Logopädische Versorgung von mehrsprachigen Kindern mit Migrations-hintergrund: Förderung oder Therapie?
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03 / September 2020 | logopädieschweiz Logopädische Versorgung von mehrsprachigen Kindern mit Migrations- hintergrund: Förderung oder Therapie? Prof. Dr. Wiebke Scharff rethfeldt1 1 Hochschule Bremen Abstract Die Versorgung von mehrsprachigen Kindern und/oder Kindern mit Migrationshintergrund fällt als selbst- verständlicher Bestandteil in den logopädischen Tätigkeitsbereich. Dabei stellt die differenzialdiagnostische Abgrenzung von therapiebedürftigen gegenüber förderbedürftigen Sprech-, Sprach- und Kommunikationsauf- fälligkeiten Logopädinnen und Logopäden vor besondere Herausforderungen. Der Beitrag gibt einen Einblick in kumulative Risikofaktoren des Mehrspracherwerbs und inwieweit kulturell und linguistisch diverse Kinder von Risiken der Fehlversorgung besonders betroffen sind. Deutlich wird, dass diverse diagnostische Methoden zur Abklärung einer Sprachentwicklungsstörung erforderlich sind und dass Prävention und Gesundheitsförderung stärker in die aktuelle Ausrichtung in der logopädischen Versorgung von Sprech-, Sprach- und der Kommunika- tionsauffälligkeiten im Zuge des Anspruchs auf Inklusion integriert werden sollten. One aim of speech and language service providers is to allow everyone to have equal access to appropriate intervention resources, including culturally and linguistically diverse (CLD) children who speak languages other than, or in addition to German, as well as migrant children. Language skills in multilingual children are highly varied as a result of the variability in their language experiences. In addition, there may be multilingual children who have speech, language and communication needs (SLCN), or in contrast, some children may present with developmental language disorder (DLD). The identification of DLD in CLD children poses unique challenges for clinicians. Hence, the distinction between differentiating typical from atypical language development may not occur reliably. This places CLD children at risk for misdiagnosis and interventions that may be insufficient. A reconceptualization of language needs/difficulties emphasizes the need to review the problematic of traditional approaches to speech-language assessment and intervention on CLD clients. It is proposed that prevention and intersectoral promotion of health and wellbeing need to inform the concept of SLCN in order to follow the notion of inclusive settings. 1 Einführung Viele der Studien, die den Mehrspracherwerb von Kin- mehrsprachigen Kindern dabei eine besondere Rolle dern mit Migrationshintergrund untersuchten, fokus- gespielt (vgl. Montrul 2008). Die Erkenntnisse haben in sieren vorrangig den Erwerb der Mehrheitssprache den letzten Jahrzehnten die Entwicklung von solchen im Vergleich zur einsprachigen Altersnorm (vgl. Para- Sprachstandsfestellungen und Sprachförderprogram- diS 2009, chondrogianni & MariniS 2011). Schliesslich men nachhaltig geprägt, deren hoher Anspruch es ist, stellt die Beherrschung der Mehrheitssprache eine Chancengleichheit mit Blick auf den Bildungserfolg einschlägige Voraussetzung für Bildungserfolg und herzustellen. Untersuchungen zur Sprachentwick- zukünftige Beschäftigung dar (vgl. guven & iSlaM 2015). lung in den Herkunftssprachen und damit die Berück- In früheren Studien haben Alterseffekte zur Erklärung sichtigung einer ganzheitlichen Sprachentwick- von Unterschieden in der Entwicklung von ein- und lung unter den vielfältigen kulturell und linguistisch 4
logopädieschweiz | 03 / September 2020 Fachartikel diversen Bedingungen spielen hingegen noch immer Sprechern in einer oder mehreren Sprachen innerhalb eine untergeordnete Rolle. Dabei liegen hinreichend der Familie und in der Gesellschaft zu kommunizieren. Erkenntnisse vor, die die Bedeutung des Erhalts der Mehrsprachigkeit ist nicht mit gleichen Sprachfähig- Herkunftssprache für das Wohlbefinden und die Iden- keiten in mehr als einer Sprache zu verwechseln. titätsentwicklung eines Individuums sowie für eine Denn neben den zahlreichen Faktoren, die auch den erfolgreiche kognitive und mehrsprachige Entwick- Spracherwerb einsprachig aufwachsender Kinder lung belegen (vgl. de houWer 2015; oh & fuligni 2010; beeinflussen, sind beim Mehrspracherwerb noch WinSler et al. 2014; trofiMovich & turuševa 2015). Auch weitere Faktoren zu berücksichtigen, die sich auf die steht das mehrsprachige Kind mit seinen im mono- Sprachkompetenz auswirken. Angesichts der vielfäl- lingualen Vergleich unzureichenden Sprachleistungen tigen personalen und umweltbezogenen Erwerbskon- in der Mehrheitssprache im Vordergrund, während die stellationen ist mit zunehmendem Alter eines Indivi- umweltbezogenen Bedingungen und Voraussetzun- duums von Veränderungen in der Sprachexposition gen für seine Sprachentwicklung bei der Anwendung und damit auch im Sprachgebrauch auszugehen. So und Umsetzung von Massnahmen im Hintergrund kann es nicht nur zum in der Fachliteratur bereits gut verbleiben. erklärten Erwerb mit vermehrten Fähigkeiten in einer Aus logopädischer Sicht ist aber eine ausschliesslich weiteren Sprache (vgl. Scharff rethfeldt 2013), son- am Individuum ausgerichtete Massnahme und damit dern auch zu einer verringerten Verwendung bis zum mangelnde Berücksichtigung von Umweltfaktoren Verlust kommen. Dies trifft vorrangig jene Sprachen, mit dem Ziel einer adäquaten und nachhaltigen Ver- die im individuellen Alltag nicht mehr wichtig sind und sorgung gravierend. Denn die Logopädie, die Beein- daher – im doppelten Sinne – nicht mehr gebraucht