Landwirtschaftliche Tierhaltung und die Kategorie der Tierarbeit
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TIERARBEIT TIERethik 14. Jahrgang 2022/1 Heft 24, S. 39–56 Peter Niesen Landwirtschaftliche Tierhaltung und die Kategorie der Tierarbeit Zusammenfassung Ob die Kategorie der Tierarbeit tatsächlich erlaubt, eine fortschritt- liche Perspektive auf das Mensch-Tier-Verhältnis einzunehmen, hängt auch davon ab, ob sie zur Verbesserung der Bedingungen in der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung genutzt werden kann oder ob, wie die Herausgeberinnen des Bandes Animal Labour. A New Frontier for Interspecies Justice? annehmen, alle derartigen Versu- che lediglich dazu dienen, ausbeuterische Praktiken „reinzuwa- schen“, da diese mit bereits feststehenden Tierrechten unvereinbar sind. Ich schlage vor, dass die Tierarbeitsforschung, um den Nutzen der „Arbeit-Anerkennungs-Transformations-These“ in Bezug auf Nutztiere zu ermitteln, Arbeitspraktiken nicht von vornherein unter präexistierende äußere Einschränkungen stellt, sondern von den An- sprüchen ausgeht, die sich aus der Teilnahme an ihnen ergeben und die dazu dienen können, die Bedingungen der Tierhaltung von innen heraus zu verändern. Schlüsselwörter: Tierrechte; Tierpolitik; politische Wende; soziale Kooperation Animal Agriculture and the Category of Animal Labour Summary Whether animal labour, as the editors of a fascinating new volume suggest, is indeed “a new frontier of interspecies justice”, depends in part on whether its approach can be used to improve conditions TIERARBEIT TIERethik, 14. Jg. 24(2022/1) | 39 |
| Peter Niesen for farmed animals, or whether all such attempts merely serve to ‘la- bour-wash’ exploitative practices, given that those are incompatible with pre-existing animal rights. I suggest that animal labour studies – in order to ascertain the benefits of the ‘Labour-Recognition- Transformation thesis’ with regard to farmed animals – should start not from external constraints on labour practices, but from the enti- tlements derived from participation in them, which may serve to transform animal agriculture from within. I conclude by responding to a reply by the editors. Keywords: animal rights; animal politics; political turn: social co- operation Ob die Kategorie der Tierarbeit tatsächlich, wie die Herausgeber*in- nen des Bandes Animal Labour. A New Frontier for Interspecies Jus- tice? (Blattner et al., 2020a) im Untertitel fragen, einen Durchbruch für die Beziehungen zwischen den Arten ankündigt, hängt zum einen von ihrer normativen Anziehungskraft ab. Zum anderen wird es – angesichts des Engagements der Herausgeber*innen, Fragen der Tiergerechtigkeit auch innerhalb der nicht-idealen Theorie zu klären – von ihrer Reichweite und Wirkmächtigkeit abhängen, ob die Vor- stellung von Arbeitsverhältnissen zwischen den Spezies wirklich ei- nen solchen Durchbruch herbeiführen kann. Vorweggenommen kann werden, dass der Band ein durchgehend attraktives, nuanciertes Bild zeichnet und die „Wende zur Arbeit“ (labour turn) als einen wichtigen Beitrag zu dem massiven Paradigmenwechsel etabliert, den die „politische Wende“ in der Mensch-Tier-Forschung bereits bewirkt.1 Der Nutzen des gesamten Unternehmens hängt aber auch davon ab, ob es sich bei der Arbeit von Tieren eher um ein Ni- schenthema handelt, das sich auf wenige Beispiele wie Diensthunde, die expandierende Freizeitindustrie, etwa im Reitsport, sowie die ab- nehmende Zahl von Transporttieren beschränkt, oder ob sie auch un- ser Verhältnis zu landwirtschaftlichen Nutztieren erhellen kann – vor 1 Zum political turn s. Ahlhaus & Niesen (2015); Garner & O’Sullivan (2018). | 40 | TIERethik, 14. Jg. 24(2022/1) TIERARBEIT
Landwirtschaftliche Tierhaltung und die Kategorie der Tierarbeit | allem, wenn man bedenkt, dass die letztgenannte Gruppe von Tieren 98 Prozent aller domestizierten und in Gefangenschaft gehaltenen Tiere ausmacht (Eisen, 2020, S. 151). Die Herausgeber*innen argu- mentieren, dass die Beschreibung von Rindern, Schweinen oder Hühnern als Arbeitstiere vor allem dazu dient, die Praktiken der Auf- zucht und Tötung von Tieren für den Verzehr von Lebensmitteln „reinzuwaschen“ (Blattner et al., 2020b, S. 11). Die beiden Beiträge von Jessica Eisen und Nicolas Delon im zweiten Teil des Bandes bestätigen diese Erwartung. Die allgemeine Hoffnung bei der Einführung der Kategorie der tierlichen Arbeit ist das, was Eisen (S. 139) die „Arbeits-Anerkennungs-Transforma- tions-These“ nennt: die Aussicht darauf, dass die Anerkennung von Tieren als Arbeitspartner zur Verbesserung ihrer sozialen Stellung und damit ihrer Lebensbedingungen beitragen wird. Eisen und De- lon plädieren unisono dafür, diese Hoffnung für Tiere, die für Milch- produkte, Eier, Pelze oder Fleisch gezüchtet werden, fahren zu las- sen. Trotz ihrer Ablehnung des „abolitionistischen“ Strangs inner- halb der Tierrechtstheorie verfolgen Eisen, Delon und