Lateinamerika im Krisenmodus - Soziale und politische Unruhen lähmen Regierungshandeln

 
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Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik

                                                                                                               Nr. 3
                                                                                                      Februar 2020

                                   POLICY BRIEF

                                          Lateinamerika im
                                          Krisenmodus
                                          Soziale und politische Unruhen
                                          lähmen Regierungshandeln
Detlef Nolte
Associate Fellow im                            Lateinamerika droht, erneut zu einer Krisenregion zu werden. Die
Programm Amerika der DGAP                      Volkswirtschaften der einstigen Hoffnungsregion stagnieren und
                                               soziale Konflikte entladen sich in Massenprotesten. Aufgrund der
                                               innenpolitischen Krise in vielen Ländern sind diese auch außen-
                                               politisch gelähmt. Die EU sollte dennoch die enge Kooperation mit
                                               der Region ausbauen, um die regionale Integration zu fördern sowie
                                               zum Schutz von Demokratie und Menschenrechten beizutragen.

                                               – Deutschland und die EU sollten das Abkommen mit dem Merco-
                                                 sur vorantreiben. Es dient nicht nur den geo-ökonomischen
                                                 Interessen Europas, sondern sichert auch die wirtschaftliche
                                                 Integration in Südamerika.

                                               – Die EU sollte über Handelsverträge ihre Wirtschaftsbeziehungen
                                                 mit der Region verstärken, um so mehr politischen Einfluss neh-
                                                 men zu können. Mit einer deutlichen Position sollte Europa für
                                                 den Schutz der Demokratie eintreten.

                                               – Europa sollte seine Kontakte mit der Lima-Gruppe ausbauen, die
                                                 aufgrund ihrer Zusammensetzung am ehesten repräsentativ für
                                                 Lateinamerika sprechen kann.

                                               – Europa muss sich der Konkurenz Chinas um wirtschaftlichen
                                                 Einfluss in Lateinamerika stärker stellen. Dabei sollte Europa
                                                 die Möglichkeiten der Finanzierung von Infrastrukturprojekten
                                                 bei-spielsweise durch die Europäische Investitionsbank besser
                                                 nutzen, um im Wettbewerb bestehen zu können.
2                                                                                                                           Nr. 3 | Februar 2020

Lateinamerika im Krisenmodus                                                                                                      POLICY BRIEF

                               2019 war in Lateinamerika ein Jahr poli-                     UNBEWÄLTIGTE
                               tischer Umbrüche und Proteste, die die                       SOZIALE PROBLEME
                               Regierungen von Haiti bis zum bisheri-
                               gen lateinamerikanischen Musterland                          Die Mitte Dezember veröffentlich-
                               Chile erschütterten. Straßenschlachten                       ten vorläufigen Prognosen der Econo-
                               und Proteste gegen die jeweilige Regie-                      mic Commission for Latin America and
                               rung in Ecuador, Chile, Kolumbien und                        Caribbean (ECLAC) 5 zeichnen ein ne-
                               Bolivien haben das Bild Lateinamerikas                       gatives Bild der wirtschaftlichen Ent-
                               im zweiten Halbjahr geprägt. Die Auslö-                      wicklung der Region: Demnach lag das
                               ser der Proteste waren unterschiedlich                       Wachstum für ganz Lateinamerika 2019
                               (Arbeits- und Rentenreformen, Fahr-                          bei mageren 0,1 Prozent (nur Südame-
                               preis- und Benzinpreiserhöhungen,                            rika -0,1 Prozent) mit großen Schwan-
                               Wahlmanipulationen etc.), aber es gibt                       kungen zwischen den wichtigen Volks-
                               auch übergreifende Krisensymptome.1                          wirtschaften. Für 2020 wird eine leichte
                               In vielen Ländern stagniert die Wirt-                        wirtschaftliche Erholung erwartet, die
                               schaft oder wächst nicht ausreichend,                        jedoch keine großen Verteilungsspiel-
                               um die steigenden Erwartungen brei-                          räume eröffnet.
                               ter Gesellschaftsschichten zu befriedi-
                               gen und die Armut weiter abzubauen.                          Die Daten der ECLAC zum sozialen Pan-
                               Die soziale Ungleichheit wurde politi-                       orama Lateinamerikas 6 zeigen, dass
                               siert. Es sind häufig nicht die Ärmsten                      der Anteil und die absolute Zahl der
                               der Bevölkerung, sondern Sektoren der                        Armen in L ateinamerika, die noch
                               Mittelschichten, die die Proteste tragen.                    zu Beginn der Dekade zurückgegan-
                               Sie sehen sich entweder vom sozialen                         gen waren, seit 2014 wieder zuneh-
                               Abstieg bedroht oder in ihren Aufstiegs-                     men (siehe Abbildung S. 4). 2020 ist
                               erwartungen enttäuscht.2 Vielerorts ha-                      aufgrund der Wirtschaftsdaten kei-
                               ben die Bürger das Vertrauen in die                          ne Trendwende zu erwarten. Das gilt
                               Politik und die Demokratie bereits ver-                      auch für Sektoren der Mittelschicht,
                               loren.3 Dazu haben unter anderem Kor-                        die einen sozialen Abstieg befürchten.
                               ruptionsskandale und eine zunehmende                         Ein großer Teil dieses Bevölkerungs-
                               Entfremdung zwischen der politischen                         segments ist hoch verschuldet und
                               Klasse und der Gesellschaft beigetragen.                     verfügt nur über eine unzureichende
                                                                                            Altersabsicherung.7 Die Verschlechte-
                               Viele Regierungen sind durch die in-                         rung sozioökonomischer Rahmenbedin-
                               nenpolitischen Probleme außenpoli-                           gungen bedingt in vielen Ländern der
                               tisch gelähmt. Symptomatisch dafür ist                       Region innenpolitische Veränderungen,
                               Chile. Dort musste die Regierung nach                        die auch außenpolitische Konsequenzen
                               den politischen Unruhen sowohl den                           haben.
                               APEC-Gipfel (Asiatisch-Pazifische Wirt-
                               schaftsgemeinschaft) im November 2019
                               als auch den Weltklimagipfel (COP25) im
                               Dezember absagen. Der Imageschaden
                               wirkt sich negativ auf Chiles internatio-
                               nale Wahrnehmung aus.4
                               1    Siehe Günter Maihold, Wendezeiten in Lateinamerika, SWP-Aktuell Nr. 63, November 2019; Claudia Zilla, Kein
                               lateinamerikanischer Frühling, SWP-Aktuell Nr.69, Dezember 2019.
                               2     Eine hervorragende Analyse der Ursachen der Proteste in Chile bietet Rossana Castiglioni, ¿El ocaso del „modelo
                               chileno“?, in: Nueva Sociedad, Nr.284 November-Dezember 2019, Seite 4-14.
                               3     Dies dokumentieren die Daten des Latinobarómetro . Die letzte
                               veröffentlichte Umfrage stammt allerdings aus dem Jahr 2018. Siehe auch Elizabeth J. Zechmeister und Lupu Noam
                               Lupu (Hrsg.). Pulse of Democracy. Nashville, TN: LAPOP 2019.
                               4     Cecilia Barría, Protestas en Chile: las consecuencias económicas y de imagen de la cancelación de 2 grandes
                               cumbres internacionales por el estallido social, in: BBC News Mundo 31. Oktober, 2019,  (abgerufen am 5. 1. 2020).
                               5    Economic Commission for Latin America and the Caribbean (ECLAC), Social Panorama of Latin America 2019,
                               Santiago de Chile 2019. https://www.cepal.org/sites/default/files/pr/files/table_press_gdp_preliminaryoverview2019-
                               eng.pdf
                               6    Economic Commission for Latin America and the Caribbean (ECLAC), Social Panorama of Latin America 2019,
                               Santiago de Chile 2019 https://repositorio.cepal.org/handle/11362/45090 (abgerufen am 03.2.2020)––.
                               7    Ebenda, S.25-31.
Nr. 3 | Februar 2020                                                                                                                                                                3