trächtigungen der Kommunikation identifiziert und werden. Anlässe, eine Sprache nicht mehr zu gebrau- klassifiziert, versteht diese nicht als ausschliesslich chen, ergeben sich für Kinder, die ihre Herkunfts- internale, sondern in Wechselwirkung mit externalen sprachen innerhalb der Familie erwerben, häufig als Bedingungen. D. h., was diagnostisch als Beeinträch- Reaktion auf Übergangserfahrungen innerhalb der tigung definiert wird, hängt in erheblichem Masse Familie und/oder zwischen Familie und Einrichtun- von gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen ab; gen des Bildungssystems (z. B. Trennung der Eltern, inwieweit therapeutische Interventionen wirksam Eintritt in eine Kindertageseinrichtung, eigene sowie sind, unterliegt in erheblichem Masse den alltäg- Einschulung älterer Geschwister). Von einem sowohl lichen sozialen Rahmenbedingungen, unter denen quantitativ als auch qualitativ reduzierten Sprachinput Kommunikation und Bildungsprozesse stattfinden. sind sodann solche Kinder ungleich stärker betroffen, Angesichts der mit dem Anspruch einer adäquaten die ihre Herkunftssprache von Eltern erwerben, die Versorgung von kulturell und linguistisch diversen diese ausserhalb der Familie nicht pflegen (können). Klientinnen und Klienten verbundenen Herausfor- So kann sich ein eingeschränkter elterlicher Sprach- derungen stellt sich folglich zunehmend auch in der gebrauch ähnlich auf den Sprachinput auswirken. Logopädie die Frage nach einer notwendigen kriti- Unterschiede im Spracherwerb von ein- und mehr- schen Auseinandersetzung mit ihren konventionel- sprachigen Kindern bedeuten jedoch nicht unter- len Denkmodellen, die überwiegend auf monolingual schiedliche Sprachentwicklungspfade. Denn die ein- orientierter Theoriebildung und Erkenntnis beruhen. schlägigen Meilensteine der mono- und bilingualen Sprachentwicklung sind sehr ähnlich. Diese Meilen- 2 Spracherwerb bei mehrsprachigen vs. ein- steine sind definiert als das Alter, in dem ein Kind sprachigen Kindern eine bestimmte, nicht sprachspezifische Sprach- fähigkeit zeigt (z. B. erste Wörter um den 12. Monat, Grundsätzlich ist sprachgesunden Kindern ein natür- Zweiwortkombination mit 24 Monaten). Hingegen licher Mehrspracherwerb sehr gut möglich. Unter wurde die Bedeutung des Alters zum Zeitpunkt, ab Mehrsprachigkeit werden der Erwerb bzw. der Erhalt dem ein Kind mit dem Erwerb einer weiteren Spra- kommunikativer Fähigkeiten in mehr als einer Spra- che beginnt (age of onset, AoO), als Gelingensbe- che verstanden. Dabei handelt es sich um einen kom- dingung für einen erfolgreichen Mehrspracherwerb plexen und dynamischen Prozess, sodass diese Fähig- und damit Voraussetzung für einen erfolgreichen keiten in einem unterschiedlichen Ausmass erworben sog. Zweitspracherwerb (DaZ) in früheren Studien bzw. erhalten werden, um mit den Sprecherinnen und überschätzt, zumal die Bedingungsfaktoren zum 5
03 / September 2020 | logopädieschweiz jeweiligen Erwerbsbeginn variieren und als konfun- farina & geva 2011, bialyStok et al. 2010; roeSSingh & dierende Variablen unzureichend kontrolliert wurden. elgie 2009), wobei innerhalb der bilingualen Gruppe Ansätze, die AoO als entscheidenden Ausgangspunkt jene mit höherem sozioökonomischen Status besser definieren, werden der dynamischen und komplexen abschneiden (vgl. calvo & bialyStok 2014). Sprachentwicklung unter kulturell und linguistisch diversen Bedingungen nicht gerecht. Vielmehr zeigen 3 Sprachentwicklungsstörung bei mehr- neuere empirische Befunde, dass dem Parameter sprachigen vs. einsprachigen Kindern Sprachexposition und somit dem quantitativen Input Sprachentwicklung stellt gleichermassen für ein- eine wesentlich bedeutsamere Rolle zukommt (vgl. sowie mehrsprachig aufwachsende Kinder eine kom- unSWorth 2016). Ebenfalls von Bedeutung ist das sog. plexe und störanfällige Aufgabe dar. Dabei ist Mehr- Timing (vgl. tSiMPli 2014). Folglich hängen die Sprach- sprachigkeit bzw. der Erwerb einer weiteren Sprache erwerbsrate und mit ihr verbundene Leistungen v. a. jedoch nicht ursächlich für eine SES (vgl. Scharff in den Bereichen Lexikon, Morphologie und Syntax rethfeldt 2013; grech & Mcleod 2012; ParadiS 2005). massgeblich von quantitativen Spracherfahrungen Empirische Untersuchungen zeigen, dass rund 7,6 % (u. a. Zeitpunkt, Dauer, Häufigkeit, Intensität) in den aller Kinder von einer SES betroffen sind (vgl. norbury einzelnen Sprachen und nicht vom Erwerbsbeginn et al. 2016), unabhängig davon, ob sie ein- oder mehr- an sich ab (vgl. hoff et al. 2012). Dabei sind lang- sprachig aufwachsen. Die SES ist damit die häufigste fristige Auswirkungen wie anhaltende Unterschiede Entwicklungsstörung im Kindesalter, die ursächlich von Sprachleistungen bei bilingualen Kindern und auf ein multifaktorielles Bedingungsgefüge zurück- Jugendlichen überwiegend auf den frühen sprachli- geführt wird. Eine SES liegt vor, wenn das Kind solche chen Input zurückzuführen (hoff & core 2013). Auch Sprachschwierigkeiten zeigen, (a) die die Kommu- hat sich ein nicht-nativer Sprachinput als wenig för- nikation oder das Lernen im Alltag beeinträchtigen derlich erwiesen (unSWorth et al. 2019; Place & hoff und (b) anzunehmen ist, dass die Sprachschwierig- 2011); es liegt nahe, dass dies im Zusammenhang mit keiten auch nach Erreichen des fünften Lebensjahres einer einhergehenden mangelnden Nutzungsfähigkeit bestehen bleiben, und (c) die Sprachschwierigkeiten rhythmisch-prosodischer Informationen steht, welche nicht direkt mit einer biomedizinischen Ursache in eine wichtige Bedingung für die induktive Abstraktion Verbindung gebracht werden können (z. B. Hirnschä- formal-sprachlicher