Lösungsansätze im Forst-Jagd-Konflikt - www.jagdverband.de - Landesjagdverband ...
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Vorwort / Grußwort Liebe Jäger, liebe Waldeigentümer und Waldbewirtschafter, sehr geehrte Damen und Herren! Forstwirtschaft und Jagd stehen in den kommen- den Jahren gemeinsamen vor gewaltigen Heraus- forderungen. Die Schadereignisse der vergange- nen zwei Jahre im Wald haben uns die Anfälligkeit unserer Waldökosysteme vor Augen geführt. In vielen Gegenden Deutschlands wird der Wieder- aufbau von Waldbildern die nächsten Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Dass dabei auch unser Wild im Fokus der Debatten steht, ist natürlich und müsste eigentlich nicht weiter verwundern. Gleichwohl nimmt die Auseinandersetzung gerade in jüngster Zeit erneut an Heftigkeit zu. Man kann sich dabei des Eindrucks nicht erweh- ren, dass einige Vertreter im Wild den geeigneten Sündenbock für allerlei waldbauliche Fehlent- Es kann keinen Zweifel geben: Jäger liefern wicklungen der vergangenen Jahrzehnte finden weiterhin hochwertiges Wildbret und müssen zu- wollen. Nicht das Wild ist das primäre Problem künftig noch mehr Partner der Forstwirtschaft in der Wildschadensdiskussion, vielmehr ist es sein – im Sinne eines modernen und ökosystem- das Handeln des Menschen. Er hat in den vergan- gerechten Waldbaus. Dafür reichen wir den Pro- genen Jahrhunderten die Lebensräume des Wildes tagonisten in der Waldbewirtschaftung über alle in erheblichem Umfang umgestaltet und ihrer Betriebsformen hinweg gerne die Hand. Vielfalt beraubt. Die in Reih und Glied gepflanz- Lösungsansätze für einen gemeinsamen Weg ten forstlichen Reinbestände sind nicht nur wirt- haben wir in unserer Broschüre zum „Forst- und schaftlich zu hinterfragen. Genau genommen Jagdkonflikt“ vorgelegt. Wir laden Sie ein, disku- begab sich die Forstwirtschaft auf den Holzweg tieren Sie mit, denn eines ist sicher: Jagd und – ökonomisch wie ökologisch. Forstwirtschaft in der Kulturlandschaft können Wir Jäger sehen uns als Anwalt des Wildes. zusammen scheitern oder es zusammen besser Wir bringen uns ein, um Fehler der Vergangenheit machen – einen dritten Weg gibt es nicht! zu vermeiden und sehen die aktuellen Schäden als Chance für neue Waldbilder – auch im Sinne des Wildes. Ihr Dr. Dirk-Henner Wellershoff 3
Inhalt 1 Einleitung 5 4 Maßnahmen zur Wildschadensprävention 21 2 Wildschäden 6 4.1 Jagdliche Maßnahmen 21 2.1 Worin liegen die Ursachen der 4.1.1 Intervalljagd 22 Wildschäden? 7 4.1.2 Bewegungsjagden 22 2.2 Ist die Höhe der Schalenwildbestände 4.1.3 Schwerpunktjagd an die Hauptursache? 7 schadensgefährdeten Stellen 23 2.3 Welche Lösungsansätze gibt es? 8 4.1.4 Jagdliche Infrastruktur 23 4.2 Maßnahmen im Wald 24 3 Lebensraumansprüche von Schalenwild 10 4.2.1 Naturverjüngungen 25 3.1 Biologie ausgewählter 4.2.2 Pflanzungen 25 Schalenwildarten 10 4.2.3 Bestandspflege 26 3.1.1 Rehwild 11 4.2.4 Verbissgehölze und Waldränder 27 3.1.2 Rot- und Damwild 12 4.2.5 Feuchtbiotope 28 3.2 Anpassungen an den Winter 12 4.2.6 Forstlicher Wegebau 28 3.3 Tragfähigkeit des Waldes 13 4.2.7 Technischer Forstschutz 28 3.3.1 Äsungsangebot 13 4.3 Gesetze und Förderprogramme Forsten – 3.3.2 Deckungsschutz 15 Blick auf das Wild bei Mehrwerten für Waldbesitzer und Gesellschaft 29 3.3.3 Störung der Raumnutzung des Wildes 15 4.3.1 Aktuelle Förderprogramme des Bundes für Wald und Wild 30 3.3.4 Zerschneidung des Wildlebensraumes 17 4.3.2 Nachsteuerungsbedarf der Förderprogramme und des 3.3.5 Richtwerte für Wilddichten 17 gesetzlichen Rahmens 21 3.3.6 Ermittlung des Wildeinflusses auf die Waldvegetation 19 5 Schlussfolgerungen und 3.4 Wild ist positiv für den Wald 20 Handlungsempfehlungen 32 6 Literaturverzeichnis 34 7 Anhang 36 4
1 Einleitung Mensch und Wildtiere teilen sich insbesondere in der Kul- insbesondere in jüngerer Zeit wie ein Brandbeschleuniger turlandschaft Lebensräume. Ihre Nutzungsansprüche ge- wirkt. Viele Wälder sind zwischenzeitlich in eine Krise ge- stalten das Zusammenleben nicht immer problemfrei. Die raten und in ihrer heutigen Zusammensetzung den Verän- Menschen haben bestimmte Ansprüche an die Lebensräume derungen nicht mehr gewachsen. Insektenkalamitäten und und gestalten diese oftmals in erheblichem Maße um. Brände führen auf erheblichen Flächen zu Waldschäden, In den vergangenen Jahrzehnten haben sich unsere Kultur- nicht selten auch zu einem Totalverlust an Waldlebensräu- landschaften daher enorm verändert. Nach Angaben des Sta- men. Ein Umbau zu klimaresilienten Wäldern ist ein Gebot tistischen Bundesamtes hat sich die Siedlungs- und Ver- der Zeit und gleichzeitig eine Jahrhundertaufgabe, die den kehrsfläche von 1992 bis 2018 durchschnittlich pro Tag um 104 Blick auch auf die Verantwortung für Wildbestände lenkt. Hektar ausgedehnt. Im Jahr 2018 waren 14 Prozent der gesam- Langfristig wird der Umbau einförmiger Nadelwälder zu ten Bodenfläche Deutschlands überbaut (1). Durch Siedlungs- klimaresilienten Wäldern mit dem richtigen Baumarten und Verkehrsflächen werden Lebensräume zerschnitten, Wan- spektrum auch die Wildlebensräume verbessern. Kurzfristig derkorridore unterbrochen und Wildtierpopulationen isoliert. muss bei der Wiederbewaldung, der Verjüngung und dem Insbesondere Tierarten, die große saisonale Wanderungen Umbau der Wälder das Wild als entscheidender Einflussfak- durchführen, wie Rotwild, sind dadurch in ihrem natürlichen tor im Fokus eines ganzheitlichen Managements stehen. Rhythmus stark eingeschränkt. Zunehmende Störungen durch Damit der langfristige Waldumbau gelingt, müssen die Freizeitnutzung in Wald und Feld beeinträchtigen Wildtiere menschlichen Nutzungsansprüche und die Bedürfnisse der ebenfalls in ihrem Raumnutzungsverhalten. Wildtiere an die Kulturlandschaft in Einklang gebracht wer- Die Intensivierung in der Landwirtschaft geht einher mit den. Hier offenbart sich neben den ökonomischen wie öko- Vergrößerung der Bewirtschaftungseinheiten, Verringerung logischen Fragestellungen auch eine ethische Dimension im der Ackerfruchtvielfalt, Anbau energiereicher Pflanzen und Handeln der Zuständigen. Dabei ist es verfehlt, wenn die häufigem Grünlandschnitt. Diese anthropogenen Nutz waldbaulich Zuständigen der alten Sünde des Silvazentris- f lächen sind für spezialisierte Tier- und Pf lanzenarten mus verfallen und vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr keine Lebensräume mehr. Andere Arten wie das Schwarz sehen. Ebenso muss