                 POLICY BRIEF                                                                                                             Lateinamerika im Krisenmodus

Abbildung 1: Wirtschaftswachstum in Lateinamerika (ausgewählte Länder) 2015-2020

                   2 015                          2 016                           2 017                          2 018                2 019              2 02 0 (Prognose)
  5

  0

 -5

-10

-15

-20

-25

-30

                        Lateinamerika                      Mexiko                 Kolumbien                    Brasilien         Argentinien            Venezuela

Quelle: Economic Commission for Latin America and the Caribbean (ECLAC),
https://www.cepal.org/sites/default/files/pr/files/table_press_gdp_preliminaryoverview2019-eng.pdf (abgerufen am 03.02.2020).

REGIERUNGSWECHSEL IN                                               Berater des Präsidenten im Nationalen                        nationalen Währungsfonds (IWF) auf
ARGENTINIEN, URUGUAY                                               Sicherheitsrat, Mauricio Claver-                             eine eher pragmatische Ausrichtung
UND BOLIVIEN                                                       Carone, vertreten, der die argentini-                        der Außenpolitik. Dies ist nicht zuletzt
                                                                   sche Regierung wegen der Einladung                           darauf zurückzuführen, dass interna-
Mit der Wahl des linken Peronisten                                 an Repräsentanten der Regierung von                          tionale Umfeld dem neuen Präsidenten
Alberto Fernández steht ein Kurs-                                  Nicolás Maduro in Venezuela kriti-                           Fernández deutliche Schranken aufer-
wechsel in der argentinischen Außen-                               sierte und vorzeitig abreiste.9 Ein wei-                     legt. Durch die hohen Schulden beim
politik an. Während sein Vorgänger,                                teres Thema, das die Beziehungen zu                          IWF ist er auf das Wohlwollen westli-
der Konservative Mauricio Macri, auf                               den USA belastet, ist die unterschied-                       cher Regierungen (vor allem der USA)
eine wirtschaftliche Öffnung des Lan-                              liche Bewertung der Ereignisse in                            angewiesen. Dabei könnten die Unru-
des setzte, das EU-Mercosur-Abkom-                                 Bolivien. Vertreter der neuen argen-                         hen in anderen lateinamerikanischen
men vorantrieb, gute Beziehungen zu                                tinischen Regierung hatten den Sturz                         Ländern seine Verhandlungsposition
den USA und Brasilien pflegte und eine                             von Evo Morales als Staatsstreich kriti-                     verbessern. Internationale Geldgeber
kritische Haltung gegenüber der vene-                              siert und die amtierende bolivianische                       haben kein Interesse daran, ein weite-
zolanischen Regierung einnahm, wird                                Übergangspräsidentin Jeanine Añez                            res Land im Chaos versinken zu sehen.
die neue Regierung die Außenpolitik                                nicht zur Amtseinführung eingeladen.
im Rahmen ihrer Möglichkeiten neu                                                                                               Durch geschickte und pragmatische
orientieren.8                                                      Gleichwohl verweisen die Personal-                           Politik könnte die argentinische Regie-
                                                                   politik etwa bei der Auswahl des Au-                         rung auch zu einem interessanten und
Bereits bei der Amtseinführung wur-                                ßenministers und der Besetzung zen-                          wichtigen Ansprechpartner Europas
den Verstimmungen mit den USA                                      traler Botschafterposten (zum Beispiel                       in einer Region mit schwierigen oder
offensichtlich. Die USA waren durch                                in Washington oder Brasília) sowie er-                       innenpolitisch gelähmten Regierun-
den für Lateinamerika zuständigen                                  ste Erklärungen gegenüber dem Inter-                         gen werden, deren Legitimität in Frage

8    Federico Merke, Preferencias, herencias y restricciones: elementos para examinar la política exterior del Frente de Todos, Madrid (Fundación Carolina): Análisis Carolina Nº
24, Noviembre 2019, https://www.fundacioncarolina.es/wp-content/uploads/2019/11/AC-24.pdf>, (abgerufen am 5. 1. 2020).
9    Jean Palou Egoaguirre, Entre pragmatismo e ideología, Fernandéz inicia reingeniería de la diplomacia argentina, in: El Mercurio, 15. Dezember A 4, , (abgerufen am 5.1.2020).
4                                                                                                                                                           Nr. 3 | Februar 2020

Lateinamerika im Krisenmodus                                                                                                                                      POLICY BRIEF

