Kritisches Kartieren als reflexive Praxis qualitativer Forschung
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supported by Geogr. Helv., 77, 153–163, 2022 https://doi.org/10.5194/gh-77-153-2022 © Author(s) 2022. This work is distributed under the Creative Commons Attribution 4.0 License. Kritisches Kartieren als reflexive Praxis qualitativer Forschung Boris Michel Institut für Geowissenschaften und Geographie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Deutschland Correspondence: Boris Michel (boris.michel@geo.uni-halle.de) Received: 14 December 2021 – Revised: 2 March 2022 – Accepted: 10 March 2022 – Published: 14 April 2022 Kurzfassung. Both qualitative research in geography and visual geographies have an ambivalent relationship to maps and cartographic methods. Reasons for this include discourse-theoretical approaches to maps and car- tography since the 1980s, the tension between the self-images of modern cartography and the methodological perspectives of qualitative approaches, the relationship between map and image, or the role of technology in cartography and GIS. On the one hand, this ambivalent relationship can be well explained historically. On the other hand, a number of possible connections can be pointed out. Based on current discussions in geography and beyond, the article therefore explores and systematizes practices of critical mapping in order to explore new possibilities of connection between visual approaches of qualitative geographies and maps. 1 Einleitung oder Kulturwissenschaft zu betreiben in erster Linie, Texte zu schreiben und sich mit Texten zu befassen (Flick, 2010, Ein Ausgangspunkt dieses Themenheftes ist die Beob- 531ff). In der deutschsprachigen Geographie wird das beson- achtung, dass aktuell, wenn „es in der deutschsprachigen ders deutlich am Erfolg der Neuen Kulturgeographie in den Geographie um Visualisierungen von Forschungsdaten und frühen 2000er Jahren. -ergebnissen [geht], in erster Linie an Darstellungen auf Ba- Zugleich ist in den letzten Jahren ein Boom an neuen In- sis quantitativer Daten gedacht“ (CfP) wird. Dieser Beobach- strumenten und einem Experimentieren mit neuen Formen tung ist angesichts des üblichen Gebrauchs von Karten, Gra- der Visualisierung und visuellen Kommunikation zu beob- phen, Diagrammen und Tabellen in der Disziplin sicherlich achten. Das gilt einerseits und ganz besonders für die Visua- zuzustimmen. Zugleich gilt aber auch, dass sich qualitative lisierung quantitativer Daten und das Feld der data visuali- Forschung in der Geographie lange Zeit mit einer expliziten zation. Dabei spielen Karten und andere Formen der Geo- Auseinandersetzung mit visuellen Strategien der Kommu- visualisierung eine wichtige Rolle, und Raum stellt sowohl nikation raumbezogenen Wissens schwergetan hat (Crang, als geographischer Raum wie auch in Form von diagramma- 2010). Die Gründe hierfür sind vielfältig. Sie reichen von ei- tischen Verräumlichungen in der visuellen Kommunikation ner starken Fokussierung qualitativer Methoden auf Text und eine zentrale Ordnungskategorie dar. Der Boom an neuen die Reflexion der Rolle des Schreibens im Forschungspro- Instrumenten und Formen der Visualisierung und visuellen zess, dem großen Einfluss des linguistic turns auf die Ent- Kommunikation gilt aber auch für qualitative Verfahren und stehung der qualitativen Sozialforschung und der „Margina- die Visualisierung qualitativer Daten und qualitativen Wis- lisierung des Bildes in den qualitativen Methoden“ (Bohn- sens. Das wird in der Geographie und raumbezogenen For- sack, 2014, S. 157) über die sich seit den 1990er Jahren schung beispielweise deutlich an neuen Formen des Einsat- durchsetzende Kritik am kartographischen Blick bis zu ei- zes von Fotographien über eine klassische Dokumentations- ner distanzierten Haltung vieler qualitativ arbeitender Geo- funktion hinaus oder auch an dem wachsenden Interesse an graph*innen gegenüber Geoinformationssystemen (GIS) als künstlerischen Methoden und einer Verschneidung künstle- einer Praxis der technizistischen und positivistischen Quan- rischer und wissenschaftlicher Wissensproduktion (Heinrich tifizierung. Uwe Flicks Begriff der qualitativen Sozialfor- et al., 2021; Hawkins, 2021). Ein gutes Beispiel sind aktuel- schung folgend, bedeutet Geographie als qualitative Sozial- Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
154 B. Michel: Kritisches Kartieren als reflexive Praxis qualitativer Forschung le Beiträge zu neuen Formen von graphischem Storytelling, und ideologiegeladenen Aspekten des geographischen „ga- Comics und Graphic Novels (Fall, 2021; Dittmer, 2014; Aal- ze“ (Rose, 1993), fordert gerade von qualitativer Forschung ders et al., 2020) als Methode und Gegenstand geographi- eine Vorsicht im Umgang mit Visualisierung als Praxis der scher Forschung. Wissenskommunikation. Vor dem Hintergrund dieser Span- Das wachsende Interesse an visuellen Formen der Wis- nungsverhältnisse und Schnittfelder geht es in diesem Bei- senskommunikation für qualitative Forschung zeigt sich aber trag darum, Fragen visueller Praktiken in der qualitativen auch an einem neuen und veränderten Gebrauch von Karten Geographie an Beobachtungen aus dem Feld kritischen Kar- und an neuen und veränderten Praktiken des Kartierens in- tierens und kritischer Kartographien anzuschließen. Der Bei- nerhalb und außerhalb der Geographie. Dies steht im Zen- trag geht von der Beobachtung aus, dass in den letzten Jah- trum des vorliegenden Artikels, der Spannungsverhältnisse ren vielfältige neue Formen des Kartierens und des Arbeitens und Schnittfelder zwischen qualitativer Forschung, der Geo- mit Karten entwickelt wurden, die Impulse für eine sich kri- graphie und Karten bestimmen möchte. tisch verortende qualitative Geographie liefern können. Im Karten sind einerseits jenes Instrument der Materialisie- Weiteren interessieren daher insbesondere Arbeiten, Erfah- rung raumbezogener Diskurse und raumbezogenen