der Jäger als „Anwalt“ des Wildes stets wild können sich anpassen und profitieren sogar von den berücksichtigen, dass seine jagdliche Passion nicht der al- veränderten Umweltbedingungen. leinige Maßstab für den Schutz und die Nutzung der Kultur- Auch die Wälder haben sich durch den Einfluss des Men- landschaft sein darf. Letztlich geht es um die vergleichswei- schen verändert. Viele unserer Wirtschaftswälder sind als se einfache, aber eben doch nicht selbstverständliche Frage, Lebensraum für Wildtiere nur noch bedingt geeignet. Die was das Wild wollen würde, wenn es wollen dürfte (Beyer Vielzahl menschlicher Einflüsse im Offenland und im Wald 2002). Sicher ist, dass es die heute vorzufindenden Wälder verkleinert den für Wildtiere nutzbaren Lebensraum. So oftmals nicht als seinen bevorzugten Lebensraum ansehen zieht sich beispielsweise wiederkäuendes Schalenwild im würde, wobei die intensivierte Agrarlandschaft mindestens Winter aufgrund des Deckungs- und Äsungsmangels im genauso weit vom Ideallebensraum der meisten unserer Offenland notgedrungen in Waldbereiche zurück. Dadurch Wildarten entfernt ist. Der Mensch hat es allerdings in sei- nimmt der Fraßdruck auf junge Bäume im Wald zu. Ebenso ner Hand, neben seinem ökonomischen Anspruch an die widersprechen sich manche Entwicklungen insbesondere in Kulturlandschaft auch seiner Verantwortung als Bewahrer ihren unterschiedlichen Wirkungen. So führen die erheb von Wald und Wild gerecht zu werden. Ziel dieser Informa- lichen Stickstofffrachten in der Kulturlandschaft zu mehr tionsbroschüre ist es, nach Jahren erheblicher Auseinander- Pflanzenmasse und Äsungsangebot, was zu erhöhten Dich- setzungen und sich teils wieder verschärfender Konf likte ten an wiederkäuendem Schalenwild führt. Die Höhe der die Ursachen der „Forst-Jagd-Problematik“ zu identifizieren Wildbestände steht aufgrund dieser anthropogenen Effekte und erste Lösungsansätze aufzuzeigen. Diese erheben kei- meist nicht im Einklang mit der Tragfähigkeit im Wald nen Anspruch auf Vollständigkeit, diese Broschüre versteht lebensraum, wobei die traditionelle Forstwirtschaft diese sich vielmehr als Diskussionsgrundlage zum Einstieg in durch Umgestaltung der Wälder in naturferne Reinbestände einen konstruktiven und lösungsorientierten Dialog zwi- mit wenigen Strauch- und Baumarten noch weiter mini- schen den beteiligten Interessengruppen. Angesprochen miert hat. Dabei entsteht ist eine Art „Teufelskreislauf“. Der sind vor allem Jäger, Waldbesitzer und Förster. Außen vor wirtschaftende Mensch verschleiert seine originäre Urhe- bleiben an dieser Stelle Wildschäden im Offenland, insbe- berschaft gerne durch das Präsentieren eines Sündenbockes sondere auf Äckern und Grünländereien. Diese sind nicht – dem Schäden verursachenden Wild. weniger bedeutend, stellen jedoch ein anderes und sicher- Durch den heute deutlichen spürbaren Klimawandel lich genauso weites Feld in der Debatte um Wild und Kul- kommt seit einigen Jahren ein weiterer Effekt hinzu, der turlandschaft dar. 5
2 Wildschäden Die überwiegende Mehrheit der Wälder in Deutschland gesellschaft zum Ausfall verschiedener Arten führt. sind Wirtschaftswälder. Sie stellen eine natürliche Ökologische Wildschäden lassen sich schwer bewer- Ressource dar, die in vielfältiger Weise vom Menschen ten, da die Schadschwelle einem großen Interpreta genutzt wird. Auch die unter einem Schutzstatus tionsspielraum unterliegt. So ist es beispielsweise in stehenden Wälder sind in Deutschland keine groß großen zusammenhängenden Urwaldgebieten typisch flächigen Urwälder mehr, in denen unbeeinflusste und damit auch natürlich, dass verschiedene Wildar- Wald-Wild-Beziehungen ablaufen. Das gilt selbst für ten einzelne Areale übernutzen und sich damit selbst gesetzlich geschützte Totalreservate ohne jede direkte teilweise ihrer Nahrungsgrundlage berauben. Durch Nutzung. Davon unabhängig sind Wälder aber immer Abwanderungsprozesse regenerieren sich diese Le- Ökosysteme, in denen das Schalenwild mit artspezi bensräume aber recht schnell, sodass bei einer groß- fischen Lebensraumansprüchen ein Bestandteil der flächigen Betrachtung letztlich kein Schaden entsteht. Lebensgemeinschaft ist und damit auch einen natür- Oftmals ist der Einfluss des Wildes sogar als ökolo- lichen Einfluss auf die Waldvegetation ausübt. Dieser gisch wertvoll zu betrachten, da er zum Entstehen von Einfluss des Wildes wird ab einer zu definierenden Störstellen führt. Ökologische Wildschäden entstehen Schwelle als Wildschaden bezeichnet. Dabei wird sys- in der deutschen Kulturlandschaft in der Regel durch tematisch zwischen sogenannten ökologischen und kleinflächige Nutzungseinheiten und sind damit we- ökonomischen Wildschäden unterschieden. Insbeson- niger das Ergebnis der Wildbestände als vielmehr dere in der öffentlichen Diskussion erfolgt meist eine durch die nutzende Tätigkeit des Menschen verur- undifferenzierte Vermengung beider Schadarten. sacht. Gleichwohl sind sie auch im waldbaulichen Kon- text von Relevanz. Unter anderem dann, wenn in der Ökologischer Wildschaden Naturverjüngung ganze Arten ausfallen und damit auch für die Bewirtschaftung nicht mehr zu Verfü- Unter ökologischen Wildschäden im Wald versteht gung stehen. Bei einem solchen Effekt beginnt der man solche, bei denen es zu einer Einflussnahme des Übergang zum ökonomischen Wildschaden. Wildes auf die Waldvegetation in einer Art und Weise kommt, die zu einer Verschiebung oder grundlegenden Ökonomischer Wildschaden Veränderung des Artenspektrums im Waldökosystem führt. Eine der wesentlichen Effekte ist die sogenann- Ein ökonomischer Wildschaden liegt regelmäßig te Entmischung, die entgegen der für die potenziell dann vor, wenn der Einfluss des Schalenwildes zu natürliche Vegetation des Standortes typischen Wald- einer Situation führt, bei der sich eine waldbauliche 6
