Macht im stationären Setting - opus4.kobv.de

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Macht im stationären Setting - opus4.kobv.de
Hochschule für angewandte Wissenschaften Landshut
Fakultät Soziale Arbeit
Wintersemester 2020/2021
Gutachterin: Prof. Dr. phil. Mechthild Wolff

                                  Bachelorarbeit

                       Macht im stationären Setting
       Präventive Ansätze zur Vermeidung von Autoritätsmacht

Vorgelegt von:
Karolin Bromig
Matrikel-Nummer: 1088925
Studiengang: Soziale Arbeit Kinder- und Jugendhilfe (BA)
Fachsemester: 7
s-kbromi@haw-landshut.de
Abgabedatum: 22.02.2021
Macht im stationären Setting - opus4.kobv.de
Abstract
In der vorliegenden Bachelorarbeit wird Macht im stationären Setting behandelt. Hier-
für wird die Fragestellung behandelt, wie die Sonderform der Autoritätsmacht präventiv
verhindert werden kann. Zu diesem Zweck werden essentielle Begriffe bestimmt, die
historische Entwicklung des stationären Settings erläutert sowie Machtquellen und de-
ren Bezug zu Autoritätsmacht behandelt. Zuletzt werden Ansätze für ein präventives
Vorgehen gegen Autoritätsmacht für Fachkräfte und Klienten*innen erarbeitet.
Das Ziel der Arbeit liegt darin, den Beteiligten einer Hilfebeziehung Methoden an die
Hand zu geben, die das Entstehen von Autoritätsmacht verhindern sollen. In Bezug
auf die Fachkraft wird deshalb auf die Bedeutung von organisatorischen Rahmenbe-
dingungen, Hierarchieabbau am Beispiel von Holokratrie und durch Reflexion erreichte
Machtsensibilität eingegangen. Die Kinder- und Jugendzentrierten Ansätze sind zum
einen das Wissen über die eigenen Rechte, zum anderen durch Empowerment und
Partizipation erreichte Beteiligung am Hilfeverlauf.

Key-Words: Macht, Autorität, Autoritätsmacht, stationäres Setting, Machtmissbrauch,
Machtasymmetrie, Holokratrie, Reflexion, Machtsensibilität, Empowerment, Partizipa-
tion
Macht im stationären Setting - opus4.kobv.de
Abkürzungen
BGB: Bürgerliches Gesetzbuch
BPB: Bundeszentrale für politische Bildung
DBSH: Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit
NSV: Nationalsozialistische Volkswohlfahrt
SGB: Sozialgesetzbuch
UN: United Nations
UNICEF: United Nations Children´s Emergency Fun
VN: Vereinte Nationen
Macht im stationären Setting - opus4.kobv.de
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen                                                                 3

Vorwort                                                                     6

Einleitung                                                                  7

1.     Kontextbestimmung                                                    9

     1.1 Macht                                                              9
       1.1.1 Macht nach Max Weber                                           9
       1.1.2 Macht nach Peter Imbusch                                      10
       1.1.3 Macht nach Wolfgang Sofsky und Rainer Paris                   11
       1.1.4 Fazit Macht                                                   12

     1.2 Autorität                                                         12
       1.2.1 Autorität nach Peter Imbusch                                  13
       1.2.2 Autorität nach Wolfgang Sofsky und Rainer Paris               13
       1.2.3 Fazit Autorität                                               14

     1.3 Autoritätsmacht                                                   15
       1.3.1 Umschreibungen in Fachliteratur                               15
       1.3.2 Definition Autoritätsmacht und Bezug auf die Soziale Arbeit   16

2.     Standards der Sozialen Arbeit                                       18

3.     Das Stationäre Setting                                              19

     3.1 Geschichtliche Entwicklung                                        21

     3.2 Das stationäre Setting seit 2010                                  23

4.     Autoritätsmacht als Ursprung anderer Machtquellen                   24

     4.1 Legitimität von Macht in der Erziehung                            25

     4.2 Machtquellen im stationären Setting                               26
       4.2.1 Abhängigkeit                                                  26
       4.2.3 Körperliche Überlegenheit und die Anwendung von Gewalt        33

     4.3 Autoritätsmacht als übergreifendes Phänomen                       35

     Exkurs: Totale Institution                                            36
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5.     Präventive Ansätze zur Vermeidung von Autoritätsmacht                     38

     5.1 Prävention in Verantwortung von Fachkräften und Organisationen          38
       5.1.1 Die Bedeutung organisatorischer Rahmenbedingungen                   38
       5.1.2 Abbau von hierarchischen Strukturen in der sozialarbeiterischen
       Hilfebeziehung                                                            39
       5.1.3. Machtsensibilität durch Reflexion                                  40

     5.2   Kind- und jugendzentrierte Präventionsansätze                         43
       5.2.1 Wissen über Rechte                                                  43
       5.2.2 Beteiligung von Klienten*innen am Hilfeverlauf zur Vermeidung von
       Hierarchien und Machtasymmetrie                                           46

     5.3 Verknüpfung der Klienten*innen- und Fachkraftbezogenen Präventionsansätze
                                                                                 51

6.     Fazit                                                                     53

Quellenverzeichnis                                                               55

     Literaturquellen                                                            55

     Internetquellen                                                             58

Abbildungsverzeichnis                                                            60

Ehrenwörtliche Erklärung                                                         61

Bibliothekserklärung                                                             62
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Vorwort
 „Es ist nicht genug zu wissen, man muß auch anwenden; es ist nicht genug zu wol-
               len, man muß auch tun“ (Johann Wolfgang von Goethe)

An dieser Stelle möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die mich beim Verfas-
sen dieser Arbeit unterstützt haben.