Wissens, rungen und Überlegungen aus einem Feld, das mit Begrif- das historisch im Zentrum der Geographie als universitärer fen wie counter-mapping, radical cartography, counter car- Disziplin steht und das im 19. Jahrhundert eine Professionali- tography oder Kritischem Kartieren bezeichnet werden kann sierung in Form der institutionalisierten Kartographie erfuhr. (Mogel und Bhagat, 2008; Sletto et al., 2020; Orangotango+, Als visuelle Repräsentation räumlicher Diskurse kann die 2018; Dalton und Stallmann, 2018; Wood, 2010, 2011; Pelu- Karte als Inbegriff der Visualisierung raumbezogenen Wis- so, 1995; Dammann und Michel, 2022). Der Beitrag verortet sens gelten. Andererseits spielen Karten in der Hinwendung sich damit in den Diskussionen der Kritischen Kartographie zu einem reflexiven Umgang mit Visualisierung und Visuali- und des Kritischen Kartierens, die hier als eine Doppelbe- tät in der Geographie – anders als das Bild – nur eine unterge- wegung aus theoretischer Kritik bzw. Problematisierung der ordnete Rolle (Schlottmann und Miggelbrink, 2015; Kogler, Karte und kritischer Praxis begriffen werden sollen (Cramp- 2018; Heinrich et al., 2021). Der visual turn in der Geogra- ton und Krygier, 2005). Besonders interessant für die weitere phie hat bislang nur ein relativ geringes Interesse an Karten Diskussion sind dabei Beiträge an den Rändern oder jenseits gezeigt (Michel, 2021). Wenn in den letzten Jahren nun ein der Ränder der akademischen Geographie und Kartenpraxis. wachsendes Interesse an Karten in kritischer und qualitati- Dabei vertritt dieser Text die These, dass in diesem Feld Kri- ver Forschung konstatiert werden kann, dann kann dies, ne- tischen Kartierens und Kritischer Kartographien ein Begriff ben neuen digitalen Instrumenten der Visualisierung und ei- von qualitativen Kartographien entwickelt wird, der über die ner rapiden Zunahme raumbezogener Daten, auch mit einer Visualisierung qualitativer Daten hinaus reicht und in dem stärkeren Hinwendung zur Praxis und dem Prozess des Kar- sowohl Fragen der Wissenschaftstheorie wie auch der Praxis tierens, Kartennutzens und Kartenlesens begründet werden – und Ästhetik verhandelt werden. eine Hinwendung, die sicherlich auch für den Umgang mit Dafür sollen in einem ersten Schritt noch einmal in kurz- anderen visuellen Methoden und Visualisierungen zu beob- er und zugespitzter Form das Spannungsfeld zwischen Kar- achten ist. Kritisches Kartieren wird darin zu einer reflexiven ten und GIS auf der einen Seite und qualitativen Forschung Praxis, die wichtige Beiträge zu einer kritischen Perspektive auf der anderen Seite skizziert werden. Hierfür wird der Text auf die Visualisierung qualitativer Geographien leisten kann. in aller Kürze einige zentrale Punkte aus den Diskussio- Wenn dieses Themenheft also nach Möglichkeiten und nen der kritischen Kartographie rekapitulieren. In einem an- Grenzen visueller Ansätze zur Überwindung rein textbasier- schließenden Schritt werden im dritten Abschnitt Versuche ter Kommunikation in der qualitativen Geographie fragt, so der Systematisierung kritischer Ansätze des Kartierens un- kann etwas zugespitzt zunächst festgestellt werden, dass die ternommen. Geographie einerseits auf eine sehr lange Tradition visueller Kommunikation verweisen kann, die sich jedoch nicht allzu einfach in einen klaren Dualismus von qualitativ und quan- 2 Das Spannungsfeld zwischen Karten und titativ einfügen lässt (Michel, 2015). Andererseits ist festzu- qualitativen Geographien halten, dass qualitative und kritische Ansätze seit den 1980er Jahren – bzw. seit es diesen Begriff im heute üblichen Sinne Das aktuelle Interesse an kartographischen Arbeiten in der in der Geographie überhaupt gibt – eher auf eine Überwin- kritischen und qualitativen Geographie und raumbezogenen dung der Karte im Speziellen und visueller Kommunikation Forschung mag überraschen. Karten und Kartographie sind in der Geographie im Allgemeinen abgezielt haben als auf sowohl aus kritischer und qualitativer Perspektive alles an- deren Aneignung. Was Gregory vor dem Hintergrund femi- dere als unproblematisch, wie auch aus Perspektive visueller nistischer und postkolonialer Theorien bereits 1994 als „car- Geographien. Diese ältere Kritik soll im Folgenden unter drei tographic anxiety“ (Gregory, 1994) bezeichnet hat, als ein zugespitzten Aspekten kurz rekapituliert werden. Unbehagen gegenüber dem kartographischen Blick und kar- Zunächst sind aber noch einige Absätze zu den Begriffen tographischer Rationalität (Pickles, 2004) und den macht- von „qualitativer Forschung“, „qualitativer Geographie“ und Geogr. Helv., 77, 153–163, 2022 https://doi.org/10.5194/gh-77-153-2022
B. Michel: Kritisches Kartieren als reflexive Praxis qualitativer Forschung 155 „qualitativen Karten“ notwendig, ist deren Gebrauch doch al- teristikum nennt Cope eine mit der Betonung von Refle- les andere als eindeutig. Qualitative Ansätze und Methoden xivität, Situiertheit und Verbundenheit von Forschung, For- haben in der Geographie seit den frühen 2000er Jahren an scher*in und Forschungsgegenstand einhergehende Sensibi- Prominenz gewonnen (Wintzer, 2018; DeLyser, 2010; Mat- lität für Fragen von Macht und dem Politischen in der qua- tissek et al., 2013), gerade im Umfeld von (Neuer) Kultur- litativen Forschung. In diesem weiteren Sinne von qualita- geographie und Kritischer Geographie können sie als domi- tiver Forschung in der Geographie ist ein Forschungsver- nierend gelten, quantitative Ansätze haben hier einen rela- ständnis eingelagert, das stark von kritischen Theorien der tiv schweren Stand. Obgleich Ursprungserzählungen immer Gesellschaft und insbesondere feministischer Wissenschafts- problematisch sind und ein weiter Begriff qualitativer Me- kritik geprägt ist (Autor*innenkollektiv Geographie und Ge- thoden durchaus auch für Ansätze der geographischen Län- schlecht, 2021). derkunde des frühen 20. Jahrhunderts angelegt werden könn- In Bezug auf Karten und die klassische