Logopädische Versorgung von mehrsprachigen Kindern mit Migrations-hintergrund: Förderung oder Therapie?

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03 / September 2020     |   logopädieschweiz

Logopädische Versorgung von mehrsprachigen Kindern mit Migrations-
hintergrund: Förderung oder Therapie?

Prof. Dr. Wiebke Scharff rethfeldt1

1 Hochschule Bremen

Abstract
Die Versorgung von mehrsprachigen Kindern und/oder Kindern mit Migrationshintergrund fällt als selbst-
verständlicher Bestandteil in den logopädischen Tätigkeitsbereich. Dabei stellt die differenzialdiagnostische
Abgrenzung von therapiebedürftigen gegenüber förderbedürftigen Sprech-, Sprach- und Kommunikationsauf-
fälligkeiten Logopädinnen und Logopäden vor besondere Herausforderungen. Der Beitrag gibt einen Einblick in
kumulative Risikofaktoren des Mehrspracherwerbs und inwieweit kulturell und linguistisch diverse Kinder von
Risiken der Fehlversorgung besonders betroffen sind. Deutlich wird, dass diverse diagnostische Methoden zur
Abklärung einer Sprachentwicklungsstörung erforderlich sind und dass Prävention und Gesundheitsförderung
stärker in die aktuelle Ausrichtung in der logopädischen Versorgung von Sprech-, Sprach- und der Kommunika-
tionsauffälligkeiten im Zuge des Anspruchs auf Inklusion integriert werden sollten.

One aim of speech and language service providers is to allow everyone to have equal access to appropriate
intervention resources, including culturally and linguistically diverse (CLD) children who speak languages other
than, or in addition to German, as well as migrant children. Language skills in multilingual children are highly
varied as a result of the variability in their language experiences. In addition, there may be multilingual children
who have speech, language and communication needs (SLCN), or in contrast, some children may present with
developmental language disorder (DLD). The identification of DLD in CLD children poses unique challenges for
clinicians. Hence, the distinction between differentiating typical from atypical language development may not
occur reliably. This places CLD children at risk for misdiagnosis and interventions that may be insufficient. A
reconceptualization of language needs/difficulties emphasizes the need to review the problematic of traditional
approaches to speech-language assessment and intervention on CLD clients. It is proposed that prevention and
intersectoral promotion of health and wellbeing need to inform the concept of SLCN in order to follow the notion
of inclusive settings.

1   Einführung
Viele der Studien, die den Mehrspracherwerb von Kin-       mehrsprachigen Kindern dabei eine besondere Rolle
dern mit Migrationshintergrund untersuchten, fokus-        gespielt (vgl. Montrul 2008). Die Erkenntnisse haben in
sieren vorrangig den Erwerb der Mehrheitssprache           den letzten Jahrzehnten die Entwicklung von solchen
im Vergleich zur einsprachigen Altersnorm (vgl. Para-      Sprachstandsfestellungen und Sprachförderprogram-
diS 2009, chondrogianni & MariniS 2011). Schliesslich      men nachhaltig geprägt, deren hoher Anspruch es ist,
stellt die Beherrschung der Mehrheitssprache eine          Chancengleichheit mit Blick auf den Bildungserfolg
einschlägige Voraussetzung für Bildungserfolg und          herzustellen. Untersuchungen zur Sprachentwick-
zukünftige Beschäftigung dar (vgl. guven & iSlaM 2015).    lung in den Herkunftssprachen und damit die Berück-
In früheren Studien haben Alterseffekte zur Erklärung      sichtigung einer ganzheitlichen Sprachentwick-
von Unterschieden in der Entwicklung von ein- und          lung unter den vielfältigen kulturell und linguistisch

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diversen Bedingungen spielen hingegen noch immer          Sprechern in einer oder mehreren Sprachen innerhalb
eine untergeordnete Rolle. Dabei liegen hinreichend       der Familie und in der Gesellschaft zu kommunizieren.
Erkenntnisse vor, die die Bedeutung des Erhalts der       Mehrsprachigkeit ist nicht mit gleichen Sprachfähig-
Herkunftssprache für das Wohlbefinden und die Iden-       keiten in mehr als einer Sprache zu verwechseln.
titätsentwicklung eines Individuums sowie für eine        Denn neben den zahlreichen Faktoren, die auch den
erfolgreiche kognitive und mehrsprachige Entwick-         Spracherwerb einsprachig aufwachsender Kinder
lung belegen (vgl. de houWer 2015; oh & fuligni 2010;     beeinflussen, sind beim Mehrspracherwerb noch
WinSler et al. 2014; trofiMovich & turuševa 2015). Auch   weitere Faktoren zu berücksichtigen, die sich auf die
steht das mehrsprachige Kind mit seinen im mono-          Sprachkompetenz auswirken. Angesichts der vielfäl-
lingualen Vergleich unzureichenden Sprachleistungen       tigen personalen und umweltbezogenen Erwerbskon-
in der Mehrheitssprache im Vordergrund, während die       stellationen ist mit zunehmendem Alter eines Indivi-
umweltbezogenen Bedingungen und Voraussetzun-             duums von Veränderungen in der Sprachexposition
gen für seine Sprachentwicklung bei der Anwendung         und damit auch im Sprachgebrauch auszugehen. So
und Umsetzung von Massnahmen im Hintergrund               kann es nicht nur zum in der Fachliteratur bereits gut
verbleiben.                                               erklärten Erwerb mit vermehrten Fähigkeiten in einer
Aus logopädischer Sicht ist aber eine ausschliesslich     weiteren Sprache (vgl. Scharff rethfeldt 2013), son-
am Individuum ausgerichtete Massnahme und damit           dern auch zu einer verringerten Verwendung bis zum
mangelnde Berücksichtigung von Umweltfaktoren             Verlust kommen. Dies trifft vorrangig jene Sprachen,
mit dem Ziel einer adäquaten und nachhaltigen Ver-        die im individuellen Alltag nicht mehr wichtig sind und
sorgung gravierend. Denn die Logopädie, die Beein-        daher – im doppelten Sinne – nicht mehr gebraucht
trächtigungen der Kommunikation identifiziert und         werden. Anlässe, eine Sprache nicht mehr zu gebrau-
klassifiziert, versteht diese nicht als ausschliesslich   chen, ergeben sich für Kinder, die ihre Herkunfts-
internale, sondern in Wechselwirkung mit externalen       sprachen innerhalb der Familie erwerben, häufig als
Bedingungen. D. h., was diagnostisch als Beeinträch-      Reaktion auf Übergangserfahrungen innerhalb der
tigung definiert wird, hängt in erheblichem Masse         Familie und/oder zwischen Familie und Einrichtun-
von gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen ab;       gen des Bildungssystems (z. B. Trennung der Eltern,
inwieweit therapeutische Interventionen wirksam           Eintritt in eine Kindertageseinrichtung, eigene sowie
sind, unterliegt in erheblichem Masse den alltäg-         Einschulung älterer Geschwister). Von einem sowohl
lichen sozialen Rahmenbedingungen, unter denen            quantitativ als auch qualitativ reduzierten Sprachinput
Kommunikation und Bildungsprozesse stattfinden.           sind sodann solche Kinder ungleich stärker betroffen,
Angesichts der mit dem Anspruch einer adäquaten           die ihre Herkunftssprache von Eltern erwerben, die
Versorgung von kulturell und linguistisch diversen        diese ausserhalb der Familie nicht pflegen (können).
Klientinnen und Klienten verbundenen Herausfor-           So kann sich ein eingeschränkter elterlicher Sprach-
derungen stellt sich folglich zunehmend auch in der       gebrauch ähnlich auf den Sprachinput auswirken.
Logopädie die Frage nach einer notwendigen kriti-         Unterschiede im Spracherwerb von ein- und mehr-
schen Auseinandersetzung mit ihren konventionel-          sprachigen Kindern bedeuten jedoch nicht unter-
len Denkmodellen, die überwiegend auf monolingual         schiedliche Sprachentwicklungspfade. Denn die ein-
orientierter Theoriebildung und Erkenntnis beruhen.       schlägigen Meilensteine der mono- und bilingualen
                                                          Sprachentwicklung sind sehr ähnlich. Diese Meilen-
2   Spracherwerb bei mehrsprachigen vs. ein-              steine sind definiert als das Alter, in dem ein Kind
    sprachigen Kindern                                    eine bestimmte, nicht sprachspezifische Sprach-
                                                          fähigkeit zeigt (z. B. erste Wörter um den 12. Monat,
Grundsätzlich ist sprachgesunden Kindern ein natür-
                                                          Zweiwortkombination mit 24 Monaten). Hingegen
licher Mehrspracherwerb sehr gut möglich. Unter
                                                          wurde die Bedeutung des Alters zum Zeitpunkt, ab
Mehrsprachigkeit werden der Erwerb bzw. der Erhalt
                                                          dem ein Kind mit dem Erwerb einer weiteren Spra-
kommunikativer Fähigkeiten in mehr als einer Spra-
                                                          che beginnt (age of onset, AoO), als Gelingensbe-
che verstanden. Dabei handelt es sich um einen kom-
                                                          dingung für einen erfolgreichen Mehrspracherwerb
plexen und dynamischen Prozess, sodass diese Fähig-
                                                          und damit Voraussetzung für einen erfolgreichen
keiten in einem unterschiedlichen Ausmass erworben
                                                          sog. Zweitspracherwerb (DaZ) in früheren Studien
bzw. erhalten werden, um mit den Sprecherinnen und
                                                          überschätzt, zumal die Bedingungsfaktoren zum