die Herausge- ber*innen in ihrer Einleitung durchweg einen abolitionistischen Kurs in Bezug auf die landwirtschaftliche Tierhaltung. Aufgrund ih- res Hands-off-Ansatzes vermögen es ihre Beiträge nicht, auch Land- wirt*innen mit an Bord zu nehmen und in Prozesse der Transforma- tion durch Anerkennung von Arbeit einzubeziehen. Sie können keine Schritte für den Übergang von den derzeitigen Tierhaltungs- praktiken zu weniger ausbeuterischen Praktiken vorschlagen. Der Grund für diese Leerstelle liegt darin, dass der Band als Ver- such angelegt ist, Rechte-basierte und sogenannte relationale An- sätze in der Mensch-Tier-Forschung miteinander zu versöhnen und sie zu integrieren (Blattner et al., 2020b, S. 9). Wenn es universelle subjektive Grundrechte für Tiere gibt, so müssen die Arbeitsbezie- hungen in der Nutztierhaltung von vornherein aus dem Paradigma von Animal Labour ausgeschlossen werden, weil sie mit ihnen als apriorischen Beschränkungen der Mensch-Tier-Beziehungen unver- einbar sind. Ich denke, dass eine solche Haltung die politische An- ziehungskraft und das transformative Potenzial der „Wende zur Tier- arbeit“ schmälert. Um eine umfassendere Alternative zu skizzieren, TIERARBEIT TIERethik, 14. Jg. 24(2022/1) | 41 |
| Peter Niesen unterscheide ich zunächst die verschiedenen Auffassungen von Rechten, die in dem Band mobilisiert werden (1). Ich versuche zu zeigen, wie die mögliche Bedeutung des Ansatzes für eine Transfor- mation landwirtschaftlicher Tierhaltung durch die Arten von Rech- ten, auf die sich die Autor*innen konzentrieren, beschränkt wird. Im zweiten Teil meines Beitrags erörtere ich die Chancen ihres Projekts für die „Sequenzierung und Transformation“ (ebd., S. 11) der Mensch-Tier-Beziehungen in einer nicht-idealen Welt an und schlage vor, die Reihenfolge der Verwirklichung der Tierrechte so- wohl theoretisch als auch politisch auf den Kopf zu stellen (2). In einer Schlussbemerkung (3) erwidere ich auf die Kritik der Heraus- geber*innen an diesem Vorschlag (Blattner & Kymlicka, 2022). 1 Drei Arten von Rechten in der Tierarbeit Wie die meisten Werke über menschliche Arbeit befasst sich auch Animal Labour mit dem Problem der Ausbeutung. Damit zielt der Band auf das wohl größte Problem in den heutigen Mensch-Tier- Beziehungen: auf die anhaltende Ausbeutung von Tieren für menschliche Zwecke. Im Gegensatz zum Abolitionismus, der einer pauschalen Abschaffung aller Tierhaltung das Wort redet, akzeptie- ren alle Autor*innen von Animal Labour, dass einige zwischen- menschliche Arbeitspraktiken aufgrund der normativen Bedeutung der Beziehungen, um die es geht, gerechtfertigt werden können. Nicht alle Beziehungen kommen als Kandidaten für eine Rechtferti- gung in Frage, und der Hauptindikator für das Scheitern der Recht- fertigung und die daraus resultierende Unzulässigkeit von Beziehun- gen ist die Verletzung von Rechten. Der Begriff „Rechte“ kann sich in diesem Zusammenhang auf drei sehr unterschiedliche Arten von Ansprüchen beziehen. Die erste Art sind natürliche Rechte, die zweite bezeichne ich als „präsuppositionale Rechte“, und die dritte sind abgeleitete Rechte. (1) Natürliche Rechte werden Tieren auf der Grundlage der Handlungsfähigkeit, der Subjektivität oder des Empfindungsvermö- gens der Rechtsträger zugeschrieben, unabhängig von jeglicher rela- tionalen Einbindung in gemeinsame Praktiken, seien sie politisch, | 42 | TIERethik, 14. Jg. 24(2022/1) TIERARBEIT
Landwirtschaftliche Tierhaltung und die Kategorie der Tierarbeit | sozial oder historisch. Naturrechtsansätze sind in der Moralphiloso- phie populär und bilden bisher auch im Rahmen der politischen Wende in der Mensch-Tier-Forschung die vorherrschende Auffas- sung. Sie errichten das Gebäude politischer Beziehungen zwischen Menschen und Tieren auf einem Fundament von natürlichen Tier- rechten, nicht von Menschen getötet oder geschädigt zu werden (Cochrane, 2018; Donaldson & Kymlicka, 2011, S. 19–49; Ladwig, 2020). Ein in der Einleitung und im Beitrag von Eisen (S. 139; vgl. Blattner et al., 2020b, S. 10) diskutiertes Beispiel ist Carol Adams’ Annahme, dass Milchkühe ein Recht auf reproduktive Autonomie haben. Wenn die Missachtung ihrer Autonomie auf eine Vergewal- tigung hinausläuft, wird ein universelles Grundrecht verletzt, das ganz unabhängig von der Existenz von Beziehungspraktiken wie der Rinderhaltung zur Milcherzeugung besteht. Wenn Tiere ein solches Recht haben, wird jede Art von Tierhaltung, die auf Reproduktions- management beruht, gegen einen strikten moralischen Anspruch ver- stoßen und daher unzulässig sein. In dem vorliegenden Band wird der Naturrechtsgedanke in einigen Kapiteln als Hintergrundannahme herangezogen, steht aber nicht im Mittelpunkt. (2) Die präsuppositionalen Rechte erstrecken sich auf Tiere, so- bald wir beschließen, sie als Mitarbeiter zu behandeln. Diese Art von Rechten ist die wichtigste, die in Animal Labour erörtert wird. Die präsuppositionalen