Zunächst gebührt mein Dank Frau Prof. Dr. Wolff, die mich während des Schreibpro-
zesses betreut hat. Für die Überlassung des Themas, sowie die zahlreichen Hilfestel-
lungen und Anregungen bin ich Ihnen außerordentlich verbunden. Vor allem aber
danke ich ihr für ihre stürmische Leidenschaft mit der sie sich seit Jahren für den Kin-
derschutz einsetzt. Jede Interaktion hat mich tief berührt und inspiriert.

Auch danke ich Frau Dr. Misamer für ihr Vertrauen, ihr Interesse und ihren interessan-
ten Artikel, den sie mir für diese Arbeit hat zukommen lassen.

Des Weiteren danke ich meinen Freunden, für eure immerwährende Unterstützung,
eure Anregungen und besonders die sehr wichtigen Ablenkungen. Ihr bereichert mein
Leben täglich und macht es bunt, erfrischend und froh.

Mein tiefster Dank gebührt meiner Familie. Ihr habt mir das Studium ermöglicht, mich
bei jedem Schritt endlos unterstützt. Ihr seid der sichere Hafen, an den ich immer zu-
rückkehren kann.

Diese Arbeit ist unter sehr unvorhersehbaren, unsicheren und in jeglicher Hinsicht an-
deren Umständen entstanden als ich erwartet hätte. Ohne all die besonderen Men-
schen in meinem Leben hätte ich es nicht geschafft. Diese Arbeit und alles was sie
repräsentiert ist zu großem Teil euer Verdienst, deshalb bedanke ich mich bei euch
allen von ganzem Herzen.

Karolin Bromig

Freising, 01.02.2021
Einleitung
Als ich in der achten Klasse war, bekam ich einen der gefürchtetsten Lehrer der ge-
samten Schule in Latein. Er war riesig, mit dunklen Rändern unter den Augen, jedoch
war er nicht nur körperlich einschüchternd, er verübte auf seine Schüler*innen auch,
was ich heute als psychische Gewalt klassifizieren würde. Er warf Tische um, schmiss
Stühle aus dem Fenster und schlug mit dem Zeigestock auf sein Pult, sodass es oh-
renbetäubend laut knallte. Auch hatte er eine große Abneigung gegenüber den Eltern
seiner Schüler*innen, die er öffentlich und häufig kundtat. Jegliche Kritik von Seiten
der Eltern bezüglich seiner pädagogischen Methoden hatte für die Schüler*innen ne-
gative Folgen. Meine Angst vor ihm war so groß, dass ich in jeder seiner Schulstunden
die Hand meiner Freundin halten musste, um nicht in Tränen auszubrechen. Später
erfuhr ich, dass dieser Lehrer in seiner Kindheit und Jugend das Internat der Regens-
burger Domspatzen besucht hatte. Diese Erkenntnis half mir im Nachhinein sein Ver-
halten und seine Ansichten besser deuten zu können.
Bei den Regensburger Domspatzen wurden von 1949 bis 1999 insgesamt 547 Schüler
mit hoher Plausibilität körperlich und auch sexuell misshandelt (vgl. Weber/Baumeister
2017: S. 20f.). Die Frage wie diese Taten jahrzehntelang unbemerkt stattfinden konn-
ten wird im Untersuchungsbericht von Ulrich Weber und Johannes Baumeister intensiv
bearbeitet. Die Begründungen, die im Bericht erläutert werden, sind mannigfaltig. Ein
ausschlaggebender Punkt ist dabei jedoch, dass der Direktor der Vorschule als aus-
führendes Organ die komplette Verantwortung über Organisation, Personal und Finan-
zen hatte und somit absolute Macht über den gesamten Schulbetrieb. Hierdurch er-
reichte er, dass seine eigene gewalttätige Vorstellung von Pädagogik von all seinen
Mitarbeitern übernommen werden musste (vgl. Weber/Baumeister 2017: S. 95 ff.).
Seine Machtposition befähigte ihn außerdem die Schule, sowie auch ihre Schüler von
der Außenwelt abzuschotten und die interne, wie auch externe Kommunikation wei-
testgehend zu unterbinden (vgl. Weber/Baumeister 2017: S. 278). Zusätzlich war der
Direktor - wie auch die anderen Angestellten der Schule - durch ihren Status als Geist-
liche vor Spekulationen weitestgehend geschützt (vgl. Weber/Baumeister 2017: S.
336).

Diese Erkenntnisse regten eine Selbstreflexion bei mir an. Bald werde ich als Sozial-
arbeiterin in einer ähnlichen Position wie die Geistlichen der Regensburger