Kartographie be- te, markiert Meghan Cope den Beginn einer dokumentier- gegnet der Begriff des „Qualitativen“ zunächst in der Ver- ten Geschichte des Begriffs der qualitativen Geographie wie wendung für einen bestimmten Datentyp. Wie in der Sta- auch des heutigen Verständnisses in Hinblick auf die anglo- tistik, so gelten in der klassischen Kartographie und GIS phone Geographie auf das Ende der 1980er Jahre (Cope, nominalskalierte Daten als qualitative Daten, da ihre Un- 2010, S. 25). Dieser Perspektive soll in diesem Aufsatz ge- terschiede Differenzen der Qualität bzw. der Art und nicht folgt werden. der Quantität sind. So unterscheidet auch Jacques Bertin in Dabei lassen sich in der Geographie wie auch darüber „Graphische Semiologie“ als Gliederungsstufen von Daten hinaus mindestens zwei Verständnisse bzw. Pole von qua- zwischen qualitativen, geordneten und quantitativen Daten litativer geographischer Forschung ausmachen. Qualitative (Bertin, 1974, S. 14). Aus dieser Perspektive sind die Un- Forschung bezeichnet in der sozialwissenschaftlichen For- terschiede zwischen den Signaturen für Mischwald, Sumpf schung auf der einen Seite ein Methodenspektrum, das auf und Heide qualitative Unterschiede. Während die moder- Erhebung und Analyse nicht-standardisierter Daten abzielt. ne Kartographie kaum einen Begriff der qualitativen Kar- Diese Daten sind in der Regel reichhaltiger, offener und dich- te hat, 1 der anschlussfähig an die Perspektiven qualitati- ter und zu ihrer Analyse werden in der Regel interpretati- ver Sozialforschung wäre, und die Übersetzung von quali- ve oder rekonstruktive Verfahren eingesetzt. Zumeist wird tativer Forschung in Karten hier in erster Linie eine Über- dabei davon ausgegangen, dass sich die Gütekriterien qua- setzung in nicht-qualitative Daten bedeutet, hat sich seit den litativer Forschung kategorial von denen der quantitativen frühen 2000er Jahren zudem ein Begriff von qualitativem Forschung (Objektivität, Validität, Reliabilität) unterschei- GIS entwickelt, der enger am Begriff qualitativer Sozialfor- den (Flick, 2019). Auf der anderen Seite findet sich in der schung orientiert ist. Auch hier finden sich beide zuvor ge- qualitativen Forschung ein weitreichenderer Begriff, der ne- nannten Auslegungen von „qualitativ“: Auf der einen Seite ben den Daten und Analyseverfahren umfassende wissen- betrifft dies Versuche, qualitative Daten mittels GIS zu re- schaftstheoretische Implikationen hat und nach dem quali- präsentieren und „Qualitative GIS“ als Teil von GIS zu eta- tative Forschung von einem eigenen Forschungsethos getra- blieren. Dabei wird der Begriff qualitativer Daten vielfach gen ist. Ein solcher Begriff verweist nicht nur auf eine Rei- weit gefasst und umfasst oftmals ein sehr breites Feld nicht- he von Methoden der Erhebung und Analyse, sondern be- standardisierter und nicht-quantifizierter Daten. So werden tont andere Formen und Praktiken des Wissens und Weltver- unter dem Begriff u. a. Karten von Emotionen, Einstellungen ständnisses. Es ist eine methodologische Perspektive, für de- und subjektiven Raumwahrnehmungen und Aktionsräumen ren Forschung lokale Epistemologien, Erfahrungswissen, Si- (Kwan, 2008; Mennis et al., 2013) gefasst, aber auch die Ein- tuiertheit, Offenheit und Reflexivität zentrale Kriterien sind bindung von Metadaten als Kontext (Schuurman, 2009), das und die damit ein anderes Verhältnis zwischen Forscher*in Hinzufügen von qualitativem Material wie Bildern oder Ton- und Gegenstand formuliert (Bohnsack, 2014). dokumenten zu Karten oder auch die raumbezogene Analy- Mit Blick auf die Geographie und anschließend an letz- se großer Textkorpora mit Verfahren des natural language teres Verständnis beschreibt Cope vier Charakteristika qua- processing (Martin und Schuurman, 2020). Auch weite Teile litativer Forschung. Erstens die Tendenz zu Triangulation der Diskussion um platial GIS (Blaschke et al., 2018; Gao von Methoden und der Anwendung eines Methodenmix als 1 Eine offene Frage ist sicherlich, ob mental maps hier als ei- Forschungsstrategie für eine kontextsensible qualitative For- schung und zweitens eine Privilegierung kollaborativer For- ne Ausnahme gelten können. Erstens spielen sie in der qualita- tiven Sozialforschung eine gewisse Rolle und können als Instru- men der Wissensproduktion bzw. die Anerkennung, dass For- ment verstanden werden, dichte und individuelle Raumerfahrungen schung eine soziale und situierte Praxis ist. Drittens sind qua- zu artikulieren. Zudem ist ihre Entstehung einerseits eng mit dem litative Geographien stark an Kontext interessiert, sie rich- quantitativ-theoretischen Paradigma in der Geographie verbunden, ten sich gegen die Abstraktion, Verallgemeinerung und En- und andererseits ist der Prozess der Kartierung hier einer der Stan- tortung quantitativer Methoden und sind „a way of seeing dardisierung und Generalisierung von individuellen mentalen Räu- the world through its relationships, networks, causalities, men (Gould, 1966; Gould und White, 1974; Lynch, 1959; Million, and connections“ (Cope, 2010, S. 31). Als viertes Charak- 2021). https://doi.org/10.5194/gh-77-153-2022 Geogr. Helv., 77, 153–163, 2022