Zielsetzung auf der Fläche nicht mehr erfüllen lassen 2.1 Worin liegen die Ursachen der oder in erheblichem Maße erschwert werden. Eben- Wildschäden? so stellt sich ein ökonomischer Wildschaden immer dann ein, wenn Investitionen des Waldeigentümers In der Natur gibt es keinen Schaden. Wildschaden in die Verjüngung der Bestände in einem unverhält- entsteht aber, wenn die vom Menschen gesetzten nismäßigen Maß erschwert werden. Am einfachsten Ziele für den Wald durch Wildeinfluss nicht erreicht beurteilbar sind Wildschäden bei der Verjüngung der werden können. Ziele sind ökonomischer Natur, sie Waldbestände durch Pflanzung. Hierbei können die ergeben sich auch aus der Holznutzung und den durch Wildeinfluss (in der Regel Verbiss) geschädig- Wohlfahrtswirkungen des Waldes wie Bodenschutz, ten oder ausfallenden Pflanzen numerisch ermittelt Wasserschutz oder Luftqualität. Nicht jede verbisse- und mit den jeweiligen Pf lanzenkosten bewertet ne Forstpflanze ist ein Schaden, ein gewisses Maß werden. Schwieriger gestaltet sich die Ermitt lung an Wildeinfluss verkraftet der Wald. Zudem entsteht von ökonomischen Wildschäden beim Arb eiten mit nicht jeder Wildeinfluss durch wiederkäuendes Scha- Naturverjüngung. Hierbei müssen geschädigte bzw. lenwild: Studien belegen, dass neben Reh- und Rot- ausfallende Pflanzen in Bezug zur Ert ragskraft des wild auch Arten wie Wildschwein, Eichhörnchen, jeweiligen Standortes bewertet werden. Gleichfalls Feldhase oder Rötelmaus, neuerdings auch Biber, ist beim Entstehen solcher Schäden immer zu be- einen hohen Anteil am Verlust von Forstpflanzen ha- rücksichtigen, dass ein gewisses Maß an Einfluss des ben können [(1), S. 35]. Schalenwildes auf die Waldvegetation als natürlich Nicht die Anzahl der geschädigten Bäume ist ent- zu betrachten ist und auch vom Waldeigentümer im scheidend, sondern ob genug Baumarten in den Ziel- Rahmen der Sozialpflichtigkeit des Eigentums zu ak- bestand wachsen können. Der Waldbesitzer ist gefor zeptieren ist. Eine Flächeneinheit ohne jeglichen dert, dieses waldbauliche Ziel zu Beginn der Wald Wildschaden wäre nur in einem Wald ohne jegliches verjüngung oder Bestandsbegründung zu definieren. Wild zu erreichen: Das ist sowohl ökologisch als auch Natürlich können andere Schadursachen den Wild nach den geltenden Gesetzesgrundlagen des Forst- einfluss überlagern. und Jagdrechtes als nicht legitim einz ustufen. Um Wildschäden zu ermitteln, haben sich in den vergangenen Jahren eine Fülle von verschiedenen 2.2 Ist die Höhe der Schalenwildbestände methodischen Verfahren entwickelt, bei denen mit- die Hauptursache? tels Schätzverfahren, Stichprobenverfahren, Kon trollzaunverfahren oder verschiedenen Kombina Werden Wildschäden an Wirtschaftsbäumen festge- tionsverfahren aus Stichproben und Kontrollzaun stellt, wird pauschal postuliert, dass die Ursache ein Wildschäden messbar gemacht werden. Eine Bewer- überhöhter Wildbestand ist. Diese Schlussfolgerung tung wird jedoch immer erst dann möglich, wenn muss nicht richtig sein, denn für eine objektive Be- der Waldeigentümer eine bestimmte waldbauliche wertung des Schadgeschehens ist nicht nur die Zahl Zielsetzung für die Fläche entwickelt hat, anhand der Tiere, sondern auch die räumliche Verteilung der derer sich die erfassten Schadbilder beurteilen las- Wildart von Bedeutung. Ist das Äsungsangebot auf- sen. Treten Wildschäden auf, wird oft die pauschale grund einer monotonen Waldstruktur eingeschränkt, Forderung nach Erhöhung des Schalenwildabschus- werden die wenigen jungen Bäume verbissen, unab- ses unter der Devise „Wald vor Wild“ laut. Dabei wird hängig davon, wie hoch der Wildbestand ist. meist übersehen, dass die Ursachen für diese Schä- Störungen führen zu Flucht und einem erhöhten den extrem vielfältiger Natur sein können. Zudem Energieverbrauch des Wildes. Nach Störungen kon- muss ein Absenken der Wildbestandsdichte noch zentriert sich das Wild – insbesondere rudelbildende lange nicht zu einem Minimieren der Schäden füh- Arten wie Rotwild – oft in ruhigen Bereichen des ren. Auch das letzte Reh kann in einem Waldgebiet Reviers und verursacht dort entsprechende Schäden. einen erheblichen Wildschaden verursachen, wenn Starker Nutzungsdruck, aber auch die Anwesenheit es in einer naturfernen „Reinbestandswüste“ in die von Großprädatoren, beispielsweise von Wölfen, be- einzige Verjüngungsfläche eindringt. Werden Wild- einflussen das Raumnutzungsverhalten und fördern schäden festgestellt, müssen vielmehr Antworten auf die Rudelbildung (Kuijper et. al. 2013). folgende Fragen gesucht werden: Für eine objektive und lösungsorientierte Beur- teilung müssen Wildbestand und Lebensraum ge- • Worin liegen die Ursachen der Wildschäden? meinsam betrachtet werden. Insbesondere die Fak- toren „Deckung“ und „Nahrung“ spielen eine Schlüs- • Ist die Höhe der Schalenwildbestände die Haupt selrolle. Erhaltung oder Wiederherstellung wichtiger ursache? Habitatstrukturen mit dem Ziel der Lebensraumver- besserung für Wildtiere sind Teil einer nachhaltigen • Welche Lösungsansätze gibt es? Waldbewirtschaftung. 7
2.3 Welche Lösungsansätze gibt es? Es gibt verschiedene Faktoren, die in ihrer Einzelwir- kung oder in Kombination zu Wildschäden führen können. Meist stellen Wildschäden im Wald einen Nutzungskonflikt zwischen den Interessensgruppen Waldbesitzer und Jäger dar. Durch eine Problemana- lyse können die Faktoren identifiziert werden. Das ist eine wesentliche Voraussetzung zur Lösung im Sinne eines modernen Wildtiermanagements. Analyse der Wald-Wild-Problematik Schalenwild nutzt im Wald krautige und holzige Pflanzen als Nahrungsquellen, schafft offene Boden- stellen und wirkt damit auf den Wald ein. Diese Wir- kung im Ökosystem ist zunächst kein Wildschaden, sie kann sogar die biologische Vielfalt im Wald för- dern (vgl. 3.4). Doch manchmal ist es des Guten zu viel, dann wird die Wirkung zum Schaden, weil die waldbaulichen Bestandsziele gefährdet werden. Das Ausmaß von Wildschäden (Verbiss-, Fege- und Schäl schäden) hat verschiedene Ursachen. Der erste Schritt zur Lösungssuche ist eine Analyse der Schadensur sachen. Dazu müssen verschiedene Dimensionen durchdacht werden, wie im folgenden Schema darge- stellt. Fegeschaden an einer jungen Douglasie Schälschaden im Nadelholzbestand Rotbuche mit Verbissschaden 8