Regularitäten darstellt. Zu wei- digung, neurodegenerative Erkrankung, genetische teren, den Mehrspracherwerb beeinflussenden sowie oder Chromosomenstörung, Hörstörung, Autismus- interagierenden Faktoren zählen die Anzahl der ver- Spektrum-Störung oder geistige Behinderung) (vgl. schiedenen Gesprächspartnerinnen und Gesprächs- Scharff rethfeldt & ebbelS 2019; biShoP et al. 2017; partner, die Familienkonstellation, Transfereffekte, biShoP et al. 2016). SES führen zu weitreichenden typologische Ähnlichkeiten und gesellschaftliches Kommunikationsstörungen und somit psychosozialen Prestige der beteiligten Sprachen sowie quantitative Belastungen. Ohne frühzeitige Identifikation und Ein- und qualitative Aspekte des bilingualen Sprachge- leitung adäquater Massnahmen kann sich eine in Aus- brauchs von Bezugspersonen. Daneben sind auch die mass und Schweregrad unterschiedlich auftretende gleichsam in der monolingualen Sprachentwicklung SES im Schulalter u. a. als Lese-Rechtschreibstörung als prädiktiv für die späteren Sprachfähigkeiten wir- manifestieren. Zudem liegen mittlerweile hinreichend kenden Faktoren zu berücksichtigen, z. B. sensitives empirische Belege vor, die zeigen, dass Kinder mit und anregendes Interaktionsverhalten von Bezugs- SES einem erhöhten Risiko für Störungen des Sozial- personen (u. a. beim Vorlesen), der sozioökonomische verhaltens und emotionalen Störungen ausgesetzt Status sowie der bildungsbezogene familiäre Hinter- sind (vgl. durkin & conti-raMSden 2010; yeW & o’kear- grund (insbesondere schulische Bildung der Mutter) ney 2013), und im Erwachsenenalter häufiger zu einem (vgl. Scharff rethfeldt 2013, 125). So zeigen in asym- niedrigen Ausbildungsniveau sowie sozialer Exklusion metrischen Sprachumgebungen aufwachsende Kin- führen, sodass neben der Lebensqualität auch die der, d. h. die neben ihrer(n) Herkunftssprache(n) die psychische Gesundheit betroffen ist. Die SES und ihre Mehrheits- bzw. Bildungssprache in nicht-familialen Folgen stellen damit ein gravierendes Gesundheits- Kontexten erwerben, auch nach sechs Jahren Beschu- problem dar, das bis ins Jugend- und Erwachsenen- lung in der Mehrheitssprache oder sogar dauerhaft, alter nachweisbar ist (vgl. Schoon et al. 2010). In Anbe- dass sie signifikant schlechtere Sprachleistungen tracht ihrer kumulierenden Risikofaktoren kommt der erbringen als die einsprachige Altersgruppe (vgl. 6
logopädieschweiz | 03 / September 2020 Fachartikel Frühdiagnostik sowie nach Indikation der unverzüg- das explizit artikuliert wird. Die Verarbeitungsprob- lichen SES-Therapie somit eine zentrale Bedeutung leme führen demnach zu geringen Regelkenntnissen, zu. Sie ist sowohl für ein- als auch für mehrsprachige welche die Ableitung von Strategien zur Verarbeitung Kinder mit Bezug auf das eigene Wohlergehen und die relevanter sprachlicher Informationen erschweren. gesellschaftliche Teilhabe und somit für gesundheit- Diese äussern sich in Ausmass und Schwere unter- liche und soziale Chancengleichheit entscheidend. schiedlich als Beeinträchtigungen in der Aufnahme, Die Symptome einer SES können sich in Schwere Verarbeitung und Speicherung formal-sprachlicher und Ausmass sehr unterschiedlich ausprägen. Auf Regularitäten zum Verständnis und zur Produktion. formal-sprachlicher Ebene zählen u. a. ein geringer Dies erklärt auch, weshalb sich eine SES bei mehr- Wortschatzumfang, eingeschränktes Wortwissen, sprachigen Individuen stets in allen beteiligten Spra- grammatikalische Abweichungen wie Flexions- und chen und somit auch in der/den zuerst erworbenen Kongruenzfehler zu den einschlägigen Symptomen Sprache/n zeigt. bei einsprachig aufwachsenden Kindern. Dabei vari- ieren die SES-Symptome je nach beteiligter Sprache. 4 Risiken einer Fehlversorgung Denn Sprachen haben eine unterschiedliche «Sprach- Die Sprachfähigkeiten mehrsprachiger Kinder sind architektur» und damit auch andere Funktionen und aufgrund der oben angeführten vielfältigen die Regeln. Da derlei Abweichungen zugleich typische Sprachentwicklung beeinflussenden und interagie- Merkmale einer sog. Lernersprache sind, liegt es renden Faktoren sehr unterschiedlich sowie komplex. auf der Hand, dass diese zur Identifikation einer SES Dies erschwert es Logopädinnen und Logopäden, eine bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern nicht mit SES von mangelnden Sprachkenntnissen bei mehr- der gleichen Gültigkeit herangezogen werden kön- sprachigen Kindern zu unterscheiden. So tragen Man- nen (vgl. Synopse möglicher Symptome einer SES in gel an Wissen, kultursensiblen Handlungskompe- Scharff rethfeldt 2013). Denn eine ausschliesslich tenzen, Normdaten sowie Instrumenten vielmehr zu auf Lexikon, Morphologie und Syntax der produktiven Fehldiagnosen bei. Insofern sind kulturell und lingu- Sprachleistungen konzentrierte und damit reduzierte istisch diverse Kinder von Risiken der Fehlversorgung Befunderhebung bei einem vorliegenden Verdacht auf ungleich höher betroffen. eine SES bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern, Neuere Studien belegen, dass von einer SES betrof- würde das Risiko möglicher Fehldiagnosen verstärken fene mehrsprachige Vorschulkinder deutlich später (vgl. Scharff rethfeldt 2016; bloM et al. 2013; grech & zur logopädischen Differenzialdiagnostik überwiesen dodd 2007) Während bei einsprachigen Kindern eine werden (vgl. Wiefferink et al. 2020; Scharff rethfeldt SES häufig allein anhand der Untersuchung von Lexi- 2019). Viele mehrsprachige Kinder haben einen Mig- kon, Syntax und Morphologie diagnostiziert wird, wäre rationshintergrund. Sie bleiben häufiger therapeu- dies bei mehrsprachigen Kindern daher