Abbildung 2: Armut in Lateinamerika (2014-2019)                                                                                die Mitarbeit an der internationalen
                                                                                                                               Kontaktgruppe zu Venezuela (an der
                                                                                                                               auch die EU mitwirkt) überdenken zu
                                                                                                                               wollen. Für die Lima-Gruppe äußerte
                                                                                                                               er Sympathie, ohne eine klare Aussa-
           Extremer Armut                       Armut                    Menschen in                   Menschen in             ge im Hinblick auf ein aktives Mitwir-
           (in %)                               (in%)                    Armut (in Mill.)              extermer Armut
                                                                                                       (in Mill.)              ken zu machen. Im Mercosur möch-
                                                                                                                               te Uruguay eine Mittlerrolle zwischen
         2014                   7.8                27.8                              164                46                     Argentinien und Brasilien einnehmen
                                                                                                                               und innerhalb der Organisation Ame-
         2015                8.8                 29.1                                174                  52                   rikanischer Staaten (OAS) unterstützt
                                                                                                                               Uruguay die Wiederwahl des bisheri-
                                                                                                                               gen Generalsekretärs Luis Almagro.
         2016              10.0                 30.0                                 181                   60

                                                                                                                               Bolivien könnte sich als Krisenherd
         2017              10.5                 30.1                                 184                   64                  verfestigen. Präsident Morales mus-
                                                                                                                               ste im November vergangenen Jahres
         2018              10.7                 30.1                                 185                       66
                                                                                                                               nach Protesten wegen Wahlmanipula-
                                                                                                                               tionen und auf Druck des Militärs vor-
                                                                                                                               zeitig zurücktreten. Die aktuelle Über-
         2019            11.5                  30.8                                  191                       72
                                                                                                                               gangsregierung scheint sich durch
                                                                                                                               einen nationalistischen Diskurs profi-
                                                                                                                               lieren zu wollen, wie die Ausweisung
Quelle: Economic Commission for Latin America and the Caribbean (ECLAC), https://repositorio.cepal.org/hand-                   der mexikanischen Botschafterin und
le/11362/44989?show=full (abgerufen am 03.02.2020).
                                                                                                                               zweier spanischer Diplomaten doku-
                                                                   gestellt wird. Viel wird davon abhän-                       mentiert. 12 Es gibt Bestrebungen, im
                                                                   gen, wie sich Argentinien gegenüber                         Vorfeld der anstehenden Wahlen am
                                                                   dem EU-Mercosur-Abkommen posi-                              3. Mai 2020 Anhänger der bisherigen
                                                                   tioniert und wie sich das seit den Wah-                     Regierung zu verfolgen. Die Über-
                                                                   len angespannte Verhältnis zu Brasili-                      gangsregierung Boliviens hat auch
                                                                   en entwickelt.                                              einen radikalen außenpolitischen
                                                                                                                               Kurswechsel vorgenommen:13 Mit den
                                                                   Als Kooperationspartner in Südame-                          USA und Israel sollen wieder Botschaf-
                                                                   rika bietet sich für Argentinien insbe-                     ter ausgetauscht werden. Zugleich
                                                                   sondere Uruguay an, trotz der neuen                         wurden die Beziehungen mit der ak-
                                                                   konservativen Regierung unter Staats-                       tuellen venezolanischen Regierung
                                                                   chef Luis Alberto Lacalle Pou. In seiner                    abgebrochen und Oppositionsführer
                                                                   ersten Erklärung kündigte der zukünf-                       Juan Guaidó als Interimspräsident an-
                                                                   tige (ab März) Präsident hinsichtlich                       erkannt. Auch mit Kuba wurden die di-
                                                                   seiner Außenpolitik an, 10 sich nicht                       plomatischen Beziehungen abgebro-
                                                                   weiter am sogenannten Mechanismus                           chen. Überdies erklärte die Regierung
                                                                   von Montevideo11 beteiligen und auch                        ihren Austritt aus den Regionalbünd-

                                                                   10 Lacalle Pou dio pistas sobre su política exterior, in: Página 12, 3. Dezember 2019, , (abgerufen am 5.1.2020).
                                                                   11 Der sogenannten „Mechanismus von Montevideo“ war eine Initiative der Regierungen von Uruguay und Mexiko
                                                                   mit Unterstützung der Mitgliedstaaten des CARICOM vom 6. Februar 2019, nach einem vorgegebenen Zeitplan in
                                                                   verschiedenen Schritten einen Dialog zwischen der Regierung und der Opposition in Venezuela zu befördern. Siehe
                                                                   die Erklärung des mexikanischen Außenministeriums vom 6. Februar 2019, , (abgerufen am 5. 1. 2020). Die Initiative
                                                                   wurde nachfolgend auch von Bolivien unterstützt. Auf einer nachfolgenden Konferenz in Montevideo am 7. Februar
                                                                   konstituierte sich die sogenannte Kontaktgruppe zu Venezuela unter Beteiligung von Uruguay, Costa Rica, Ecuador,
                                                                   der EU, Deutschland, Frankreich, Italien, der Niederlande, Portugal, Spanien, Schweden und Großbritannien, die sich
                                                                   für Neuwahlen in Venezuela innerhalb von 90 Tagen einsetzte. Diese Initiative wurde von Mexiko und Bolivien nicht
                                                                   mitgetragen.
                                                                   12 Miguel González, Fernando Molina und Luis Pablo Beauregard, España responde al Gobierno de La Paz con la
                                                                   expulsión de tres diplomáticos bolivianos, in: El País, 30. 12. 2019, , (abgerufen am 5. 1. 2020).
                                                                   13 El viraje de la política internacional de Bolivia genera inquietud, in: france24, 29. 11. 2019, , (abgerufen am 5. 1. 2020).
Nr. 3 | Februar 2020                                                                                                                                                           5