156 B. Michel: Kritisches Kartieren als reflexive Praxis qualitativer Forschung et al., 2013; Westerholt et al., 2018) können in diese Per- 2004; Gregory, 1994) als die Macht der Karte kritisieren, sind spektive eingeordnet werden. Sicherlich ist dabei in vielen unter anderem die im ,Ideal der Kartographie‘ (Edney, 2019) Fällen zu fragen, ob die Übersetzung qualitativer Forschung als unproblematisch proklamierte Evidenz des Visuellen, die in die Sprache und Ontologie eines GIS diese nicht zu quan- Selbstsicherheit und Eindeutigkeit der Karte, die Autorität titativen Daten macht oder zumindest zu nicht-qualitativen. der kartographischen Wissenschaft und Technik im Dienste Selbst Kwans „From oral histories to visual narratives: re- hegemonialer Akteure wie auch die Verdinglichung und Fi- presenting the post-September 11 experiences of the Mus- xierung des Sozialen durch Verräumlichung. Wie Matthew lim women in the USA“ (Kwan, 2008), zurecht als ein her- Edney an der Geschichte literarischer, künstlerischer und sa- ausragender Beitrag im Bereich von qualitativen GIS ange- tirischer Aneignungen von Karten seit dem späten 19. Jahr- sehen, verortet die Visualisierung von Gefühlen der Angst hundert illustriert – etwa in Form von Mark Twains Karte von und Sicherheit im städtischen Raum in einfachen roten und Paris, Lewis Carrolls komplett weißer Karte oder in Texten grünen Signaturen. Die Tiefe und Reichhaltigkeit der qua- von Jorge Luis Borges –, ist die Karte geradezu zum Inbe- litativen Daten bleiben auch hier weitgehend außerhalb der griff des Fixen, der naiven Abbildungsbehauptung und der kartographischen Darstellung. Während diese Arbeiten em- Wissenschaft als reinem Index der materiellen Welt gewor- pirisch oftmals interessant sind und auch konzeptionell ge- den (Edney, 2019). All dies macht Karten gerade für quali- wiss zu einer Öffnung von GIS für stärker kontextualisierte tative Forschung problematisch, zumindest dann, wenn qua- und nuancierte qualitative Daten beitragen, so ist dies aus der litative Forschung nicht nur als die Arbeit mit qualitativen, Perspektive qualitativer Forschungsmethoden sicherlich eher d. h. reichhaltigen, situativen und dichten Daten, sondern als als ein Verlust an qualitativer Tiefe zu verstehen, denn als eine reflexive und positionierte Praxis verstanden wird. neue Formen der Visualisierung und Kommunikation quali- tativer Daten. Am anderen Ende des Spektrums finden sich 2.2 GIS als die Rache der positivistischen Geographie unter dem Begriff des qualitativen GIS jedoch auch Ansätze, aus der digitalen Blackbox welche die qualitative Dimension nicht allein in den Daten und der Analyse bzw. Darstellungsform, sondern eher in ei- Diese kritische Perspektive hat in den frühen 1990er Jahren nem bestimmten Ethos und einer bestimmten Praxis veror- durch die Etablierung von GIS und die daran anschließen- ten (Wilson, 2017; Aitken und Kwan, 2010; Westerveld und de Auseinandersetzung eine Erweiterung erfahren. Die Aus- Knowles, 2020). Es sind dieses Ethos und diese Praktiken in einandersetzungen um die Rolle, Möglichkeiten, Gefahren Arbeiten, die unter Begriffen wie counter-mapping, radical und ideologischen Dimensionen von GIS und computerge- cartography, counter cartography oder Kritischem Kartieren stützter Geographie sind, einschließlich ihrer eigenen My- adressiert werden, aus denen sich ein kritisches Verständnis then, Heroen und Ereignisse, unter Begriffen wie „GIS Wars“ qualitativer Kartographien entwickeln lässt. Zunächst sollen oder „GIS & Society“ in die Geschichtsschreibung digita- aber die Spannungen zwischen einem klassischen Verständ- ler Geographien eingegangen (Schuurman, 1999; Wilson, nis von Karten, der Kritik der Kritischen Kartographie und 2017; Sheppard, 2005; Pickles, 1995). Dabei war es gera- einer qualitativen und visuellen geographischen Forschung de die vielfach als „externer“ Blick bezeichnete Perspektive anhand von drei Aspekten skizziert werden. feministischer, marxistischer und anti-positivistischer Geo- graph*innen, die GIS für seine technokratische Rationali- 2.1 Kritische Kartographie als Kritik der tät und seine quantifizierende und reduktionistische Zurich- modernistischen Selbstbeschreibung von tung und Übersetzung von Welt in die Anforderung digitaler Kartographie und Geographie Computer kritisierte. GIS erschien aus dieser Perspektive in den berühmt-berüchtigten Worten von Peter Taylor als „po- Seit den späten 1980er Jahren hat sich eine akademische sitivist geography’s great revenge“ (Taylor, 1990, S. 211), Debatte etabliert, die oftmals unter dem Begriff der criti- als Versuch, die gescheiterten bzw. überwundenen Verspre- cal cartography zusammengefasst wird. Die Kritische Kar- chen der quantitativen Revolution wiederzubeleben. Diese tographie, wie sie insbesondere mit den Arbeiten von Brian Rache – und das ist ein weiterer wichtiger Punkt für das Un- Harley und Denis Wood verbunden wird, ist in hohem Maße behagen qualitativer Forschung – wird nun aber unterstützt als eine Kritik an der Selbstbeschreibung der akademischen durch die Macht eines neuen Akteurs im Netzwerk, wie es Kartographie und ihres modernistischen Fortschrittsnarrativs Neil Smith nicht weniger prägnant mit seiner Parallelisierung angetreten, die sowohl die repressiven als auch die produk- von GIS und der Rationalität des militärisch-technologisch- tiven Momente kartographischen Machtwissens in den Blick industriellen Komplexes unterstreicht (Smith, 1992). Nicht nimmt. Diese Perspektive ist in ihrer dekonstruktivistischen, nur wird GIS damit in die lange Geschichte einer engen semiotischen oder auch ideologiekritischen Form bilderstür- Verbindung zwischen Geographie und Kriegsführung einge- merisch und geprägt von einer Skepsis gegenüber dem expli- schrieben, sondern es werden Fragen nach der Rolle tech- ziten oder impliziten Abbildversprechen der Karte. Was Har- nologischer Vermittlung aufgeworfen, die aktuell beispiels- ley (Harley, 1988, 1989, 2001), Wood (Wood, 1992; Wood weise in Diskussionen um bias in Algorithmen oder die so- und Fels, 1986) und zahlreiche andere Autor*innen (Pickles, wohl stabilisierende als auch verbergende Funktion techno- Geogr. Helv., 77, 153–163, 2022 https://doi.org/10.5194/gh-77-153-2022
