen.

                                                                                                                                                                 13       30                        36        20

                                                                                                                                         Ich habe das Gefühl, mein Forschungsthema ist ungeeignet.
                                                                                                                                                                                                                                                 trifft überhaupt nicht zu

         tische Fragestellungen nur selten das Zeug zum Polarisie-         und oft auch unübersichtlich ist. „Zu politischen Fragen                   33              36                     24     8                                            trifft eher nicht zu
         ren – aber bei manchen Posts schlagen selbst auf ihrem            äußere ich mich grundsätzlich nicht, weder in Interviews
                                                                                                                                         Ich habe nicht ausreichend Wissen oder Fähigkeiten.                                                     trifft eher zu
         Kanal die Emotionen höher: „Wenn ich mich etwa über               noch in sozialen Medien“, sagt Karen Radner. Eine kri-
         Bitcoins äußere, merke ich, dass dieses Thema eine aggres-        tische Bemerkung, selbst eine missverständliche Äuße-                                                                                                                 trifft voll und ganz zu
         sivere Zielgruppe anzieht“, berichtet Pistor.                     rung könnten eine Kaskade von Folgen haben: Für ihre                       25         46                          24 5

             Für andere Wissenschaftler*innen würde eine zu offene         Grabungen und Feldforschungen ist sie auf die Geneh-          Ich habe in der Vergangenheit negative Reaktionen erhalten.                                           Angaben in Prozent.
         Kommunikation in sozialen Medien indes zum Risiko für             migungen der zuständigen Regierungen angewiesen, und                                                                                                                Abweichungen in der
         ihre Forschung. Ein Beispiel dafür ist Karen Radner, Hum-         die durchleuchten die Antragsteller*innen üblicherweise.                                                                                                            Summe sind rundungs­
                                                                                                                                             59                           32           7 1                                                     bedingt. (n ≥ 5 611)
         boldt-Professorin an der Ludwig-Maximilians-Universität           Hinzu kommt die Gefahr, ins Visier von Fanatiker*innen
         München. Sie ist eine der renommiertesten Expertinnen             zu geraten – problematisch könnte das für sie persönlich
         für Alte Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens –              werden, aber auch für das Team vor Ort. „Ich sage mei-
         eine Region, in der die politische Situation angespannt           nen Studierenden und meinen Mitarbeiter*innen immer:

                                                                                                                                         Wenn ihr unbedingt posten wollt, dann achtet darauf, dass            tert und bloggt. Gerade erst nahm er am Communication
                                                                                                                                         eure Äußerungen keine negativen Folgen für euch und euer             Lab for Exchange between Research and Media teil, das
                                                                                                                                         Team haben“, erzählt Karen Radner. Dass Öffentlichkeit               die Humboldt-Stiftung gemeinsam mit der Organisation
         GRAFIK 2                                                                                                                        zur Wissenschaft gehört, weiß sie indes auch; sie schreibt           Internationale Journalisten-Programme e. V. (IJP) ausrich-
         Wie hat sich aus Ihrer Sicht das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit seit                                            populärwissenschaftliche Bücher, sie publiziert auf fach-            tet: Forscher*innen wie Queiroz Alves tauschen sich mit
         Beginn der Coronapandemie verändert?                                                                                            spezifischen Internetseiten und leitet einen Online-Kurs             Journalist*innen über die Vermittlung von Wissenschaft

                                                                                                                                                                                                                        „
                                                                                                                                         für die interessierte Öffentlichkeit. „Ich konzentriere mich         aus und erarbeiten gemeinsam journalistische Produkte. ›
         Die Erwartung an Wissenschaft, schnelle Problemlösungen zu liefern, hat sich erhöht.                                            ganz darauf, nur über meine Arbeit zu reden“, sagt sie.
                                                                                                                                             Mit Gesprächen über ihre Arbeit rennen Klima­
                                                                                                                      stimme über­
                                                                                                                      haupt nicht zu     forscher*innen derzeit offene Türen ein. Ihr Thema ist
                                        2 16                   51              31
                                                                                                                                         hochaktuell, ihre Ergebnisse beeinflussen überall auf
         Die Rolle der Wissenschaft in der Politikberatung wurde gestärkt.                                            stimme eher        der Welt die Politik. Nicht allen gefällt das; immer wie-
                                                                                                                      nicht zu
                                                                                                                                         der berichten Klimaexpert*innen von Anfeindungen und
                                       4 19                          61      16                                       stimme             Drohungen. Eduardo Queiroz Alves schreckt das nicht ab.
                                                                                                                      eher zu            Der Geochemiker untersucht als Humboldt-Forschungs-
         Das Ansehen der Wissenschaft in der Gesellschaft ist ingesamt gestiegen.
                                                                                                                                         stipendiat am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven
                                                                                                                      stimme voll
                                                                                                                      und ganz zu        die Auswirkungen der Permafrost-Schmelze auf das Erd-                          ZU POLITISCHEN FRAGEN
                                4 31                                58 7
                                                                                                                                         klima. ,,Viele sehen die Forschung zur Klimakrise als eine
         Wissenschaftskommunikation ist schwieriger geworden.                                                      Angaben in Prozent.
                                                                                                                                         Art Blackbox. Sie hören Prognosen und Empfehlungen der                         ÄUSSERE ICH MICH GRUND­
                                                                                                                   (n ≥ 5 536)           Wissenschaft, können sich aber einfach nicht vorstellen,
                       7 44                            36      13
                                                                                                                                         wie sie zustande kommen“, sagt der Brasilianer. Er will die                    SÄTZLICH NICHT, WEDER
                                                                                                                                         Arbeit von Klimawissenschaftler*innen deshalb „entmysti-
         Das Verständnis der Bürger*innen von Wissenschaft und Forschung hat zugenommen.                                                 fizieren“, wie er es nennt, und Interessierte virtuell in sein                 IN INTERVIEWS NOCH AUF
                                                                                                                                         Labor mitnehmen. Dafür legt er sich richtig ins Zeug: Er
                       8   43                             44    5                                                                        hält Vorträge vor Studierenden und Schüler*innen, er twit-                     SOZIALEN MEDIEN.“