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jeweiligen Erwerbsbeginn variieren und als konfun-        farina & geva 2011, bialyStok et al. 2010; roeSSingh &
dierende Variablen unzureichend kontrolliert wurden.      elgie 2009), wobei innerhalb der bilingualen Gruppe
Ansätze, die AoO als entscheidenden Ausgangspunkt         jene mit höherem sozioökonomischen Status besser
definieren, werden der dynamischen und komplexen          abschneiden (vgl. calvo & bialyStok 2014).
Sprachentwicklung unter kulturell und linguistisch
diversen Bedingungen nicht gerecht. Vielmehr zeigen       3   Sprachentwicklungsstörung      bei   mehr-
neuere empirische Befunde, dass dem Parameter                 sprachigen vs. einsprachigen Kindern
Sprachexposition und somit dem quantitativen Input
                                                          Sprachentwicklung stellt gleichermassen für ein-
eine wesentlich bedeutsamere Rolle zukommt (vgl.
                                                          sowie mehrsprachig aufwachsende Kinder eine kom-
unSWorth 2016). Ebenfalls von Bedeutung ist das sog.
                                                          plexe und störanfällige Aufgabe dar. Dabei ist Mehr-
Timing (vgl. tSiMPli 2014). Folglich hängen die Sprach-
                                                          sprachigkeit bzw. der Erwerb einer weiteren Sprache
erwerbsrate und mit ihr verbundene Leistungen v. a.
                                                          jedoch nicht ursächlich für eine SES (vgl. Scharff
in den Bereichen Lexikon, Morphologie und Syntax
                                                          rethfeldt 2013; grech & Mcleod 2012; ParadiS 2005).
massgeblich von quantitativen Spracherfahrungen
                                                          Empirische Untersuchungen zeigen, dass rund 7,6 %
(u. a. Zeitpunkt, Dauer, Häufigkeit, Intensität) in den
                                                          aller Kinder von einer SES betroffen sind (vgl. norbury
einzelnen Sprachen und nicht vom Erwerbsbeginn
                                                          et al. 2016), unabhängig davon, ob sie ein- oder mehr-
an sich ab (vgl. hoff et al. 2012). Dabei sind lang-
                                                          sprachig aufwachsen. Die SES ist damit die häufigste
fristige Auswirkungen wie anhaltende Unterschiede
                                                          Entwicklungsstörung im Kindesalter, die ursächlich
von Sprachleistungen bei bilingualen Kindern und
                                                          auf ein multifaktorielles Bedingungsgefüge zurück-
Jugendlichen überwiegend auf den frühen sprachli-
                                                          geführt wird. Eine SES liegt vor, wenn das Kind solche
chen Input zurückzuführen (hoff & core 2013). Auch
                                                          Sprachschwierigkeiten zeigen, (a) die die Kommu-
hat sich ein nicht-nativer Sprachinput als wenig för-
                                                          nikation oder das Lernen im Alltag beeinträchtigen
derlich erwiesen (unSWorth et al. 2019; Place & hoff
                                                          und (b) anzunehmen ist, dass die Sprachschwierig-
2011); es liegt nahe, dass dies im Zusammenhang mit
                                                          keiten auch nach Erreichen des fünften Lebensjahres
einer einhergehenden mangelnden Nutzungsfähigkeit
                                                          bestehen bleiben, und (c) die Sprachschwierigkeiten
rhythmisch-prosodischer Informationen steht, welche
                                                          nicht direkt mit einer biomedizinischen Ursache in
eine wichtige Bedingung für die induktive Abstraktion
                                                          Verbindung gebracht werden können (z. B. Hirnschä-
formal-sprachlicher Regularitäten darstellt. Zu wei-
                                                          digung, neurodegenerative Erkrankung, genetische
teren, den Mehrspracherwerb beeinflussenden sowie
                                                          oder Chromosomenstörung, Hörstörung, Autismus-
interagierenden Faktoren zählen die Anzahl der ver-
                                                          Spektrum-Störung oder geistige Behinderung) (vgl.
schiedenen Gesprächspartnerinnen und Gesprächs-
                                                          Scharff rethfeldt & ebbelS 2019; biShoP et al. 2017;
partner, die Familienkonstellation, Transfereffekte,
                                                          biShoP et al. 2016). SES führen zu weitreichenden
typologische Ähnlichkeiten und gesellschaftliches
                                                          Kommunikationsstörungen und somit psychosozialen
Prestige der beteiligten Sprachen sowie quantitative
                                                          Belastungen. Ohne frühzeitige Identifikation und Ein-
und qualitative Aspekte des bilingualen Sprachge-
                                                          leitung adäquater Massnahmen kann sich eine in Aus-
brauchs von Bezugspersonen. Daneben sind auch die
                                                          mass und Schweregrad unterschiedlich auftretende
gleichsam in der monolingualen Sprachentwicklung
                                                          SES im Schulalter u. a. als Lese-Rechtschreibstörung
als prädiktiv für die späteren Sprachfähigkeiten wir-
                                                          manifestieren. Zudem liegen mittlerweile hinreichend
kenden Faktoren zu berücksichtigen, z. B. sensitives
                                                          empirische Belege vor, die zeigen, dass Kinder mit
und anregendes Interaktionsverhalten von Bezugs-
                                                          SES einem erhöhten Risiko für Störungen des Sozial-
personen (u. a. beim Vorlesen), der sozioökonomische
                                                          verhaltens und emotionalen Störungen ausgesetzt
Status sowie der bildungsbezogene familiäre Hinter-
                                                          sind (vgl. durkin & conti-raMSden 2010; yeW & o’kear-
grund (insbesondere schulische Bildung der Mutter)
                                                          ney 2013), und im Erwachsenenalter häufiger zu einem
(vgl. Scharff rethfeldt 2013, 125). So zeigen in asym-
                                                          niedrigen Ausbildungsniveau sowie sozialer Exklusion
metrischen Sprachumgebungen aufwachsende Kin-
                                                          führen, sodass neben der Lebensqualität auch die
der, d. h. die neben ihrer(n) Herkunftssprache(n) die
                                                          psychische Gesundheit betroffen ist. Die SES und ihre
Mehrheits- bzw. Bildungssprache in nicht-familialen
                                                          Folgen stellen damit ein gravierendes Gesundheits-
Kontexten erwerben, auch nach sechs Jahren Beschu-
                                                          problem dar, das bis ins Jugend- und Erwachsenen-
lung in der Mehrheitssprache oder sogar dauerhaft,
                                                          alter nachweisbar ist (vgl. Schoon et al. 2010). In Anbe-
dass sie signifikant schlechtere Sprachleistungen
                                                          tracht ihrer kumulierenden Risikofaktoren kommt der
erbringen als die einsprachige Altersgruppe (vgl.