Übersicht der Lebensraumansprüche wiederkäuender Paarhufer Fragmentation des Waldes: Wer besitzt das Jagdrecht? • Schaden auch abhängig von • Eigenjagdbesitzer: Bund, der Flächengröße Land, Kommunen, juris- tische und natürliche Verlust von Wintereinstän- Personen den durch Nutzungsänderung • Jagdgenossen in Gemein- schaftsjagdrevieren Lebensraumbewertung: • Äsungsangebot Wie wird es ausgeübt? • Deckung • Eigenbewirtschaftung • Verpachtung bezogen auf bezogen auf Landschaft/ Grund- Wildhabitat besitzer Jagdregime: • Intervalljagd • Schwerpunktjagd Anthropogene Störungen: • revierübergreifende • sporadische Störungen Drückjagd (Durchforstung, bezogen auf Heraus- bezogen auf Geocaching u. a.) Pächter: Jäger/ Stör- • saisonal stärkere Störungen forderungen • Jagdmotiv ≠ Waldverjün- Revier- faktoren (Beeren- , Pilze,- und gung pächter „Wald und Stangensucher, Drückjagden) Wild“ • permanente Störungen Dialog: (Wanderer, Cross- und • 1 x pro Jahr Waldbegang Quadfahrer) • Datenerhebung • Interpretation bezogen auf Störungsqualität: bezogen auf Jäger Wald/Forst- • einschätzbar = erlernbar Wildtiere wirtschaft (Toleranz) • nicht einschätzbar (Flucht- und Vermei- dungsverhalten) Schadensbewertung: • Verbißbelastung • Was bleibt übrig? Aufbau klimaresilienter Wildbiologie: Wälder: • Äsungstyp und -verhalten • Vorbildfunktion Landeswald • Sozialverhalten • Forschungsprogramme Förster • Sicherheitsbedürfnis • Stressvermeidung Waldfunktionen: • Feindvermeidung • Holznutzung • „Klimawald“: CO2-Bindung 9
3 Lebensraumansprüche von Schalenwild Das Verständnis von Ursache und Wirkung von Wild- Menschen) meist schnell und gut lokalisieren. Das schäden im Wald setzt fundierte Kenntnisse über die Reh ist kein ausdauernder Läufer, sondern sucht beteiligten Wildarten voraus. Dabei konzentriert sich möglichst schnell Deckung in Hecken oder Dickun- die Debatte im Inland vorrangig auf fünf Wildarten, gen. Aufgrund seiner weiten Verbreitung und Dichte die jedoch nur noch in wenigen Ausnahmefällen hat das Rehwild den größten Einfluss auf die Wald- gleichzeitig auf derselben Waldfläche vorkommen. dynamik. Auch andere Schalenwildarten beeinflus- Hinzu kommen insbesondere in jüngerer Zeit eine sen den Lebensraum Wald. Für ein zielführendes Reihe von einstmals heimischen (Elch) oder auch Wildtiermanagement sind Kenntnisse der Biologie, exotischen (Muntjak) Wildarten, die immer häufiger von in Deutschland weit verbreiteten, wiederkäuen- Lebensräume in Deutschland erobern. Sie können den Schalenwildarten entscheidend. ebenfalls erhebliche Wildschäden verursachen. Der Die pflanzenfressenden Arten nutzen verschie- Elch ist sogar eine wildschadensspflichtige Tierart, dene Nahrungsnischen. Wald, Offenland und Wild hat aber keine Jagdzeit. Da diese Tierarten teils er- haben sich über lange Zeiträume hinweg aufeinander heblich unterschiedliche Ansprüche an ihre Nah- eingespielt. Diese evolutiv vorgegebenen Lebens rungspflanzen stellen und ein gänzlich unterschied- raumansprüche (vgl. Tab. 1) bilden den Rahmen, den liches Raum-Zeit-Verhalten aufweisen, ist eine dif- die heute vom Menschen stark beeinflussten Land- ferenzierte Betrachtung von Wildtierart, Lebensraum schaften langfristig für Wildtiere bieten müssen. und auftretender Schadsituation unerlässlich. Die biologische Grundeinheit der drei ausgewählten Schalenwildarten bildet die Mutterfamilie (Gynopä- 3.1 Biologie ausgewählter dium). Sie besteht aus dem Muttertier, dem Nach- Schalenwildarten wuchs des letzten Jahres und den Kitzen bzw. Käl- bern des aktuellen Jahres. Dieses Kleinrudel profi- Als Schalenwild werden die dem Jagdrecht unterlie- tiert von den Erfahr ungen und der Fitness des Mut- genden Paarhufer bezeichnet. Mit Ausnahme des tertieres – im positiven sowie im negativen Sinne. Wildschweins sind alle Arten reine Pflanzenfresser Positiv wirken sich die Erfahrung und die Kenntnis und aufgrund der Anatomie ihres Verdauungsappa- des Muttertieres hinsichtlich der besten Nahrungs- rates (4-gliedriger Magen) Wiederkäuer. Diese Flucht- und Ruheplätze sowie einer optimalen Feindvermei- tiere können mit ihren leistungsstarken Sinnen dung aus. Diese überlebenswichtigen Fähigkeiten (Hör-, Geruch- und Sehsinn) Gefahren (Raubtiere, gibt das Muttertier an den Nachwuchs weiter, gefes- 10
Tabelle 1: Übersicht der Lebensraumansprüche wiederkäuender Paarhufer Rehwild Rotwild Damwild bevorzugter Grenzlinienbewohner: halboffene Grünlandflä- Agrarlandschaft mit Lebensraum Übergänge von Feld und chen mit Deckungsberei- lichten Laub- und Wald; lichte unterwuchs- chen (z. B. Gehölzinseln) Mischwäldern reiche Wälder Nahrung/ Konzentratselektierer: Mischtyp: Mischtyp: Äsungstyp Kräuter, Triebe, Knospen, Kräuter, Gras, z. T. Kräuter, z. T. Blätter, Blätter Blätter höherer Grasanteil im Vgl. zu Rotwild 10–12 Äsungsperioden 6–8 Äsungsperioden 6–8 Äsungsperioden pro Tag pro Tag pro Tag Sozialstruktur Rudelbildung nur im Rudelverband; außerhalb häufig Großrudelbildung Winter Brunft, nach Geschlech- tern getrennt Mobilität sehr standorttreu großräumige und Sehr standorttreu; saisonale Wanderungen saisonale Wechsel zwischen Sommer- und Wintereinständen tigt werden sie durch individuelles Lernen. Negative Erfahrungen äußern sich schnell in bestimmten Ver- haltensweisen – das gilt für Jung- und Alttiere glei- chermaßen. So führt das Herausschießen von Jung- tieren aus Mutterfamilien in der Regel dazu, dass die Muttertiere immer vorsichtiger und heimlicher wer- den, um sich dieser Bedrohung zu entziehen. Sie ge- ben diese Strategie insbesondere an ihren weiblichen Nachwuchs weiter (Petrak 2013). Bei einer besender- ten Ricke zeigten Biologen, dass diese nach dem Ab- schuss eines ihrer Kitze diese Fläche mehrere Wo- chen mied (Sandfort 2013). Stellt sich diese Klein- familie dann für längere Zeit in eine Dickung ein, sind meist forstliche Schäden und erschwerte Beja- gung die Folge. 3.1.1 Rehwild Das Reh ist bei seiner Futtersuche sehr wählerisch und stammesgeschichtlich der älteste Wildkäuertyp. Für das Rehwild ist ein ausreichendes Angebot von Kraut- und Strauchschicht entscheidend (Äsung und schnell erreichbare Deckung), es braucht also ein Ricke mit Kitz kleinteilig strukturiertes Revier mit saftigen Pflanzen, deren Faseranteil gering ist. Rehwild ist als einzige Schalenwildart im Sommerhalbjahr relativ streng ter- chendes Deckungsangebot im gesamten Territor ium ritorial, eine Anpassung an die zeitlich und räumlich wichtig. Die Brunft spielt sich im Hochsommer ab – nicht in großen Mengen vorhandenen Nahrungsres- im Gegensatz zu rudelbildenden Arten wie Rot- und sourcen. Da Rehwild nur kurze Strecken schnell lau- Damwild. Im Herbst legen Rehe die für den Winter fend überbrücken kann (Schlüpfertyp), ist ein ausrei- dringend notwendigen Fettdepots an. 11