B. Michel: Kritisches Kartieren als reflexive Praxis qualitativer Forschung 157 logischer blackboxes wiederaufleben (Kwan, 2016; Noble, te zum Kartieren an Dominanz verloren, aber dies ist gerade 2018). Kritische Perspektiven auf GIS und Karten waren al- keine Wende zum Visuellen der Karte (Dodge et al., 2009; so oftmals nicht nur bilderstürmerisch, sondern auch maschi- Gerlach, 2018; Edney, 2019). Kritische Kartographie war al- nenstürmerisch. so auch in dem Sinne bilderstürmerisch, dass es sich bei ih- rem Gegenstand nicht mehr um etwas Bildhaftes handelte, 2.3 Karte als Text ihre Kommunikation nicht als visuelle Kommunikation ver- standen wurde. Problematisch ist zudem der theoretische Status der Karte Verdinglichung, Fixierung, Selbstbeschreibung und visu- bzw. der Begriff der Karte, wie er in theoretischen Diskussio- elle Logik eines unmarkierten view from nowhere (Haraway, nen seit den 1960er Jahren dominiert. Es mag zunächst über- 1988; Harding, 1992), technokratische Rationalität oder gar raschen, dass die Karte in vielen Überlegungen zu visuellen Medium der Entfremdung (Roszak, 1972, S. 410) – all das Geographien und visuellen Methoden vielfach keine große sind Gründe, warum es zwischen qualitativer Geographie Rolle spielt (z.B. Rose, 2012). Eine Ursache liegt sicherlich und Karten bis in jüngere Zeit nur wenige produktive An- nicht nur darin begründet, dass die Karte eher ein Instrument schlüsse gab. Zudem standen Karte und Kartographie wei- der klassischen Geographie war und nicht eben als Mittel terhin für die klassische und traditionelle Geographie und innovativer theoretischer und methodischer Ansätze schien, damit nicht für die Innovation und Öffnung der Geographie aus denen akademische Meriten zu gewinnen sind, sondern für neue Epistemologien und neue Methoden. Für kritische auch darin, dass Karten weder eindeutig als Bilder noch vi- Geograph*innen waren Karten seit den Arbeiten von Harley, suell zu verstehen sind. Zumindest hat sich gegenüber der im Wood und Anderen eher Forschungsgegenstand und weniger 18. und 19. Jahrhundert etablierten Beschreibung von Karten Instrument, Methode oder Ziel von Forschung. als Bildern bzw. mimetischen Abbildern der Erdoberfläche im 20. Jahrhundert ein textualistisches Verständnis von Kar- 3 Kritisches Kartieren als reflexive Praxis ten durchgesetzt oder zumindest eines der „Verschränkung von Skripturalität und Piktoralität“ (Mersch, 2006, S. 104). 3.1 Kartographische Öffnungen Das wird beispielsweise bei Harley deutlich, wenn er zur De- konstruktion des kartographischen Textes aufruft und in sei- Bei aller Kritik zieht sich aber auch durch die Programme nen einflussreichen Arbeiten die Textualität von Karten her- der kritischen Kartographie immer auch ein Wunsch nach vorhebt (Harley, 1989), oder wenn Wood und Fels nicht nur anderen Karten und anderen kartographischen Formen des auf den Aussagencharakter von Karten hinweisen, sondern Wissens. Kritische Kartographie war nie nur kartenkritisch. zugleich proklamieren: „We’re not interested in maps as pic- Sei es, wenn Wood bereits 1978 zu einer humanistischen Re- tures“ (Wood und Fels, 2008, S. 195). formulierung der Karte aufruft, einer „Cartography of Rea- Diese Nähe zwischen Text und Karten gilt aber auch für lity“, die ihren Ausgangspunkt in der alltäglichen menschli- den Mainstream der modernen Kartographie, gegen den sich chen Wahrnehmung und Erfahrung habe und weit mehr for- Harley, Wood und andere richten, etwa wenn Alfred Hett- dert als die letztlich weiterhin quantitativen mental maps je- ner bereits in den 1920er Jahren betont, dass in Bezug auf ner Zeit (Gould und White, 1974). „A cartography of reali- die Karte anstelle von „Abbildung“ doch eher von „Aussa- ty must be humane, humanist, phenomenological, and phe- gen“ und „Urteilen“ zu sprechen sei (Hettner, 1927, S. 335). nomenalist“ (Wood, 1978, S. 207). Auch das monumentale Dieser Zugang zu Karten gilt aber gerade auch seit der und bis heute nicht abgeschlossene Publikationsprojekt „The informations- und kommunikationstheoretischen Wende der History of Cartography“, an dem Harley zeitgleich zur Pu- Kartographie in den 1960er Jahren (Koláčný, 1969; Robin- blikation seiner Grundlagentexte einer dekonstruktiven kriti- son und Bartz Petchenik, 1977) und mehr noch seit der Eta- schen Kartographie arbeitete, ist in hohem Maße eine Suche blierung einer Kartentheorie, die sich als Teil einer allge- nach einem breiteren und offeneren Begriff von Karte. Ei- meinen Semiologie begreift, einer „für das Auge bestimmte nerseits bestimmt dort die einleitende Definition Karten als Sprache“ (Bertin, 1974, S. 10). Während die moderne Karto- „graphic representations that facilitate a spatial understan- graphie diese Fokussierung auf Zeichen und Text als notwen- ding of things, concepts, conditions, processes, or events in dig für die Etablierung einer wissenschaftlichen und objekti- the human world“ (Harley und Woodward, 1987) und grenzt ven Kartographie begriff, um der Nähe von Abbild und Kunst sich damit von abbildtheoretischen und modelltheoretischen zu entkommen, diente sie kritischen Kartograph*innen, um Definitionen ab, die in der akademischen und professionellen Karten als kulturelle Texte und Kartographie als machtvol- Kartographie dominierten. Zudem unternimmt dieses Projekt len Diskurs kritisch zu ,lesen‘. Beides hat dazu geführt, dass eine geographische und historische Öffnung dessen, was als sich Karten und Kartieren für kritische Geograph*innen als Teil der Geschichte der Kartographie zu gelten hat – die Kar- wenig attraktive Instrumente qualitativer und reflexiver For- te und die Kartographie werden einer eurozentrischen Fort- schung darstellten. Zwar hat ein textualistischer Zugang zu schrittserzählung entrissen. Karten in der Kritischen Kartographie mit der praxeologi- Zugleich haben sich immer wieder auch Autor*innen auf schen bzw. prozessualen Wende und der Wende von der Kar- offenere und experimentellere Begriffe von Karten bezogen, https://doi.org/10.5194/gh-77-153-2022 Geogr. Helv., 77, 153–163, 2022