               POLICY BRIEF                                                                                                           Lateinamerika im Krisenmodus

nissen UNASUR (Union Südamerika-                            zu einer pragmatischen China-Politik                        gen (die sogenannte Estrada-Doktrin).
nischer Nationen) und ALBA (Bolivari-                       bewogen.18 Ähnliches gilt auch für die                      Deshalb erkennt die mexikanische
sche Allianz für die Völker).                               Beziehungen zu Europa. Die nationa-                         Regierung auch nicht den venezolani-
                                                            listische Reaktion auf die europäische                      schen Interimspräsidenten Guaidó an.
                                                            Kritik an der unzureichenden Umwelt-                        Ein gewisser Widerspruch zur Politik
ZWISCHEN CHAOS UND                                          schutzpolitik, insbesondere nach den                        der Nicht-Einmischung zeigte sich in
INTERNATIONALER                                             verheerenden Bränden im Amazonas-                           der Bolivien-Krise. Den Sturz von Mo-
ZURÜCKHALTUNG                                               Regenwald, geht einher mit dem In-                          rales verurteilte die mexikanische Re-
                                                            teresse, die Wirtschaftsbeziehungen                         gierung als Staatstreich, flog ihn in ei-
Vorbei sind die Zeiten, als Europa auf                      auszubauen und das EU-Mercosur-Ab-                          ner Militärmaschine aus und gewährte
Brasilien als regionale Führungsmacht                       kommen zu unterzeichnen.                                    ihm zum Missfallen der US-Regierung
blickte: Mit einer strategischen Part-                                                                                  politisches Asyl.19 Zudem halten sich
nerschaft sollte der Bedeutung Brasili-                     In der Außenpolitik Mexikos unter                           in der mexikanischen Botschaft in La
ens in Südamerika Rechnung getragen                         dem linksliberalen Präsidenten Andrés                       Paz ehemalige Funktionsträger der Re-
und wichtige Initiativen in der Regi-                       Manuel López Obrador dominieren die                         gierung Morales auf; was zu diploma-
on abgesichert werden. Als regiona-                         Beziehungen zu den USA wie die Rati-                        tischen Spannungen mit der bolivia-
le Führungsmacht ist Brasilien schon                        fizierung des neu verhandelten norda-                       nischen Übergangsregierung geführt
während der Präsidentschaft von Dil-                        merikanischen Freihandelsabkommens                          hat.
ma Rousseff (2011 bis 2016) abgetreten.                     und die Neuregelung der Migrations-
Neu ist, dass sich Brasilien zu einer re-                   politik. In beiden Bereichen hat Mexiko                     Mexiko hat sich bereit erklärt, 2020
gionalen Chaosmacht entwickelt hat.14                       große Zugeständnisse gemacht, unter                         die Präsidentschaft pro tempore von
Die Außenpolitik ist hochgradig ideo-                       anderem durch schärfere Kontrollen an                       CELAC zu übernehmen, um die latein-
logisiert. Zur innenpolitischen Macht-                      seiner Südgrenze und eine härtere Po-                       amerikanische Integration voranzu-
erhaltungsstrategie des brasilianischen                     litik gegenüber zentralamerikanischen                       treiben.20 Außerdem kandidiert Mexiko
Präsidenten Jair Bolsonaro gehört es,                       Migranten, die Mexiko in Richtung US-                       mit Unterstützung der lateinamerika-
außenpolitische Feindbilder zu gene-                        Grenze zu durchqueren versuchen.                            nischen und karibischen Staatengrup-
rieren. 15 Das gestörte Verhältnis zur                                                                                  pe für einen Sitz als nichtständiges
neuen argentinischen Regierung be-                          Im Gegensatz zum eingeschränkten                            Mitglied im VN-Sicherheitsrat für die
lastet den Mercosur. Ideologisch fühlt                      Handlungsspielraum gegenüber den                            Periode 2021-2022.21
sich die Bolsonaro-Regierung der                            USA setzt Mexiko in der Lateinameri-
Trump-Administration nahe, hat aber                         kapolitik eigenständige Akzente. War                        Trotz der Bemühungen einiger Staa-
daraus trotz wirtschaftlicher und po-                       die Vorgängerregierung noch eine der                        ten, internationale Verantwortung zu
litischer Zugeständnisse bisher noch                        treibenden Kräfte hinter der Lima-                          übernehmen, ist insgesamt eine Kri-
keinen materiellen Nutzen ziehen                            Gruppe mit einer kritischen Haltung                         se des Multilateralismus zu beobach-
können;16 allenfalls im Hinblick auf die                    gegenüber der venezolanischen Re-                           ten. Die Reaktionen auf den Konflikt in
Rücknahme der Drohung, Sonderzöl-                           gierung unter Maduro, knüpft die neue                       Ve n e z u e l a u n d d e n M a c ht wec h -
le auf brasilianischen Stahl und Alumi-                     Regierung wieder an alte Traditionen                        sel in Bolivien 22 haben gezeigt, dass
nium zu erheben.17 Wirtschaftlich hat                       der Nichteinmischung in die inneren                         Lateinamerika nicht in der Lage ist,
sich die Abhängigkeit von China ver-                        Angelegenheiten anderer Staaten an                          seine Krisen eigenständig zu bewälti-
größert und die Regierung trotz an-                         und enthält sich eines Urteils über die                     gen. Die Region ist politisch weiterhin
fänglich anderslautender Erklärungen                        Legitimität ausländischer Regierun-                         tief gespalten. Als Folge befinden sich
14 Oliver Stuenkel, How Bolsonaro’s Chaotic Foreign Policy Worries the Rest of South America, in: Americas Quarterly, 19. Juni 2019, < https://www.americasquarterly.org/
content/bolsonaros-chaotic-foreign-policy>, (abgerufen am 5. 1. 2020).
15 Oliver Stuenkel, Relação entre Brasil e Argentina passará por momento mais difícil em décadas, in: El País (Ausgabe Brasilien), 16. 10. 2019, , (abgerufen am 5. 1. 2020).
16 Oliver Stuenkel, Bolsonaro Placed a Losing Bet on Trump, in: Foreign Policy, 6.Dezember 2019, , (abgerufen am 5. 1. 2020).
17 Ana Swanson und Letícia Casado, Trump Backs Down From Threat to Place Tariffs on Brazilian SteelTrump Backs Down From Threat to Place Tariffs on Brazilian Steel, in:
New York Times, 21. 12. 2019, , (abgerufen am 5. 1. 2020).
18 Paulo Trevisani, Brazil Deepens China Ties in About-Face, in: Wall Street Journal, 15. 12. 2019, , (abgerufen am 5. 1. 2020).
19 Nacha Cattan, Mexico Plays Down U.S. Friction After Foreign Policy U-Turn, in: Bloomberg 12. November 2019, , (abgerufen am 5. 1. 2020).
20 Gustavo Edgar Herrera Caballero, México, en búsqueda de la integración regional: PPT CELAC 2020, in: Foreign Affairs Latinomérica, 3. Oktober 2019, , (abgerufen am 5.1.2020).
21 Alejandro Alday und María Paulina Rivera Chávez, Un año en retrospectiva. La política exterior de México, in: Foreign Affairs Latinomérica, 10. Dezember 2019, , (abgerufen am 5.1.2020).
22 Oliver Stuenkel, Latin America Is too Polarized to Help to Stabilize Bolivia, Foreign Policy, 13. November 2019; https://foreignpolicy.com/2019/11/13/latin-america-
polarization-bolivia-brazil-venezuela-argentina-chile/>, (abgerufen am 5. 1. 2020).
6                                                                                                                           Nr. 3 | Februar 2020