fahrlässig. tisch un- bzw. unterversorgt, da Migrantinnen und Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Einschrän- Migranten der Zugang zur medizinischen Versor- kungen im Wortschatzerwerb und der grammati- gung wesentlich erschwert ist (vgl. Wylie et al. 2013). schen Entwicklung auch auf Beeinträchtigungen der Dies wird vorrangig auf Sprachbarrieren, finanzielle diese Entwicklung steuernden Verarbeitungsprozesse Aspekte, mangelnde Kenntnisse über das lokale zurückzuführen sind (vgl. Scharff rethfeldt 2017). Gesundheitssystem sowie auf Erwartungen und Vor- So ist die SES keine isolierte Störung auf linguis- stellungen über die Behandlungsmöglichkeiten der tischer Ebene, sondern zeigt sich häufig auch auf betreffenden Bevölkerungsgruppe zurückgeführt (vgl. kognitiver Ebene in Form einer insgesamt verlang- albarran et al. 2011), sodass insbesondere Familien samten Sprachverarbeitungsgeschwindigkeit sowie mit Migrationshintergrund die Möglichkeiten einer Beeinträchtigung des Kurzzeit- oder Arbeitsgedächt- logopädischen Versorgung nicht bekannt sind (vgl. nisses (vgl. archibald 2017; leonard et al. 2007). Eher grech & cheng 2010). Für zahlreiche mehrsprachig ist anzunehmen, dass der SES Schwierigkeiten beim aufwachsende Kinder ergibt sich ein nicht zu unter- Erwerb automatischer Fähigkeiten inkl. des proze- schätzendes Cluster von Risikofaktoren mit zusätz- duralen Lernens zugrunde liegen (vgl. nicolSon & lichen benachteiligenden Faktoren wie Migration, faWcett 2007; ullMan 2004). Prozedurales Lernen ist Armut und Hautfarbe, sodass sie eher von negativen in der Regel implizit und bezieht sich auf das Lernen kognitiven und sozioemotionalen Folgen betroffen von Fähigkeiten und Strategien; anders als Wissen, sein können (vgl. evanS et al. 2013). 7
03 / September 2020 | logopädieschweiz Weitere als Barrieren einer adäquaten logopädi- ist der Einsatz von monolingual und monokulturell schen Versorgung wirkende Faktoren sind innerhalb normorientierten Verfahren aufgrund von Konstrukt-, des Versorgungssystems selbst zu finden. ParadiS Methoden- und Item-Bias weder ethisch vertretbar, (2005) hebt zwei häufige Fehldiagnosen hervor: mis- noch zielführend (vgl. Scharff rethfeldt 2016; caeSar sed identity und mistaken identity. So werden falsch & kohler 2007; StoW & dodd 2003). Dies gilt auch für negative Diagnosen gestellt, die von einer SES betrof- deren Übersetzungen (vgl. bedore & Peña 2008; roSe- fene mehrsprachige Kinder nicht der notwendigen berry Mckibbin 2002) sowie für Verfahren, die eine Therapie zuführen, u. a. da die formal-sprachlichen heterogene Sprachgruppe als eine Stichprobe zusam- Auffälligkeiten mit physiologischen Merkmalen einer menfassen (vgl. laing & kaMhi 2003). Dies schliesst den Lernersprache im Rahmen des Mehrspracherwerbs Test LiSe-DaZ (Schulz & tracy 2011) ein, der für För- erklärt werden. Oder es werden falsch positive Dia- derentscheidungen über ausschliesslich Deutsch als gnosen gestellt, die mangelnde Deutschkenntnisse Zweitsprache erwerbende Kinder am Übergang Pri- als therapiebedürftig einstufen und das Sprachver- mär-/Sekundärprävention entwickelt wurde und für halten somit pathologisieren. So kann der Einsatz der differenzialdiagnostische Zielsetzungen mit dem Ziel in der logopädischen Praxis etablierten einschlägigen der Identifikation einer SES ungeeignet ist (vgl. Scharff psychometrischen Tests, nicht zu einer validen Diffe- rethfeldt 2016). Die Autorinnen der LiSe-DaZ empfeh- renzialdiagnostik bei mehrsprachigen Kindern beitra- len bei Sprachauffälligkeiten «weitere Gründe für die gen, u. a. weil sie am monolingualen Spracherwerbs- festgestellten Erwerbsprobleme ins Auge zu fassen» paradigma ausgerichtet sind und/oder sich auf eine und weisen darauf hin, dass das Ergebnis unterdurch- andere Norm beziehen. schnittlicher Sprachleistungen auf das Vorliegen einer Laut bundesdeutscher AWMF-Leitlinie (vgl. de lan- Sprachentwicklungsstörung hinweisen kann, «das gen-Müller et al. 2011;2016), die einer anderen einer logopädischen Überprüfung bedarf» (Schulz & Nomenklatur folgt, ist die klinische Diagnose einer tracy 2011,19). Da die Autorinnen davon ausgehen, umschriebenen bzw. spezifischen SES (USES/SSES) dass «im Normalfall» einsprachig mit Deutsch auf- als Ausschlussdiagnose zu stellen, wenn die Sprach- wachsenden Kindern «der Input, der für die weiteren entwicklung als nicht altersgemäss bezeichnet wer- Erwerbsschritte notwendig ist, kontinuierlich und in den kann. So sei laut Autorinnen u. a. eine Intelligenz- ausreichender Intensität zur Verfügung steht» (Schulz minderung von IQ
logopädieschweiz | 03 / September 2020 Fachartikel Sensitivität und Spezifität) erfüllt. Denn selbst die vor- klinische Entscheidungsfindung interkulturelle Kom- liegenden Adaptionen zur Anwendung bei mehrspra- petenzen der Therapeutin bzw. des Therapeuten (vgl. chigen Kindern erfüllen notwendige Anforderungen Scharff rethfeldt 2017). So kommt im Kontext kultu- wie linguistische, funktionale, metrische sowie kultu- reller und linguistischer Diversität den Logopädinnen relle Äquivalenz und damit den Anspruch notwendiger und Logopäden bei der Vermeidung und Verminde- Test-Fairness nicht. rung von Versorgungsfehlern besonders im Zuge der Abzuwarten, bis hinreichend Deutschkenntnisse vor- Beratung, Diagnostik und Intervention eine gewich- liegen, um eine Befunderhebung bspw. mit Einsatz tige Rolle zu; zugleich ist die Fachdisziplin gefordert, eines Tests in der Sprache der Therapeutin/des The- einer Verkürzung der logopädischen Sprachentwick- rapeuten zu ermöglichen wäre nicht nur irreführend, lungsdiagnostik auf normorientierte Testverfahren