                                                                                     7
Domspatzen sein. Jedoch will ich im Gegensatz zu ihnen auf keinen Fall meinen pä-
dagogischen Auftrag hintergehen und meinen Status als Sozialarbeiterin als Macht-
quelle missbrauchen.
Deshalb behandelt diese Arbeit anhand von wissenschaftlicher Literatur in erster Linie
Macht im stationären Setting. Ein besonderer Fokus liegt hierbei auf der Sonderform
der Autoritätsmacht und wie präventiv gegen diese vorgegangen werden kann. Diese
Arbeit ist von ihrer Entstehungszeit gezeichnet. Aufgrund der Corona-Pandemie ist sie
in vielerlei Hinsicht unter unvorhergesehenen und unvorhersehbaren Bedingungen
entstanden, die die Literatursuche zeitweise stark eingeschränkt hat. Bezüglich der
Themengebieten Macht und Autorität gibt es eine große Zahl und Bandbreite an Lite-
ratur. Insbesondere auch in Bezug auf das stationäre Setting, da die hierunter fallen-
den familienergänzenden oder -ersetzenden Maßnahmen einen besonders engen
Umgang mit den Klienten*innen fordert und damit prädestiniert für ungleiche Macht-
verhältnisse sind. Der Begriff Autoritätsmacht ist jedoch nicht in der Fachliteratur auf-
zufinden. Er wird anhand von bestehenden Erwähnungen in relevanten Texten speziell
für den Zweck dieser Arbeit entwickelt und definiert.
Zunächst werden im ersten Kapitel die Begriffe Macht, Autorität und Autoritätsmacht
anhand von verschiedenen etablierten Definitionen diskutiert und bestimmt. Das
zweite Kapitel beschäftigt sich mit den Standards der Sozialen Arbeit und warum diese
mit Machtmissbrauch unvereinbar sind. Im dritten Kapitel wird sowohl die historische
Entwicklung als auch die aktuelle Situation des stationären Settings behandelt, um ein
Verständnis darüber zu erlangen, warum gerade hier ungleiche Machtverteilung und
strikte Hierarchien so prävalent sind. Im darauffolgenden Kapitel werden verschiedene
Machtquellen erläutert, über die Sozialarbeiter*innen in Einrichtungen der vollstationä-
ren Betreuung verfügen. Anschließend wird aufgezeigt, dass die Autoritätsmacht als
Ursprung für jede andere Form des Machmissbrauchs dient. Außerdem erfolgt ein Ex-
kurs zum Thema der „totalen Institutionen“. Diese dienen insbesondere als Negativ-
beispiel für das stationäre Setting, aber im Allgemeinen auch den Missbrauch von
Macht durch Fachkräfte. Im letzten Kapitel wird schließlich erarbeitet, wie präventiv
gegen Autoritätsmacht und das damit einhergehende Machtgefälle in professionellen
Beziehungen vorgegangen werden kann. Die hierfür aufgeführten Ansätze beziehen
sich zum einen auf Fachkräfte und zum anderen auf Klienten*innen1.

1
    In der gesamten Arbeit wird der sogenannte Gender-Star, also das Symbol „*“ verwendet. Es soll
repräsentativ für alle Geschlechter stehen.

                                                                                                8
1. Kontextbestimmung
Bevor man nun über Macht im stationären Setting sprechen und präventive Ansätze
zur Vermeidung von Autoritätsmacht entwickelt kann, müssen zunächst einige Fach-
begriffe erklärt und erläutert werden. Im Folgenden werden deshalb die Begriffe Macht,
Autorität und Autoritätsmacht diskutiert.
Macht und Autorität beschreiben „komplexe soziale Beziehungsgeflechte“ (Imbusch
2018: S. 281). Sie können eigene Phänomenbereiche bilden, aber gleichzeitig auch
miteinander verbunden sein. Widersprüchlichkeiten bei der Deutung der Begriffe ha-
ben verschiedene Hintergründe. Zum einen unterschiedliche theoretische Traditionen
in der Sozialwissenschaft, zum anderen verschiedene grundlegende ideologische Po-
sitionen und Menschenbilder. Außerdem sind immer die Lebenswelt und -erfahrungen
eines jeden Individuums entscheidend. Individuen haben verschiedene Bezüge zu den
Begriffen und damit zusammenhängend unterschiedliche Deutungsmuster (vgl. Im-
busch 2018: S. 281 f.).

1.1 Macht
Wie bereits erwähnt ist Macht ein Phänomen, das unterschiedliche Auslegungen hat.
Dies liegt an persönlichen Erfahrungen und der Sozialisation einer Person. An sich ist
Macht jedoch weder etwas Positives noch etwas Negatives. Als soziales Phänomen
ist sie stets im Wandel und damit unterschiedlich definierbar (vgl. Grimm 2015: S. 18).
Deshalb werden in diesem Kapitel drei verschiedene einschlägige Definitionen von
Macht diskutiert.

1.1.1 Macht nach Max Weber
Der 1864 geborene Jurist, Volkswirtschaftler und Gesellschaftstheoretiker Max Weber
gilt als Begründer der Soziologie (vgl. Sukale 2002: S. 87). Aufgrund dessen beziehen
sich viele seither entstandenen Definitionen von soziologischen Begriffen auf die von
Weber. Er definiert Macht in seinem Grundwerk zu Wirtschaft und Gesellschaft als
„[…] jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen
Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (1984: S. 89).
Somit sieht er Macht als soziologisch amorph, denn alle Qualitäten und Situationen
können eine Person befähigen, den eigenen Willen durchzusetzen (vgl. 1984: S. 89).
Durch diese Beschreibung von Macht setzt Weber sie in Verbindung mit seiner Defini-
tion von Kampf, denn er bezeichnet diesen als „[…] das Handeln an der Absicht der

                                                                                     9
Durchsetzung des eigenen Willens gegen Widerstand des oder der Partner […]“ (1984:
S. 65).
Weber hat folglich eine negativ geprägte, in gewisser Weise gewalttätige Vorstellung
von Macht und wie man sie erlangt. Denn den eigenen Willen durchzusetzen ist nur
durch Konflikt und einen Machtkampf (gegen Personen, die Widerstand leisten) zu
erreichen. Diese Tatsache macht jedoch offensichtlich, dass Macht keine Persönlich-
keitseigenschaft ist, da sie nur in einer sozialen Interaktion mit mindestens einer an-
deren Person entstehen kann.