Rotwildkuh mit Kalb Damhirsch 3.1.2 Rot- und Damwild (Greiser et al. 2020). Die Ausweisung von Rotwild bezirken und das Unterbinden der Wanderungen füh- Rot- und Damwild sind Wiederkäuer des Intermedi- ren zur genetischen Verarmung, die sich stellenweise ärtyps und damit besonders anpassungsfähig an das bereits in anatomischen Anomalien wie Kieferverkür- jahreszeitlich unterschiedliche Nahrungsangebot. Im zung manifestiert hat (Reiner & Willems 2019). Sommer finden beide Wildarten in großf lächigen landwirtschaftlichen Kulturen (z. B. Raps) und auf Grünflächen ein äußerst attraktives Nahrungsange- 3.2 Anpassungen an den Winter bot. Zusätzlich benötigen diese Wiederkäuertypen einen ausgleichenden Faseranteil im Futter für ihr Vor allem im Winter bedeuten Störungen Stress und Verdauungssystem, den ihnen landwirtschaftliche gehen einher mit zusätzlichem Energiebedarf. Beson- Flächen heute aber nicht mehr bieten. Dieser Bedarf ders kritisch für heimische Arten sind kalte Tempe- wird daher meist über Baumrinde gedeckt. Wenn 60- raturen, anhaltende Schneelagen und reduziertes bis 80-jährige Fichten geschält werden, hat dies also Nahrungsangebot von Januar bis zum Frühjahr. So nicht immer mit der Wilddichte zu tun, sondern ist haben beispielsweise Untersuchungen an Rehen er- auch ein Ausdruck stoffwechselbedingter Notsitua- geben, dass Geißen im Dezember noch ihre beste tionen (Petrak 2013b). körperliche Verfassung des gesamten Jahres aufwei- Etwa 4 Wochen nach dem Setzen der Kälber bil- sen. Im Januar lässt diese dann rapide nach (Deipen- det das Rotwild wieder Kahlwildrudel, Damwild lebt brock 1985). fast durchgehend in Rudeln verschiedener Zusam- Wiederkäuendes Schalenwild hat im Laufe seiner mensetzung. In Deutschland leben weltweit die größ- Evolution „Energiesparprogramme“ entwickelt. Dabei ten Damwildvorkommen. Als Äsungs- und Einstands- wirkt die unterschiedliche Dauer des Tageslichts als gebiete bevorzugt Damwild landwirtschaftliche Flä- Taktgeber. Ab Mitte Dezember setzt der Sparmodus chen in Waldnähe (Greiser et al. 2020). ein: Die Nahrungsaufnahme geht deutlich zurück, Das Nahrungsangebot entscheidet über die Größe nachdem im Sommer und Herbst bei guter Äsung der Rudel beider Arten. Fehlt im genutzten Gebiet wichtige Feistreserven (Fettspeicherung) angelegt Nahrung, zieht das Rudel weiter. Über viele Tierge- worden sind. Beim Rehwild ist die Aktivität zur Win- nerationen genutzte Wechsel und Einstände werden tersonnenwende um 30 bis 40 Prozent reduziert tradiert und müssen in der Landnutzung des Men- (Hofmann 2011). Zeitgleich kommt es zu einem sig- schen berücksichtigt werden (Anlage von Grün nifikanten Umbau des Verdauungstraktes, der etwa brücken und Wildkorridoren). zwei bis drei Wochen dauert. Dabei wird die innere Das Rotwild war ursprünglich am Tage aktiv und Oberfläche des Pansens um etwa ein Drittel redu- lebte im Offenland. Es reagiert auf Störungen sehr sen- ziert. Dieser Energiesparmechanismus im Winter ist sibel und hat sich zunehmend in Waldbereiche zurück- universell – von den Alpen bis zur Ostsee. gezogen. Diese Situation kann dort zu Wildschäden Es gilt, den Wärmeverlust zu reduzieren: Der führen. Hinzu kommt, dass sich die in vielen Bundes- Energieverbrauch für eine normale Körpertempera- ländern per Verordnung ausgewiesenen Rotwildge- tur von 37 Grad Celsius ist immens. Das lufthaltige biete im Wesentlichen auf Waldgebiete beschränken Winterhaar leistet hier einen erheblichen Beitrag. 12
Durch Einschränkung der Bewegung lässt sich eben- fordert in §1 BJagdG einen den „landschaftlichen und falls Energie einsparen. Beispielsweise befindet sich landeskulturellen Verhältnissen angepassten arten- das Rehwild im Winter auf „Sparflamme“ und setzt reichen und gesunden Wildbestand“ sowie die „Pflege seine Aktivität um die Hälfte herab. Dies ist nötig, und Sicherung seiner Lebensgrundlagen“. Daraus da Rehe nur geringe Feistreserven für die kritische folgt, dass Wildtiere und Lebensräume nicht getrennt Phase des ausgehenden Winters haben. Zudem hat voneinander beurteilt werden können. Um sich der das Reh seine intensive und energiezehrende Brunft Tragfähigkeit und den Möglichkeiten der Lebens- in den Sommer vorverlegt und versetzt die Embryo- raumgestaltung zu nähern, ist eine Lebensraumbe- nen in ihrem Frühstadium in eine bis Ende Dezember wertung für Schalenwild sinnvoll. andauernde Keimruhe (Diapause). In Anlehnung an die „Wildökologische Lebens- Rotwild besitzt weitere Möglichkeiten, Energie- raumbewertung für die Bewirtschaftung des wieder- verlust zu minimieren – ähnlich denen von Arten, käuenden Schalenwilds im nordostdeutschen Tief- die Winterschlaf halten. Durch eine saisonal verrin- land“ (Hofmann, Pommer, Jenssen 2008), ergeben gerte Durchblutung sinkt die Temperatur der Extre- sich folgende Kriterien für die Bewertung des Wild- mitäten zeitweise auf bis zu 15 Grad Celsius. Die Zahl lebensraumes im Wald: der Herzschläge wird phasenweise um die Hälfte reduziert. Der Energieverbrauch kann beim Rotwild • Äsungsangebot damit um bis zu 60 Prozent herabgesetzt werden • Deckungsschutz (Arnold et al. 2004). • Störung der Raumnutzung des Wildes Umso katastrophaler wirken sich Störungen im • Zerschneidung des Wildlebensraumes Einstand (Aufmüden) oder gar Bejagung mit Hunden im Spätwinter aus. Der Energieverbrauch steigt da- 3.3.1 Äsungsangebot durch um bis zu 30 Prozent. Das verringert die Re- serven empfindlich, Schäden an Bäumen werden Das Nahrungsangebot und die Möglichkeit, dieses wahrscheinl icher. ungestört nutzen zu können, sind maßgeblich für die Verteilung von Wildtieren im Raum. Beides beein- flusst somit die Entstehung von Wildschäden. Nach 3.3 Tragfähigkeit des Waldes Hofmann et al. (2008) wird die Lebensraumkapazität für Schalenwildpopulationen über die Menge der Wälder unterscheiden sich erheblich in der Tragfä- Winteräsung bestimmt, die genutzt werden kann, higkeit für das Schalenwild. Artenreiche Auwälder ohne den Wald in seinem Bestand zu beeinträchtigen, mit üppigem Unterholz weisen eine hohe Tragfähig- bestimmt Bewertungsgrundlage ist das Blatt- und keit auf, tannenreiche Wälder im Gebirge eine gerin- Sprossa ngebot von Sträuchern und Bäumen bis in gere und dunkle Fichtenforste stehen am unteren eine Höhe von 1,80 Metern. Ende der Skala. Für die Beurteilung der Lebensraumqualität müs- Die Tragfähigkeit von Waldtypen hängt ab von sen die für die vorkommenden Wildarten ungestört der Produktivität (Standort und Bodentyp), von ihrer zugänglichen Landschaftsbereiche zugrunde gelegt Struktur oder ihrer Zerschneidung. Der Gesetzgeber werden. Der Richtwert für den Nahrungsbedarf im Nadelbaum-Lichtwald mit wenig Äsung Lichtwald (Mischbestand) mit viel Äsung 13