sondern bei Verdacht auf eine vorliegende SES mit entgegenzuwirken. Blick auf die oben angeführten Folgen auch ethisch problematisch. So ist es unprofessionell zu erwar- 5 Versorgungsformen: Sprachförderung vs. ten, dass im Laufe der Zeit ein mehrsprachiges Kind Sprachtherapie mit einsprachigen Peers vergleichbar sei. Schliess- Sprachauffälligkeiten im mehrsprachigen Kontext lich liegen hinreichend Erkenntnisse vor, die zeigen, erfordern unterschiedlich ausgerichtete Massnahmen dass sich sprachgesund entwickelnde bilinguale von und Aktivitäten primärer, sekundärer und tertiärer monolingualen Kindern mit SES auch nach mehre- Prävention sowie der Gesundheitsförderung. Letzte- ren Jahren mit regelmässigem Sprachkontakt in der ren Begriff etablierte die Weltgesundheitsorganisa- Mehrheitssprache hinsichtlich ihrer rezeptiven (sowie tion (WHO) im Rahmen der Ottawa-Konferenz 1986 als produktiven) Leistungen in den Bereichen Lexikon, Ergebnis eines erweiterten Verständnisses der Bedeu- Morphologie und Syntax nicht deutlich unterschei- tung ökonomischer, politischer, kultureller und sozia- den (vgl. SMolander et al. 2017; ParadiS 2010; Steenge ler Faktoren für die Gesundheit einzelner und ganzer 2006). Auch für Kinder gilt, dass eine bilinguale Per- Bevölkerungsgruppen. Ein Grossteil der Gesundheits- son nicht zwei monolinguale Personen in einer ver- systeme weist noch immer eine schwerpunktmässige eint – es ist bemerkenswert, dass trotz vielfacher Ausrichtung auf die kurative Versorgung aus, obgleich Zitation, der Kern groSjeanS (1989) Botschaft schein- nicht alle Krankheiten bzw. als pathologisch zu klas- bar nur begrenzt verstanden wird, sodass noch heute sifizierenden Störungen – und dies schliesst Sprech-, bilinguale Personen in ihren jeweiligen Sprachen Sprach- und Kommunikationsstörungen ein – tat- mit monolingual normorientierten Tests untersucht sächlich geheilt werden können. Die demografische werden. Entwicklung sowie sich verändernde soziokulturelle In der Logopädie stehen eine Reihe von Methoden zur Rahmenbedingungen ziehen zahlreiche gesundheits- Verfügung und Logopädinnen und Logopäden sind politische, soziale und schliesslich bildungspolitische darin ausgebildet, diese zielführend einzusetzen. Als Folgen nach sich und stellen die Gesundheitssysteme, geeignete Alternativen zu normorientierten Verfah- wie auch die Sozial- und Bildungssysteme einzel- ren haben sich kriterium-orientierte Verfahren sowie ner Länder vor grosse Herausforderungen, deren das Dynamic Assessment als effektive differenzial- Bewältigung erfordert, dass präventive und gesund- diagnostische Methoden zur Identifikation von SES bei heitsfördernde Strategien nicht mehr systemisoliert, kulturell und linguistisch diversen Kindern gezeigt, sondern kooperativ berücksichtigt werden. So ist es sofern sie mit soziokulturellen Ansätzen kombiniert auch erforderlich, Prävention und Gesundheitsförde- werden. Denn sowohl die klinisch zielführende Metho- rung stärker in die aktuelle Ausrichtung in der logo- denauswahl als auch adäquate Ergebnisinterpretation pädischen Versorgung von Sprech-, Sprach- und der in der Befunderhebung erfordern detaillierte ethno- Kommunikationsauffälligkeiten zu integrieren. Denn und sprachbiografische Informationen. Insbesondere die Umsetzung von Sprachförderung und sprachlicher Aufgaben zum Satzverständnis erscheinen vielver- Bildung sowie Sprachtherapie bewegt sich sowohl ins- sprechend und Arbeitsgedächtnisaufgaben (Zahlen, titutionell als auch finanziell an den Schnittstellen von Nichtwörter) haben sich nicht nur als geeignet in der Sozialem, Pädagogik und Gesundheit. Insbesondere Differenzialdiagnostik bei geringerer Spracherfah- bei Sprachauffälligkeiten in Mehrspracherwerbs- und rung und aufgrund des Zusammenhangs zwischen Migrationskontexten stellt sich die Frage, ob Mass- zentral exekutiven Funktionen und Sprachleistun- nahmen der Primär- und Sekundärprävention aus- gen als effektiv erwiesen. Nicht zuletzt erfordert die reichend sind und ab wann die Sprachgesundheit 9
03 / September 2020 | logopädieschweiz betroffen ist, sodass auch sprachtherapeutische Massnahmen zu. Bislang liegen jedoch keine Evi- Massnahmen der Tertiärprävention zu ergreifen sind. denzen vor, die die Wirksamkeit gezielter Sprach- Als Primärprävention kann eine theoriegestützte förderung bestätigen. Bereits im Jahr 2010 evalu- Sprachförderung durch als Sprachvorbild fungie- ierten rooS et al. die Effektivität der drei linguistisch rende Personen den Sprachaneignungsprozess aller orientierten Sprachförderprogramme Deutsch für Kinder in handlungsrelevanten Alltagssituationen den Schulstart nach kaltenbacher-klageS, Kon-Lab unterstützen und ggf. nach Vermittlung und Anlei- nach Penner und Frühe Sprachförderung nach tracy tung von sprachförderlichen Verhaltensweisen auch und konnten keine bemerkenswerten Verbesserun- in Familien gut umgesetzt werden. Sprachförderung gen feststellen. Es folgten Fragen zu Intensität und setzt demnach keine Sprachdiagnostik voraus. Im Gruppengrössen sowie weitere Untersuchungen und Vorschulalter kann sie alle sprachgesunden Kinder Nachbesserungen. Dennoch lassen sich bis heute unterstützen, ihre Wünsche und Bedürfnisse verbal keine nennenswerten Effekte feststellen, dies betrifft zu formulieren, sich mit Gleichaltrigen auszutauschen nicht nur einzelne Programme oder Länder. So fassen und somit Sprache als Mittel zur Reflexion inkl. meta- fukkink et al. (2017) als Ergebnis ihrer einschlägigen sprachlicher Funktionen einzusetzen (vgl. füSSenich Meta-Analyse zusammen, dass gezielte Sprachför- 2002). Überdies kann Sprachförderung zur sprachli- derprogramme