Rechte schulden wir Tieren nicht von vornhe- rein; sie hängen vielmehr in ihrer Existenz und Ausdehnung von un- seren Beziehungspraktiken mit Tieren ab. Delon vertritt die Auffas- sung, dass es ein Recht darauf gibt, nicht zu Nahrungszwecken ge- züchtet und getötet zu werden, da die Ansicht, dass „Tiere Arbeits- kollegen sein können“, durch solche Praktiken unterminiert werde (Delon, 2020, S. 164). Seine Position besagt nicht, dass Menschen keine Tiere töten und essen dürfen, wie es beim Rekurs auf natürli- che Rechte der Fall ist. Delon argumentiert vielmehr, dass Men- schen, die sich dafür entscheiden sollten, Tiere zu töten und zu essen, außerhalb eines normativen Verständnisses von Arbeitsbeziehungen handeln. In ähnlicher Weise identifiziert Charlotte Blattner Merk- male von Arbeitsbeziehungen, die sie selbst auf der Grundlage von Arbeitsverträgen für „nicht verhandelbar“ hält, wie z.B. das Recht, TIERARBEIT TIERethik, 14. Jg. 24(2022/1) | 43 |
| Peter Niesen der Aufnahme der Arbeit zustimmen und aus ihr wieder aussteigen zu können (Blattner, 2020, S. 109). Außerhalb der betreffenden Be- ziehungen sind solche Rechte irrelevant. Innerhalb der Beziehungen konstituieren sie Arbeitsverhältnisse als sinnvolle, normativ attrak- tive Praktiken. Die Herausgeber*innen erklären, dass die Existenz solcher prä- suppositionalen Rechte davon abhängt, dass man ein normatives im Gegensatz zu einem deskriptiven oder empirischen Verständnis des Begriffs der Arbeit (labour/work) vertritt (Blattner et al., 2020b, S. 11). Auch wenn es für uns, wie Delon annimmt, unmöglich sein mag, unsere Kollegen regelhaft umzubringen und weiterhin zu be- haupten, dass wir eine nicht-defekte Arbeitspraxis mit ihnen teilen, ist es jedoch nicht unmöglich zu sagen, dass Arbeiter regelhaft durch ihre Arbeit dahingerafft werden, und zu behaupten, dass dies sie nicht von normativ bedeutsamen Arbeitsbeziehungen ausschließt. Man denke an Marx, der meinte, dass Industriearbeiter ganz selbst- verständlich durch ihre Arbeit vernutzt und verbraucht werden,2 oder an frühere Generationen von Arbeitern im Bergbau, die sich mit der Tatsache abfanden, dass ihre Arbeit ihnen irgendwann eine „Staub- lunge“ (Pneumokoniose) bescheren und sie dadurch das Leben kos- ten würde. Solche dramatisch defizitären Arbeitsverhältnisse sind schlecht, aber sie sind nicht nur deskriptiv oder empirisch und schon gar nicht normativ neutral, denn sie lösen dennoch in einem dritten Sinne Ansprüche aus, auf die ich jetzt eingehen werde. (3) Die dritte Art von Rechten leitet sich aus relationalen Prakti- ken ab und wird nur für die Teilnahme an der Praxis gewährt, wie z.B. Einkommen oder Ansprüche an die Sozialversicherung, die sich aus Arbeitsbeziehungen ergeben. Man denke etwa an die Renten- und Arbeitslosenversicherung, die innerhalb von Arbeitsbeziehun- gen Rechte erzeugen, die Dritte nicht beanspruchen können. Dass Menschen und Tieren durch diese Art Rechte verbunden sein kön- nen, wissen wir erst seit den bahnbrechenden Arbeiten der politi- schen Wende in den Mensch-Tier-Beziehungen, beginnend mit Zoo- 2 Mit einem verspäteten Dank an Lisa Disch für die Diskussion. | 44 | TIERethik, 14. Jg. 24(2022/1) TIERARBEIT
Landwirtschaftliche Tierhaltung und die Kategorie der Tierarbeit | polis (Donaldson & Kymlicka, 2011). Diensthunde, nicht aber Ko- joten in freier Wildbahn, erhalten ein Recht auf Kranken- und Ren- tenversicherung, da sie in einer entsprechenden, Ansprüche generie- renden Beziehung zu Menschen stehen (Cochrane, 2020). Nun kann ein Arbeitsverhältnis offenbar in dem Sinne sinnvoll und normativ bedeutsam sein, dass es Rechte vom Typ 2 erfüllt und nicht verletzt, aber dennoch ungerecht sein. In einem prinzipiell akzeptablen Ar- beitsverhältnis könnten den Arbeitnehmer*innen abgeleitete Rechte, wie z.B. das Recht auf Sozialleistungen, zu Unrecht vorenthalten werden. Das bedeutet, dass präsuppositionale Typ-2-Rechte unab- hängig von abgeleiteten Typ-3-Rechten eingeräumt werden können. Aber was ist mit dem umgekehrten Verhältnis? Ist es denkbar, dass Leistungen vom Typ 3 erworben werden, auch wenn in der betref- fenden Praxis Rechte vom Typ 2 systematisch verletzt werden? Bei einem dichten normativen Verständnis von Arbeitsbeziehungen, wie es die Herausgeber*innen und Autor*innen von Animal Labour ver- wenden, erscheint dies unmöglich. Wenn zum Beispiel die zwangsfreie Zustimmung von Tieren eine Voraussetzung für akzeptable Arbeitsbeziehungen mit ihnen ist, wie Blattner argumentiert, dann bedeutet das für den Fall, dass Tiere zu bestimmten Diensten gezwungen werden, selbst wenn ihnen ihre Be- lohnung nicht vorenthalten wird, dass sie nicht im relevanten Sinne arbeiten. Selbst wenn sie alle Rechte des Typs 3 genießen würden, könnte man nicht sagen, dass diese aus Arbeit resultieren. Dies scheint jedoch die normative Grundlage ihrer bestehenden Ansprü- che auf Lohn und Sozialleistungen zu verkennen, selbst wenn man davon ausgeht, dass die präsuppositionalen Rechte korrekt ermittelt wurden. Wohlfahrtsleistungen für erzwungene Arbeit, die nicht frei- willig aufgenommen wurde, sind keine Almosen, sondern Gegen- leistungen. Wenn präsuppositionale Rechte die Aufgabe haben, ver- tretbare Typen von Arbeitsbeziehungen auszuweisen, laufen sie da- her Gefahr, eine zu enge Gruppe von Praktiken zu identifizieren und damit der breiteren Normativität von Arbeit nicht gerecht werden zu können. Ein zu enges Verständnis von Beziehungen, die wir zu Recht als „Arbeit“ bezeichnen dürfen, machte es unmöglich, korrekt zu diagnostizieren, wo genau das Unrecht der Vorenthaltung von TIERARBEIT TIERethik, 14. Jg. 24(2022/1) | 45 |