1.1.2 Macht nach Peter Imbusch
Imbusch orientiert seine Machtdefinition stark an der von Weber. Er beschreibt, dass
Macht „[…] ganz kategorial darauf zurückzuführen ist, was ein Mensch ‚vermag‘ und
wie er dieses Vermögen zum Einsatz bringen kann“ (2018: S. 283). Das Vermögen ist
seine Version von Webers Willensdurchsetzung, jedoch geht Imbusch mehr auf den
gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang ein. Auch er definiert Macht als einen Be-
griff, der soziales Verhalten beschreibt, folglich kann sie nur in sozialen Verbindungen
zwischen mehreren Menschen existieren. Jedoch führt er diesen Gedanken weiter und
beschreibt, dass Macht dadurch ein dynamisches Phänomen ist, das sich je nach den
asymmetrischen und wechselseitigen Beziehungen zwischen Personen, Gruppen und
Institutionen verändert. Die daraus entstehenden Machtverhältnisse sind ein Grund-
phänomen menschlicher Gesellschaften.
Außerdem unterteilt er Macht - so wie auch Elias - in verschiedene, zusammenhän-
gende Dimensionen: eine Person erlangt Macht über sogenannte Machtquellen. Diese
können körperliche Überlegenheit, ein bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal oder das
Verfügen über Ressourcen sein. Über Machtquellen bekommt man dann Zugang zu
Machtmitteln wie unter anderem Amts-, Funktions- oder Sachautorität und damit ein-
hergehend Sanktionsmöglichkeiten. Machtmittel sind praktisch Trümpfe in Machtspie-
len, die bei Streit angewendet werden, um Opposition zu leisten oder zu brechen. Je
nach dem über welche Machtquellen ein Mensch verfügt und wie er/sie Machtmittel
einsetzt, legt die spezifische Form der Machausübung fest. Diese reicht von einfacher
Einflussnahme über Einsetzen einer persönlichen oder sachbezogenen Autorität bis
hin zu Kontrolle, Zwang und Gewaltanwendung (vgl. Elias 1970: S. 96 ff.; Imbusch
2018: S. 283).

                                                                                     10
Wie im Anfangstexts des Kapitels bereits angesprochen, ist die individuelle Sichtweise
auf und die Einschätzung von Macht stark von den (politischen) Erfahrungen und der
Lebenswelt einer Person abhängig. Deshalb liegen negative und skeptische Bewer-
tungen von Macht, die sie als hierarchisierend ansehen, vor allem in machtschwachen
Gruppen vor. Dem gegenüber bezeichnen sich tatsächliche Machthaber oft als macht-
los und spielen ihren eigenen Einfluss herunter (vgl. Imbusch 2018: S. 287). Die Vor-
stellungen und Einschätzungen von Macht sind individuell unterschiedlich. So sehen
manche Macht als konstruktiv an, als etwas reglementiertes, das einem besseren kol-
lektiven Zusammenleben dienen soll. Andere hingegen sehen Macht als etwas De-
struktives und Willkürliches das Zwang, Kampf und Konflikt nach sich zieht (vgl. Im-
busch 2018: S. 281).
Durch Imbuschs Weiterentwicklung des Machtbegriffs lässt sich schließen, dass Wi-
dersprüchlichkeiten in der Deutung des Machtbegriffs sozialen Ungleichheiten ge-
schuldet sind. Da Macht auf Ressourcen basiert und diese in der Gesellschaft un-
gleich verteilt sind, resultieren ungleiche Chancen der Interessendurchsetzung, was
wiederum die Handlungsmöglichkeiten einer Person beeinflusst.

1.1.3 Macht nach Wolfgang Sofsky und Rainer Paris
Sofsky und Paris Definition bildet eine Art Konsens aus Imbusch und Weber. Auch sie
beschreiben Macht als ein gesellschaftliches und damit einhergehend soziales Phä-
nomen. Sie versetzt mächtige Person in die Position seinen/ihren Mitmenschen den
eigenen Willen aufzuzwingen und damit deren Tun verändern zu können. Macht ist an
eine gesellschaftliche Struktur und zwischenmenschliches Verhalten gebunden, denn
wie Sofsky und Paris erklären:
  „Solange Menschen handeln und nicht zu Marionetten fremder Mächte verküm-
  mern, überschreiten sie sich selbst und stoßen dabei immerzu auf andere, die
  sich ihnen entgegenstellen können. Eine Gesellschaft ohne Macht wäre eine Ge-
  sellschaft von Jasagern. Wer sie abschaffen wollte, müßte [sic] alle der Fähigkeit
  berauben, Nein sagen zu können. Denn das Handeln des einen endet am Wider-
  stand des anderen […]. Macht ist Freiheit zur Vernichtung von Freiheit“ (1991:
  Seite 9).
Macht erweitert die Freiheit einer Person, indem sie die Freiheit einer anderen zurück-
weist. Jedoch wird durch Macht die Freiheit von Personen nicht nur begrenzt, sondern
auch geschützt. Denn soziale Interaktion bildet bestimmte Verhältnisse und dauerhafte

                                                                                       11
Struktur aus, in die sich jedes Mitglied einer Gesellschaft einzuordnen hat. Diese Ein-
ordnung entscheidet darüber, wem welche Stellung zugewiesen wird und damit ein-
hergehend, wer wie viel Macht hat. Hierdurch wird wiederum festgelegt welches Han-
deln akzeptiert bzw. abgelehnt wird. Es wird eine Art Regelapparat geschaffen und
bestimmte Trümpfe werden vergeben (vgl. Sofsky/Paris 1991: S. 9 f.). Im Gegensatz
zu Imbusch und Weber beleuchten Sofsky und Paris also die strukturierende Funktion,
die Macht auf eine Gesellschaft hat. Durch die Bildung einer Hierarchie beruhend auf
der Verteilung von Macht werden Verhaltensregeln festgelegt.