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Frühdiagnostik sowie nach Indikation der unverzüg-        das explizit artikuliert wird. Die Verarbeitungsprob-
lichen SES-Therapie somit eine zentrale Bedeutung         leme führen demnach zu geringen Regelkenntnissen,
zu. Sie ist sowohl für ein- als auch für mehrsprachige    welche die Ableitung von Strategien zur Verarbeitung
Kinder mit Bezug auf das eigene Wohlergehen und die       relevanter sprachlicher Informationen erschweren.
gesellschaftliche Teilhabe und somit für gesundheit-      Diese äussern sich in Ausmass und Schwere unter-
liche und soziale Chancengleichheit entscheidend.         schiedlich als Beeinträchtigungen in der Aufnahme,
Die Symptome einer SES können sich in Schwere             Verarbeitung und Speicherung formal-sprachlicher
und Ausmass sehr unterschiedlich ausprägen. Auf           Regularitäten zum Verständnis und zur Produktion.
formal-sprachlicher Ebene zählen u. a. ein geringer       Dies erklärt auch, weshalb sich eine SES bei mehr-
Wortschatzumfang, eingeschränktes Wortwissen,             sprachigen Individuen stets in allen beteiligten Spra-
grammatikalische Abweichungen wie Flexions- und           chen und somit auch in der/den zuerst erworbenen
Kongruenzfehler zu den einschlägigen Symptomen            Sprache/n zeigt.
bei einsprachig aufwachsenden Kindern. Dabei vari-
ieren die SES-Symptome je nach beteiligter Sprache.       4   Risiken einer Fehlversorgung
Denn Sprachen haben eine unterschiedliche «Sprach-        Die Sprachfähigkeiten mehrsprachiger Kinder sind
architektur» und damit auch andere Funktionen und         aufgrund der oben angeführten vielfältigen die
Regeln. Da derlei Abweichungen zugleich typische          Sprachentwicklung beeinflussenden und interagie-
Merkmale einer sog. Lernersprache sind, liegt es          renden Faktoren sehr unterschiedlich sowie komplex.
auf der Hand, dass diese zur Identifikation einer SES     Dies erschwert es Logopädinnen und Logopäden, eine
bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern nicht mit          SES von mangelnden Sprachkenntnissen bei mehr-
der gleichen Gültigkeit herangezogen werden kön-          sprachigen Kindern zu unterscheiden. So tragen Man-
nen (vgl. Synopse möglicher Symptome einer SES in         gel an Wissen, kultursensiblen Handlungskompe-
Scharff rethfeldt 2013). Denn eine ausschliesslich        tenzen, Normdaten sowie Instrumenten vielmehr zu
auf Lexikon, Morphologie und Syntax der produktiven       Fehldiagnosen bei. Insofern sind kulturell und lingu-
Sprachleistungen konzentrierte und damit reduzierte       istisch diverse Kinder von Risiken der Fehlversorgung
Befunderhebung bei einem vorliegenden Verdacht auf        ungleich höher betroffen.
eine SES bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern,
                                                          Neuere Studien belegen, dass von einer SES betrof-
würde das Risiko möglicher Fehldiagnosen verstärken
                                                          fene mehrsprachige Vorschulkinder deutlich später
(vgl. Scharff rethfeldt 2016; bloM et al. 2013; grech &
                                                          zur logopädischen Differenzialdiagnostik überwiesen
dodd 2007) Während bei einsprachigen Kindern eine
                                                          werden (vgl. Wiefferink et al. 2020; Scharff rethfeldt
SES häufig allein anhand der Untersuchung von Lexi-
                                                          2019). Viele mehrsprachige Kinder haben einen Mig-
kon, Syntax und Morphologie diagnostiziert wird, wäre
                                                          rationshintergrund. Sie bleiben häufiger therapeu-
dies bei mehrsprachigen Kindern daher fahrlässig.
                                                          tisch un- bzw. unterversorgt, da Migrantinnen und
Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Einschrän-
                                                          Migranten der Zugang zur medizinischen Versor-
kungen im Wortschatzerwerb und der grammati-
                                                          gung wesentlich erschwert ist (vgl. Wylie et al. 2013).
schen Entwicklung auch auf Beeinträchtigungen der
                                                          Dies wird vorrangig auf Sprachbarrieren, finanzielle
diese Entwicklung steuernden Verarbeitungsprozesse
                                                          Aspekte, mangelnde Kenntnisse über das lokale
zurückzuführen sind (vgl. Scharff rethfeldt 2017).
                                                          Gesundheitssystem sowie auf Erwartungen und Vor-
So ist die SES keine isolierte Störung auf linguis-       stellungen über die Behandlungsmöglichkeiten der
tischer Ebene, sondern zeigt sich häufig auch auf         betreffenden Bevölkerungsgruppe zurückgeführt (vgl.
kognitiver Ebene in Form einer insgesamt verlang-         albarran et al. 2011), sodass insbesondere Familien
samten Sprachverarbeitungsgeschwindigkeit sowie           mit Migrationshintergrund die Möglichkeiten einer
Beeinträchtigung des Kurzzeit- oder Arbeitsgedächt-       logopädischen Versorgung nicht bekannt sind (vgl.
nisses (vgl. archibald 2017; leonard et al. 2007). Eher   grech & cheng 2010). Für zahlreiche mehrsprachig
ist anzunehmen, dass der SES Schwierigkeiten beim         aufwachsende Kinder ergibt sich ein nicht zu unter-
Erwerb automatischer Fähigkeiten inkl. des proze-         schätzendes Cluster von Risikofaktoren mit zusätz-
duralen Lernens zugrunde liegen (vgl. nicolSon &          lichen benachteiligenden Faktoren wie Migration,
faWcett 2007; ullMan 2004). Prozedurales Lernen ist       Armut und Hautfarbe, sodass sie eher von negativen
in der Regel implizit und bezieht sich auf das Lernen     kognitiven und sozioemotionalen Folgen betroffen
von Fähigkeiten und Strategien; anders als Wissen,        sein können (vgl. evanS et al. 2013).