Lateinamerika im Krisenmodus                                                                                                       POLICY BRIEF

                               die meisten lateinamerikanischen Re-                          VN-Vollversammlung CELAC vorste-
                               gionalorganisationen in einer Krise und                       hen. Auch im Fall von CELAC war der
                               die gesamte regionale Architektur ist im                      Streit über Venezuela Auslöser der Kri-
                               Umbruch. Dies erschwert die multilate-                        se. Mit Hinweis auf die Beteiligung
                               rale Kooperation mit Europa und Regio-                        Kubas, Nikaraguas und Venezuelas setz-
                               nen übergreifende Initiativen.                                te die brasilianische Regierung Mitte Ja-
                                                                                             nuar ihre Mitgliedschaft in CELAC aus.23
                               Die südamerikanische Regionalorga-                            Ein Kollateralschaden der Krise von
                               nisation UNASUR zerbrach durch den                            CELAC sind die gemeinsamen Gipfel-
                               Venezuela-Konflikt und den mangeln-                           treffen mit der EU. Der letzte hätte im
                               den Konsens bei der Wahl eines neu-                           Oktober 2017 in San Salvador stattfinden
                               en Generalsekretärs. Seit Anfang 2017                         sollen.
                               war die Organisation handlungsunfä-
                               hig. Inwieweit der neue Staatenbund                           Auf ihrem letzten Gipfeltreffen im Ju-
                               PROSUR eine Zukunft hat, ist unklar. Die                      li 2019 in Lima hatte die Pazif ikal-
                                                                                             lianz, der Chile, Kolumbien, Peru,
                                                                                             Mexiko und bald auch Ecuador ange-
                                                                                             hören, die Zahl der Staaten mit Be-
                                                                                             obachterstatus noch einmal auf
    Lateinamerika ist eine schwierige                                                        mittlerweile 59 gesteigert. Die Ab-
                                                                                             schlusserklärung des Gipfeltreffens
        Partnerregion geworden                                                               (Declaración de Lima) 24 enthält ein
                                                                                             klares Bekenntnis zum Freihandel, zu ei-
                                                                                             nem multilateralen Handelssystem und
                                                                                             zum Pariser Klimaschutzabkommen. In-
                               beiden treibenden Regierungen hinter                          sofern bietet sich die Pazifikallianz als
                               der Gründung, die kolumbianische und                          Kooperationspartner Europas an; zumal
                               die chilenische, sind innenpolitisch an-                      die EU mit allen Mitgliedern Freihan-
                               geschlagen. Brasilien scheint das Pro-                        delsabkommen abgeschlossen hat. Seit
                               jekt eher halbherzig zu betreiben. Und                        Juli hat sich allerdings die innenpoliti-
                               im Gegensatz zur Regierung Macri dürf-                        sche Situation in den Mitgliedsländern
                               te die neue argentinische Regierung kei-                      kompliziert.25 Obgleich die Beziehungen
                               ne größeren Initiativen im Hinblick auf                       der EU mit den Ländern der Pazifikalli-
                               PROSUR entwickeln.                                            anz weitgehend reibungslos verlaufen,
                                                                                             sind größere außenpolitische Initiativen
                               Auch die Gemeinschaft der lateinameri-                        nicht zu erwarten. Das gleiche lässt sich
                               kanischen und karibischen Staaten (CE-                        im Hinblick auf die Andengemeinschaft
                               LAC) ist in einer Krise. Der letzte Prä-                      (Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru) sa-
                               sidenten-Gipfel von CELAC fand vor                            gen, mit der die EU ein Freihandelsab-
                               drei Jahren im Januar 2017 in der Do-                         kommen abgeschlossen hat.
                               minikanischen Republik statt. Nach-
                               dem es 2018 nicht einmal eine Präsi-                          D e r M e r c o s u r, d i e u n v o l l s t ä n d i -
                               dentschaft pro tempore gegeben hatte,                         ge Zollunion zwischen Argentinien,
                               übernahm Bolivien 2019 diese Funkti-                          Bra s i l i e n , Pa ra g u ay u n d U r u g u ay,
                               on, ohne das regionale Forum wieder-                          ist in Gefahr. Schon vor dem Regie-
                               beleben zu können. 2020 wird Mexi-                            rungsantritt von Bolsonaro gab es
                               ko nach der Entscheidung auf einem                            Erklärungen aus seinem Umfeld, dass
                               Außenministertreffen am Rande der                             dem Mercosur keine hohe Priorität

                               23 Brazil steps out from Celac, because of its failure “to protect democracy”, in: MercoPress, 17. Januar 2020; https://
                               en.mercopress.com/2020/01/17/brazil-steps-out-from-celac-because-of-its-failure-to-protect-democracy (abgerufen
                               28.1.2020).
                               24 Siehe Deklaration von Lima,  (abgerufen am 5. 1. 2020)
                               25 In Chile und Kolumbien wurden die Regierungen mit massiven Protesten auf der Straße konfrontiert. In Mexiko wie
                               auch in Kolumbien hat sich die Sicherheitslage aufgrund der organisierten Kriminalität massiv verschlechtert. Und in Peru
                               führte ein Konflikt zwischen Präsident und Kongress zu einer Auflösung des Parlaments mit vorgezogenen Neuwahlen.
Nr. 3 | Februar 2020                                                                                                                                                       7