16                                                     HUMBOLDT KOSMOS 113/2021                                                                                                              HUMBOLDT KOSMOS 113/2021                                                        17
KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung
SCHWERPUNKT

     GRAFIK 4                                                                                                                                                                                      GRAFIK 5
     Worüber kommunizieren Sie öffentlich?*
                                                                                                                                        DNA-Wahnsinn                                               Was müsste geschehen, damit Wissen­

                                                                                                                                      KLON-
                                                                                                                                                                                                   schaftler*­innen sich in Zukunft verstärkt in der
     über meine eigene Forschung                                                                   *D
                                                                                                     iese Frage wurde nur den                                                                     Wissenschaftskommunikation engagieren?
                                                                                                    Befragten mit Erfahrung in
                                                                                90                  der Wissenschaftskommuni­
                                                                                                    kation gestellt. (n = 4 557)
                                                                                                                                                                                                   Es müsste mehr Unterstützung innerhalb

                                                                                                                                      SCHAF
                                                                                                    Mehrfachauswahl möglich.
     über die Forschung anderer in meinem Feld                                                                                                                                                     wissenschaftlicher Einrichtungen geben.
                                                 52
                                                                                                                                                                                                                     2 14                51             33
     über die Methoden, Prozesse und Werte von Wissenschaft und Forschung

                                                                                                                                      wird
                                           41
                                                                                                                                                                                                   Es müsste Unterstützung im Krisenfall geben,
                                                                                                                                                                                                   z. B. bei negativer Berichterstattung,
                                                                                                                                                                                                   Shitstorms, Drohungen oder Belästigungen.
     über die gesellschaftlichen Auswirkungen meiner Forschung
                                      37

                                                                                                                                      100
                                                                                                                                                                                                                     3 15              49          33

     über die generelle Bedeutung von Wissenschaft und Forschung in der Gesellschaft
                                                                                                                                                                                                   Es müsste mehr finanzielle Ressourcen für
                                 33                                                                                                                                                                Wissenschafts­­­kommunikation geben.

                                                                                                                                      Jahre
                                                                                                                                                                                                                 3 18                  49             30

     ,,Ich habe bis dahin vor allem für Kolleg*innen geschrieben      Das ist eine Reaktion, die sich viele Forschende wünschen,                                                                   Wissenschaftler*innen müssten mehr Ein­
     und finde es sehr schwer, eine Sprache zu finden, mit der ich    wenn sie kommunizieren: Sie wollen zeigen, wie es hinter                                                                     ladungen zu Aktivitäten für Wissenschafts­

                                                                                                                                      alt!
     die Öffentlichkeit ansprechen kann“, sagt er. Dann muss er       den Labortüren zugeht und vermitteln, wie die Wissen-                                                                        kommunikation erhalten.
     schmunzeln: ,,Eine Journalistin bat mich während des Pro-        schaft eigentlich arbeitet – und warum sie nicht immer auf
     gramms, eine kurze Zusammenfassung meiner Arbeit zu              alles eine Antwort kennt.                                                                                                                 3 21                     51        25
     schreiben. Sie las die paar Zeilen und sagte: ‚Mir wird das
     überhaupt nicht klar.‘ Also schrieb ich noch mal und noch        ERKENNTNISPROZESSE IN ECHTZEIT                                                                                               Es müsste stärker evaluiert werden, was
     mal, bis ich den Bogen raus hatte.“ Für seine Posts gewöhnte     Die Covid-19-Pandemie hat zu Lerneffekten geführt,                                                                           Wissenschafts­kommunikation bringt.
     er sich einen anderen Duktus an, er drehte YouTube-Videos        meint der Präsident der Humboldt-Stiftung Hans-Chris-
     mit einer Wissenschaftsjournalistin, und bald darauf mel-        tian Pape: „Die Öffentlichkeit wurde Zeugin eines wis-                                                                                   7 22                    46        24
     dete sich seine Schwester aus Brasilien: „Wow, endlich habe      senschaftlichen Erkenntnisprozesses in Echtzeit mit sei-
     ich es verstanden“, schrieb sie ihm. „Ich wusste bis jetzt gar   nen Vorläufigkeiten und Hypothesen, die vielfach geprüft,                                                                    Es müsste mehr Möglichkeiten zur Fort- und
     nicht so genau, woran du eigentlich arbeitest!“                  bestätigt oder eben auch widerlegt werden.“ Dass sich wis-                                                                   Weiterbildung geben.