Zeitraum von Oktober bis April beträgt für eine dorn (Crataegus spec.), Holunder (Sambucus nigra). Schalenwildeinheit 840 Kilogramm Trockensubstanz Hinzu kommen junge Laubbäume, etwa Faulbaum (TS) Pf lanzenmaterial pro Hektar. Eine Schalen- (Frangula alnus), Traubenkirsche (Padus avium), wildeinheit mit 100 Kilogramm Körpermasse wird Esche (Fraxinus excelsior), Ahorn (Acer spec.). Dar- definiert durch: ein Stück Rotwild oder zwei Stück über hinaus kann Schalenwild bei nicht geschlos Damwild oder vier Stück Rehwild. sener Schneedecke Gräser, Kräuter und Flechten Außerhalb der Vegetationsperiode (Oktober bis (weiche Äsung) aufnehmen. Eicheln, Bucheckern, April) ist das Nahrungsangebot eingeschränkt, weil Rosskastanien bieten zusätzliche Nahrung. Ausrei- frische Pflanzengrünmasse fehlt. Es besteht über- chende Äsung im Wald ist ein entscheidender Faktor wiegend aus zäher Äsung: bei Rotwild 30 Prozent, zur Vermeidung von Wildschäden. bei Rehwild 60 bis 80 Prozent (Hofmann, Pommer, Wird Wild an der Äsung gehindert, sucht es in an- Jenssen 2008). Diese zähe Äsung liefern winterkahle deren Bereichen nach Nahrung. Dann kann es sogar und wintergrüne Sträucher, etwa Heidelbeere (Vac- bei geringer Wilddichte zu einer Konzentration von cinium myrtillus), Himbeere (Rubus idaeus), Weiß- Verbiss an Forstpflanzen kommen. Grundsätzlich kann Tabelle 2: Durchschnittlicher Äsungsvorrat von Oktober bis April in verschiedenen Waldhabitaten des norddeutschen Tieflands (Hofmann, Pommer, Jenssen 2008) Waldtyp durchschnittliches Äsungsangebot (Oktober bis April) TS/ha Nadelbaum - Lichtwald • mit wenig Blatt- und Sprossäsung 15 kg • mit viel Blatt- und Sprossäsung 88 kg Weichlaubholz - Lichtwald • mit wenig Blatt- und Sprossäsung 15 kg • mit viel Blatt- und Sprossäsung 88 kg Erlen - Halbschattwald • mit wenig Blatt- und Sprossäsung 25 kg • mit viel Blatt- und Sprossäsung 88 kg Edellaubholz - Halbschattwald • mit viel Blatt- und Sprossäsung 88 kg Roteichen - Halbschattwald 15 kg Hainbuchen - Halbschattwald • mit wenig Blatt- und Sprossäsung 38 kg • mit viel Blatt- und Sprossäsung 88 kg Nadelbaum - Schattwald • mit wenig Blatt- und Sprossäsung 3 kg • mit mäßiger Blatt- und Sprossäsung 63 kg Nadelbaum - Laubbaum - Schattwald 3 kg Laubbaum - Dichtwald 38 kg Nadelbaum - Dichtwald 75 kg Laubbaum - Niedrigdichtwald 38 kg Nadelbaum - Niedrigdichtwald 112 kg 14
Waldwiese bietet Schalenwild natürliche Äsung. Nicht gemähte Altgrasstreifen sorgen für unterschiedliches Kleinklima und erhöhen damit die Artenvielfalt (z. B. Insekten, Reptilien). Wildacker mit vielfältiger Pflanzenmischung durch lagegünstige und gepf legte Äsungs- oder 3.3.2 Deckungsschutz Prossholzflächen Wildschaden vermieden oder wenigs- tens minimiert werden. Daher gilt es, bei Anlage von Wälder sind in ihrem Bewuchs nicht homogen struk- Äsungsflächen (Waldwiesen und Wildäcker) Abstand turiert und bieten lokal unterschiedlichen Deckungs- zu Störungsquellen zu halten und diese so zu gestalten, schutz. Dieser ist abhängig vom Vorhandensein einer dass sie auch tagsüber vom Wild aufgesucht werden. Strauchschicht, dem natürlichen Verjüngungspoten- Mit Waldwiesen, Wildäckern und Verbissgehölzen zial des Waldes sowie forstlichen Maßnahmen (Holz kann das Äsungsangebot im Wald gesteigert und entnahme, Aufforstung). Auch witterungsbedingte Wildschäden vorgebeugt werden. So bietet ein Wild Schadereignisse wie Windwurf oder Schädlingsbefall acker mit einer Mischung aus Feldfutterpflanzen mit der Bäume (Borkenkäfer, Blattfraß durch Raupen etc.) gras- und kleebetonten Anteilen einen durchschnitt- können die Deckungsmöglichkeiten für Schalenwild lichen jährlichen Biomasseertrag von ca. 8–12 Tonnen im Einstand verändern. Bei der Einschätzung des Trockenm asse pro Hektar (König et al. 2020). Deckungsgrades im Wald bleiben Äsungsf lächen Nadelbaum-Schattwald mit wenig Äsung Rotbuchen-Halbschattwald mit wenig Äsung 15
(Offenf lächen mit wenig Deckungsschutz) im Be- son den Hochsitz aufsucht und geht nach kurzer Zeit stand unberücksichtigt, da hier das Kriterium „Nah- wieder zur Tagesordnung über. Erfahrene Mutter rungsangebot“ Priorität hat. tiere von Rot- und Rehwild können sogar lernen, Abhängig vom Waldtyp und dem Entwicklungs- einen Hochsitz auf die Anwesenheit eines Jägers zu stadium des Waldes besitzt der Lebensraum mehr überprüfen – sie haben ihn mit einer Bedrohung ver- oder weniger Deckungsschutz. Beispielsweise bietet knüpft. das Dickungsstadium wesentlich mehr Deckung für Je nach Dauer und Intensität haben Störungen das Wild als ein Buchenhallenwald oder Fichtenalt- Auswirkungen auf den tages- und jahreszeitlichen bestand. Biorhythmus der Tiere und können den Äsungsrhyth- Der vorhandene Deckungsschutz definiert sich mus empfindlich stören. Jede Schalenwildart hat über die Sichttiefe innerhalb eines Bereichs von 100 innerhalb von 24 Stunden eine gewisse Anzahl an Metern, in der Objekte in Menschengröße klar er- Äsungsperioden (vgl. Tab. 1) und benötigt gemäß der kennbar sind: artspezifischen Physiologie entsprechende Mengen und Qualität an Pflanzennahrung. • Stufe 0 – keine Deckung bis auf etwa 100 Meter Wird Schalenwild längere Zeit der ungestörte Zu- gut einsehbar tritt zu seinen Äsungsflächen verwehrt, kann dies • Stufe 1 – geringe Deckung, Sichtschutz ab einer zu Verbiss- oder Schälschäden im Einstand führen. Entfernung von 65 bis 95 Meter Insbesondere im Winter ist nur begrenzt Äsung vor- • Stufe 2 – mittlere Deckung, Sichtschutz ab einer handen, was bei dauerhafter Störung und mangeln- Entfernung von 35 bis 65 Meter dem Deckungsschutz zu einer deutlichen Reduktion • Stufe 3 – hohe Deckung, Sichtschutz ab einer des nutzbaren Äsungsvorrates führt. Zusätzlich be- Entfernung von 5 bis 35 Meter dingt Stressbelastung beim Wild Energieverlust, damit einhergehend einen gesteigerten Nahrungs Der Lebensraum Wald muss dem Wild Rückzugsräu- bedarf. Dies ist besonders während der nahrungsar- me bieten. Deckungsschutz ist während der Auf- men Zeit problematisch. Nach Arnold (2013) kann bei zuchtzeit der Jungtiere und besonders in der vegeta- gleicher Verbissbelastung ein um 30 Prozent höherer tionsarmen Zeit wichtig. Im Winter sucht das Wild Bestand geduldet werden, wenn Rotwild sein Ener- vermehrt deckungsreiche Areale im Wald auf, wie giesparsystem anwenden kann. Brombeerdickichte oder Strauchgruppen. Bei wald- Ein ungestörter Zugang zu geeigneten Äsungs baulichen Maßnahmen sollten diese nach Möglichkeit flächen und deckungsreichen Arealen im Wald er- erhalten bleiben. höht die Qualität des Wildlebensraumes und mini- miert das Risiko von Wildschäden. Die gezielte