               POLICY BRIEF                                                                                                        Lateinamerika im Krisenmodus

zukomme und Brasilien gegebenen-                           kunft gehören sollte. 28 Das Gegen-                        an die „Neue Seidenstraße“ anzubin-
falls seinen eigenen Weg gehen wer-                        teil ist eingetreten. Die OAS ist eine                     den, warnen die USA vor einem zu gro-
de. Während der Präsidentschaft von                        der wenigen Regionalorganisationen,                        ßen wirtschaftlichen Einf luss von
Macri konnten die Interessengegen-                         die nicht paralysiert und weiter hand-                     China. In Lateinamerika (etwa in Ar-
sätze noch einigermaßen eingehegt                          lungsfähig ist. Letztlich war es die Kri-                  gentinien und Brasilien) übt die US-
werden, aber schon im Wahlkampf                            tik der OAS am Ablauf der Wahlen in                        Regierung verstärkt Druck im Hinblick
gab es verbale Auseinandersetzungen                        Bolivien, die das Schicksal von Morales                    auf den Ausschluss chinesischer Un-
zwischen dem neuen argentinischen                          besiegelte. Dies kann auf längere Sicht                    ternehmen beim Ausbau des schnellen
Präsidenten Fernández und Bolsonaro.                       die Rolle der OAS bei der Sicherung                        Internet (5G-Standard) aus.30
Die unterschiedlche wirtschaftspoliti-                     der Demokratie in Lateinamerika stär-
sche Ausrichtung beider Regierungen                        ken, setzt aber voraus, dass sie faire
dürfte eine Annäherung erschweren:                         und transparente Neuwahlen in Bolivi-                      SCHLUSSFOLGERUNGEN
Brasilien möchte den gemeinsamen                           en garantiert und zukünftig auch kla-                      UND EMPFEHLUNGEN
Außenzoll des Mercosur absenken, Ar-                       rer Position bei Wahlmanipulationen,
gentinien ist dagegen. In dieser kom-                      Verfassungsverstößen und Menschen-                         Die EU sollte Organe und Organisatio-
plizierten Situation birgt das anstehen-                   rechtsverletzungen rechter Regierun-                       nen, die dem Schutz der Menschen-
de Abkommen zwischen dem Mercosur                          gen (etwa in Zentralamerika) bezieht.                      rechte in Lateinamerika dienen, ak-
und der EU zusätzlich Sprengkraft. 26                      Interessant wird der Ausgang der für                       tiv unterstützen. Falls die Forderung
Brasilien, Paraguay und Uruguay wol-                       den 20. März geplanten Wahl des Ge-                        umgesetzt wird, dass der Schutz li-
len das Abkommen, die argentinische                        neralsekretärs der OAS sein. Der nicht                     beraler Grundwerte wie Demokra-
Reg ierung hat sich vor den Wah-                           unumstrittene 29 bisherige General-                        tie und Menschenrechte die europä-
len und danach eher zurückhaltend                          sekretär Almagro bemüht sich um                            ische und deutsche Außenpolitik in
(„falls das Abkommen der argentini-                        eine zweite Amtszeit und kann nach                         Lateinamerika viel stärker leiten soll-
schen Industrie nicht schadet“ 27) bis                     eigenen Angaben auf die Unterstüt-                         te als geostrategische und wirtschaft-
ablehnend geäußert. Im Fall einer Zu-                      zung der USA zählen.                                       liche Interessen,31 würde dies jedoch
stimmung der europäischen Staaten,                                                                                    die Handlungsmöglichkeiten der EU in
die noch nicht gesichert ist, wären die                                                                               Lateinamerika übermäßig einschrän-
anderen Mitgliedsländer gegebenen-                         CHINAS EINFLUSS IN                                         ken und die Region China und den USA
falls auch bereit, ohne Argentinien vor-                   LATEINAMERIKA                                              als Spielfeld in ihrem globalen Konflikt
anzuschreiten. Dies wäre das Ende des                                                                                 überlassen.
Mercosur in seiner jetzigen Form.                          Nachdem aus seiner Sicht erfolgrei-
                                                           chen Handelskonflikt mit China dürfte                      Im Konflikt zwischen China und den
Die Organisation Amerikanischer Staa-                      US-Präsident Trump nunmehr wieder                          USA sollte die EU in Lateinamerika ei-
ten (OAS) mit seinen 34 Mitgliedstaa-                      bereit sein, auch gegenüber Latein-                        ne eigenständige Position einnehmen.
ten wurde in der Vergangenheit viel-                       amerika und Europa den wirtschaft-                         Europa könnte in diesem Konflikt eine
fach als verlängerter Arm der USA                          lichen Druck zu erhöhen, um Vorteile                       dritte Option anbieten, muss aber auch
kritisiert. Nach der Gründung neuer                        für die USA zu erlangen. Auch deshalb                      gegenüber den USA und China sei-
lateinamerikanische Regionalorganisa-                      sind die Handelsabkommen der EU mit                        ne Interessen verteidigen. Diesem Ziel
tionen wie etwa UNASUR und CELAC                           Lateinamerika wichtig.                                     dienen unter anderem Handelsverträ-
sahen viele schon einen Bedeutungs-                                                                                   ge. Europäische Unternehmen sind
verlust der Organisation. Der venezo-                      Während China bestrebt ist, seine                          wichtige Investoren in Lateinamerika,
lanische Präsident Maduro hatte die                        Wirtschaftsbeziehungen mit Latein-                         vor allem in den Ländern des Merco-
OAS auf die „Müllhalde der Geschich-                       amerika weiter auszubauen und mög-                         sur; und die EU ist ein wichtiger Part-
te“ verortet, während UNASUR die Zu-                       lichst viele lateinamerikanische Länder                    ner in der Entwicklungszusammenar-
26 Darío Mizrahi, ¿Se puede romper el Mercosur?: máxima tensión ante el inminente choque entre Brasil y Argentina, in: infobae, 7. Dezember 2019, , (abgerufen am 5. 1. 2020);
Roberto Bouzas, Argentina, Mercosur y UE: los deseos de avanzar y el riesgo de la desintegración, in: El Economista, 16. Dezember 2019, , (abgerufen am 5. 1. 2020).
27 Alberto Fernández favorable al acuerdo Mercosur/UE, “si no afecta la industria argentina”, in: mercospress, 19. Dezember 2019, , (abgerufen am 5. 1. 2020).
28 Nicolás Maduro ataca a la OEA y dice que no quiere ninguna relación con el organismo, in: infobae, 6. Mai 2016, , (abgerufen am 5. 1. 2020).
29 Gegenkandidaten sind bisher der peruanische Karrierediplomat (mit langjähriger Erfahrung in der OAS) Hugo de Zela, dessen Kandidatur von Peru unterstützt wird, und
die ehemalige ecuadorianische Außen- und Verteidigungsministerin (und Präsidentin der VN-Vollversammlung) María Fernanda Espinosa, deren Kandidatur von Antigua und
Barbuda sowie St. Vincent und die Grenadinen eingebracht wurde und von weiteren Karibikstaaten unterstützt wird. Die ekuadorianische Regierung präferiert allerdings Almagro.
30 Andres Schipani, Jude Webber und Benedict Mander, Latin America resists US pressure to exclude Huawei, in: Financial Times 9. Juni 2019,  (abgerufen am 5.1.2020)
31   Sabine Kurtenbach, Lateinamerika – Multilateralismus ohne liberale Werte, in: GIGA Focus Lateinamerika, Nummer 7, Dezember 2019, S.8.
8                                                                                                                                                Nr. 3 | Februar 2020