im Vorschulbereich keinen wertvollen chen Bildung dieser Kinder beitragen, indem sie u. a. Beitrag leisten. Dies ist besonders schwerwiegend für das Interesse und den Zugang zur Schriftsprachkul- Kinder aus sozial schwachen Räumen, in multiplen tur ermöglicht (vgl. jaMPert et al. 2005). Grundsätzlich Problemlagen, darunter auch mehrsprachige Kinder können auch sprachgesunde mehrsprachige Kinder mit Migrationshintergrund. Denn zahlreiche Befunde von einer Sprachförderung profitieren, sofern sie ihre verdeutlichen eine erhebliche Benachteiligung von Mehrsprachigkeit unterstützt, d. h. wenn sie in allen Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund von ihnen verwendeten Sprachen gefördert werden. im deutschen Schulsystem hinsichtlich ihrer Kompe- Fördermassnahmen der Sekundärprävention richten tenzentwicklung, die darauf beruht, dass der Migra- sich zusätzlich zum pädagogischen Sprachförderan- tionshintergrund als solcher im Entwicklungs- und gebot vorrangig an ausgewählte Risikogruppen mit Bildungsprozess relevant wird (vgl. baader et al. 2011). Verdacht auf ungünstige Entwicklungs- und Bildungs- Ein Grossteil ihrer Benachteiligung lässt sich neben verläufe, zu denen häufig Kinder in sozialen Problem- einer unzureichenden Beherrschung der deutschen lagen und damit häufig auch mit Migrationshinter- Sprache ihrer Mütter und mangelndem Systemwissen grund gehören. Da mehr als die Hälfte jener Kinder, vor allem über eine ungünstigere sozialstrukturelle die in sozial benachteiligten Räumen aufwachsen, Position ihrer Eltern erklären, sodass ihre Zugehörig- bereits im Alter von fünf Jahren Kommunikations- keit zu unteren sozialen Schichten eine höhere Bedeu- schwierigkeiten erleben, verfolgt ein Grossteil der tung als die Tatsache des Migrationshintergrundes Massnahmen ein kompensatorisches Ziel, um den selbst hat. Diese primären Herkunftseffekte, d. h. von Anschluss zur Erreichung einer Bildungs- und Chan- sozialer und nationaler Herkunft abhängige Lernvo- cengleichheit der betroffenen Kinder mit Blick auf raussetzungen, die ursächlich im Milieu und Eltern- schulische Anforderungen herzustellen. In der Regel haus liegen (vgl. becker 2010), tragen nicht nur zu werden die sekundärpräventiven Angebote von päda- Bildungsungleichheiten bei; so kann auch die Primar- gogischen Fachkräften, teilweise auch von Sprachheil- schule die sozialen Disparitäten offensichtlich nicht pädagoginnen und -pädagogen sowie Logopädinnen ausgleichen. Dennoch ist davon auszugehen, dass und Logopäden durchgeführt. Um die betreffenden zusätzliche Massnahmen sinnvoll sein können. Bei- Risikogruppen zu identifizieren sowie die Feststellung spielsweise konnte im Rahmen einer randomisierten des besonderen Sprachförderbedarfs zu sichern, wer- Kontrollstudie gezeigt werden, dass eine Kombina- den sog. Sprachstandsfeststellungen durchgeführt. tion von Einzel- sowie Kleingruppenintervention (2–4 Beide Massnahmen, Feststellung und Durchführung, Kinder) für sprachgesunde, jedoch sprachleistungs- werden regions- und länderspezifisch sehr unter- schwache (expressive Leistungen am 10. Perzentil) schiedlich umgesetzt; überwiegend handelt es sich Kinder sowohl vor als auch nach dem Schuleintritt in um Verfahren, die nicht für mehrsprachige Kinder England (Alter 3–5 Jahre) durch geschulte Lehrkräfte geeignet sind. Die uneinheitlich methodisch imple- zu moderaten Verbesserungen verbalsprachlicher mentierte Feststellung führt die betreffenden Kin- Fähigkeiten führen kann, wenngleich Unterschiede der häufig als Sprachförderprogramme konzipierten zwischen den Leistungsschwachen und Überfliegern 10
logopädieschweiz | 03 / September 2020 Fachartikel bestehen blieben (vgl. fricke et al. 2017). Auch schei- ihre Verschlimmerung zu verhindern sowie ihr Aus- nen frühzeitig einsetzende spezifische Elterntrainings mass und ihre Auswirkungen zu reduzieren, (b) die sowie die individuelle Zusammenarbeit mit Eltern in funktionsbezogene Aktivität mit Bezug auf die Leis- Form von Hausbesuchen vielversprechender zu sein, tung zu erweitern, (c) Strategien zum Ausgleich der und dies unabhängig von sozialer und nationaler Her- personenbezogenen oder gesellschaftlichen Benach- kunft (vgl. deSforgeS & abouchaar 2003). teiligung zu entwickeln, und (d) die Patientin bzw. Im Sinne der Tertiärprävention wird eine spezifi- den Patienten und die Bezugspersonen während der sche, individuell auf ein Kind zugeschnittene Inter- Anpassungsphase zu unterstützen (vgl. enderby & vention in Form einer logopädischen Therapie erfor- john 2015, 18). derlich, wenn es ihm nicht möglich ist, seine Sprech-, In Anlehnung an die Ottawa-Charta beschreibt die Sprach- und Kommunikationsfähigkeiten – selbst in International Association of Communication Sciences einer Sprache bestmöglich anregenden Umwelt – zu and Disorders zusammenfassend die Verbesserung entwickeln, oder wenn Umweltfaktoren im kindlichen der Lebensqualität jener Individuen als das Ziel der Umfeld eine sprachgesunde Entwicklung gefährden logopädischen Versorgung, die von Störungen der oder beeinträchtigen. Zweites hat im Rahmen der sich Stimme, des Sprechens, der Sprache, der Kommu- verstärkenden sozialen Ungleichheiten vor allem in nikation, des Schluckens und des Hörens betroffen den vergangenen Jahren zunehmend an Bedeutung sind (IALP 2020). Dies gilt ungeachtet ihrer sprachli- gewonnen. Bei negativen Wechselwirkungen zwi- chen und kulturellen Herkunft. Bei Kindern mit einer schen dem Gesundheitsproblem und den individuel- Sprachentwicklungsstörung (SES) lässt sich im Ver- len Kontextfaktoren kommt es im Sinne des bio-psy- gleich zu sprachgesunden Kindern