                                                                                                                                   senschaftliche Empfehlungen änderten, etwa zur Verträg-                    5 25                     47        23
                                                                                                                                   lichkeit von Impfstoffen für bestimmte Altersgruppen,
                                                                                                                                   führte teilweise zu Unmut in Bevölkerung und Politik.           Wissenschaftskommunikation müsste eine
                                                                                                                                   Pape plädiert für einen nüchternen und offenen Umgang           größere Bedeutung für die individuelle
                                                                                                                                   mit veränderten Faktenlagen: „Wissenschaft ist in unse-         Karriere haben.
                                                                                                                                   rer arbeitsteiligen Gesellschaft für die Bereitstellung des
                                                                                                                                   jeweils besten verfügbaren Wissens verantwortlich. Sie            12   35                      34        19
                                                                                                                                   darf dabei nicht so tun, als hätte sie endgültige Lösungen
                                                                                                                                   parat, sondern muss sich offen auch zu Ungewissheiten           Wissenschaftskommunikation müsste eine
                                                                                                                                   bekennen. Sie muss sich hüten vor jeder Art Heilsverspre-       größere Rolle bei der Vergabe von Förder­
                                                                                                                                   chung gegenüber der Gesellschaft – denn das verleitet zu        geldern spielen.
                                                                                                                                   Selbstüberforderung auf der einen und Hoffnungsüber-
                                                                                                                                   forderung auf der anderen Seite.“                                17    34                     32     16

                                                                                                                                   SEHNSUCHT NACH LÖSUNGEN
                                                                                                                                                                                                     stimme überhaupt nicht zu    stimme eher zu
                                                                                                                                   Doch auch wenn Wissenschaftler*innen bescheiden und
                                                                                                                                                                                                     stimme eher nicht zu         stimme voll und ganz zu
                                                                                                                                   realistisch auftreten, treffen sie oft auf große Hoffnungen,
                                                                                                                                   die historisch gewachsen sind. „Wissenschaft und Tech-
                                                                                                                                   nik waren in den vergangenen Jahrzehnten sehr erfolg-
                                                                                                                                                                                                   Angaben in Prozent. Abweichungen in der Summe sind
                                                                                                                                   reich, das hat die Gesellschaft verwöhnt“, sagt Martin ›        rundungsbedingt. (n ≥ 5 594)

18                                                     HUMBOLDT KOSMOS 113/2021                                                                                                    HUMBOLDT KOSMOS 113/2021                                                  19
SCHWERPUNKT

     Carrier, der Wissenschaftsphilosoph von der Universität                                                                                                                                                        MEINUNG
     Bielefeld: „Für viele Probleme gab es dank der Forschung

                                                                                  Forscher
     sehr schnell auch Lösungen. Da ist es schwierig, mit seinen
     Erwartungen realistisch zu bleiben, was die Wissenschaft
     leisten kann.“ Das gelte etwa dann, wenn die versammelte                                                                                                     KURZATMIGE WISSENSCHAFT
                                                                                  entwickeln
     Welt plötzlich ratlos vor einem neuartigen Virus steht und
     auch die Wissenschaft nicht schlagartig Patentrezepte lie-                                                                                                           Als Zukunftsdeuterin ist die Wissenschaft gefragt wie nie. Doch halbgare
     fern kann. Martin Carrier geht in seinen Gedanken zurück                                                                                                             Veröffentlichungen untergraben ihren Ruf. Sie selbst muss etwas ändern.