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Weitere als Barrieren einer adäquaten logopädi-            ist der Einsatz von monolingual und monokulturell
schen Versorgung wirkende Faktoren sind innerhalb          normorientierten Verfahren aufgrund von Konstrukt-,
des Versorgungssystems selbst zu finden. ParadiS           Methoden- und Item-Bias weder ethisch vertretbar,
(2005) hebt zwei häufige Fehldiagnosen hervor: mis-        noch zielführend (vgl. Scharff rethfeldt 2016; caeSar
sed identity und mistaken identity. So werden falsch       & kohler 2007; StoW & dodd 2003). Dies gilt auch für
negative Diagnosen gestellt, die von einer SES betrof-     deren Übersetzungen (vgl. bedore & Peña 2008; roSe-
fene mehrsprachige Kinder nicht der notwendigen            berry Mckibbin 2002) sowie für Verfahren, die eine
Therapie zuführen, u. a. da die formal-sprachlichen        heterogene Sprachgruppe als eine Stichprobe zusam-
Auffälligkeiten mit physiologischen Merkmalen einer        menfassen (vgl. laing & kaMhi 2003). Dies schliesst den
Lernersprache im Rahmen des Mehrspracherwerbs              Test LiSe-DaZ (Schulz & tracy 2011) ein, der für För-
erklärt werden. Oder es werden falsch positive Dia-        derentscheidungen über ausschliesslich Deutsch als
gnosen gestellt, die mangelnde Deutschkenntnisse           Zweitsprache erwerbende Kinder am Übergang Pri-
als therapiebedürftig einstufen und das Sprachver-         mär-/Sekundärprävention entwickelt wurde und für
halten somit pathologisieren. So kann der Einsatz der      differenzialdiagnostische Zielsetzungen mit dem Ziel
in der logopädischen Praxis etablierten einschlägigen      der Identifikation einer SES ungeeignet ist (vgl. Scharff
psychometrischen Tests, nicht zu einer validen Diffe-      rethfeldt 2016). Die Autorinnen der LiSe-DaZ empfeh-
renzialdiagnostik bei mehrsprachigen Kindern beitra-       len bei Sprachauffälligkeiten «weitere Gründe für die
gen, u. a. weil sie am monolingualen Spracherwerbs-        festgestellten Erwerbsprobleme ins Auge zu fassen»
paradigma ausgerichtet sind und/oder sich auf eine         und weisen darauf hin, dass das Ergebnis unterdurch-
andere Norm beziehen.                                      schnittlicher Sprachleistungen auf das Vorliegen einer
Laut bundesdeutscher AWMF-Leitlinie (vgl. de lan-          Sprachentwicklungsstörung hinweisen kann, «das
gen-Müller et al. 2011;2016), die einer anderen            einer logopädischen Überprüfung bedarf» (Schulz &
Nomenklatur folgt, ist die klinische Diagnose einer        tracy 2011,19). Da die Autorinnen davon ausgehen,
umschriebenen bzw. spezifischen SES (USES/SSES)            dass «im Normalfall» einsprachig mit Deutsch auf-
als Ausschlussdiagnose zu stellen, wenn die Sprach-        wachsenden Kindern «der Input, der für die weiteren
entwicklung als nicht altersgemäss bezeichnet wer-         Erwerbsschritte notwendig ist, kontinuierlich und in
den kann. So sei laut Autorinnen u. a. eine Intelligenz-   ausreichender Intensität zur Verfügung steht» (Schulz
minderung von IQ
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Sensitivität und Spezifität) erfüllt. Denn selbst die vor-   klinische Entscheidungsfindung interkulturelle Kom-
liegenden Adaptionen zur Anwendung bei mehrspra-             petenzen der Therapeutin bzw. des Therapeuten (vgl.
chigen Kindern erfüllen notwendige Anforderungen             Scharff rethfeldt 2017). So kommt im Kontext kultu-
wie linguistische, funktionale, metrische sowie kultu-       reller und linguistischer Diversität den Logopädinnen
relle Äquivalenz und damit den Anspruch notwendiger          und Logopäden bei der Vermeidung und Verminde-
Test-Fairness nicht.                                         rung von Versorgungsfehlern besonders im Zuge der
Abzuwarten, bis hinreichend Deutschkenntnisse vor-           Beratung, Diagnostik und Intervention eine gewich-
liegen, um eine Befunderhebung bspw. mit Einsatz             tige Rolle zu; zugleich ist die Fachdisziplin gefordert,
eines Tests in der Sprache der Therapeutin/des The-          einer Verkürzung der logopädischen Sprachentwick-
rapeuten zu ermöglichen wäre nicht nur irreführend,          lungsdiagnostik auf normorientierte Testverfahren
sondern bei Verdacht auf eine vorliegende SES mit            entgegenzuwirken.
Blick auf die oben angeführten Folgen auch ethisch
problematisch. So ist es unprofessionell zu erwar-           5   Versorgungsformen: Sprachförderung vs.
ten, dass im Laufe der Zeit ein mehrsprachiges Kind              Sprachtherapie
mit einsprachigen Peers vergleichbar sei. Schliess-
                                                             Sprachauffälligkeiten im mehrsprachigen Kontext
lich liegen hinreichend Erkenntnisse vor, die zeigen,
                                                             erfordern unterschiedlich ausgerichtete Massnahmen
dass sich sprachgesund entwickelnde bilinguale von
                                                             und Aktivitäten primärer, sekundärer und tertiärer
monolingualen Kindern mit SES auch nach mehre-
                                                             Prävention sowie der Gesundheitsförderung. Letzte-
ren Jahren mit regelmässigem Sprachkontakt in der
                                                             ren Begriff etablierte die Weltgesundheitsorganisa-
Mehrheitssprache hinsichtlich ihrer rezeptiven (sowie
                                                             tion (WHO) im Rahmen der Ottawa-Konferenz 1986 als
produktiven) Leistungen in den Bereichen Lexikon,
                                                             Ergebnis eines erweiterten Verständnisses der Bedeu-
Morphologie und Syntax nicht deutlich unterschei-
                                                             tung ökonomischer, politischer, kultureller und sozia-
den (vgl. SMolander et al. 2017; ParadiS 2010; Steenge
                                                             ler Faktoren für die Gesundheit einzelner und ganzer
2006). Auch für Kinder gilt, dass eine bilinguale Per-
                                                             Bevölkerungsgruppen. Ein Grossteil der Gesundheits-
son nicht zwei monolinguale Personen in einer ver-
                                                             systeme weist noch immer eine schwerpunktmässige
eint – es ist bemerkenswert, dass trotz vielfacher
                                                             Ausrichtung auf die kurative Versorgung aus, obgleich
Zitation, der Kern groSjeanS (1989) Botschaft schein-
                                                             nicht alle Krankheiten bzw. als pathologisch zu klas-
bar nur begrenzt verstanden wird, sodass noch heute
                                                             sifizierenden Störungen – und dies schliesst Sprech-,
bilinguale Personen in ihren jeweiligen Sprachen
                                                             Sprach- und Kommunikationsstörungen ein – tat-
mit monolingual normorientierten Tests untersucht
                                                             sächlich geheilt werden können. Die demografische
werden.
                                                             Entwicklung sowie sich verändernde soziokulturelle
In der Logopädie stehen eine Reihe von Methoden zur          Rahmenbedingungen ziehen zahlreiche gesundheits-
Verfügung und Logopädinnen und Logopäden sind                politische, soziale und schliesslich bildungspolitische
darin ausgebildet, diese zielführend einzusetzen. Als        Folgen nach sich und stellen die Gesundheitssysteme,
geeignete Alternativen zu normorientierten Verfah-           wie auch die Sozial- und Bildungssysteme einzel-
ren haben sich kriterium-orientierte Verfahren sowie         ner Länder vor grosse Herausforderungen, deren
das Dynamic Assessment als effektive differenzial-           Bewältigung erfordert, dass präventive und gesund-
diagnostische Methoden zur Identifikation von SES bei        heitsfördernde Strategien nicht mehr systemisoliert,
kulturell und linguistisch diversen Kindern gezeigt,         sondern kooperativ berücksichtigt werden. So ist es
sofern sie mit soziokulturellen Ansätzen kombiniert          auch erforderlich, Prävention und Gesundheitsförde-
werden. Denn sowohl die klinisch zielführende Metho-         rung stärker in die aktuelle Ausrichtung in der logo-
denauswahl als auch adäquate Ergebnisinterpretation          pädischen Versorgung von Sprech-, Sprach- und der
in der Befunderhebung erfordern detaillierte ethno-          Kommunikationsauffälligkeiten zu integrieren. Denn
und sprachbiografische Informationen. Insbesondere           die Umsetzung von Sprachförderung und sprachlicher
Aufgaben zum Satzverständnis erscheinen vielver-             Bildung sowie Sprachtherapie bewegt sich sowohl ins-
sprechend und Arbeitsgedächtnisaufgaben (Zahlen,             titutionell als auch finanziell an den Schnittstellen von
Nichtwörter) haben sich nicht nur als geeignet in der        Sozialem, Pädagogik und Gesundheit. Insbesondere
Differenzialdiagnostik bei geringerer Spracherfah-           bei Sprachauffälligkeiten in Mehrspracherwerbs- und
rung und aufgrund des Zusammenhangs zwischen                 Migrationskontexten stellt sich die Frage, ob Mass-
zentral exekutiven Funktionen und Sprachleistun-             nahmen der Primär- und Sekundärprävention aus-
gen als effektiv erwiesen. Nicht zuletzt erfordert die       reichend sind und ab wann die Sprachgesundheit