| Peter Niesen Rechten des Typs 3 gegenüber Nutztieren tatsächlich liegt. Es liegt in ausgebeuteter Arbeit, ganz unabhängig davon, wie man die Hal- tung und Tötung von Tieren zu Nahrungszwecken sonst beurteilen mag. Wenn etwa Milchkühen, die ans Ende ihrer Lebensleistung kommen, ein Ruhestand vorenthalten wird, ist es unplausibel, dies nur als Verletzung ihrer präsumtiv natürlichen Rechte zu deuten – es ist im Wortsinne die Ausbeutung des schwächeren Partners in einem Arbeitsverhältnis. Ich komme zu dem Schluss, dass Rechte der Ka- tegorie 3 eine eigenständige normative Kraft haben und unabhängig von den beiden erstgenannten Kategorien untersucht werden kön- nen.3 2 Landwirtschaftliche Tierarbeit und der labour turn Die oben identifizierte Taxonomie der Rechte-Typen scheint eine normative Hierarchie zwischen ihnen nahezulegen. Natürliche Rechte können als Beschränkungen aller denkbaren Praktiken gel- ten. Präsuppositionale Rechte legen Voraussetzungen für alle akzep- tablen Praktiken fest, so dass es scheinen kann, dass abgeleitete Rechte nur innerhalb von Praktiken zu berücksichtigen sind, die bei- den Typen von Ansprüchen genügen. Es ist verständlich, wenn diese Reihenfolge im Sinn einer lexikalischen und vielleicht auch zeitli- chen Priorität gelesen wird, derzufolge gegen natürliche Rechte ver- stoßende Praktiken beendet werden, bevor ihrem eigenen Anspruch nach defekte Praktiken korrigiert und schließlich gerechte Gegen- leistungen gesichert werden.4 Ein lexikalischer und zeitlicher Vor- rang von Rechten des Typs 1 und 2 vor Rechten des Typs 3 ist bei 3 Darüber hinaus stellt sich das Problem, wie die drei Arten von Rechten mit dem demokratischen Prozess und Fragen der Durchsetzung in Verbindung ge- bracht werden können. Rechtliche Ansprüche im Rahmen von Arbeitsverhält- nissen müssen in einer Demokratie durch das Nadelöhr einer repräsentativen Legislative gehen, aber das ist ein anderes Thema, auf das ich in diesem Zu- sammenhang nicht eingehen kann. 4 Lexikalischer Vorrang bedeutet, dass Ansprüche des einen Typs vollständig erfüllt werden müssen, bevor man sich Ansprüchen eines anderen Typs an- nimmt, und dass trade-offs zwischen ihnen verboten sind (Rawls, 1975, S. 110). | 46 | TIERethik, 14. Jg. 24(2022/1) TIERARBEIT
Landwirtschaftliche Tierhaltung und die Kategorie der Tierarbeit | Menschen intuitiv sinnvoll, da wir z.B. Verletzungen der körperli- chen Unversehrtheit ausschließen wollen, bevor wir uns mit der Frage ungerechter Arbeitsverhältnisse befassen. Bei Nutztieren ist unklar, ob sich ein lexikalischer Vorrang von Typ-1- und Typ-2- Rechten gegenüber Typ-3-Rechten aus der Perspektive der arbeiten- den Tiere selbst ohne weiteres begründen lässt und ob eine andere zeitliche Abfolge der Umsetzung solcher Rechte überhaupt möglich ist oder unter den gegebenen Umständen sogar zu insgesamt besse- ren Ergebnissen führt. Es stellt sich die Frage, ob die These von einer Transformation durch Anerkennung auf die Arbeit von Nutztieren überhaupt anwendbar ist und sie ihr reformistisches Potenzial in un- seren Gesellschaften entfalten kann, bevor wir die Vernutzung der Tiere insgesamt beendet und starke „Garantien für Tierrechte einge- führt haben“ (Blattner et al., 2020b, S. 11). Die Antwort, die die Autor*innen des Bandes geben, ist ein kla- res Nein, basierend auf ihren Vorstellungen vom Vorrang der prä- suppositionalen Rechte und, bei Autor*innen wie Sue Donaldson und Will Kymlicka, ihrem Engagement für die natürlichen Rechte der Tiere. Insofern grenzen sich Blattner, Eisen, Delon und Kym- licka im vorliegenden Band von dem Konkurrenzunternehmen der französischen Agrarsoziologin Jocelyn Porcher ab, die unter Animal Labor in ihrem annähernd gleichnamigen, im selben Jahr erschiene- nen Band auch die bäuerliche Tierhaltung (animal husbandry) von Hühnern oder Milchkühen, wenngleich nur außerhalb der industriel- len Massentierhaltung, als Arbeitsbeziehung behandelt (Porcher & Estebanez, 2020). Mit dem Eingeständnis, dass die Schritte der „Se- quenzierung und Transformation“ (Blattner et al., 2020b, S. 11), die kurzfristige und langfristige Ziele im Kampf gegen die Ausbeutung von Tieren miteinander in Einklang bringen sollen, nicht a priori festgelegt werden können, lassen sich die Herausgeber*innen von Animal Labour: A New Frontier allerdings darauf ein, auch Ge- sichtspunkte der nicht-idealen Theorie zu berücksichtigen. In einer nicht-idealen Welt lässt sich die Frage kaum abweisen, ob wir es uns leisten können, auf die normative Kraft des labour turn für die Ver- besserung des Schicksals der Nutztiere zu verzichten. Ich kann hier die Argumentationslast nicht vollständig abtragen und nur die TIERARBEIT TIERethik, 14. Jg. 24(2022/1) | 47 |