bereits im Alter von cho-sozialen Denkmodells zu einer Beeinträchtigung vier bis neun Jahren eine deutliche Beeinträchtigung der funktionalen Gesundheit, die in der ICF (WHO der individuellen Lebensqualität im Zusammenhang 2001) bzw. ICF-CY (WHO 2007) als Behinderung, in der mit sozial-emotionalen Problemlagen feststellen (vgl. Logopädie häufig auch als Störung bezeichnet wird. eadie et al. 2018). Insofern kommt der logopädischen Die therapeutische Zielsetzung bei der Behandlung Frühdiagnostik und -intervention eine nicht zu unter- von Sprech-, Sprach- und Kommunikationsstörungen schätzende Bedeutung zu. Wenngleich nicht Auslöser variiert daher individuell und wird vorrangig über die einer SES, können eine Reihe von Umweltfaktoren die Gesundheit massgeblich beeinflussenden Kompo- eine SES verstärken. Denn wird ein von einer Sprech-, nenten definiert. Dabei kommt der Teilhabe eine über- Sprach- oder Kommunikationsstörung betroffenes wiegende Bedeutung zu, wenngleich sich Teilziele und Kind erst mit vier Jahren oder später logopädisch einzelne Massnahmen auf alle Komponenten der ICF versorgt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass neben beziehen können. Die Teilhabe richtet sich nach den der Kommunikationsstörung bereits weitere soziale, jeweiligen Einschränkungen, welche ein Individuum emotionale und kognitive Probleme hinzugekommen im Alltagsleben subjektiv wahrnimmt. Auch Umwelt- sind (vgl. Maggio et al. 2014), die nicht nur die Beein- faktoren, die zur Sprech-, Sprach- und Kommuni- trächtigung der funktionalen Gesundheit verstärken, kationsbeeinträchtigung beitragen, werden aus der sondern zudem als konfundierende Variablen sowohl Perspektive des betroffenen Individuums als Förder- die logopädische Differenzialdiagnostik und damit faktoren und Barrieren klassifiziert. Hierzu zählen Identifikation, als auch die Therapie erschweren. Vor u. a. materielle, soziale und ideelle Umweltfaktoren diesem Hintergrund ist weder eine ausschliesslich sowie personenbezogene Faktoren. Die Logopädie kind- noch symptomorientierte Therapie nachhaltig, hat damit das Potenzial, der individuellen Lebens- da Ausmass und Auswirkungen einer SES von den welt, den spezifischen Rahmenbedingungen genauso umweltbezogenen Anforderungen abhängig sind, die Rechnung tragen zu können wie den jeweiligen Rol- sich bis ins Jugend- und Erwachsenenalter ändern len, Funktionen, Gewohnheiten, Erfahrungen und können. So bedarf es unter Berücksichtigung indivi- individuellen Barrieren sowie Ressourcen mit Bezug dueller Übergangs- und Problemsituationen im Rah- auf einen erfolgreichen Entwicklungsprozess. Denn men einer Verlaufsdiagnostik ggf. sich über mehrere die auf Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben Jahre erstreckende Therapiephasen, die auf eine Ver- der Gesellschaft ausgerichtete, übergeordnete Ziel- besserung der (schul-) alltagsorientierten Kommuni- setzung der logopädischen Therapie besteht darin, (a) kationsfähigkeit mit dem Anspruch auf Teilhabe durch die der Beeinträchtigung zugrundeliegende Sprech-, Vermittlung entsprechend problemkompensierender Sprach- oder Kommunikationsstörung zu beseitigen, Strategien zielen. 11
03 / September 2020 | logopädieschweiz 6 Konklusion und Konsequenzen gestellt werden muss. Vielmehr ist es erforderlich, die Die Studienlage zeigt, dass die bisherigen im Bildungs- Begriffe Sprachgesundheit sowie gesunde Entwick- system verorteten und durchgeführten Massnahmen lung zu diskutieren, sofern die Implementation von der Primär- und Sekundärprävention nicht oder nur Gesundheitsförderung im Rahmen schulischer Inklu- unzureichend die im Zusammenhang mit Mehr- sion ernsthaft angestrebt wird. Die Umsetzung von spracherwerbs- und Migrationskontexten aufgezeig- Inklusion in schulischen Kontexten erfordert einen ten Unterschiede zur sprachgesunden, einsprachigen grundlegenden Paradigmenwechsel und damit mehr Altersgruppe ausgleichen. So zeigen mehrsprachig in als eine additive Perspektive. In diesem Sinne könnte asymmetrischen Sprachumgebungen und/oder sozia- das biopsychosoziale Modell gegenwärtig ein geeig- len Problemlagen aufwachsende Kinder im Vergleich netes Rahmenkonzept zur Bewältigung des Dilemmas zur sprachgesunden einsprachigen Altersgruppe der- Förderung oder Therapie? bieten, da es u. a. aus der art unterdurchschnittliche Sprachleistungen, die sie verschiedene wissenschaftliche Disziplinen beein- nicht nur nicht aufholen, sondern die geringere Teil- flussenden Systemtheorie hervorgegangen ist und habechancen weiter verstärken können. Die Qualität die Medizin als eine der definierten primären wissen- der Beeinträchtigung unterscheidet sich zwar von schaftlichen Bezugswissenschaften der Logopädie, an einer SES, die Auswirkungen können jedoch ähnlich den Schnittstellen zu den anderen zentralen Bezugs- sein. Darüber hinaus sind mehrsprachige Kinder mit wissenschaften, u. a. der Psychologie und Pädagogik, SES zweifach betroffen: durch eingeschränkte kog- kohärent öffnet. nitive (SES) sowie umweltbezogene (Mehrsprachig- Vor diesem Hintergrund sind barrierefrei zugängli- keit) Ursachen (vgl. arMon-loteM 2012; verhoeven et al. che inklusive Versorgungsmodelle vielversprechend, 2011). Neben den kumulierenden Faktoren der SES die orientiert an den individuellen Bedarfen diverse kann die Exposition gegenüber multiplen Risikofakto- Massnahmen der Primär-, Sekundär- und Tertiärprä- ren im Migrationskontext die nachteiligen Auswirkun- vention, individuell passgenau und durchgängig sowie gen einzelner Faktoren auf die kindliche Entwicklung systemdurchlässig miteinander verbinden. Weiterent- schliesslich übersteigen. wicklungen