1.1.4 Fazit Macht
Zusammenfassend ist Macht also ein soziales Phänomen, das nur in Interaktion zwi-
schen mehreren Personen entstehen kann. Grundgedanke ist die Durchsetzung des
eigenen Willens, auch gegen Widerstand. Machtquellen entscheiden darüber, welche
Mittel einer Person zur Machtausübung zur Verfügung stehen und damit wo der-/die-
jenige sich in der dauerhaften hierarchischen Struktur der Gesellschaft befindet.
Da Machtquellen jedoch auf zumeist ungleich verteilten Ressourcen basieren, entsteht
und festigt sich soziale Ungleichheit, denn nur eine ausgewählte Gruppe entscheidet
über den Regelapparat des Zusammenlebens.

1.2 Autorität
Autorität findet ihren Ursprung und ihre Prägung im Lateinischen. So bezeichnet das
Wort auctoritas eine charismatische Macht, die vor allem Staatsmännern zugeschrie-
ben wurde. Besonders geprägt wurde der Begriff von Kaiser Augustus, der seine zu-
nächst mit Gewalt erworbenen Machtbefugnisse pro forma an offizielle Verfassungs-
organe abgab, jedoch im Hintergrund weiterhin mit totaler Macht regierte (vgl. Endru-
weit et al. 2014: S. 43). Der Ursprungsbegriff beschreibt „[…] die anerkannte Fähigkeit
einer Person, einer Gesellschaft oder einer Einrichtung auf andere einzuwirken, um
sie einem bestimmten Ziel näherzubringen“ (Böhm/Seichert 2018: S. 52). Der Begriff
meint also eine Wirkungskraft, die ohne Zwangsgewalt auskommt (vgl. Popitz 1992:
S. 109). Im Allgemeinen genießt Autorität eine positive Assoziation und wird von 79%
der deutschen Bevölkerung als notwendig angesehen (vgl. Endruweit et al. 2014: S.
44). Trotz dieser großteiligen Übereinstimmung in Sichtweisen, werden dennoch die
Quellen von Autorität verschieden bewertet. Diese werden deshalb im nächsten Teil
erläutert.

                                                                                    12
1.2.1 Autorität nach Peter Imbusch
Autorität ist zwar überall vorzufinden, widerspricht jedoch dem Gleichheitsideal inner-
halb einer Gesellschaft. Wie bei dem Begriff Macht gibt es auch auf Autorität individu-
elle Sichtweisen: Während manche sie als fraglose Anerkennung ansehen, bewerten
andere sie als Autoritarismus (vgl. 2018: S. 281), also die politische Einstellung, die
autoritäre, anti-demokratische, -liberale, -pluralistische und -individualistische politi-
sche Strukturen vorweist2. Autorität kann in unterschiedlicher Beziehung zu Macht ste-
hen, denn während man Macht und Autorität verbinden kann, weist nicht jeder Macht-
haber/jede Machthaberin Autorität auf (vgl. 2018: S. 281 f.). Autorität bestimmt in erster
Linie darüber, wie viel Einfluss eine Person, Gruppe oder Institution mit spezifischen
Kompetenzen oder allgemeiner Überlegenheit auf andere Personen hat. Dieser Auto-
ritätsanspruch basiert dabei auf einer Folgebereitschaft, die durch ein bestimmtes Le-
gitimationsverständnis, Tradition oder Glauben erreicht wird. Aufgrund dessen kann
Autorität auch wieder zerfallen, entweder in einem schleichenden Prozess oder einem
abrupten Sturz (vgl. 2018: S. 284 ff.). Imbusch stellt in seiner Begriffsbeschreibung
klar, dass Autorität legitimiert sein muss, weshalb die Sichtweisen der Menschen weit
auseinandergehen können. Legitimationsgründe sieht er im Glauben oder in Tradition.

1.2.2 Autorität nach Wolfgang Sofsky und Rainer Paris
Genauso wie Macht ist auch Autorität fest in gesellschaftlichen Strukturen verankert.
Diese beiden Phänomene hängen in vielen Fällen zusammen. Zwar wird nicht jedem
Machthaber/jeder Machthaberin Autorität zugeschrieben, jedoch ist Autorität eine „[…]
anerkannte, geachtete Macht, die zugleich bewundert und gefürchtet wird“ (1991: S.
19). So ist also eine hierarchische Rangordnung lediglich ein Gerüst für Machtbezie-
hungen. Wie stark und elastisch dieses Gerüst jedoch ist, hängt davon ab, wie viel
Autorität ein Machthaber/eine Machthaberin hat (vgl. 1991: S. 20).
Autorität basiert auf Anerkennung von fremder Überlegenheit, sie wird also von ande-
ren zugeschrieben. Aufgrund dessen verfügt eine Autoritätsperson grundsätzlich über
Gehorsamkeitsbereitschaft. Dieser freiwillige Autoritätsglaube macht Personen fügiger
als lediglich Sanktionsmacht (vgl. 1991: S. 20 f.), denn eine „Autoritätsbeziehung un-
terliegen einer besonderen Dynamik, die die Chancen im Machtspiel neu ordnet, die
Trümpfe umverteilt und die Relevanzen der Beteiligten verschiebt“ (1991: S. 20).

2
 https://www.verfassungsschutz.bayern.de/rechtsextremismus/definition/ideologie/autoritarismus/in-
dex.html (o. S.)