Len- 3.3.3 Störung der Raumnutzung des Wildes kung von Erholungsuchenden ist ein zentrales Mittel, um störungsarme Wildtierlebensräume zu schaffen. Menschliche Aktivitäten beeinträchtigen Wildtiere Die Bejagung des Schalenwildes ist an der Bio in ihrem natürlichen Verhalten. Insbesondere in der logie der Wildtiere auszurichten, damit sie effektiv Nähe von Ballungsräumen nehmen Störungen zu, und störungsarm ausgeübt werden kann (vgl. 4.1). etwa durch Hundebesitzer, Spaziergänger und Sport Zur Vorbeugung von Wildschäden ist die Lebens- ausübende. Stressreaktionen darauf können sicht- raumqualität des zu begutachtenden Reviers dahin- bar sein: Wildtiere flüchten, was besonders im Win- gehend zu prüfen und gegebenenfalls mit entspre- ter viel Energie kostet. Es kann auch zu Stressre- chenden Maßnahmen zu verbessern. akt ionen kommen, wenn das Tier äußerlich ruhig bleibt. In Untersuchungen am Rehwild konnte bei- spielsweise eine Erhöhung der Herzfrequenz um mehr als 250 Schläge pro Minute verzeichnet werden (Reimoser 2013). Allgemein zeigte sich, dass optische Bezogen auf ihre zeitliche Dimension lassen Reize zu stärkeren Reaktionen führten als akusti- sich diese Störungen in drei Klassen differen- sche und olfaktorische. Besonders ungünstig wirken zieren: sich Störungen mit räumlich und zeitlich unregel- mäßiger Frequenz aus – sie sind für Wildtiere schwer 1. Sporadische Störungen (z. B. Durchforstung, einsc h ätzba r. Zudem rea g ieren r u hende Tiere Fotografen, Geocaching, streunende Hunde) schwäc her auf Einf lüsse als aktive Tiere. Es gibt auch Artunterschiede: Rotwild hat ein besonders 2. Saisonal stärkere Störungen (z. B. Beeren- , hohes Sicherheitsbedürfnis und reagiert bei Störun- Pilze- und Stangensucher) gen anders als Rehwild. Wissenschaftler fanden heraus, dass Rotwild eine Person auf dem Weg zum 3. Permanente Störungen (z. B. Wanderer, Jogger, Hochsitz so lange beobachtet, bis sie diesen wieder Cross- und Quadfahrer) verlässt. Rehwild hingegen sichert nur, wenn die Per- 16
Grünbrücken verbinden Lebensräume und ermöglichen Wildtieren Wanderungen 3.3.4 Zerschneidung des Wildlebensraumes der vernetzen. Dazu müssen Wildtiere sie ungestört nutzen können. Zerschneidung und Zersplitterung von Lebensräumen Zur Verinselung von Lebensräumen kommt der sind problematisch im Offenland und im Wald. reale Verlust hinzu. Auen- und Tieflandwäldern bei- Strukturen wie Straßen, Bahntrassen, verbaute Was- spielsweise dienten dem Rot wild als Winterein serläufe stören die natürliche Dynamik von Wildtier standsgebiete. Heute sind sie vom Menschen zersie- populationen. Beispielsweise können stark frequentierte delt oder landwirtschaftlich genutzt. Diese Situation Straßen Schalenwild daran hindern, Wasserstellen, erhöht den Äsungsdruck in den bestehenden Wäl- Äsungsflächen und Ruhezonen aufzusuchen. Zudem dern. Ein Grund mehr, deren Qualität zu optimieren, stellen Straßen eine Gefahrenquelle für Mensch und um Wildschäden zu vermeiden. Tier dar. Sie verursachen mitunter große Verluste Entscheidend für eine Verbesserung der Lebens- in Wildtierpopulationen und nicht zuletzt Verkehrs raumqualität (z. B. Wildäcker, Prossholzanlage) ist unfälle mit Sach- bzw. Personenschäden [(2), S. 35]. der geeignete Standort. Die attraktivste Äsungs Bestandsverluste sind besonders negativ, wenn fläche wird entwertet oder durch Wildunfälle zur der genetische Austausch mit Nachbarpopulationen ökolog ischen Falle, wenn eine stark befahrene Straße erschwert ist. Amtliche Rotwildgebiete gehen einher oder Bahntrasse in unmittelbarer Nähe verläuft. mit dem konsequenten Abschuss von Tieren außer- halb dieser Areale. Dieses Vorgehen unterbindet 3.3.5 Richtwerte für Wilddichten das natürliche Wanderverhalten und führt zur ge netischen Verarmung der isolierten Populationen Schalenwild lebt nicht nur im Wald, sondern nutzt (Reiner & Willems 2019). Auch Zäunungen entlang auch das umgebende Offenland als Lebensraum. Da- von Autobahnen stören die Wanderbewegungen und her beeinflusst die Lebensraumqualität dort auch das den genetischen Austausch zwischen Teilpopula Wildschadensgeschehen im Wald. Ausgeräumte tionen. Grünbrücken können hier Lebensräume wie- Landschaften mit wenigen Feldfrüchten und intensiv 17
genutzten Wiesen bieten kaum Deckung und Nah- Der geschätzte Wildbestand ist heute eine Infor- rung, was den angrenzenden Wald dann umso at- mationsgröße für Bejagungsstrategien im Komplex traktiver macht. Besonders in der nahrungsarmen von Wildbestand und Wildschadenshöhe. Eine halb- Winterperiode hält sich Schalenwild vermehrt im wegs verlässliche Gesamtbeurteilung und Steuerung Wald auf. Die Lebensraumqualität im Wald ist ent- des Bestandes unter waldbaulichen Zielsetzungen scheidend für die Menge an Schalenwild, die der lässt sich nur dann vornehmen, wenn neben der ge- Wald verkraften kann, ohne dass es zu Wildschäden schätzten Höhe des Wildbestandes auch eine Beur- kommt. teilung der konkreten Wildschadensituation mit da Die in Petrak (2019) angegeben Werte pro 100 für geeigneten Verfahren vorgenommen wird. Hektar verstehen sich als Richtwerte (vgl. Tab. 3). Tabelle 3: Richtwerte für tragbare Schalenwilddichten in Wäldern unterschiedlicher Lebensraumqualität Schalenwildart Habitatqualität auf den vom Richtwerte Wild genutzten Flächen1 Wilddichte pro 100 ha Rehwild gering 4–12 Stück mittel 7–18 Stück gut 10–24 Stück Rotwild gering 1,5 Stück mittel 2,5 Stück gut 3–4 Stück bei optimaler großräumiger Abstimmung von Hege und Bejagung 4–6 Stück Damwild gering 3 Stück mittel 6 Stück gut 10 Stück 1 Waldfläche, vom Wald umschlossene Wiesen- und Ackerflächen und 50 % der Feld-/Wiesenflächen außerhalb des Waldes, die vom Wild regelmäßig aufgesucht werden. Wildbestandsdichten im Wald lassen sich in der Die Wilddichte muss nicht grundsätzlich über forstlichen und jagdlichen Praxis nur mit großen Un- einen langen Zeitraum auf einem einheitlichen Ni- genauigkeiten und einem vergleichsweise hohen veau gehalten werden. Vielmehr kann ein solcher Aufwand bestimmen. Verschiedene Untersuchungen Ansatz sogar Wildschäden provozieren. Wenn sich der vergangenen Jahre zeigen, „dass sich wildleben- Forstreviere beispielsweise nach Jahrzehnten des de, nicht individuell durch künstliche Marken mar- naturfernen Waldbaus in einer Umgestaltungsphase kierte Rehe nun einmal nicht einfach zählen lassen, befinden, kann der Wildbestand für einen bestimm- sondern mit zeitraubenden Methoden höchstens