158 B. Michel: Kritisches Kartieren als reflexive Praxis qualitativer Forschung auf Begriffe, die gerade die Veränderung und Unabschließ- schen Beispiele sind expliziter oder impliziter Teil des Ar- barkeit von Karten betonen und nicht den repressiven Cha- chivs des aktuellen Booms kritischer Auseinandersetzungen rakter kartographischen Machtwissens. Anregung zu einem und Aneignungen der Karte. solchen Begriff fanden kritische Kartograph*innen beispiels- weise bei Deleuze und Guattari. In „Tausend Plateaus“ steht die Karte gegenüber Fotografie und Zeichnung gerade als 3.2 Counter-mappings das Rhizomatische, als etwas, das „ganz und gar auf ein Ex- perimentieren als Eingriff in die Wirklichkeit orientiert ist. Die empirische Basis der folgenden Überlegungen sind meh- [. . . ] Die Karte ist offen, sie kann in allen ihren Dimen- rere Publikationsprojekte, an denen ich in den letzten Jahren sionen verbunden, zerlegt und umgekehrt werden, sie kann als Mitherausgeber beteiligt war, sowie eine Vielzahl weite- ständig neue Veränderungen aufnehmen. Man kann sie zer- rer Karten und Kartierungsprojekte. Diese Karten zeichnen reißen oder umkehren; sie kann sich Montagen aller Art an- sich dadurch aus, dass ihre Autor*innen sich in der einen passen; sie kann von einem Individuum, einer Gruppe, einer oder anderen Weise im Feld von counter-mapping, radical gesellschaftlichen Organisation angelegt werden“ (Deleuze cartography, counter cartography oder Kritischem Kartie- und Guattari, 1992, S. 24). ren verorten und dass sie in der weitüberwiegenden Zahl Mit diesen alternativen Ansätzen einer kritischen Praxis mit nicht-quantitativen Daten arbeiten. Zugleich spielt der des Kartierens verschiebt sich auch die Autor*innenschaft. Begriff der qualitativen Forschung darin kaum eine Rolle. Die in Kapitel 2 skizzierte Auseinandersetzung mit Karto- In der überwiegenden Zahl sind diese Karten als Teil poli- graphie, GIS und Geographie stammt in erster Linie aus dem tischen und künstlerischen Aktivismus entstanden und nur akademischen Feld. Alternative Ansätze einer kritischen Pra- zum Teil an akademische Forschungspraktiken angeschlos- xis hatten ihren Ausgangspunkt oftmals gerade außerhalb sen (beispielsweise die Beiträge in: Orangotango+, 2018). und vielfach in Kritik der mit diesem Feld verbundenen Ra- Eine Reihe von miteinander verbundenen Charakteristika auf tionalitäten und Institutionen. Zwei Bereiche sind dabei zen- der Ebene der Darstellung, der Praxis und des Wissenschafts- tral: einerseits die lange Tradition des counter-mappings, die verständnisses sind dabei bemerkenswert: dem hegemonialen kartographischen Wissen andere Karten Auf der Ebene der Darstellung und der Ästhetik domi- und anderes Wissen gegenüberstellt, sei es in Form indige- nieren Formen der Visualisierung, die sich von der Bild- ner counter-mappings in Konflikten um die Anerkennung sprache von GIS und klassischer Kartographie abgrenzen. von Landrechten in Kanada und anderswo (Bryan und Wood, Vielfach sind Karten handgezeichnet – sei es in Gänze oder 2015; Sletto et al., 2020) oder in Form kritischer Interven- durch Einzeichnung auf einer Basiskarte. Karten, die sich tionen in städtische Diskurse und die visuelle Skandalisie- den Standardvisualisierungen von GIS bedienen, sind relativ rung rassistischer Stadtpolitik wie der Detroit Geographical rar. Damit wird kartographische Exaktheit gegen Unschär- Expedition rund um William Bunge und Gwendolyn War- fe und Unabgeschlossenheit getauscht und der Konstrukti- ren (Bunge, 1971; Mountz, 2011; Warren et al., 2019). Ge- onscharakter sowie die Kontingenz von Verortungen, Gren- wiss lässt sich diese Geschichte auch länger erzählen, et- zen und Linien visuell unterstützt. Bekannteste und weiterhin wa durch kartographische Projekte wie das der sozialisti- eng der klassischen Kartographie verbundene Beispiele sind schen Bildstatistik und Bildpädagogik rund um Otto Neurath sicherlich die Karten von Philippe Rekacewicz, dem ehe- und dessen Versuch, (karto)graphisch eine internationalisti- maligen Kartographen der Le Monde diplomatique, die mit sche Sprache zu entwickeln (Österreichisches Gesellschafts- groben Buntstiftschraffuren oftmals Grenzlinien von Choro- und Wirtschafts-Museum, 1930; Neurath, 1933, 2017), oder plethen übermalen. Gerade im Kontext stärker künstlerischer dem „Atlas für Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung“ Arbeiten – aber auch anderer – werden vielfach Materia- von Alexander Radó (Radó, 1930; Palsky, 2020). Anderer- lien eingesetzt, die das Haptische und Materielle betonen, seits haben zahlreiche Künstler*innen immer wieder Kar- etwa wenn im Rahmen kollektiver Kartierungsprojekte, die ten genutzt und angeeignet, Karten als Kunst verwendet und eine alternative Sozialgeschichte marginalisierter Erfahrun- Kunst mit Karten gemacht, vielfach verbunden mit einer ra- gen konstruieren, Schnüre Orte, Erinnerungen und Geschich- dikalen Kunst- und Gesellschaftskritik. Von psychogeogra- ten auf großformatigen analogen Storymaps verbinden und phischen Kartenexperimenten und Explorationen der Situa- nachvollziehbar machen (bspw.: Elsherif, 2018). Deutlich ist tionistischen Internationalen in Frankreich der 1950er Jah- insgesamt eine Abkehr von der Rhetorik der wissenschaftli- re bis zu Öyvind Fahlströms Sketch for World Map Part chen Neutralität und Distanz, die die Karte seit dem 19. Jahr- von 1972 oder Stephan Hubers autobiographisch-politisch- hundert bestimmt hat und die zentral für jede Vorstellung philosophischem Weltatlas (Huber, 2015) fanden Künst- wissenschaftlicher Karten wurde. Diese Ästhetik grenzt sich ler*innen in Karten und der Praxis des Kartierens attrakti- aber nicht nur vom Genauigkeitsversprechen ab, sondern ist ve Mittel, alternative Formen der Welt- und Raumerfahrung zugleich charakterisiert von einem Ethos der Karte als Hand- zu formulieren und sich an der Wahrheits- und Sichtbarkeits- werk und des Handgemachten, das oftmals mit einem eher behauptung von Karten abzuarbeiten (Bruno, 2002; Obrist, skeptischen Verhältnis gegenüber digitalen Tools der Karto- 2014; O’Rourke, 2016; Wood, 2010, 189ff). Diese histori- graphie einhergeht (Dammann und Michel, 2022). Geogr. Helv., 77, 153–163, 2022 https://doi.org/10.5194/gh-77-153-2022