                                                                                                 13
Zum einen legitimiert sie Machtausübung, denn das Handeln der als überlegen ange-
sehenen Autoritätsperson wird fraglos akzeptiert, somit erzeugt Autorität Legitimität.
Zum anderen versetzt sie Autoritätspersonen in die Lage, Ränge zu verteilen und eine
Gruppenmoral festzulegen. Dadurch bekommt sie eine Ordnungsfunktion. Diese er-
laubt der Autoritätsperson in sozialen Beziehungen, Gruppe und Organisationen in der
Über- oder Unterordnung über das Verhältnis von Personen zueinander zu bestimmen
(vgl. 1991: S. 21 ff.).

Sofsky und Paris formulieren ebenso wie Imbusch, dass es verschiedene Wahrneh-
mungen und Einschätzungen von Autorität gibt. Auch bei ihrer Definition beschreiben
sie, dass Autorität über den Einfluss einer Person in einer Hierarchie bestimmt. Jedoch
liegt der Legitimationsgrund für Autorität in Überlegenheit, die von den Mitmenschen
als solche erkannt wird. Hierdurch wird eine besondere Beziehungsform gebildet, in
der sich Personen selbst als klar unterlegen ansehen. Dieser Aspekt der Selbstein-
schätzung und daraus resultierenden starren Hierarchien spielt bei der Autoritäts-
macht eine große Rolle. Dem stimmt Popitz zu. Auch er beschreibt, dass Personen
jemanden Autorität zuschreiben, den sie als überlegen sehen und eifern dieser Person
deshalb nach. Die dabei entstehende Autoritätsbindung ist dadurch eine soziale Be-
ziehung, die für Machtausübung besonders veranlagt ist. Die Autoritätsperson miss-
braucht das Anerkennungsbedürfnis, um Macht zu erlangen und so das Verhalten und
Denken anderer zu steuern (vgl. Popitz 1992: S. 114 f.; 129 ff.).

1.2.3 Fazit Autorität
Macht und Autorität sind soziale, in Interaktionen entstehende Phänomene. Durch
selbst eingeschätzte Über- und Unterordnung entsteht Folgebereitschaft und damit
eine Autoritätsbeziehung. Dies hat zwei Folgen, die für Machtausübung besonders
bedeutend sind: einerseits wird sie durch Autorität charismatisch und zwangsfrei. An-
dererseits wird Macht legitimiert, denn das Handeln der Autoritätsperson wird aufgrund
dessen übergeordneter Position nicht angezweifelt. So kann durch Autorität eine ge-
sellschaftliche Ordnung in Form einer Hierarchie etabliert werden. Während eine sol-
che Rangordnung ein Gerüst für Machtausübungen bildet, bestimmt die Autorität dar-
über, wie viel Einfluss eine Person innerhalb dieser Ordnung hat.

                                                                                    14
1.3 Autoritätsmacht
Der Begriff Autoritätsmacht wird in der Fachliteratur lediglich umschrieben, obwohl er
einen unglaublich einschlägigen und allumfassenden Aspekt einer Hilfebeziehung be-
schreibt. Zum Zweck dieser Arbeit wird deswegen ein Konsens aus verschiedenen
Beschreibungen gebildet, um eine eindeutige Begriffserklärung zu definieren.

1.3.1 Umschreibungen in Fachliteratur
Wie auch Sofsky und Paris beschreibt Popitz, dass eine Person einer anderen auf-
grund der eigenen Unterlegenheit Autorität über sich gibt. Die Autoritätsperson ist
überlegen, da sie im Vergleich mehr Ressourcen hat und damit also ein höheres Sein
gegenüber der anderen Person. Dieser Fakt hat unter anderem zwei Folgen, die für
die Erklärung von Autoritätsmacht essentiell sind: Auf der einen Seite ist Autoritätszu-
schreibung dadurch institutionalisiert. Sie ist an eine gesellschaftliche Stellung gebun-
den und somit strukturell vorentschieden (vgl. Popitz 1992: S. 110 ff.). Auf der anderen
Seite streben die Menschen aufgrund der Zuschreibung von Überlegenheit nach der
Anerkennung durch Autoritäten (vgl. Popitz 1992: S. 114 f.). Deshalb ist die dabei ent-
stehende Autoritätsbindung eine soziale Beziehung, die für Machtausübung beson-
ders veranlagt ist. Die Autoritätsperson kann dieses Anerkennungsbedürfnis miss-
brauchen, um Macht zu erlangen und so das Verhalten und Denken Anderer zu steu-
ern (vgl. Popitz 1992: S. 129 ff.). Diese Einschätzung wird auch von König geteilt, denn
er beschreibt, dass ein zentrales Merkmal einer Profession wie der Soziale Arbeit eine
Klientelbeziehung ist, bei der der Klient/die Klientin dem Experten/der Expertin gegen-
über in eine Laienrolle fällt (vgl. 2007: S. 35 f.).
Es sind noch weitere Umschreibungen in der Fachliteratur zu finden. Auf Grundlage
einer Studie von 1959 beschrieben French und Raven in ihrer Machtbasen-Theorie
sechs Ressourcen, die als Machtgrundlage dienen. Für die Erklärung der Autoritäts-
macht sind zwei dieser Ressourcen von besonders großer Bedeutung: Zum einen die
Macht durch Legitimation, in der Originaltheorie als „legitimate power“ bezeichnet.
Hierbei haben Machthaber*innen aufgrund ihrer Position die Möglichkeit von anderen
Personen etwas zu erwarten oder verlangen, dem diese dann nachkommen muss. Der
Machthaber/die Machthaberin ist hierbei die Person, die eine hierarchisch höhere Po-
sition einnimmt als ihr Gegenüber (vgl. Sandner 1993: S. 18 f.). Zum anderen spielt für
die Autoritätsmacht noch eine weitere Ressource eine Rolle, die Macht durch Sach-
kenntnisse, auch „expert power“ genannt. Hierbei ist die Grundlage von Macht das