ten Zeitraum auf ein niedriges Maß abgesenkt wer- einigermaßen geschätzt werden können“ (Kurt 1991). den. Das erleichtert den Waldumbau und beschleu- Wie ungenau diese Schätzungen sind, zeigen eine nigt ihn erheblich. Sobald Gehölzvegetation, Kraut- Reihe verschiedener Untersuchungen. Nach vorheri- und Strauchschicht der Bestände in Biomasse und gen Bestandsschätzungen unter kontrollierbaren Artenanzahl zugenommen haben, kann ein höherer Bedingungen wurde auf kleinflächigen Inseln ein Wildbestand toleriert werden. Das kann auch ökolo- Totalabschuss des Rehwildes vorgenommen. In der gisch sinnvoll sein. Regel lagen die tatsächlichen Bestandszahlen bei Eine Reihe von Beispielen zeigt, dass mehr Natur- Versuchen dieser Art über dem Doppelten des ge- nähe in Forstrevieren dazu führt, dass Schalenwild schätzten Rehwildbestandes (Andersen 1953). Glei- nicht mehr gegen die Verjüngungsdynamik der Be- ches gilt selbst für Gatter auf kleinsten Flächen, bei stände ankommt. Dies ist dann der eigentlich ge- denen ebenfalls der Bestand deutlich über der Hälf- wünschte Zustand, bei dem „die Beute den Räuber“ te des über Sichtbeobachtungen geschätzten Reh- regelt, sprich die Verfügbarkeit an Äsungspflanzen wildbestandes lag (Ellenberg 1974). den Wildbestand bestimmt. Ein ausgewogener, auf 18
eher hohem Niveau befindlicher Wildbestand lässt Weisergatter: Die ermittelten Schadbilder müssen sich dann mit entsprechenden jagdlichen Maßnah- interpretiert und mit den waldbaulichen Zielen des men sinnvoll bewirtschaften bei annähernd keinen Waldeigentümers abgeglichen werden. In der Vergan- Wildschäden. genheit wurden solche Verfahren oftmals genutzt, um eigentlich bereits längst gewünschte Einfluss- 3.3.6 Ermittlung des Wildeinflusses auf nahmen auf Wildbestände im Nachgang zu legitimie- die Waldvegetation ren. Mit Verbissprozenten an Terminal- oder Seiten- trieben verschiedener Baumarten lassen sich alle In den vergangenen Jahrzehnten haben sich verschie- möglichen Schlussfolgerungen ziehen. Entscheidend dene Verfahren zur Ermittlung des Einflusses des ist: Bereits vor der Aufnahme muss der Forstbetrieb Schalenwildes auf die Waldvegetation etabliert. Ob klare Zielsetzungen für den Waldbau definieren, die Schätz- oder Zählverfahren, Transektaufnahme oder anschließend überprüft werden. Wesentlich für die Ermittlung des Schalenwild einflusses auf die Waldvegetation ist, dass die betei- ligten Interessensgruppen vor Ort das jeweils ange- wandte Verfahren anerkennen. Schadensdaten haben nur dann einen Nutzen, wenn diese in einem offenen und ehrlichen Dialog gemeinsam bewertet werden. Es hat sich insbesondere bewährt, dass forstlicher Weisergatter im Wald sind eine Methode um den Verjüngungs- Bewirtschafter und Jagdausübungsberechtigter Wild- zustand und den Wildeinfluss zu ermitteln. schäden gemeinsam erheben. Aus den Erkenntnissen Foto oben links: Hainbuchengattter, Ausgangssituation 1998, Foto oben rechts: Verjüngungssituation 2003, Foto unten: lassen sich dann anerkannte Maßnahmen ableiten Verjüngungssituation 2009 und umsetzen. 19
3.4 Wild ist positiv für den Wald Moosarten sind auf Kot des Schalenwildes angewie- sen. Insbesondere an Ruheplätzen des Wildes sam- In der Naturverjüngung von Waldbeständen keimen melt sich Kot an und verstärkt dort den Nährstoff- grundsätzlich immer mehr Pflanzen als für den Er- gehalt des Bodens. Dies befördert eine andere Pflan- halt des Waldes langfristig nötig sind. Ein Großteil zenentwicklung und führt zur Erhöhung der Struk- der Jungbäume unterliegt der natürlichen Sterblich- turvielfalt. Die Kadaver von Schalenwild werden von keit bedingt durch Witterungseinflüsse wie Licht- aasfressenden Käfern, Vögeln und Säugetieren als mangel und Trockenheit, aber auch durch Konkur- Nahrungsquelle genutzt. Knochen und Geweihe bie- renz, Insekten- und Pilzbefall. Ein Teil des Verlustes ten Substrat für Flechten und Moose. wird durch die Fraßtätigkeit von Wildtieren wie Die dargelegten Beispiele zeigen eindrücklich die Hase, Mäuse und Scha lenw i ld ver ursacht. Der strukturfördernde Rolle des Schalenwildes und ma- Wildeinfluss auf die Waldvegetation ist Teil der na- chen es zu einem wichtigen Bestandteil im Ökosys- türlichen Dynamik im Ökosystem Wald. tem Wald. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass sich der Einfluss von großen Pflanzenfressern sowohl auf die Vegetation als auch auf die Fauna positiv auswirken kann (Kinser, Frhr. v. Münchhausen 2017). Durch Ver- biss nimmt die Lichtverfügbarkeit am Boden zu, da- von profitieren Hochstauden, Farne, Moose und Ge- hölzkeimlinge. Einerseits werden konkurrenzstarke Arten zurückgedrängt, was schwächeren Arten im Wachstum hilft. Anderseits fördert das unterschied- liche Äsungsverhalten des Schalenwildes die Struk- turvielfalt. Das ist die Basis für Artenvielfalt in der Vegetation. Durch Abfressen des Unterwuchses schafft Rot- wild geeignete Lebensräume für wärmeliebende und von Blühpflanzen abhängige Insekten. Vom Damwild werden ebenfalls mosaikartige und offene Struktu- ren geschaffen, von denen viele Vogel- und Insekten- arten profitieren. So entstehen durch starken wie- derholten Verbiss buschige Gehölze – Brutplätze für Gebüschbrüter wie Zaunkönig und Rotkehlchen. Aus Suhlen von Schwarz- und Rotwild entstehen Kleinstgewässer, die Amphibien, etwa der gefährde- ten Gelbbauchunke, zur Jungenaufzucht dienen. Sie sind auch lebenswichtige Bruthabitate für Insekten wie Libellen. So verhindert die Wühltätigkeit des Schalenwildes die Verlandung von kleinen Stehge- wässern in einem Hochmoor in Mecklenburg-Vor- pommern und erhält den Lebensraum für die vom Aussterben bedrohte Hochmoor-Mosaikjungfer. Plätzstellen und Staubbäder schaffen offene Boden- stellen, die ein Saatbett für Rohbodenkeimer und attraktive Lebensräume für wärmeliebende Lauf käfer bieten. Schalenwild hilft Pflanzen entscheidend, sich zu verbreiten, indem es über Kot, zwischen Hufen oder im Fell anhaftende Samen, Früchte oder Sporen trans- portiert. Wissenschaftler stellten fest, dass Huftiere auf diese Weise bis zu 44 Prozent der vorhandenen Pflanzenarten verbreiten können und damit für Viel- falt im Ökosystem Wald sorgen. Erhalt und Verbrei- tung autochthoner Pflanzenarten sind wichtig für die Biodiversität. Abfallprodukte wie Aas und Kot schaffen Nah- rungs- und Lebensräume für weitere Arten des Waldökosystems. Verschiedene Insekten-, Pilz- und 20
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