                                                                                  NACHHALTIGEN
     in die Vergangenheit und muss schmunzeln. „Kennen Sie

                                                                                                                                                               S
     die Anekdote von Woodrow Wilson?“, fragt er: Der US-
     Präsident berief während des Ersten Weltkriegs einen Phy-                                                                                                            chauplatz ist die größte akute Gesundheits- das sich vielleicht am besten mit dem Kanzlerinnenwort
     siker in ein Gremium und begründete das mit den legen-                                                                                                               krise seit den Weltkriegen: Auf dem Gipfel ihres vom „Neuland“ beschreiben lässt. Die Selbstsicherheit der
     dären Worten, ,,falls wir mal was rechnen müssen“. Wie
     viel Geringschätzung gegenüber der Wissenschaft drücke
     dieser historische Satz aus, sagt Carrier – und wie anders
                                                                                  Satelliten                                                                              Schaffens, bekommen die harten Wissenschaf- Institution jedenfalls ist dahin. Was auch in der Außen-
                                                                                                                                                                          ten plötzlich weiche Knie. Auf einem Berg von wahrnehmung tiefe Spuren hinterlässt. Beispielhaft ist
                                                                                                                                                               mehr als einer halben Million Publikationen, geschaffen die andauernde Debatte um den Ursprung des Pandemie­
     sei die Situation heute, trotz aller gelegentlich aufflackern-
     den Wissenschaftsskepsis. „Ich halte es für ein positives
     Zeichen, dass Wissenschaft in der Öffentlichkeit auf Reak-
                                                                                  aus Holz                                                                     in wenig mehr als einem Jahr, vor sich die Täler einer ent- virus. Seit Beginn der Krise bläst den Forscher*innen bei
                                                                                                                                                               fesselten Aufmerksamkeitsindustrie, die ihre Held*innen der Frage, ob es ein natürlicher Übergang auf den Men-
                                                                                                                                                               anscheinend am liebsten stürzen sieht. Die Coronafor- schen oder ein Laborunfall war, der scharfe Wind der Des-
     tionen stößt.“                                                                                                                                            schung steht auf schwindeligen Höhen                                                information ins Gesicht. Angefacht von
         Das zeige schließlich vor allem, dass sie als relevant                                                                                                und steckt zugleich tief in der Klemme.                                             Rechtspopulist*innen in Gesellschaft
     wahrgenommen wird.                                                                                                                                        Aber nicht nur sie. Die Tragödie ist grö-                                           und Politik, ja, auch von Regierungen
                                                                                                                                                               ßer. Denn in die Lage, in der sich die                                              mit eiskaltem Kalkül. Eine grundsätz-
                                                                                                                                                               Wissenschaften auf einmal wieder-                                                   lich wissenschaftliche Frage, die hoch-
                                                                                                                                                               finden, sind sie nicht nur von außen                                                politisch aufgeladen wurde, die sich
                                                                                                                                                               hineingedrängt worden. Der pas-                                                     aber ohne sorgfältige, zeitraubende
     GRAFIK 6                                                                                                                                                  sende Begriff dafür lautet Sloppy Sci-                                              Untersuchungen nicht beantworten
     Wie ist Ihre persönliche Sicht auf das Verhältnis von Wissenschaft und Medien?                                                                            ence. Damit ist hier nicht die schlam-                                              lassen wird. Statt dies anzuerkennen
                                                                                                                                                               pige, schlechte Forschung gemeint, die                                              und zu vermitteln, lassen sich rund um
     Medienauftritte von Wissenschaftler*innen stärken die Wissenschaft                                                                                        sie schon immer im Rucksack mit sich                                                den Globus Wissenschaftler*innen in
     im Ganzen.                                                                                                                                                getragen hat. Vielmehr geht es um die          JOACHIM MÜLLER-JUNG                  Scharen vor den einen oder anderen
                                                                                                      stimme über­                                             Schwächen einer Wissenschaftskultur,           leitet das Ressort „Natur            Karren spannen. Ein anderes Beispiel:
                          5 23                          53     12         7
                                                                                                      haupt nicht zu                                           die in der Großkrise besonders zum             und Wissenschaft“ der                Fallzahl-Prognosen. In der Öffentlich-
                                                                                                                                                               Tragen gekommen sind. Um eine Flut             Frankfurter Allgemeinen              keit ist die Rolle der Expert*innen als
     Regelmäßig als öffentliche*r Expert*in aufzutreten, bedeutet                                     stimme eher
                                                                                                      nicht zu                                                 von Veröffentlichungen – genauer: Pre-         ­Zeitung.                            Zukunftsdeuter*innen gefragt wie nie.
     oft auch, kaum noch selbst zu forschen.
                                                                                                                                                               prints und Vor-Vorveröffentlichungen                                                Die Wissenschaft hingegen – eine Par-
                                                                                                      stimme                                                   – geht es, die eigentlich noch gar nicht                                            allelwelt voller Skepsis. Evidenz-Ikone
                            3 19                  41      19              18                          eher zu
                                                                                                                                                               öffentlich sein sollten, weil sie oft Unausgegorenes enthal- und Datenspezialist John Ioannidis etwa hat sich früh fest-
     Der mediale Fokus auf einzelne Wissenschaftler*innen                                             stimme voll                                              ten oder Unbelegtes behaupten. Auch um kurzatmige Dis- gelegt, dass die auf Computermodellen basierenden Vor-
     schadet dem Zusammenhalt der Wissenschaft insgesamt.                                             und ganz zu                                              kurse geht es, die den experimentellen und damit vorläufi- hersagen des Infektionsgeschehens Müll sind, während
                                                                                                                                                               gen Charakter jeder Forschung zwar erkennen lassen, aber er selbst das mühsame Geschäft mit lückenhafter Empi-
                                                                                                      kann ich nicht
                10   43                     26    11                      10                          beurteilen                                               nicht über ihre inhärenten Unsicherheiten aufklären, son- rie öffentlichkeitswirksam betreibt. Gleichzeitig lassen
                                                                                                                                                               dern Verunsicherung schaffen. Und um die schiere Gel- Forscher*innen in hochrangigen Journalen nicht davon ab,
     Ich fühle mich mit meinem Fachgebiet in den Medien gut vertreten.                                                                                         tungssucht. Kurz: Es geht um Halbgares und Prahlerei, die Prognosemodelle zu verbessern. Dabei ist klar: Schei-
                                                                                                    Angaben in Prozent.
                                                                                                    Abweichungen in der                                        die viele inzwischen nach der wahren Krisenkompetenz tern gehört zum Geschäft. Im Moment der globalen Krise
                                                                                                    Summe sind rundungs­
          17         45                       30 5                        4
                                                                                                    bedingt. (n ≥ 4 983)
                                                                                                                                                               der Wissenschaften fragen lassen. Um allzu Menschliches allerdings bekommt diese Selbstverständlichkeit, je länger
                                                                                                                                                               also, könnte man sagen.                                         sie dauert, den Außenanstrich von Inkompetenz. Vertrauen
     Wissenschaftler*innen orientieren sich zu stark an medialen
     Erwartungen.                                                                                                                                                  Tatsächlich exponiert sich die Wissenschaft so mitt- erodiert, genau wie das Selbstvertrauen. Vielleicht ist des-
                                                                                                                                                               lerweile breit über die sogenannten sozialen Medien, die halb den Wissenschaften, allen Wissenschaften zusammen,
                                                                                                                                                               längst selbst Zweifel an ihrer Sozialverträglichkeit erken- am besten gedient, wenn sie ähnlich wie in der Klimafor-
           13        46                   21 5                            14
                                                                                                                                                               nen lassen. Für das nüchterne Selbstverständnis und das schung den wirklich großen Krisen mit einer großen, einer
                                                                                                                                                               Funktionieren des Wissenschaftsbetriebs ist die Selbst- leicht digital zu vernetzenden Kompetenzagentur entgegen-
                                                                                                                                                               überschätzung durch Sloppy Science allerdings etwas, treten. Aber das müssten sie schon selbst organisieren.
                                                                                                                                            Foto: Frank Röth

     Quelle aller Grafiken:
     Wissenschaftskommunikation in Deutschland: Ergebnisse einer Befragung von 5 688 Wissenschaftler*innen an deutschen Universitäten und
     außeruniversitären Forschungseinrichtungen durchgeführt von der Impact Unit von Wissenschaft im Dialog, dem Deutschen Zentrum für
     Hochschul- und Wissenschaftsforschung und dem Nationalen Institut für Wissenschaftskommunikation.