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betroffen ist, sodass auch sprachtherapeutische            Massnahmen zu. Bislang liegen jedoch keine Evi-
Massnahmen der Tertiärprävention zu ergreifen sind.        denzen vor, die die Wirksamkeit gezielter Sprach-
Als Primärprävention kann eine theoriegestützte            förderung bestätigen. Bereits im Jahr 2010 evalu-
Sprachförderung durch als Sprachvorbild fungie-            ierten rooS et al. die Effektivität der drei linguistisch
rende Personen den Sprachaneignungsprozess aller           orientierten Sprachförderprogramme Deutsch für
Kinder in handlungsrelevanten Alltagssituationen           den Schulstart nach kaltenbacher-klageS, Kon-Lab
unterstützen und ggf. nach Vermittlung und Anlei-          nach Penner und Frühe Sprachförderung nach tracy
tung von sprachförderlichen Verhaltensweisen auch          und konnten keine bemerkenswerten Verbesserun-
in Familien gut umgesetzt werden. Sprachförderung          gen feststellen. Es folgten Fragen zu Intensität und
setzt demnach keine Sprachdiagnostik voraus. Im            Gruppengrössen sowie weitere Untersuchungen und
Vorschulalter kann sie alle sprachgesunden Kinder          Nachbesserungen. Dennoch lassen sich bis heute
unterstützen, ihre Wünsche und Bedürfnisse verbal          keine nennenswerten Effekte feststellen, dies betrifft
zu formulieren, sich mit Gleichaltrigen auszutauschen      nicht nur einzelne Programme oder Länder. So fassen
und somit Sprache als Mittel zur Reflexion inkl. meta-     fukkink et al. (2017) als Ergebnis ihrer einschlägigen
sprachlicher Funktionen einzusetzen (vgl. füSSenich        Meta-Analyse zusammen, dass gezielte Sprachför-
2002). Überdies kann Sprachförderung zur sprachli-         derprogramme im Vorschulbereich keinen wertvollen
chen Bildung dieser Kinder beitragen, indem sie u. a.      Beitrag leisten. Dies ist besonders schwerwiegend für
das Interesse und den Zugang zur Schriftsprachkul-         Kinder aus sozial schwachen Räumen, in multiplen
tur ermöglicht (vgl. jaMPert et al. 2005). Grundsätzlich   Problemlagen, darunter auch mehrsprachige Kinder
können auch sprachgesunde mehrsprachige Kinder             mit Migrationshintergrund. Denn zahlreiche Befunde
von einer Sprachförderung profitieren, sofern sie ihre     verdeutlichen eine erhebliche Benachteiligung von
Mehrsprachigkeit unterstützt, d. h. wenn sie in allen      Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund
von ihnen verwendeten Sprachen gefördert werden.           im deutschen Schulsystem hinsichtlich ihrer Kompe-
Fördermassnahmen der Sekundärprävention richten            tenzentwicklung, die darauf beruht, dass der Migra-
sich zusätzlich zum pädagogischen Sprachförderan-          tionshintergrund als solcher im Entwicklungs- und
gebot vorrangig an ausgewählte Risikogruppen mit           Bildungsprozess relevant wird (vgl. baader et al. 2011).
Verdacht auf ungünstige Entwicklungs- und Bildungs-        Ein Grossteil ihrer Benachteiligung lässt sich neben
verläufe, zu denen häufig Kinder in sozialen Problem-      einer unzureichenden Beherrschung der deutschen
lagen und damit häufig auch mit Migrationshinter-          Sprache ihrer Mütter und mangelndem Systemwissen
grund gehören. Da mehr als die Hälfte jener Kinder,        vor allem über eine ungünstigere sozialstrukturelle
die in sozial benachteiligten Räumen aufwachsen,           Position ihrer Eltern erklären, sodass ihre Zugehörig-
bereits im Alter von fünf Jahren Kommunikations-           keit zu unteren sozialen Schichten eine höhere Bedeu-
schwierigkeiten erleben, verfolgt ein Grossteil der        tung als die Tatsache des Migrationshintergrundes
Massnahmen ein kompensatorisches Ziel, um den              selbst hat. Diese primären Herkunftseffekte, d. h. von
Anschluss zur Erreichung einer Bildungs- und Chan-         sozialer und nationaler Herkunft abhängige Lernvo-
cengleichheit der betroffenen Kinder mit Blick auf         raussetzungen, die ursächlich im Milieu und Eltern-
schulische Anforderungen herzustellen. In der Regel        haus liegen (vgl. becker 2010), tragen nicht nur zu
werden die sekundärpräventiven Angebote von päda-          Bildungsungleichheiten bei; so kann auch die Primar-
gogischen Fachkräften, teilweise auch von Sprachheil-      schule die sozialen Disparitäten offensichtlich nicht
pädagoginnen und -pädagogen sowie Logopädinnen             ausgleichen. Dennoch ist davon auszugehen, dass
und Logopäden durchgeführt. Um die betreffenden            zusätzliche Massnahmen sinnvoll sein können. Bei-
Risikogruppen zu identifizieren sowie die Feststellung     spielsweise konnte im Rahmen einer randomisierten
des besonderen Sprachförderbedarfs zu sichern, wer-        Kontrollstudie gezeigt werden, dass eine Kombina-
den sog. Sprachstandsfeststellungen durchgeführt.          tion von Einzel- sowie Kleingruppenintervention (2–4
Beide Massnahmen, Feststellung und Durchführung,           Kinder) für sprachgesunde, jedoch sprachleistungs-
werden regions- und länderspezifisch sehr unter-           schwache (expressive Leistungen am 10. Perzentil)
schiedlich umgesetzt; überwiegend handelt es sich          Kinder sowohl vor als auch nach dem Schuleintritt in
um Verfahren, die nicht für mehrsprachige Kinder           England (Alter 3–5 Jahre) durch geschulte Lehrkräfte
geeignet sind. Die uneinheitlich methodisch imple-         zu moderaten Verbesserungen verbalsprachlicher
mentierte Feststellung führt die betreffenden Kin-         Fähigkeiten führen kann, wenngleich Unterschiede
der häufig als Sprachförderprogramme konzipierten          zwischen den Leistungsschwachen und Überfliegern