                                                                                      15
Verfügen über Wissen oder Fähigkeiten. Einer Person wird also Überlegenheit zuge-
schrieben. Hierdurch wird eine Person bemächtigt das Handeln anderer zum eigenen
Vorteil zu steuern und nutzen und kann die eigene Machtbasis auch auf Bereiche aus-
weiten, in der sie kein Fachwissen hat (vgl. Sandner 1993: S. 19 f.). Autoritäts- und
damit Machtquellen sind folglich nicht nur Persönlichkeitseigenschaften, sondern sie
begründen sich auch durch gesellschaftliche Ämter und Positionen (vgl. Endruweit et
al. 2014: S. 44).

1.3.2 Definition Autoritätsmacht und Bezug auf die Soziale Arbeit
Autoritätsmacht ist also eine Sonderform von Macht, bei der ungleiche Machtverhält-
nisse entstehen, weil eine Person eine bestimmte Position innehält, der Autorität und
damit Überlegenheit zugeschrieben wird. Hieraus kann Macht geschöpft, legitimiert
und in hierarchischen Strukturen gefestigt werden.
Die durch Autorität erworbene Überlegenheit basiert also auf einem beruflichen Status,
die durch Macht erworbene Überlegenheit auf einem Mehr an Ressourcen. Der Begriff
Status kann mehrere Bedeutungen haben: entweder eine (hierarchische) Positionsbe-
stimmung einer Person oder Gruppe in der Gesellschaft oder in einem Sozialsystem.
Der Begriff wird als Synonym für soziale Positionen in der Rollentheorie verwendet.
Statusunterschiede werden empirisch oft auf einer Skala aufgeteilt. Entscheidende
Faktoren für die Verordnung einer Person auf dieser Skala sind die Bereiche Bildung,
Einkommen und Einfluss. Diese Skalierung hat einen direkten Bezug zum Wirtschafts-
system, denn Berufe, bei denen Eingangsvoraussetzungen und Erträge hoch sind
werden mit einem hohen Statuswert versehen und umgekehrt. Mehr Status gleicht
heruntergebrochen also mehr Ressourcen. Deshalb kann die Statusskala zur Mes-
sung von sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft dienen (vgl. Pollak 2018: S. 433 f.).

 Position                           Autorität                       Machtposition

     •Ressourcen                        •Überlegenheit                  •Legitimation
      (Fachwissen)                       des                             und Festigung
     •Beruflicher                        Sozialarbeiters/                hierarchischer
      Status                             der                             Strukturen
                                         Sozialarbeiterin

                    Abb. 1: Zusammensetzung und Entstehung von Autoritätsmacht

                                                                                          16
In Bezug auf Sozialarbeiter*innen bildet sich die Autoritätsmacht also zum einen aus
seinem/ihrem Status als solcher und zum anderen über das Fachwissen, über das
er/sie verfügt. Hierdurch entsteht bei Klienten*innen das Gefühl der Autoritätsperson
nicht das Wasser reichen zu können, was die Machtposition weiter verfestigt und zur
Ausbildung dauerhafter Strukturen führt. Popitz beschreibt den daraus resultierenden
Machtvorgang folgendermaßen: „Institutionalisierung von Macht gehört zu den funda-
mentalen Prozessen der ‚Verfestigung‘, ‚Festlegung‘, ‚Feststellung‘ sozialer Beziehun-
gen und damit zu den Prozessen, die für die Verfaßtheit [sic] menschlichen Zusam-
menlebens, so wie wir es kennen, konstitutiv sind“ (1992: S. 234).
Sozialarbeiter*innen nehmen aufgrund von Autoritätsmacht durch ihre professionelle
Stellung also automatisch gegenüber dem Klientel eine Machtposition ein.
Worin genau liegt nun aber die Autorität der Profession, die Sozialarbeiter*innen dazu
befähigt Macht und insbesondere Autoritätsmacht zu erlangen und auszuüben? Das
Grundgesetzt legt in Artikel 6 Absatz 2 fest „Pflege und Erziehung der Kinder sind das
natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“. Jedoch
schreibt der selbe Artikel vor, dass der Staat ein sogenanntes Wächteramt innehält
und damit darüber wacht, dass Eltern ihren Rechten und Pflichten nachkommen. Ist
dies nicht der Fall muss der Staat intervenieren. Um diese Aufgabe zu gewährleisten
obliegt die Sicherstellung des Kinderschutzes unter anderem der Kinder- und Jugend-
hilfe3. Die Personen, die diesem Auftrag nachkommen haben damit bestimmte gesetz-
lich verankerte Pflichten. So kann ein Sozialarbeiter/eine Sozialarbeiterin im Jugend-
amt als insofern erfahrene Fachkraft auf der rechtlichen Grundlage von § 42 Sozialge-
setzbuch (SGB) VIII eine potentielle Kindeswohlgefährdung nach §1666 Bürgerliches
Gesetzbuch (BGB) einschätzen und falls nötig eine Inobhutnahme nach §8a SGB VIII
in die Wege leiten. Zwar zeigt dieses Beispiel den absoluten Extremfall, jedoch wird
ersichtlich, dass Sozialarbeiter*innen einen gewissen Grad an Entscheidungsmacht
innehalten. Auf diese wird in Punkt 4.2.1.3 der Arbeit noch genauer eingegangen. Je-
doch wird an dem Beispiel ersichtlich, dass Entscheidungsmacht einen übergeordne-
ten Status suggeriert, von dem die Profession Autorität und damit Macht und Autori-
tätsmacht beziehen kann. Es entsteht ein Machtgefälle zwischen dem Sozialarbei-
ter/der Sozialarbeiterin und dem Klient/der Klientin, dass ein partnerschaftliches Arbei-
ten auf Augenhöhe unmöglich macht. Jedoch geht dies - wie im nächsten Kapitel er-
klärt wird - gegen sozialarbeiterische Standards.