| Peter Niesen Grundzüge einer Alternative skizzieren. Mein Vorschlag ist ein dop- pelter: Wir sollten dazu übergehen, tierliche Arbeit als eine sozial- theoretische und nicht als eine interaktive Kategorie zu theoretisie- ren, und prioritär Rechte vom Typ 3 umsetzen. (1) Es ist erstaunlich, dass in einem Band, der den Arbeitsbezie- hungen und den Praktiken der Kooperation zwischen den Arten ge- widmet ist, der technische Begriff der sozialen Kooperation (als Bei- trag zur Reproduktion und zum Wohlergehen eines unfreiwillig zu- sammengesetzten Kollektivs über die gesamte Lebensspanne der Einzelnen hinweg; Rawls, 1975, S. 20–22) keine bedeutende Rolle spielt. Während der Band tierliche Arbeit als interaktive Beziehung in dyadischen Beziehungen der Zusammenarbeit betrachtet, er- scheint es notwendig, sie auch aus der systemischen Perspektive der Gesellschaft als eines potenziell fairen Systems der Kooperation zu betrachten. Der Leitgedanke des Bandes, der in den Rechten des Typs 2 verankert ist, besteht darin, dass die Idee sinnvoller Arbeits- beziehungen von der nicht-defekten Intersubjektivität der Arbeit ab- hängt, die eben mit nicht-einvernehmlicher Arbeit oder mit der Auf- zucht und Tötung von Tieren zur Nahrungsgewinnung unverträglich ist. Sowohl die Befürworter*innen von Nutztierhaltung wie Jocelyn Porcher als auch ihre Kritiker*innen im vorliegenden Band stützen sich auf einfühlsame Beziehungen zwischen Landwirten und Milch- kühen, und ich stimme zu, dass Empathie als solche keine Praktiken akzeptabel macht, die mit der Tötung der „Arbeitskolleg*innen“ en- den. Aber ich frage mich, ob der Blick der Autor*innen des labour turn auf die Qualität von Mikrobeziehungen und die bilaterale Di- mension von Arbeitspraktiken der einzig relevante ist. Er blendet zentrale Aspekte der Normativität von Arbeit aus, die nicht aus- schließlich in ihrer ethisch-interaktionellen Dimension liegt, sondern in ihrem strukturellen und abstrakten Beitrag zu einem insgesamt funktionierenden und gedeihlichen Zusammenleben. Ein konkurrierender, sparsamerer Ansatz für tierliche Arbeit würde versuchen, Tiere in ein Durkheimsches Bild der Gesellschaft als eines arbeitsteiligen kooperativen Systems zu integrieren, mit Tieren als anerkannten Beitragszahlern zur sozialen Kooperation, aus der ihnen wiederum Verteilungsansprüche erwachsen. Ob man | 48 | TIERethik, 14. Jg. 24(2022/1) TIERARBEIT
Landwirtschaftliche Tierhaltung und die Kategorie der Tierarbeit | von Tieren sagen kann, dass sie arbeiten, würde weniger von der ethischen Qualität der Praktiken, in die sie verstrickt sind, als von ihrem spezifischen Beitrag zum Gemeinwohl abhängen. Auch bei Menschen werden ja Tätigkeiten in erster Linie aus einer gesell- schaftlichen Makroperspektive als Arbeit eingestuft und nicht vor- rangig aus einer ethischen Sicht auf die Qualität der vermeintlichen Arbeitsbeziehungen. Nach diesem Ansatz würden die Rechte des Typs 3 an erster Stelle stehen, da sie unbestreitbar aus der Teilnahme an einer gegenseitigen Praxis von Arbeitsinvestitionen folgen. Aus der Idee sozialer Kooperation durch Arbeit ergeben sich nicht per se natürliche Rechte als äußere Beschränkungen; allerdings könnten diese in einem zweiten Schritt als Vorbedingungen oder Vorausset- zungen für akzeptable Praktiken angesehen werden. Eine solche Vorgehensweise unterscheidet sich von ethischen Konzepten der Zusammenarbeit, da sie auf einem weniger normativ aufgeladenen Verständnis von Arbeit beruht (grob gesagt, auf der Teilnahme an einem fairen System sozialer Kooperation, wie es Rawls vor- schwebt), das großen und anonymen modernen Gesellschaften eher entgegenkommt. Es bleibt abzuwarten, ob sich auch aus einem sol- chen Ansatz ein präsuppositionales Recht ergibt, nicht zum Zweck der Lebensmittelerzeugung gezüchtet und getötet zu werden, wie Müller (2020, S. 37) annimmt, und es ist auch nicht offensichtlich, wie diesem Ansatz zufolge Fragen der Zustimmungsbedürftigkeit von Arbeitsverhältnissen und des Ausstiegs aus ihnen zu beantwor- ten sind, die Blattner und Cochrane innerhalb des rechtebasierten Pa- radigmas von Animal Labour kontrovers diskutieren (Blattner, 2020; Cochrane, 2020). Unmittelbar und sofort dagegen ergeben sich aus diesem Ansatz Rechte des Typs 3, die in Analogie zur menschlichen Arbeit funktionale Äquivalente eines angemessenen Lebenseinkom- mens umfassen, die Arbeitsschutz, Wohlfahrtsrechte wie Kranken- versicherung, ein Rentensystem, aber auch eine gewerkschaftliche Vertretung gegenüber den Landwirten beinhalten (Cochrane, 2016) und mittelbar auch Ansprüche auf politische Mitgliedschaft und die mit ihr verbundenen Rechte, politisch vertreten zu werden, erzeugen. (2) Der zweite Teil meines Vorschlags besteht darin, Forderun- gen des Typs 3 gegenüber Forderungen des Typs 1 und des Typs 2 TIERARBEIT TIERethik, 14. Jg. 24(2022/1) | 49 |