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bestehen blieben (vgl. fricke et al. 2017). Auch schei-   ihre Verschlimmerung zu verhindern sowie ihr Aus-
nen frühzeitig einsetzende spezifische Elterntrainings    mass und ihre Auswirkungen zu reduzieren, (b) die
sowie die individuelle Zusammenarbeit mit Eltern in       funktionsbezogene Aktivität mit Bezug auf die Leis-
Form von Hausbesuchen vielversprechender zu sein,         tung zu erweitern, (c) Strategien zum Ausgleich der
und dies unabhängig von sozialer und nationaler Her-      personenbezogenen oder gesellschaftlichen Benach-
kunft (vgl. deSforgeS & abouchaar 2003).                  teiligung zu entwickeln, und (d) die Patientin bzw.
Im Sinne der Tertiärprävention wird eine spezifi-         den Patienten und die Bezugspersonen während der
sche, individuell auf ein Kind zugeschnittene Inter-      Anpassungsphase zu unterstützen (vgl. enderby &
vention in Form einer logopädischen Therapie erfor-       john 2015, 18).
derlich, wenn es ihm nicht möglich ist, seine Sprech-,    In Anlehnung an die Ottawa-Charta beschreibt die
Sprach- und Kommunikationsfähigkeiten – selbst in         International Association of Communication Sciences
einer Sprache bestmöglich anregenden Umwelt – zu          and Disorders zusammenfassend die Verbesserung
entwickeln, oder wenn Umweltfaktoren im kindlichen        der Lebensqualität jener Individuen als das Ziel der
Umfeld eine sprachgesunde Entwicklung gefährden           logopädischen Versorgung, die von Störungen der
oder beeinträchtigen. Zweites hat im Rahmen der sich      Stimme, des Sprechens, der Sprache, der Kommu-
verstärkenden sozialen Ungleichheiten vor allem in        nikation, des Schluckens und des Hörens betroffen
den vergangenen Jahren zunehmend an Bedeutung             sind (IALP 2020). Dies gilt ungeachtet ihrer sprachli-
gewonnen. Bei negativen Wechselwirkungen zwi-             chen und kulturellen Herkunft. Bei Kindern mit einer
schen dem Gesundheitsproblem und den individuel-          Sprachentwicklungsstörung (SES) lässt sich im Ver-
len Kontextfaktoren kommt es im Sinne des bio-psy-        gleich zu sprachgesunden Kindern bereits im Alter von
cho-sozialen Denkmodells zu einer Beeinträchtigung        vier bis neun Jahren eine deutliche Beeinträchtigung
der funktionalen Gesundheit, die in der ICF (WHO          der individuellen Lebensqualität im Zusammenhang
2001) bzw. ICF-CY (WHO 2007) als Behinderung, in der      mit sozial-emotionalen Problemlagen feststellen (vgl.
Logopädie häufig auch als Störung bezeichnet wird.        eadie et al. 2018). Insofern kommt der logopädischen
Die therapeutische Zielsetzung bei der Behandlung         Frühdiagnostik und -intervention eine nicht zu unter-
von Sprech-, Sprach- und Kommunikationsstörungen          schätzende Bedeutung zu. Wenngleich nicht Auslöser
variiert daher individuell und wird vorrangig über die    einer SES, können eine Reihe von Umweltfaktoren
die Gesundheit massgeblich beeinflussenden Kompo-         eine SES verstärken. Denn wird ein von einer Sprech-,
nenten definiert. Dabei kommt der Teilhabe eine über-     Sprach- oder Kommunikationsstörung betroffenes
wiegende Bedeutung zu, wenngleich sich Teilziele und      Kind erst mit vier Jahren oder später logopädisch
einzelne Massnahmen auf alle Komponenten der ICF          versorgt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass neben
beziehen können. Die Teilhabe richtet sich nach den       der Kommunikationsstörung bereits weitere soziale,
jeweiligen Einschränkungen, welche ein Individuum         emotionale und kognitive Probleme hinzugekommen
im Alltagsleben subjektiv wahrnimmt. Auch Umwelt-         sind (vgl. Maggio et al. 2014), die nicht nur die Beein-
faktoren, die zur Sprech-, Sprach- und Kommuni-           trächtigung der funktionalen Gesundheit verstärken,
kationsbeeinträchtigung beitragen, werden aus der         sondern zudem als konfundierende Variablen sowohl
Perspektive des betroffenen Individuums als Förder-       die logopädische Differenzialdiagnostik und damit
faktoren und Barrieren klassifiziert. Hierzu zählen       Identifikation, als auch die Therapie erschweren. Vor
u. a. materielle, soziale und ideelle Umweltfaktoren      diesem Hintergrund ist weder eine ausschliesslich
sowie personenbezogene Faktoren. Die Logopädie            kind- noch symptomorientierte Therapie nachhaltig,
hat damit das Potenzial, der individuellen Lebens-        da Ausmass und Auswirkungen einer SES von den
welt, den spezifischen Rahmenbedingungen genauso          umweltbezogenen Anforderungen abhängig sind, die
Rechnung tragen zu können wie den jeweiligen Rol-         sich bis ins Jugend- und Erwachsenenalter ändern
len, Funktionen, Gewohnheiten, Erfahrungen und            können. So bedarf es unter Berücksichtigung indivi-
individuellen Barrieren sowie Ressourcen mit Bezug        dueller Übergangs- und Problemsituationen im Rah-
auf einen erfolgreichen Entwicklungsprozess. Denn         men einer Verlaufsdiagnostik ggf. sich über mehrere
die auf Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben            Jahre erstreckende Therapiephasen, die auf eine Ver-
der Gesellschaft ausgerichtete, übergeordnete Ziel-       besserung der (schul-) alltagsorientierten Kommuni-
setzung der logopädischen Therapie besteht darin, (a)     kationsfähigkeit mit dem Anspruch auf Teilhabe durch
die der Beeinträchtigung zugrundeliegende Sprech-,        Vermittlung entsprechend problemkompensierender
Sprach- oder Kommunikationsstörung zu beseitigen,         Strategien zielen.