20                                                     HUMBOLDT KOSMOS 113/2021                                                                                                                                HUMBOLDT KOSMOS 113/2021                                                      21
SCHWERPUNKT

                  „MAN KANN ES NICHT
                     KALKULIEREN“
                          Kommunikationswissenschaftler Hektor Haarkötter im Gespräch
                       über die Regeln der Online-Kommunikation – und darüber, wie man am
                                          besten auf einen Shitstorm reagiert.

                                                 „
                                                                                                                                                                                                                                        PROF. DR. HEKTOR
                                                                                                                                                                                                                                        ­HAARKÖTTER lehrt
                                                                                                                                                                                                                                        Kommunikations­wissenschaft
                                                                                                                                                                                                                                        mit Schwerpunkt politische
                                                                                                                                                                                                                                        Kommunikation an der Hoch­
KOSMOS:     Herr Haarkötter, gab es so etwas                                  einmal eine Definition gibt, ab wann wir von                                                            Welche Lehren ziehen Sie daraus für die Wis­      schule Bonn-Rhein-Sieg. Der     Und wenn man dann doch in einen Shit­
wie Shitstorms auch schon vor der Erfindung                                   einem Shitstorm reden – sind es 50 sehr nega-                                                           senschaft – lieber gar nicht in den sozialen      frühere Journalist und          storm gerät: stillhalten und warten, dass
der Sozialen Medien?                                                          tive Kommentare oder müssen es eher 500 000                                                             Medien kommunizieren?                             ­H umboldt-Gastgeber ist        das Gewitter vorüberzieht?
HEKTOR HAARKÖTTER: Sie scheinen mir tat-                                      sein? Was sich meiner persönlichen Meinung                                                              Ganz im Gegenteil: Wissenschaftsvermitt-          Heraus­geber und Autor          Nein, genau das auf keinen Fall! Ein Shitstorm
sächlich eine Erscheinung der digitalen Welt      DIE DIGITALEN               nach verändert hat, ist, dass Shitstorms heute                                                          lung ist heute wichtiger denn je. Und dazu sind   ­mehrerer wissen­schaftlicher   kann fatale Konsequenzen juristischer, beruf-
zu sein. Sie kamen aber schon vor Facebook,                                   immer öfter von professionellen Akteur*innen                                                            natürlich diese digitalen Kanäle ganz hervor-     Bücher, etwa „Shitstorms        licher und privater Natur haben. Man sollte
Twitter und Co. auf, beispielsweise bei Mai-      KANÄLE SIND                 kalkuliert werden – Akteur*innen, die es von                                                            ragend geeignet.                                  und andere Nettigkeiten.        die Sache auf jeden Fall wieder einfangen: mit
linglisten, in denen es bereits rabiate Formen                                vornherein darauf anlegen, die Kommunika-                                                                                                                 Über die Grenzen der Kom­       einer Entschuldigung, wenn man etwas gesagt
der Auseinandersetzung gab, die kaskadenhaft     ZUR WISSEN­                  tion zu vergiften. Trolle, Boulevardzeitungen,
                                                                                                                               Illustration: Raufeld Medien, Foto: Frank Sonnenberg
                                                                                                                                                                                      Können Sie Forschenden ein Rezept an die          munikation in Social Media“     hat, mit dem man jemandem zu nahe getre-
stattfanden. Genau dieses Kaskadenhafte ist                                   aber auch etwa populistische Parteien versu-                                                            Hand geben, mit dessen Hilfe sich Shit­           (2016) oder jüngst erschie­     ten ist. Und in allen anderen Fällen mit einer
ein wichtiges Kennzeichen von Shitstorms –        SCHAFTS­                    chen dadurch, größtmögliche Aufmerksam-                                                                 storms vermeiden lassen?                          nen: „Notiz­zettel. Denken      öffentlichen Erklärung – warum also hat man
ein Wort gibt das nächste und die Stimmung                                    keit für ihr Thema zu generieren. Aber das                                                              Wenn mein ganzes Bestreben darauf hinaus-         und S
                                                                                                                                                                                                                                            ­ chreiben im 21. Jahr­     zum Beispiel so gewertet, wie man gewertet
heizt sich in unfassbarem Tempo auf.             VERMITTLUNG                  Erstaunliche ist: Man kann es nicht kalkulie-                                                           läuft, keinen Shitstorm hervorzurufen, dann       hundert“.                       hat? Im Falle der Wissenschaftskommuni-
                                                                              ren. Manchmal postet man etwas, das man                                                                 sollte ich mich in den sozialen Medien nur                                        kation erklärt man am besten seine wissen-
Ihr Buch über Shitstorms ist 2016 erschie­        GANZ HERVOR­                selbst für kontrovers formuliert hält, und es                                                           auf Lateinisch oder Altgriechisch äußern.                                         schaftliche Analyse noch einmal, und in der
nen. Hat sich das Phänomen seither verän­                                     kommt keine einzige Reaktion. Und ein ander-                                                            Aber ganz im Ernst: Ich würde raten, so neu-                                      Öffentlichkeit erreicht man damit im Regel-
dert – sind Shitstorms häufiger geworden          RAGEND                      mal schreibt man etwas scheinbar Harmlo-                                                                tral und so wenig polarisierend wie möglich                                       fall auch diejenigen Adressat*innen, die einen
oder radikaler?                                                               ses, aber ausgerechnet das bekommt jemand                                                               zu kommunizieren – so wie es ohnehin ein                                          nicht absichtlich falsch verstehen wollen.
Das lässt sich schwer sagen, weil es ja nicht    ­GEEIGNET.                   in den falschen Hals.                                                                                   Gebot des guten Benehmens ist.                                                                    Interview KILIAN KIRCHGESSNER

22                                                 HUMBOLDT KOSMOS 113/2021                                                                                                                                                             HUMBOLDT KOSMOS 113/2021                                                   23
DEUTSCHLAND IM BLICK

                                                                                                                                                                                                                                        SCHWER ERREICHBARE
                                                                                                                                                                                                                                        ZIELGRUPPEN
                                                                                                                                                                                                                                        Von wegen Aluhut! Kopfbe-

DER
                                                                                                                                                                                                                                        deckung eines Teilhnehmers
                                                                                                                                                                                                                                        einer Querdenker*innendemo
                                                                                                                                                                                                                                        in Berlin im Mai 2020

KOMMUNIKATIONS­
BOOM
Politik, Wissenschaft und Medien wollen die
Wissenschaftskommunikation verbessern. Neue
Ideen und Initiativen haben Konjunktur.