Lateinamerika im Krisenmodus                                                                                                                           POLICY BRIEF

beit. Zudem sollten mit China und den                      des EU-Mercosur-Abkommens führen                          Desweitern gilt es auszuloten, inwie-
USA getrennt die Möglichkeiten eines                       werden und darüber hinaus weitere                         weit die neue argentinische Regierung
trilateralen Dialogs mit Lateinamerika                     negative Auswirkungen auf die Wirt-                       zu einer erweiterten Partnerschaft mit
(EU-LA-USA bzw. EU-China-LA) aus-                          schaftsbeziehungen haben würden.                          der EU bereit ist. Die EU-Staaten soll-
gelotet werden. Europa könnte stärker                                                                                ten soweit möglich, Argentinien bei
mit China im Bereich der Finanzierung                      Deutschland und die EU sollten das                        der Umschuldung unterstützen, da-
von Infrastrukturprojekten in Latein-                      Abkommen mit dem Mercosur voran-                          mit nicht ein weiteres südamerikani-
amerika etwa über die Europäische In-                      treiben. Es dient nicht nur den geo-                      sches Land im Chaos versinkt. Argen-
vestitionsbank konkurrieren, die gera-                     ökonomischen Interessen der EU,                           tinien könnte ein wichtiger Partner für
de ein Büro in Bogotá geöffnet hat.                        sondern auch der wirtschaftlichen                         die Beziehungen mit Lateinamerika in
                                                           Integration in Südamerika. Ein Schei-                     einem komplizierten internationalen
Neben dem Schutz von Demokratie                            tern des Abkommens könnte sich ne-                        Umfeld werden.
und Menschenrechten gilt es, auch an-                      gativ auf den Fortbestand des Merco-
dere Werte und internationale Nor-                         sur auswirken. Ein Auseinanderdriften                     Ne b e n A r g e nt i n i e n kö n nt e au c h
men zu verteidigen. Die Aussagen in                        des Mercosur würde für die Beziehun-                      Mexiko eine wichtigere Rolle in den
einem Reflexionspapier der Europä-                         gen zwischen Argentinien und Brasili-                     Beziehungen zwischen Europa und
ischen Kommission vom Mai 201732 ha-                       en mittelfristig auch sicherheitspoliti-                  Lateinamerika zukommen. Trotz der
ben weiterhin Gültigkeit. Dort heißt es:                   sche Auswirkungen haben.                                  Rückkehr zur traditionellen mexikani-
„Als der größte Binnenmarkt der Welt,                                                                                schen Position der Nichteinmischung
als führende Handelsmacht und größ-                        Die EU könnte auch helfen, den Kon-                       in die inneren Angelegenheiten ande-
ter Investor und als weltweit größter                      flikt zwischen Argentinien und Brasili-                   rer Staaten zeigt die mexikanische Re-
Geber von Entwicklungshilfe kann die                       en in Bolivien zu entschärfen: Brasilien                  gierung auch die Bereitschaft zu einem
EU das globale Regelwerk maßgeblich                        unterstützt die Übergangsregierung.                       größeren internationalen Engagement.
gestalten.“33                                              Argentinien gewährt Morales den Sta-
                                                           tus eines politischen Flüchtlings und                     Beide, Mexiko und die neue argentini-
Europa ist ein wichtiger Handelspart-                      lässt ihn von argentinischem Boden                        sche Regierung, wollen eine Mittler-
ner Lateinamerikas und vor allem im                        aus agitieren. Die EU sollte versuchen                    rolle gegenüber Venezuela einnehmen.
Mercosur stark präsent. Diese wirt-                        zu vermitteln und gegebenenfalls eine                     Damit ist ein weiteres Problemfeld an-
schaftlichen Bindungen schaffen Raum                       Wahlbeobachtungsmission nach Boli-                        gesprochen, das die Beziehungen zwi-
für politischen Einfluss, den es zu nut-                   vien schicken.                                            schen Lateinamerika und Europa in
zen gilt. So würde eine Ablehnung des                                                                                diesem Jahr beeinf lussen wird. We-
EU-Mercosur-Abkommens wegen                                Der Kooperation mit Brasilien muss                        der zeichnet sich im Augenblick eine
der Abholzung des Regenwaldes dem                          weiterhin eine hohe Priorität zukom-                      schnelle Lösung der politischen Krise
Schutz des Regenwaldes nur wenig                           men. Allerdings sollte die zeitwei-                       in Venezuela, noch eine schnelle Erho-
nutzen. Die EU sind nicht der einzige                      lig übermäßige Fixierung auf Brasili-                     lung der venezolanischen Wirtschaft
und bei weitem nicht der wichtigste                        en durch eine engere Kooperation mit                      und ein Rückgang der Migrationsströ-
Käufer von brasilianischem Rindfleisch                     anderen südamerikanischen Ländern                         me ab. Europa hat sich 2019 über ei-
und Soja.34 Mit einem Abkommen kann                        ausbalanciert werden. Die strategi-                       ne internationale Kontaktgruppe in die
die EU vielmehr Druck auf Brasilien                        sche Partnerschaft mit Brasilien soll-                    Vermittlungsbemühungen in Venezue-
ausüben, und dadurch können brasi-                         te erst wiederbelebt werden, wenn es                      la eingebracht. 35 Es hat sich gezeigt,
lianische Unternehmensgruppen mit                          mehr Übereinstimmung in strategi-                         dass die Multiplizierung der Akteu-
Wirtschafsinteressen in Europa mo-                         schen Fragen gibt. Europa sollte seine                    re zu keinen Fortschritten geführt hat.
bilisiert werden. Allerdings muss der                      Interessen in Brasilien vertreten und in                  Die EU sollte ihre Kooperation auf die
brasilianischen Regierung auch klar                        einen Dialog mit der Regierung eintre-                    Lima-Gruppe konzentrieren, der trotz
gemacht werden, dass ein Ausstieg aus                      ten. Auch in Parlament und Wirtschaft                     Vorbehalten weiterhin auch Argentini-
dem Pariser Klimaschutzabkommen                            gibt es gegenüber den Anliegen Euro-                      en und Mexiko angehören.
und weitere Umweltvergehen im Ama-                         pas aufgeschlossene Partner.
zonasgebiet (und anderswo) in letz-                                                                                  Aufgrund der Schwäche des latein-
ter Konsequenz zu einem Scheitern                                                                                    amerikanischen Multilateralismus