B. Michel: Kritisches Kartieren als reflexive Praxis qualitativer Forschung 159 Dies steht in Verbindung mit einer klaren Betonung von zu halten. Gegen Bertins Proklamation der Prägnanz und Re- Prozess und Praxis. Anstelle die Karte als ein Ding, eine fi- duktion als zentralem Qualitätsmerkmal (karto)graphischer xierte und verdinglichte Objektivierung eines raumbezoge- Aussagen und der Behauptung, eine gute Karte sei eine sol- nen Raumdiskurses zu begreifen, lässt sich die in den theo- che, welche die von ihr gestellte Frage in möglichst kurzer retischen Diskussionen geforderte praxeologische bzw. pro- Betrachtungszeit beantworte (Bertin, 1974, S. 17), wird hier zessuale Wende im Nachdenken über Karten (Kitchin et al., also das Erzeugen von Mehrdeutigkeit forciert. 2009; Edney, 2019) auch bei Arbeiten Kritischen Kartierens Ein letzter zentraler Punkt betrifft das Verhältnis von konstatieren. Während die moderne Kartographie die Rolle Praktiken Kritischen Kartierens zu Technologie. Wenngleich des Autors (und hier absichtlich als ,unmarkierte‘ Bezeich- der Boom neuer Formen der Datenvisualisierung vielfach nung im generischen Maskulin) und die Arbeit der Datener- mit neuen technischen Instrumenten in Verbindung gebracht hebung und Verarbeitung im Kartenblatt nur sehr zurück- wird, etwa leistungsfähigeren GIS, einfach zugänglichen haltend sichtbar macht und Autor*innenschaft viel weni- WebGIS-Anwendungen oder Storymaps als intuitiven For- ger artikuliert wird als beispielsweise in wissenschaftlichen men kartographisch unterstützter Erzählformen, so dominie- Texten, so betonen viele Arbeiten Kritischen Kartierens ge- ren gerade nicht Arbeiten, die solche Technologien in den nau diese Autor*innenschaft (Klaus et al., 2022; Schmidt et Vordergrund rücken. Gegenüber dem stark auf Technologie al., 2022). Damit reihen sich diese Arbeiten in die in den blickenden Zugriff der akademischen Kartographie und GIS letzten Jahren zunehmenden Diskussionen um Positionali- wird in dieser kritischen Linie das Verhältnis zu Technologie tät, Situiertheit und Partialität ein, die insbesondere von Sei- – verstanden als komplexe sozio-technische Systeme der Be- ten postkolonialer und feministischer Kritik geprägt werden. rechnung und rechnerischen Produktion von Visualisierung Zudem wird nicht nur die Autor*innenschaft sichtbarer ge- – vielfach eher als Antagonismus verhandelt, insbesondere macht, der Prozess selbst erfährt eine Aufwertung. So beto- da, wo Expert*innenwissen und instrumentelle Blackboxen nen beispielsweise Projekte kollektiven Kartierens mit mar- ins Spiel kommen. In gewisser Weise läßt sich sogar ver- ginalisierten Gruppen die Funktion, mittels Karten ein Reden muten, dass der aktuelle Boom gerade dem geschuldet ist, über gemeinsame Erfahrungen, Interessen und Forderungen sich nicht mehr der technologischen Rationalität der mo- zu initiieren. Kartieren (aber auch gemeinsames Kartenle- dernen Kartographie unterwerfen zu müssen. Zwei wichti- sen; Streule und Wildner, 2022) wird zu einem Instrument ge Ausnahmen sind hier hervorzuheben: einerseits Projek- nicht-textbasierter kollektiver Wissensproduktion. Dies be- te der Aneignung der Technologie, des Expert*innenwissens deutet auch, dass partizipative, kollaborative und kollektive und der objektivierenden Kraft von Karten im Bereich von Praktiken einen zentralen Stellenwert einnehmen, das finale Participatory GIS und Counter-Mapping. Andererseits eine Objekt – die Karte – mag dabei auch sekundär werden. Die Perspektive, wie sie um den Begriff der „Forensis“ entwi- jeweiligen Formen der Beteiligung und Begriffe von Partizi- ckelt wurde, verstanden als kritische und dialogische Praxis pation können dabei sehr unterschiedlich aussehen (Unger, zwischen Politik, Wissenschaft und Kunst (Weizman, 2018; 2014; Kindon et al., 2007), von eher beschränkter Beteili- Weizman und Franke, 2014), bei der Technik gerade auch mit gung in der Art von Citizen Science und den meisten Formen einer bestimmten Form der Ästhetik verbunden ist, mit ei- von Volunteered Geographic Information bis hin zu partizi- ner dialogischen Wahrheitsproduktion, die sich aber explizit pativem Action Research und kollektivem Kartieren, das die des technological gaze bedient, um hörbar zu sein (Michel, Grenzen zwischen Forscher*in und Beforschten auflöst (Bitt- 2017). Diese subversive Aneignung ist sicherlich zentrale ner und Michel, 2018). Motivation früherer indigener counter-mappings, wenn Kar- Wenn die Kritische Kartographie in den 1990er Jahren un- ten als gerichtsfeste Akteurinnen für Kämpfe um Land mo- ter anderem an Karten kritisierte, dass sie schlecht darin sei- bilisiert wurden (Nietschmann, 1995). Die Rolle von Tech- en, Unsicherheiten und Widersprüche darzustellen, so rückt nologie bleibt dabei insgesamt ambivalent. Die Ambivalenz dies nun vielfach in den Mittelpunkt. Pickles hat in „A His- besteht zwischen den Chancen eines erleichterten Zugangs tory of Space“ auf diesen Mangel klassischer kartographi- und Möglichkeit der Beteiligung sowie den Möglichkeiten scher Darstellungsweisen hingewiesen. „The lack of carto- eines reflexiven, experimentellen und situierten Einsatzes ei- graphic ,buts‘ and ,ifs‘ gave the cartographer ,much less lee- nerseits und einer Skepsis gegenüber neuen Blackboxen und way‘ to remind the map-reader of the interpretative nature of Abstraktionen andererseits. Auf jeden Fall ist zu konstatie- the mapping process, and, as a result, the map-reader easily ren, dass Visualisierung qualitativer Forschung in der Geo- falls into the habit of seeing ,the map as a precise portrayal graphie nicht aufgeht in einer Weiterentwicklung von quali- of reality‘“ (Pickles, 2004, S. 35). Dagegen sind die „mes- tativen Instrumenten und Applikationen in GIS. sy maps“ (Taylor et al., 2020), wie Taylor et al. die Visua- lisierungen eines Projekts zu urbaner Resilienz bezeichnen, oder auch das „visual chaos“ (Counter Cartographies Col- 4 Fazit lective et al., 2012, S. 451) des „disOrientation Guide“ des Counter Cartography Collective Versuche, die Vielstimmig- Kritische Kartographien haben seit den 1980er Jahren die keit und Widersprüchlichkeit auch kartographisch sichtbar Karte zu einem problematischen bzw. zu problematisieren- https://doi.org/10.5194/gh-77-153-2022 Geogr. Helv., 77, 153–163, 2022