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03 / September 2020        |    logopädieschweiz

6     Konklusion und Konsequenzen                                                gestellt werden muss. Vielmehr ist es erforderlich, die
Die Studienlage zeigt, dass die bisherigen im Bildungs-                          Begriffe Sprachgesundheit sowie gesunde Entwick-
system verorteten und durchgeführten Massnahmen                                  lung zu diskutieren, sofern die Implementation von
der Primär- und Sekundärprävention nicht oder nur                                Gesundheitsförderung im Rahmen schulischer Inklu-
unzureichend die im Zusammenhang mit Mehr-                                       sion ernsthaft angestrebt wird. Die Umsetzung von
spracherwerbs- und Migrationskontexten aufgezeig-                                Inklusion in schulischen Kontexten erfordert einen
ten Unterschiede zur sprachgesunden, einsprachigen                               grundlegenden Paradigmenwechsel und damit mehr
Altersgruppe ausgleichen. So zeigen mehrsprachig in                              als eine additive Perspektive. In diesem Sinne könnte
asymmetrischen Sprachumgebungen und/oder sozia-                                  das biopsychosoziale Modell gegenwärtig ein geeig-
len Problemlagen aufwachsende Kinder im Vergleich                                netes Rahmenkonzept zur Bewältigung des Dilemmas
zur sprachgesunden einsprachigen Altersgruppe der-                               Förderung oder Therapie? bieten, da es u. a. aus der
art unterdurchschnittliche Sprachleistungen, die sie                             verschiedene wissenschaftliche Disziplinen beein-
nicht nur nicht aufholen, sondern die geringere Teil-                            flussenden Systemtheorie hervorgegangen ist und
habechancen weiter verstärken können. Die Qualität                               die Medizin als eine der definierten primären wissen-
der Beeinträchtigung unterscheidet sich zwar von                                 schaftlichen Bezugswissenschaften der Logopädie, an
einer SES, die Auswirkungen können jedoch ähnlich                                den Schnittstellen zu den anderen zentralen Bezugs-
sein. Darüber hinaus sind mehrsprachige Kinder mit                               wissenschaften, u. a. der Psychologie und Pädagogik,
SES zweifach betroffen: durch eingeschränkte kog-                                kohärent öffnet.
nitive (SES) sowie umweltbezogene (Mehrsprachig-                                 Vor diesem Hintergrund sind barrierefrei zugängli-
keit) Ursachen (vgl. arMon-loteM 2012; verhoeven et al.                          che inklusive Versorgungsmodelle vielversprechend,
2011). Neben den kumulierenden Faktoren der SES                                  die orientiert an den individuellen Bedarfen diverse
kann die Exposition gegenüber multiplen Risikofakto-                             Massnahmen der Primär-, Sekundär- und Tertiärprä-
ren im Migrationskontext die nachteiligen Auswirkun-                             vention, individuell passgenau und durchgängig sowie
gen einzelner Faktoren auf die kindliche Entwicklung                             systemdurchlässig miteinander verbinden. Weiterent-
schliesslich übersteigen.                                                        wicklungen des Response-to-Intervention Ansatzes
                                                                                 (RTI) bzw. Curriculum-based Measurement (CBM)
Sprech-, Sprach- und Kommunikationsauffälligkeiten
                                                                                 scheinen hierzu sinnvolle Lösungskonzepte zu bieten
betreffen demnach nicht nur den Bildungserfolg, son-
                                                                                 (vgl. deno & fuchS 1987). So umfasst das Konzept des
dern auch die Gesundheit. Damit fallen sie zugleich in
                                                                                 RTI eine entsprechende Mehrebenenprävention, ein an
die Zuständigkeiten unterschiedlicher Versorgungs-
                                                                                 den Anforderungen dynamisch und funktional ausge-
systeme, deren effektive und effiziente Kollaboration
                                                                                 richtetes Progress Monitoring, sowie evidenzbasierte
nicht unbedingt gegeben ist. Das bedeutet nicht unbe-
                                                                                 Interventionsmassnahmen. Die erfolgreiche Umset-
dingt, dass die Frage nach einer neuen Indikation für
                                                                                 zung des RTI setzt neben strukturellen Möglichkeiten
die Zuführung von Massnahmen der Tertiärprävention