Text GEORG SCHOLL

        W
                            as man als Wissenschaftler*in tun muss,
                            damit die Leute zuhören und einen ver-
                            stehen? Das Rezept hierfür klingt ein-
                            fach. „Tu so, als wärst du mit einem
         guten Freund zu Besuch in einem Pub, ihr steht am Tre-
         sen und du erzählst ihm eine Geschichte.“ Das sagt Alok
         Jha vom Magazin The Economist, einem Aushängeschild
         des britischen Journalismus.
             Jha ist Gastjuror beim Humboldt Communication Lab,
         einer Veranstaltungsreihe, bei der Wissenschaftler*innen
         und Journalist*innen aus den Netzwerken der Humboldt-
         Stiftung und des Internationalen Journalisten-Programms

                                                                            „
         zusammenkommen, um voneinander zu lernen. Dabei ent-
         stehen in mehrtägiger Tandemarbeit journalistische Stücke
         über die eigene Forschung. Am letzten Tag wird es ernst
         und die Teams stellen ihre Projekte vor. Alok gibt Feed-
         back. Vieles gefällt ihm schon richtig gut. Manches begeis-
         tert ihn. Doch immer hat er auch Nachfragen, versteht
         etwas nicht, gibt Tipps, wie sich etwas verbessern ließe.

         SO REDET MAN EIGENTLICH NICHT ALS
         FORSCHER*IN                                                                                                                  gute Wissenschaftskommunikation aus? Gegenseitiges            noch hapert es auch in Deutschland an einer breiten Kom-
         Gerade das Bild vom Pubbesuch ist für viele Wissen­               TU SO, ALS WÄRST DU                                        Lernen steht im Zentrum des Communication Lab for             munikationsqualifikation im Wissenschaftsbetrieb und
         schaftler*innen ein Augenöffner. Sich auf wenige Aussa-                                                                      Exchange between Research and Media, das die Hum-             schlüssigen Antworten auf die Herausforderungen der
         gen oder sogar nur eine einzige konzentrieren, alles andere       MIT EINEM GUTEN                                            boldt-Stiftung 2020 mit Mitteln des Auswärtigen Amts ins      sozialen Medien und den Medienwandel, der Redaktionen
         weglassen, die eigene Forschung als Geschichte erzählen,                                                                     Leben gerufen hat. Solche Angebote sind Teil eines aktu-      ausgedünnt und den Wissenschaftsjournalismus ­massiv
         am besten noch mit sich selbst als Person im Mittelpunkt.         FREUND ZU BESUCH                                           ellen Booms rund um das Thema Wissenschaftskommu-             geschwächt hat.
         So arbeitet man als Wissenschaftler*in eigentlich nicht.                                                                     nikation in Deutschland. Die Vorgeschichte begann frei-          Es wurde also Zeit für neue Konzepte und ­Initiati­ven.
                                                                           IN EINEM PUB, IHR
                                                                                                   Foto: Getty Images / Sean Gallup

         Und umgekehrt wird auch den meisten Journalist*innen,                                                                        lich schon vor 25 Jahren. Damals fanden sich Akteur*innen     Dazu zählen neben einer Vielzahl von K    ­ onferenzen und
         von denen die wenigsten auf Wissenschaft spezialisiert                                                                       aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik zu einer ersten      Aufsätzen ein 10-Punkte-Plan der Allianz der Wissen­
         sind, klar, wie speziell Forschende ticken und wie schwierig      STEHT AM TRESEN                                            Initiative zusammen und verabschiedeten das Memoran-          schaftsorganisationen Deutschlands, zu der auch die
         es oft ist, Texte über ihre komplexe Arbeit so zu verdichten,                                                                dum „Public Understanding of Sciences and Humani-             Hum­boldt-­Stiftung gehört, sowie die ­#FactoryWisskomm,
         dass sie für Lai*innen interessant und verständlich sind.         UND DU ERZÄHLST                                            ties“, das für mehr, professionellere und vor allem stärker   eine Denkwerkstatt des Bundes­for­s chungs­m iniste­r i­
             Welche Erwartungen gibt es aneinander? Wie gelingt                                                                       auf einen Dialog setzende Wissenschaftskommunikation          ums. Die brachte 2021 wohl alle Akteur*innen, die in
         eine vertrauensvolle Zusammenarbeit? Und was macht                IHM EINE GESCHICHTE.“                                      sorgen sollte. Vieles wurde seither erreicht. Doch immer      Deutschland zum Thema etwas z­ u sagen haben, zur ›

24                                                        HUMBOLDT KOSMOS 113/2021                                                                                                   HUMBOLDT KOSMOS 113/2021                                                        25
DEUTSCHLAND IM BLICK