| Peter Niesen zeitlich zu priorisieren. Wenn es um die Ausbeutung von Tieren geht, scheinen Rechte des Typs 3 ein gutes Gegenmittel zu sein, da sie direkt auf Verstöße innerhalb von Arbeitsbeziehungen reagieren. Ansprüche des Typs 3 für Nutztiere sind in modernen Gesellschaften auch möglicherweise weniger umstritten als Rechte des Typs 1 und des Typs 2, da die abgeleiteten Rechte unabhängig von Annahmen über den Personenstatus von Tieren sind. Wenn man Nutztiere als Beitragende zur sozialen Zusammenarbeit betrachtet, würden sie als „self-originating sources of valid claims“ (Rawls), als Quelle gülti- ger Ansprüche aus eigener Kraft gelten, während Kontroversen dar- über, welche natürlichen und präsuppositionalen Rechte gelten, aus- geklammert werden könnten. Die Gewährleistung von abgeleiteten Rechten und gewerkschaftlicher Vertretung wäre ein Lackmustest für Landwirte, die auf glaubwürdige Weise für die Wertschätzung der Beiträge ihrer Tiere eintreten wollen. Wenn sie ihre Tiere nicht als Anspruchsträger sehen, denen aus ihrer unfreiwillig aufgenom- menen Kooperation im Betrieb stringente Rechte erwachsen, müss- ten zivilgesellschaftliche und öffentliche Akteure sie dazu anhalten können. Langfristig könnte die Anerkennung der abgeleiteten Rechte ar- beitender Nutztiere ein Weg sein, um die beiden anderen Kategorien von Rechten zu aktivieren, ohne dass wir bereits vorwegnehmen könnten, wo wir am Ende landen werden. Wir wissen, dass Gesell- schaften verschiedene Arten von Rechten für Menschen in zeitlicher Abfolge eingeführt haben, oft über Jahrhunderte hinweg, wie in der berühmten dreiteiligen Sequenz von T.H. Marshalls Citizenship and Social Class (Staatsbürgerrechte und sozialen Klassen, 1950). Mar- shall stützt sich auf eine Entwicklungslogik, die stets von bürgerli- chen zu politischen und sozialen Rechten übergeht. Ähnlich wie die Autor*innen von Animal Labour kann Marshall nicht erkennen, dass politische und soziale Rechte ohne vorherige Garantien der Bürger- rechte entstehen könnten. Aber die von ihm rekonstruierte Abfolge bürgerlich – politisch – sozial ignoriert sogar die historische Varia- tion in demokratischen Nationalstaaten, von denen einige von bür- gerlichen zu sozialen zu politischen Rechten übergegangen sind, und | 50 | TIERethik, 14. Jg. 24(2022/1) TIERARBEIT
Landwirtschaftliche Tierhaltung und die Kategorie der Tierarbeit | es muss keine universell verbindliche geschichtliche „Chrono-Lo- gik“ (Bonnie Honig, zitiert in Donaldson & Kymlicka, 2018) für ihre Abfolge geben. Die Beziehungen zwischen Mensch und Tier müssen möglicherweise einen anderen Weg einschlagen als die Beziehungen unter den Menschen, der mit Kämpfen um die Anerkennung als Part- ner in der sozialen Zusammenarbeit durch Arbeit beginnt und von dort zur politischen Festlegung und Zuerkennung anderer Rechte übergeht. Erst das Zugeständnis eines vollständigen Spektrums an Rechten würde bestehende Arbeitsbeziehungen rechtfertigen oder beenden können. 3 Einwände und Replik In ihrer Replik auf Einwände in einem Symposium zu Animal La- bour bekräftigen zwei der Herausgeber*innen, dass es in dem Band darum gehe, die „Möglichkeit gemeinsamer Autorschaft für Interspezies-Arbeitsbe- ziehungen mit Tieren auszuloten, die fair verhandelt werden und ge- meinsame Ziele verfolgen“ (Blattner & Kymlicka, 2022, S. 35f.; Übers. P.N.). An die Stelle eines rein normativen Arbeitsbegriffs setzen sie aller- dings hier die Idee eines Kontinuums von unfreier zu befreiter Arbeit. Dies ist auch notwendig, denn obwohl die Autor*innen ihren Studien einen normativen Begriff von Arbeit zugrunde legen, sind sie nicht bereit, in kritischer Absicht auf den deskriptiven Begriff zu verzich- ten. „Die übergroße Mehrheit arbeitender Tiere heute werden sowohl ausgebeutet […] als auch verachtet“ (ebd., S. 35). Ohne den deskrip- tiven Arbeitsbegriff zumindest kritisch heranzuziehen, könnten die Autor*innen die Ausbeutung von Tieren nicht in den Kontext er- presster Arbeit stellen, sondern müssten bestreiten, dass es sich über- haupt um Arbeitsverhältnisse handelt. Blattner und Kymlicka ent- werfen daher ein Kontinuum von Typen von Arbeit, die von Sklave- rei und Zwangsarbeit über ökonomische Ausbeutung bis hin zu For- men von achtbarer (decent) Arbeit und der Utopie einer Post-Arbeits- gesellschaft reichen (ebd., S. 36). Sie stimmen der Diagnose zu, dass das Schicksal von landwirtschaftlich genutzten Tieren (farmed ani- mals) sowohl aus rein quantitativen Gründen als auch wegen seiner TIERARBEIT TIERethik, 14. Jg. 24(2022/1) | 51 |