160 B. Michel: Kritisches Kartieren als reflexive Praxis qualitativer Forschung den Gegenstand für eine kritische sowie eine qualitative graphischen und kartierenden Praktiken, die freier – manch- Sozial- und Kulturgeographie werden lassen. Von einem mal aus kartographischer Perspektive sicherlich zu frei und Instrument der Wissensproduktion und der Abbildung von unbefangen – sind von dem historischen und disziplinpo- Forschungsergebnissen wurden aus dieser Perspektive die litischen ,Ballast‘, den Karten und GIS in der Geographie Wissens- und Wahrheitsproduktionen von Karten und Karto- tragen. Besonders interessant und herausfordernd sind da- graphie selbst zu Gegenständen der Untersuchung. Dies gilt bei aus Perspektive qualitativer Geographien sicherlich Fra- für die textorientierten Ansätze seit den 1980er Jahren eben- gen nach neuen und anderen Raumbegriffen. Raumbegriffe so wie für die Wende hin zu stärker praxis- und prozessori- qualitativer Forschung sind oftmals weit weniger metrisier- entierten Zugängen seit den 2000er Jahren. Insbesondere in bar und in kartographische Koordinatensysteme zu überset- den letzten Jahren hat eine kritische Praxis in der Geographie zen als die dominante Sprache der Kartographie. Sowohl aus und darüber hinaus an Dynamik gewonnen, die, ob impli- eher technischer Perspektive wie den Diskussionen um pla- zit oder explizit, diese Kritik und die „cartographic anxiety“ tial GIS (Blaschke et al., 2018; Gao et al., 2013; Westerholt kritischer Geograph*innen und qualitativer Forschung auf- et al., 2018, 2020) als auch eher geisteswissenschaftlichen greift und produktiv wendet. Diese Praxis wurde in diesem Zugängen kommen in den letzten Jahren spannende Hinwei- Text unter dem Begriff des Kritischen Kartierens verhandelt. se für qualitative Karten, die mehr leisten als die Verortung Im Rahmen dieses Themenhefts verfolgt dieser Beitrag da- qualitativer Daten in einer klassischen basemap (Westerveld mit die Absicht, die Erfahrungen Kritischer Kartographien und Knowles, 2020; Dammann und Michel, 2022). und Kritischen Kartierens in Diskussion mit anderen An- Damit wird die Karte sowohl schwächer wie auch stär- sätzen visueller Geographien qualitativer Daten zu bringen. ker. Einerseits wird sie dezentriert zu einem Instrument, dem Diese bietet aus ihrer umfangreichen Erfahrung der Ausein- weit weniger Autorität zugesprochen wird, als das die mo- andersetzung mit partizipativen Verfahren, verkörperter und derne Kartographie tut, und das nicht als ein unproblemati- kollektiver Praxis wie auch ihrer kritischen Auseinanderset- sches Kommunikationssystem verstanden werden darf, son- zung mit den machtförmigen Dimensionen (visueller) Me- dern als ein situierter Akteur in sozio-technischen Arrange- thoden aus Perspektive qualitativer Geographien zahlreiche ments. Stärker wird die Karte aber, weil sie ihre Fähigkeiten Anschlusspunkte. Diese Diskussion wäre zugleich eine, von des worldings ausdehnt und als Medium eines „partial and der beide Seiten profitieren würden. Kritisches Kartieren und situated Storytelling“ (Wilson, 2009, S. 166) erweitert wird. qualitative Forschung in der Geographie stärker in Ausein- andersetzung zu bringen, könnte beispielsweise dazu beitra- gen, eine konzeptionelle Auseinandersetzung mit Visualität, Datenverfügbarkeit. Für diesen Artikel wurden keine Datensätze Visualisierung und Grundbegriffen des visual turns in der genutzt. (Kritischen) Kartographie und dem Kritischen Kartieren zu stärken. So plausibel der textualistische Zugang der dekon- struktivistischen Wende in der Kartographie der 1980er Jahre Interessenkonflikt. Der Autor erklärt, dass kein Interessenkon- einerseits und der Betonung von Performance und Praxis in flikt besteht. den 2000er Jahren andererseits waren, so ist mit diesen Be- wegungen doch der visuelle Charakter von Karten aus dem Haftungsausschluss. Copernicus Publications bleibt in Bezug Blick oder zumindest aus dem Fokus gerückt. auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten und institu- Gegenüber den in Kapitel 2 rekapitulierten Punkten einer tionellen Zugehörigkeiten neutral. Kartenkritik, die Karten als Ausdruck eines modernistischen und positivistischen Wissenschaftsverständnisses und einer „Position der nicht-Positioniertheit“ (Hoppe, 2021, S. 73) be- Danksagung. Besten Dank an Lea Bauer, Kristine Beurskens, greift und als soziale Texte sowie Teil gesellschaftlicher Dis- Hannah Schnelle und die zwei anonymen Gutachter*innen für die kurse und Praktiken liest und kritisiert, tritt damit ein Zugang hilfreichen Kommentare und Vorschläge zu früheren Versionen die- zu Karten, der einen reflexiven Zugang ins Zentrum rückt. ses Textes. Herzlichen Dank auch an die Organisator*innen und Ein solcher Zugang begreift Kartieren als eine situierte, häu- Teilnehmer*innen der Session zur Kommunikation qualitativer For- fig kollektive und immer partiale Praxis des visuellen Sto- schung auf der Tagung Neue Kulturgeographie in Bonn 2020. rytellings, die im Wissen um den sozialen Produktions- und Konstruktionscharakter, die Rhetorik und das worlding von Karten vollzogen wird. Zugleich bedenkt diese Praxis auch Begutachtung. This paper was edited by Nadine Marquardt and die genannten Grenzen und ethischen Gefahren kartographi- reviewed by two anonymous referees. schen Erzählens, was sich vielfach in einem experimentellen und die Grenzen traditioneller Karten austestenden Umgang mit kartographischen Konventionen ausdrückt. Ausblickend kann die Geographie dabei gerade von Arbei- ten außerhalb der engen Fachgrenzen profitieren, von karto- Geogr. Helv., 77, 153–163, 2022 https://doi.org/10.5194/gh-77-153-2022
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