des Response-to-Intervention Ansatzes (RTI) bzw. Curriculum-based Measurement (CBM) Sprech-, Sprach- und Kommunikationsauffälligkeiten scheinen hierzu sinnvolle Lösungskonzepte zu bieten betreffen demnach nicht nur den Bildungserfolg, son- (vgl. deno & fuchS 1987). So umfasst das Konzept des dern auch die Gesundheit. Damit fallen sie zugleich in RTI eine entsprechende Mehrebenenprävention, ein an die Zuständigkeiten unterschiedlicher Versorgungs- den Anforderungen dynamisch und funktional ausge- systeme, deren effektive und effiziente Kollaboration richtetes Progress Monitoring, sowie evidenzbasierte nicht unbedingt gegeben ist. Das bedeutet nicht unbe- Interventionsmassnahmen. Die erfolgreiche Umset- dingt, dass die Frage nach einer neuen Indikation für zung des RTI setzt neben strukturellen Möglichkeiten die Zuführung von Massnahmen der Tertiärprävention Ebene Massnahmen Logopädische Tä.gkeitsbereiche im Schulse7ng Zielgruppe n Diagnos(k, Planung, direkte Interven(on, Monitoring (o en und Evalua(on des Verlaufs erv Direkte Int Kinder mit diagnos(zierter rte Ter(ärpräven(on logopäd. Sprech-, Sprach- und sie Diagnos(k, Planung, Beratung, Monitoring Kommunika(onsstörung Interven(on ali du der Massnahmen DriJer i.S. einer indirekten ivi Ind Indirekte logopäd. Interven(on, Evalua(on des Verlaufs Interven(on Ko o Sprachheilpädagogischer Beratung und problemorien(erte, pe Sekundärpräven(on Kinder mit Leistungen unterhalb der Altersnorm ra. Unterricht evidenzbasierte Lösungen no Risikokinder AuMlärung Qualita(v hochwer(ger Primärpräven(on und Unterricht und Interak(onen Strategien zur bildungssprachlichen Förderung aller Kinder Abb. 1: Modell zur Einordnung logopädischer Expertise im Rahmen der Umsetzung des Response-to-Intervention Ansatzes an Schulen 12
logopädieschweiz | 03 / September 2020 Fachartikel jedoch die Bereitschaft zu einem multiprofessionellen, von Logopädinnen und Logopäden wie auch therapie- koordinierten Zusammenwirken voraus, die neben begleitende Gespräche, Beratung und Zusammen- Lehrerinnen und Lehrern gleichsam Logopädinnen arbeit mit den Eltern und beteiligten Fachpersonen. und Logopäden einschliesst. Denn Logopädinnen und In der BRD ausgebildete Sprachheillehrerinnen und Logopäden können einen entscheidenden Beitrag auf -lehrer kommen zudem nicht in Betracht, denn sie jeder der drei Präventionsebenen leisten (vgl. Abb. 1) verfügen anders als klinisch-therapeutisch ausgebil- und differenzialagnostische Kompetenzen zur effekti- dete Logopädinnen und Logopäden «nur noch selten ven und kosteneffizienten Steuerung von Zuweisungs- über die notwendige sprachtherapeutische Qualifi- entscheidungen einsetzen (vgl. ebbelS et al. 2019). kation, da vor dem Hintergrund des Bologna-Dekrets In enger Kooperation mit pädagogischen Fachkräf- vom 19.06.1999 in den meisten Studienstätten eine ten lassen sich durch Kenntnisse über Bedarfe und deutliche Absenkung der fachspezifischen Anteile im veränderte Anforderungen sodann gemeinsame Ent- Lehramtsstudium erfolgte und sprachtherapeutische scheidungen über geeignete Interventionsmassnah- Inhalte nicht mehr in dem erforderlichen Ausmass men (Diagnostik, Beratung, Förderung oder Thera- angeboten werden» (grohnfeldt & lüdtke 2013,118). pie) sowie über vorhandene Zuständigkeiten treffen Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Sprache und damit Ressourcen effektiver nutzen. Schliesslich als einen der Entwicklungsbereiche identifiziert, der könnten gemeinsam wesentliche Herausforderungen nicht nur mit frühem Lernen, sondern auch über die wie mangelndes Fachwissen, Personalmangel sowie gesamte Lebensspanne mit wirtschaftlicher Teilhabe räumliche Barrieren bei der Implementierung und und Gesundheit verbunden ist (vgl. Siddiqi & hertzMan Etablierung von Inklusion ab dem frühen Kindesalter 2007). So bildet nicht mehr ausschliesslich die Ursa- besser bewältigt werden. che, Art und Schwere einer Sprech-, Sprach- und Während in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) Kommunikationsbeeinträchtigung, sondern auch die systemstrukturelle und gesetzliche Vorgaben eine Art und Ausprägung der Beeinträchtigung von Teil- entsprechende Etablierung der Logopädie im Bil- habe die Indikation für den Anspruch auf logopädi- dungssystem noch erschweren, bieten andere Länder, sche Leistungen im Früh-, Vorschul-, Primar- und in denen die Logopädie sowohl im Gesundheits- als Sekundarbereich. Die perspektivische Verbindung auch im Bildungssystem fest verankert ist, geeigne- von Gesundheitsförderung und Inklusion unter Ein- tere Umsetzungsmöglichkeiten. So gehören z. B. im bindung logopädischer Kompetenzen könnte auch für Kanton Zürich auf Grundlage des Volksschulgesetzes mehrsprachig in asymmetrischen Sprachumgebun- neben therapeutischen Interventionen auch fachbe- gen und/oder sozialen Problemlagen mit/ohne SES zogene Interventionen auf den Ebenen Schuleinheit, aufwachsende Kinder zumindest institutionell ein Lehrperson oder Klasse ebenso zum Berufsauftrag Wegstück zur Chancengleichheit ebnen. Literatur albarran, j. W., roSSer, e., bach, S., uhrenfeldt, l., lunderg, P., & biShoP, d., SnoWling, M., thoMPSon, P., greenhalgh, t., & conSortiuM, c. laW, k. (2011): Exploring the development of a cultural care fra- (2016): CATALISE: A multinational and multidisciplinary Delphi mework for European care science. In: International Journal of consensus study. Identifying language impairments in children. Qualitative Studies Health Well-being, 6, 1–11. In: PLoS ONE, 11(7), e0158753. archibald, l. (2017): Working memory and language learning: a biShoP d. v. 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