           Ebene                                Massnahmen         Logopädische Tä.gkeitsbereiche im Schulse7ng                           Zielgruppe
                                                   n

                                                                  Diagnos(k, Planung, direkte Interven(on, Monitoring
                                                    (o
                                                  en

                                                                              und Evalua(on des Verlaufs
                                               erv

                                                     Direkte
                                            Int

                                                                                                                                       Kinder mit diagnos(zierter
                                        rte

       Ter(ärpräven(on                              logopäd.                                                                              Sprech-, Sprach- und
                                       sie

                                                                        Diagnos(k, Planung, Beratung, Monitoring                        Kommunika(onsstörung
                                                  Interven(on
                                      ali
                                  du

                                                                       der Massnahmen DriJer i.S. einer indirekten
                                 ivi
                                Ind

                                             Indirekte logopäd.            Interven(on, Evalua(on des Verlaufs
                                                Interven(on
                                                                     Ko
                                                                        o

                                      Sprachheilpädagogischer               Beratung und problemorien(erte,
                                                                       pe

     Sekundärpräven(on                                                                                               Kinder mit Leistungen unterhalb der Altersnorm
                                                                         ra.

                                            Unterricht                          evidenzbasierte Lösungen
                                                                            no

                                                                                                                  Risikokinder

                                                                                       AuMlärung
                                      Qualita(v hochwer(ger
       Primärpräven(on                                                                    und
                                  Unterricht und Interak(onen
                                                                                       Strategien
                               zur bildungssprachlichen Förderung
                                            aller Kinder

Abb. 1:            Modell zur Einordnung logopädischer Expertise im Rahmen der Umsetzung des Response-to-Intervention
                   Ansatzes an Schulen

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jedoch die Bereitschaft zu einem multiprofessionellen,                       von Logopädinnen und Logopäden wie auch therapie-
koordinierten Zusammenwirken voraus, die neben                               begleitende Gespräche, Beratung und Zusammen-
Lehrerinnen und Lehrern gleichsam Logopädinnen                               arbeit mit den Eltern und beteiligten Fachpersonen.
und Logopäden einschliesst. Denn Logopädinnen und                            In der BRD ausgebildete Sprachheillehrerinnen und
Logopäden können einen entscheidenden Beitrag auf                            -lehrer kommen zudem nicht in Betracht, denn sie
jeder der drei Präventionsebenen leisten (vgl. Abb. 1)                       verfügen anders als klinisch-therapeutisch ausgebil-
und differenzialagnostische Kompetenzen zur effekti-                         dete Logopädinnen und Logopäden «nur noch selten
ven und kosteneffizienten Steuerung von Zuweisungs-                          über die notwendige sprachtherapeutische Qualifi-
entscheidungen einsetzen (vgl. ebbelS et al. 2019).                          kation, da vor dem Hintergrund des Bologna-Dekrets
In enger Kooperation mit pädagogischen Fachkräf-                             vom 19.06.1999 in den meisten Studienstätten eine
ten lassen sich durch Kenntnisse über Bedarfe und                            deutliche Absenkung der fachspezifischen Anteile im
veränderte Anforderungen sodann gemeinsame Ent-                              Lehramtsstudium erfolgte und sprachtherapeutische
scheidungen über geeignete Interventionsmassnah-                             Inhalte nicht mehr in dem erforderlichen Ausmass
men (Diagnostik, Beratung, Förderung oder Thera-                             angeboten werden» (grohnfeldt & lüdtke 2013,118).
pie) sowie über vorhandene Zuständigkeiten treffen                           Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Sprache
und damit Ressourcen effektiver nutzen. Schliesslich                         als einen der Entwicklungsbereiche identifiziert, der
könnten gemeinsam wesentliche Herausforderungen                              nicht nur mit frühem Lernen, sondern auch über die
wie mangelndes Fachwissen, Personalmangel sowie                              gesamte Lebensspanne mit wirtschaftlicher Teilhabe
räumliche Barrieren bei der Implementierung und                              und Gesundheit verbunden ist (vgl. Siddiqi & hertzMan
Etablierung von Inklusion ab dem frühen Kindesalter                          2007). So bildet nicht mehr ausschliesslich die Ursa-
besser bewältigt werden.                                                     che, Art und Schwere einer Sprech-, Sprach- und
Während in der Bundesrepublik Deutschland (BRD)                              Kommunikationsbeeinträchtigung, sondern auch die
systemstrukturelle und gesetzliche Vorgaben eine                             Art und Ausprägung der Beeinträchtigung von Teil-
entsprechende Etablierung der Logopädie im Bil-                              habe die Indikation für den Anspruch auf logopädi-
dungssystem noch erschweren, bieten andere Länder,                           sche Leistungen im Früh-, Vorschul-, Primar- und
in denen die Logopädie sowohl im Gesundheits- als                            Sekundarbereich. Die perspektivische Verbindung
auch im Bildungssystem fest verankert ist, geeigne-                          von Gesundheitsförderung und Inklusion unter Ein-
tere Umsetzungsmöglichkeiten. So gehören z. B. im                            bindung logopädischer Kompetenzen könnte auch für
Kanton Zürich auf Grundlage des Volksschulgesetzes                           mehrsprachig in asymmetrischen Sprachumgebun-
neben therapeutischen Interventionen auch fachbe-                            gen und/oder sozialen Problemlagen mit/ohne SES
zogene Interventionen auf den Ebenen Schuleinheit,                           aufwachsende Kinder zumindest institutionell ein
Lehrperson oder Klasse ebenso zum Berufsauftrag                              Wegstück zur Chancengleichheit ebnen.

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03 / September 2020            |    logopädieschweiz

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