32   Europäische Kommission, Reflexionspapier. Die Globalisierung meistern, Brüssel, Mai 2017.
33 Weiter heißt es: „Die EU sollte die Arbeit an einer ausgewogenen, auf Regeln beruhenden und progressiven Agenda für Handel und Investitionen fortsetzen, die
nicht nur die Marktöffnung auf der Grundlage der Gegenseitigkeit vorsieht, sondern auch die Weltordnungspolitik in Bereichen wie Menschenrechte, Arbeitsbedingungen,
Lebensmittelsicherheit, öffentliche Gesundheit, Umweltschutz und Tierschutz stärkt.“
34   Siehe Detlef Nolte, Mercosur-Abkommen. Europas geoökonomische und -strategische Interessen, in: DGAPkompakt Nr. 16, September 2019.
35   Claudia Zilla, Venezuela, die Region und die Welt, SWP-Aktuell Nr. 14, März 2019.
Nr. 3 | Februar 2020                                                                                                                                                      9

               POLICY BRIEF                                                                                                         Lateinamerika im Krisenmodus

muss die EU alle bestehenden Fo-                           zu einer Militarisierung der Demo-
ren nutzen, die eine Chance zum Dia-                       kratie in Lateinamerika führen kann.36
log bieten. Auch deshalb ist das Ab-                       Wie die Krisen in Lateinamerika aus-
kommen mit den Mercosur wichtig.                           gehen, ist deshalb noch offen. Einer-
Darüber hinaus sollten bestehende                          seits sind Fortschritte in Richtung ei-
Dialogforen, etwa mit der Andenge-                         ner Vertiefung der Demokratie (etwa
meinschaft oder den zentralamerika-                        durch Verfassungsreformen), mehr po-
nischen und karibischen Staaten (SICA                      litischer Transparenz und mehr sozi-
und CARIFORUM), aufgewertet wer-                           aler Gerechtigkeit möglich. Es ist aber
den. Gegebenenfalls sollten im Fall ei-                    auch möglich, dass sich nach den Pro-
nes PROSUR-Gipfels 2020 Beobachter                         testen wieder der Ruf nach Ordnung
der EU teilnehmen. Auch die Kontak-                        durchsetzt und rechte Politiker mit
te mit der Lima-Gruppe sollten weiter                      diesem Versprechen an die Macht ge-
gepflegt werden. Mit der Unterstüt-                        langen.37 Europa muss sich darauf ein-
zung der neuen bolivianischen Regie-                       stellen, dass die politische Lage in La-
rung und dem möglichen Beitritt Uru-                       teinamerika volatil bleibt, autoritäre
guays wird sich die Repräsentativität                      Tendenzen und eine weitere Stärkung
der Gruppe weiter erhöhen. Punktu-                         der Rolle des Militärs in einzelnen Län-
ell bietet sich auch eine Kooperation                      dern sind nicht auszuschließen. Auch
mit der OAS an, die als einzige Regio-                     das hohe Ausmaß an politischer und
nalorganisation gestärkt aus der Krise                     anders motivierter Gewalt sowie von
des Multilateralismus in Lateinamerika                     staatlich geförderten oder nicht aus-
hervorgegangen ist. Offen ist die Fra-                     reichend sanktionierten Menschen-
ge, inwieweit die temporäre Präsident-                     rechtsverletzungen wird fortbestehen.
schaft Mexicos der CELAC neue Im-
pulse geben kann, die sich positiv auf
die Beziehungen mit der EU auswirken.

Insgesamt sollte sich die EU darauf
einstellen, dass Lateinamerika zu ei-
ner schwierigen Partnerregion ge-
worden ist. Die Region stagniert wirt-
schaftlich, soziale Verteilungskonflikte
werden immer heftiger und das Fun-
dament der Demokratie ist vielerorts
brüchig geworden. Europa wird auch
2020 in seinen Beziehungen mit La-
teinamerika mit Problemen politi-
scher Instabilität, autoritären Tenden-
zen und Menschenrechtsverletzungen
durch staatliche Organe konfrontiert
sein. Das Militär wird in solchen Kri-
senkonstellationen zum Stabilitätsan-
ker. Politische Akteure versuchen, sich
in Lateinamerika des Rückhalts der
Streitkräfte zu versichern, was das Mi-
litär in eine Schiedsrichterrolle drängt
und langfristig wieder zu einer stär-
keren Politisierung des Militärs oder

36 Javier Corrales, Latin America Risks Becoming the Land of Militarized Democracies, in: Americas Quarterly, 24.Oktober 2019, < https://www.americasquarterly.org/content/
latin-america-risks-becoming-land-militarized-democracies>, (abgerufen am 5. 1. 2020); Steven Levitsky und María Victoria Murillo, The Coup Temptation in Latin America, in:
New York Timees, 26. November 2019, , (abgerufen am 5. 1.
2020).
37 Siehe den Vergleich zwischen Chile und Brasilien bei Oliver Stuenkel, How Chile Can Avoid Brazil‘s Fate, in: Americas Quarterly, 13. Dezember 2019, , (abgerufen am 5. 1. 2020).
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