      ­ iskussion und Erarbeitung von Empfehlungen an
      D                                                             Drostens Credo ist Transparenz. Das gilt gerade auch bei       zu heißen und gesellschaftlich kontroversen Themen ein-                          WISSENSCHAFT UND MEDIEN
      einen Tisch, von Wissenschafts­journalist*innen über          unklaren Lagen, in denen man sich im Zweifel auf die           lässt, braucht neben Kompetenz vor allem Zeit, die nicht                         IM DIALOG
      Vertreter*innen von Stiftungen und Förderorganisatio-         eigene oder die in Gremien versammelte Berufserfahrung         jede*r investieren will oder kann. Auch haben nicht alle                         Das Humboldt Communication
      nen wie der Humboldt-Stiftung bis hin zu Universitäten        verlassen müsse. „Dann müssen wir sagen, auch wenn wir         das nötige Talent. So ist in der Wissenschaft immer wie-                         Lab for Exchange between
      und Kommunikationsforscher*innen.                             im Moment keine Evidenz haben, schätzen wir die Lage           der die Sorge vor einem Zwang zur Kommunikation laut                             Research and Media
         Natürlich standen die Diskussionen unter dem Ein-          so und so ein.“                                                geworden. Lieber sollte man gezielt diejenigen stärken und                       www.humboldt-­foundation.de/
      druck der aktuellen Pandemie, die dem Thema eine zusätz-                                                                     sprechen lassen, die gut darin sind und sich für die Auf-                        comlab
      liche Brisanz gegeben hat. So erhielt etwa der Berliner       VERSTÄNDNISLOSE POLITIK                                        gabe begeistern.
      Virologe Christian Drosten, gewissermaßen der wissen-         Solche Vorläufigkeiten sorgten während der Pandemie wie-           Viele Ideen zur Stärkung der Wissenschaftskommuni­                           10-PUNKTE-PLAN
      schaftliche Cheferklärer der Pandemie und zurzeit wohl        derholt für Verständnislosigkeit – auch bei Politiker*innen,   kation sind nun im Gespräch, allen voran Schulungsange­                          Empfehlungen der Allianz der

„
      der bekannteste Forscher in Deutschland, Morddrohun-          die sich teilweise öffentlich über das Hin und Her der         bote, um die Kommunikationskompetenz von Wissen­                                 Wissenschaftsorganisation für
      gen. Auf das Robert Koch-Institut – ebenfalls seit Beginn     ­Wissenschaft beklagten. Wenig hilfreich waren in diesem       schaftler*innen zu stärken. Die Anerkennungskultur für                           eine bessere Wissenschafts­
                                                                     Zusammenhang Medien, die in einer falschen Ausgewo-           Kommunikationsleistungen im deutschen Wissenschafts-                             kommunikation
                                                                     genheit unterschiedliche Stimmen aus der Wissenschaft         system soll verbessert werden. Eine öffentliche Stiftung                         www.humboldt-foundation.de/
                                                                     wie gleichberechtigt nebeneinander stellten, ohne zwi-        könnte qualifizierten Wissenschaftsjournalismus vor                              allianz-wisskomm-10-punkte-
                                                                     schen breitem wissenschaftlichem Konsens auf der einen        allem auf regionaler Ebene fördern. Defence Units an deut-                       plan
                                                                     und einer Mindermeinung auf der anderen Seite zu unter-       schen Universitäten und Forschungseinrichtungen könn-
                                                                     scheiden. Der Eindruck bei den Rezipient*innen: Die Wis-      ten Wissenschaftler*innen unterstützen, wenn sie Ziel von                        WISSENSCHAFTS­­
                                                                     senschaft ist zerstritten. In den Medien müsse dringend       Anfeindungen werden. Die Wirksamkeit von Kommuni-                                KOMMUNIKATION KOMPAKT
                                                                     eine Nachbetrachtung und Selbstreflektion zur Kommu-          kationsmaßnahmen bei verschiedenen Zielgruppen soll                              Die Internationale Summer

DIE CORONAZEIT                                                       nikation während der Pandemie stattfinden, mahnt des-         besser erforscht werden, auch um Ressourcen besser ein-                          School „Communicating
                                                                     halb Drosten.                                                 zusetzen. Denn zusätzliche und neue Maßnahmen wer-                               ­Science“