| Peter Niesen normativen Dringlichkeit Priorität genießt, da die ausgebeuteten Nutztiere am äußersten, unfreien Ende ihrer Skala angesiedelt sind. Sie akzeptieren die oben eingeführte, dreifältige Unterscheidung zwi- schen natürlichen, präsuppositionalen und abgeleiteten Rechten und stimmen der These zu, dass es keine a priori feststehende Reihen- folge ihrer Verwirklichung geben muss, sehen aber Nachteile in der von mir vorgeschlagenen Sequenzierung, von abgeleiteten Rechten zu präsuppositionalen und schließlich universellen Grundrechten vo- ranzuschreiten. Wenn ich die Kritik an meinem oben vorgestellten Vorschlag recht verstehe, basiert sie in der Hauptsache auf zwei Argumenten. Das erste ist ein Missbrauchs-Argument: Wie will man sicherstellen, dass nicht minimale Gegenleistungen in Ausbeutungsverhältnissen bereits als Lohn für abgeleitete Rechte verkauft werden? Wie kann man gewährleisten, dass die Bereitstellung von Futter und Sicherheit als Gegenleistung für die Milchproduktion von Kühen nicht bloß dazu dient, unhaltbare landwirtschaftliche Praktiken „reinzuwa- schen“? Dieses Problem ist kein rein philosophisches, denn die Pro- duktwerbung, die Verbands- und Lobbyarbeit etwa der milcherzeu- genden Betriebe, spielt die enormen Anforderungen an die Tiere her- unter und brüstet sich mit den wenigen Atempausen, die sie den Tie- ren gönnt (s. Abb. 1). Abb. 1 (Landesvereinigung der Milchwirtschaft Niedersachsen e.V.) | 52 | TIERethik, 14. Jg. 24(2022/1) TIERARBEIT
Landwirtschaftliche Tierhaltung und die Kategorie der Tierarbeit | Wenn man nicht-ideale Theorie betreibt, die sich am besten Weg, sich einem Idealzustand zu nähern, orientiert, muss man die Mög- lichkeiten der Instrumentalisierung des eigenen Ansatzes ernst neh- men, weil die Verwendung von Argumenten selbst ein Kriterium der Möglichkeit ist, mit ihrer Hilfe einen besseren Zustand zu erreichen oder dies zu torpedieren. Könnten beispielsweise die Agrarverbände die Rhetorik der Tierarbeit zum Anlass nehmen, die bestehenden Verhältnisse beizubehalten, in denen die Haltungsbedingungen der Nutztiere unbestritten das größte Übel sind, das in den Verhältnissen zwischen Mensch und Tier heute auszumachen ist? Wie glaubwür- dig das gelingt, wäre an der Fairness der Gegenleistungen abzulesen: Erkennen die Halter*innen an, dass aus tierlichen Leistungen eine Kompensation folgt, die über das zur Reproduktion notwendige Maß an Ernährung und Erholung hinausgeht? Unterstützen sie Strategien unabhängiger Organisation von Tierinteressen, inklusive deren poli- tischer Vertretung? Integrieren sie überzeugende Mechanismen der Kranken- und Altersvorsorge in ihre betrieblichen und ökonomi- schen Routinen? Diese Entwicklungen lassen sich leicht bewerten, etwa indem sie mit dem status quo ante verglichen werden, und wer- den, so ist zu hoffen, eine Eigenlogik und ein Momentum entwi- ckeln, wie sie auch in anderen historischen Kämpfen um Anerken- nung, etwa in der Arbeiter- oder Frauenbewegung, zu beobachten waren. Das zweite Argument besagt, dass man zwangsläufig eine Stra- tegie des labour-washing von Unterdrückungspraktiken betreibt, wenn man die unfreiwilligen Beiträge von Tieren, die genutzt und dann getötet werden, als „Beiträge zu sozialer Kooperation“ inter- pretiert, wie ich das oben tue (Kap. 2, (1); vgl. Blattner & Kymlicka, 2022, S. 45). Es stimmt, dass der Ausdruck „soziale Kooperation“ bei Rawls manchmal als Erfolgsausdruck im Sinne eines bereits vollständig fairen arbeitsteiligen Austauschs verwendet wird. Mit Blattner und Kymlicka weise ich die Ansicht als absurd zurück, dass unsere Gesellschaft, die Menschen und die mit ihnen verbundenen Tiere umgreift, unter heutigen Bedingungen bereits so etwas wie ein faires System sozialer Kooperation sein könnte. Aber bedeutet dies, TIERARBEIT TIERethik, 14. Jg. 24(2022/1) | 53 |
| Peter Niesen dass von sozialer Kooperation, die als Minimalbedingung nur erfor- dert, dass sie „allen ein besseres Leben ermöglicht, als wenn sie nur auf ihre eigenen Anstrengungen angewiesen wären“ (Rawls, 1975, S. 20), zwischen Menschen und Nutztieren nicht die Rede sein kann? Es ließe sich analog der Skala zwischen unfreier und freier Arbeit, die Blattner und Kymlicka einführen, auch eine Skala sozialer Ko- operation zeichnen, die von erpresster und ausgebeuteter zu willent- lich-reziproker Kooperation reichte. Je weiter wir uns dem unfreien Ende der Skala nähern, desto eher wäre der Verdacht begründet, dass der Ausdruck „soziale Kooperation“ allein zum Reinwaschen anhal- tender Erpressungsverhältnisse diente. Mit der Skala wäre aber zu- gleich die Hoffnung verbunden, dass die abgeleiteten Rechte sich für die Nutztiere zumindest in der Form auszahlen, dass etwa eine Exis- tenz als Arbeiterin in der landwirtschaftlichen Milchproduktion für eine Kuh ein besseres Leben ermöglichen muss, als sie es sonst er- warten dürfte. Nur wenn diese Möglichkeit auch für eine nach Ar- beitsgesichtspunkten transformierte Tierhaltung von vornherein mit guten Gründen bestritten werden kann, würde die Rede von „sozialer Kooperation“ zwangsläufig denen in die Falle gehen, die uns eine Neubeschreibung schmackhaft machen wollen, die an der Realität der Ausbeutungsverhältnisse nichts ändert. Literatur Ahlhaus, S. & Niesen, P. (Hrsg.). (2015). Forum I: Animal Politics. A New Research Agenda in Political Theory. Historical Social Research, 40 (4). Blattner, C.E. (2020). Animal Labour: Toward a Prohibition of Forced La- bour and A Right to Freely Choose One’s Work. In C. Blattner, K. Coulter & W. Kymlicka (Hrsg.), Animal Labour: A New Frontier of Interspecies Justice? (S. 91–115). Oxford: Oxford University Press. Blattner, C., Coulter, K. & Kymlicka, W. (Hrsg.). (2020a). Animal Labour: A New Frontier for Interspecies Justice? Oxford: Oxford University Press. Blattner, C.E., Coulter, K. & Kymlicka, W. (2020b). Animal Labour and the Quest for Interspecies Justice. In C. Blattner, K. Coulter & W. Kymlicka (Hrsg.), Animal Labour. A New Frontier of Interspecies Jus- tice? (S. 1–25). Oxford: Oxford University Press. | 54 | TIERethik, 14. Jg. 24(2022/1) TIERARBEIT
Landwirtschaftliche Tierhaltung und die Kategorie der Tierarbeit | Blattner, C. & Kymlicka, W. (2022). Animal Labour and Animal Politics: Reply to Critics. Politics and Animals, 8, 33–52. Cochrane, A. (2016). Labour Rights for Animals. In R. Garner & S. O’Sul- livan (Hrsg.), The Political Turn in Animal Ethics (S. 15–32). London: Rowman and Littlefield. Cochrane, A. (2018). Sentientist Politics. A Theory of Global Interspecies Justice. Oxford: Oxford University Press. Cochrane, A. (2020). Good Work for Animals. In C. Blattner, K. Coulter & W. Kymlicka (Hrsg.), Animal Labour: A New Frontier of Interspe- cies Justice? (S. 48–64). Oxford: Oxford University Press. Delon, N. (2020). The Meaning of Animal Labour. In C.E. Blattner, K. Coulter & W. Kymlicka (Hrsg.), Animal Labour: A New Frontier of Interspecies Justice? (S. 160–180). Oxford: Oxford University Press. Donaldson, S. & Kymlicka, W. (2011). Zoopolis: A Political Theory of Animal Rights. Oxford: Oxford University Press. Donaldson, S. & Kymlicka, W. (2018). Rights. In L. Gruen (Hrsg.), Criti- cal Terms for Animal Studies (S. 320–336). Chicago, IL: Chicago Uni- versity Press. Eisen, J. (2020). Down on the Farm: Status, Exploitation, and Agricultural Exceptionalism. In C.E. Blattner, K. Coulter & W. Kymlicka (Hrsg.), Animal Labour: A New Frontier of Interspecies Justice? (S. 139–159). Oxford: Oxford University Press. Garner, R. & O’Sullivan, S. (Hrsg.). (2018). The Political Turn in Animal Ethics. London: Rowman and Littlefield. Ladwig, B. (2020). Politische Philosophie der Tierrechte. Berlin: Suhr- kamp. Marshall, T.H. (1950). Citizenship and Social Class. Cambridge: Cam- bridge University Press. Müller, L. (2020). Gerechtigkeit für Tiere? Soziale Kooperation und basale Rechte. TIERethik, 12 (2), 29–54. Niesen, P. (2022). Animal Agriculture and the ‘Labour Turn’. Politics and Animals, 8, 27–33. Porcher, J. & Estebanez, J. (Hrsg.). (2020). Animal Labor. A New Perspec- tive on Human-Animal Relations. Bielefeld: transcript. Rawls, J. (1975). Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M.: Suhr- kamp. TIERARBEIT TIERethik, 14. Jg. 24(2022/1) | 55 |
| Peter Niesen Zur Person Peter Niesen ist Professor für Politische Theorie an der Universität Hamburg. Von 2007 bis 2013 war er Professor für Politische Theorie an der TU Darmstadt und Mitglied des Frankfurter Exzellenzclusters „Herausbildung normativer Ordnungen“. Er hat Gastprofessuren in Shanghai, Island, an der London School of Economics und der Uni- versité de Montréal innegehabt. Seine Forschungsinteressen liegen in der zeitgenössischen Demokratietheorie und der Internationalen Politischen Theorie. Zu seinen jüngsten Publikationen gehören „Erst Ethik, dann Politik, oder: Politik statt Ethik? Zur Grundlegung der Tierrechte im political turn“ (TIERethik, 12 (2020) (2), 7–28) und „Der political turn und die Erhaltung der Arten“ (in F. Adloff & T. Busse (Hrsg.), Rechte der Natur (S. 177–192). Frankfurt a.M.: Cam- pus 2021). Korrespondenzadresse Prof. Dr. Peter Niesen Universität Hamburg Allende-Platz 1 20146 Hamburg E-Mail: peter.niesen@uni-hamburg.de Beitragsinformationen Zitationshinweis: Niesen, P. (2022). Landwirtschaftliche Tierhaltung und die Kategorie der Tierarbeit. TIER- ethik, 14 (1), 39–56. https://www.tierethik.net/ Online verfügbar: 10.05.2022 ISSN: 2698–9905 (Print); 2698–9921 (Online) © Die Autor*innen 2022. Dieser Artikel ist freigegeben unter der Cre- ative-Commons-Lizenz Namensnennung, Weitergabe unter gleichen Bedingungen, Version 4.0 Deutschland (CC BY-SA 4.0 de). URL: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/de/legalcode | 56 | TIERethik, 14. Jg. 24(2022/1) TIERARBEIT
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