KANN BISHER ABER                                                        Unterm Strich kann die Coronazeit bisher aber auch als     den Geld kosten, das womöglich anderswo eingespart                               www.humboldt-foundation.de/
                                                                     eine Erfolgsgeschichte gelesen werden, die durchaus Mut       ­werden muss.                                                                    communicating-science
AUCH ALS EINE                                                        macht. So dürfte die Scientific Literacy der Bevölkerung
                                                                     einen gewaltigen Sprung gemacht haben. Es scheint, die        IM GESPINST DER VERSCHWÖRUNGS­
ERFOLGS­GESCHICHTE                                                   Deutschen sind zu einem Volk von Expert*innen für Infek-      MYTHEN
                                                                     tionsforschung geworden. Begriffe wie R-Wert und Inzi-        Die Wirkungsforschung ist auch deshalb wichtig, weil es
GELESEN WERDEN.“                                                     denz, Vektor- und mRNA-Impfstoffe sind in aller Munde.        nach vielen Jahren Wissenschaftskommunikation Zweifel
                                                                     Man kennt sich aus mit den Schwierigkeiten, das Infek-        gibt, ob und wie man an diejenigen herankommt, die auf
                                                                     tionsgeschehen zu modellieren und kann souverän die           wissenschaftliche Fakten pfeifen. Wie also beispielsweise
                                                                     Namen der unterschiedlichen gerade kursierenden Virus-        in die Echokammern von Klimawandelleugner*innen hin-
                                                                     varianten unterscheiden. Der erwähnte Podcast Christian       eindringen?                                                   Auf Leute, die es genauer wissen wollen, treffen Wissen­
      der Coronazeit in deutschen Medien sehr präsent durch die      Drostens, der inzwischen im wöchentlichen Wechsel mit             Die Wunderwaffe der Wissenschaftskommunikation,           schaftler*innen, die mehr und besser erklären wollen.
      beinahe tägliche Kommunikation der Infektionszahlen –          der Frankfurter Virologin Sandra Ciesek aufgenommen           die auch die erreicht, die sich ganz tief ins Gespinst der    ­Hierauf deuten die Ergebnisse einer kürzlich durchgeführ-
      gab es einen Brandanschlag. Auch die wichtigste deutsche       wird, wurde bislang über 100 Millionen Mal abgerufen. Die     Verschwörungsmythen zurückgezogen haben, wurde noch            ten Online-Umfrage des Deutschen Zentrums für Hoch-
      Wissenschaftsakademie, die Leopoldina in Halle, wurde          Hörer*innen nehmen sich für jede Folge rund eine Stunde       nicht gefunden. Doch aufgeben gilt nicht, meint die mit        schul- und Wissenschaftsforschung, des Nationalen Ins-
      bedroht und von Hacker*innen attackiert.                       Zeit, um wissenschaftliche Details erklärt zu bekommen        ihrem YouTube-Kanal maiLab in Deutschland erfolgreiche         tituts für Wissenschaftskommunikation und der Impact
         In dieser Situation überlegt man es sich als Wissen­        und zu erfahren, wie wissenschaftliche Erkenntnispro-         Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim. Wissen-          Unit von Wissenschaft im Dialog hin. 80 Prozent der rund
      schaftler*in dann doch, wem man im Pub eine Geschichte         zesse ablaufen.                                               schaft müsse sich einmischen, sagt die promovierte Chemi-      5 700 befragten Wissenschaftler*innen an deutschen Uni-
      erzählt. Wer weiß, ob nicht am Ende eine wüste Kneipen-           Doch die Coronapandemie hat auch die Skeptiker*innen       kerin zum Abschluss der #FactoryWisskomm. Sonst über-          versitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtun-
      schlägerei daraus entsteht.                                    sichtbarer gemacht. Die Leugner*innen des Klimawan-           lasse sie denen das Feld, die Wissenschaft verdrehen und       gen stimmten der Aussage zu, dass ihnen die Kommunika-
         Christian Drosten, der unter anderem in einem viel-         dels sind nicht verschwunden. Sie wurden nur über-            für politische und ideologische Zwecke instrumentalisie-       tion Spaß mache und eine Arbeitsbereicherung darstelle.
      gehörten Podcast regelmäßig neueste Forschungser-              tönt von jenen, die gegen das Maskentragen und Imp-           ren. Mit ihrem Kanal, den auf YouTube mehr als 1,3 Mil-        Und 91 Prozent der Befragten meinen, Wissenschaftskom-
      kenntnisse zum Coronavirus und zu Entwicklungen der            fen Protest schlagen. Die Gruppe solcher selbsternannten      lionen Personen abonniert haben, hat sie ein Rezept ent-       munikation solle zum Ziel haben, die wissenschaftsbasierte
      Corona­pandemie erklärt, lässt sich nicht einschüchtern        „Querdenker*innen“ wittert großangelegte Verschwörun-         wickelt, das auch bei Wissenschaftsskeptiker*innen Erfolg      Entscheidungsfindung in der Gesellschaft zu stärken.
      und begreift Wissenschaftskommunikation als Teil seiner        gen des „Systems“, zu dem aus ihrer Sicht nicht nur der       haben könnte. „Verschwörungstheorien, die Wissenschaft             Nach eineinhalb Jahren Pandemie lassen sich positive
      Aufgaben. Doch er hat Verständnis für eine gewisse Kon-        Staat, sondern auch Medien und eben weite Teile der Wis-      verdrehen, gehen oft erstaunlich tief ins Detail, auch wenn    Trends für die Wissenschaftskommunikation erkennen –
      taktscheu mancher Kolleg*innen im Umgang mit Wissen-           senschaft gehören.                                            die Details falsch sind“, hat sie beobachtet. „Der Eindruck    trotz aller strukturellen und individuellen Herausforde-
      schaftsthemen, die öffentlich kontrovers sind oder wer-           Wissenschaftliche Expertise und Wissenschaftskom-          bei Laien ist positiv: Hier nimmt sich jemand Zeit und geht    rungen. Schließlich haben alle Beteiligten viel gelernt:
      den könnten. „Mit öffentlichen Reflexen umzugehen, sind        munikation spielen vor diesem Hintergrund auch eine           in die Tiefe, während anderswo immer mehr verkürzt wird.       Die Öffentlichkeit darüber, wie Wissenschaft arbeitet,
      die meisten Wissenschaftler*innen nicht gewohnt. Das ist       Rolle für den sozialen Zusammenhalt und den Umgang            Unsere Erfahrung ist: Wenn wir hineingehen in Metho-           die Wissenschaft, worauf sie bei der Kommunikation mit
      nicht Teil ihrer Ausbildung, auch nicht Teil ihrer Alltags­    mit politischen Extremen. Das ist viel zusätzliche Verant-    den, in Statistik, in Konfidenzintervalle einsteigen, wird     der Öffentlichkeit achten muss und schließlich die Politik
      erfahrung“, sagt er bei der Abschlussveranstaltung der         wortung für die Wissenschaft, von der sich manche*r über-     das gut aufgenommen. Die Leute wollen es genau wissen.         und die Medien, wie sie mit Unsicherheiten und Minder-
      #FactoryWisskomm.                                              fordert fühlt. Wer sich auf die Kommunikation, besonders      Und nur so hat man am Ende die besseren Argumente.“            meinungen in der Forschung besser umgehen können.

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