3
    https://www.blja.bayern.de/schutz/staatliches-waechteramt/index.php (o. S.)

                                                                                      17
2. Standards der Sozialen Arbeit
Die Soziale Arbeit im Allgemeinen ist eine Profession des Helfens, die auf Not- und
Bedarfslagen einwirkt und versucht durch soziale Kontrolle und Verhaltensregulierung
Problemlagen zu beheben. Hierbei ist die Kooperationswilligkeit der Klienten*innen
eine zentrale Voraussetzung (vgl. Endruweit et al. 2014: S. 427). Diese Definition be-
schreibt zwar anschaulich die Aufgaben eines Sozialarbeiters/einer Sozialarbeiterin
und den Stellenwert von Mitarbeit der Klienten*innen, bildet dabei jedoch nur eine
Seite der Hilfebeziehung ab. Denn damit Kooperation stattfinden kann, muss diese
von der Fachkraft ermöglicht werden. Hieraus wird ein Machtgefälle zu Gunsten des
Sozialarbeiters/der Sozialarbeiterin ersichtlich, worauf die Definition jedoch nicht ein-
geht.
Die Arbeitsweisen der Profession sind außerdem gesetzlich festgelegt. So haben leis-
tungsberechtigte Klienten*innen zum Beispiel nach §5 SGB VIII ein Wunsch- und
Wahlrecht, was ihnen ermöglicht sich bezüglich der Träger, Einrichtung, Dienste und
Ausgestaltung der Hilfe zu äußern. §8 SGB VIII schreibt vor, dass Kinder und Jugend-
liche bei allen Entscheidungen die sie betreffen beteiligt werden müssen.
Der pädagogische Erfolg einer Hilfe zur Erziehung hängt zu großen Teilen davon ab,
ob die Einbeziehung der Eltern in den Erziehungsprozess gelingt (vgl. Günder/Nowa-
cki 2020: S. 86). Neben den gesetzlichen Vorschriften hat der Deutsche Berufsverband
für Soziale Arbeit, kurz DBSH genannt, für die Profession Sozialarbeit Qualitätskrite-
rien beschrieben, die als Grundraster zur Qualitätsbeurteilung in verschiedenen sozi-
alarbeiterischen Handlungsfeldern dienen sollen. Im Allgemeinen beschreibt der
DBSH Qualität in der Sozialen Arbeit als „[…] das Ergebnis eines Aushandlungspro-
zess[es] zwischen der Profession Soziale Arbeit, den Trägern von Sozialer Arbeit, der
Politik und der Gesellschaft“4. Wie wirkungsvoll und erfolgreich das professionelle Han-
deln einer Fachkraft ist, hängt stets von dem gemeinsam mit dem/der Klienten*in er-
arbeiteten Endergebnis ab.
Auf der Ebene der klientenbezogenen Sozialen Arbeit werden unter anderem folgende
Standards beschrieben:
    -   Zielvereinbarungen, Prozessschritte, Verantwortlichkeiten und Aufgaben wer-
        den gemeinsam mit den Klienten*innen ausgehandelt und vertraglich

4
 https://www.dbsh.de/media/dbsh-www/redaktionell/pdf/Profession/Qualitätskriterien_DBSH.pdf (vgl.
S. 4)

                                                                                               18
festgehalten. Wenn das Aushandeln eines Vertrags in einem bestimmten Ar-
        beitsfeld nicht möglich ist, müssen andere Arten der Absprache genutzt werden
    -   Mit Hinblick auf die Lebensweltorientierung müssen spezifische Kooperations-
        und Beteiligungsstrukturen ermöglicht und genutzt werden
    -   Empowerment bzw. die Stärkung der Selbsthilfe der Klienten*innen muss durch
        die Arbeitsweise der Fachkraft stets angestrebt werden5

Hieraus wird ersichtlich, dass das stetige Einbeziehen der Klienten*innen in jegliche
Entscheidungen nicht nur gesetzliche Pflicht ist, sondern auch ein zentraler Aspekt der
Berufsethik und Prinzipien der Sozialen Arbeit darstellt. Dies ist nur erreichbar durch
ein Arbeiten, bei dem Klient*in und Sozialarbeiter*in auf Augenhöhe stehen und ge-
meinsam Lösungen für individuelle und spezifische Problemlagen finden.
Genau diesem Grundprinzip und Qualitätskriterium steht die Autoritätsmacht jedoch
entgegen, denn sie setzt Sozialarbeiter*innen aufgrund deren Funktion als solche auf
eine höhere hierarchischen Machtstufe als das Klientel. Dies ist nicht nur kontrapro-
duktiv für die Zusammenarbeit mit dem Klienten/der Klientin und damit einhergehend
erfolgreiches professionelles Handeln, sondern wendet sich sogar gegen die Grund-
idee der gesamten Profession.

3. Das Stationäre Setting
Wie alle anderen Hilfen zur Erziehung werden die verschiedenen stationären Hilfen im
achten Kapitel des Sozialgesetzbuches beschrieben.
Zentrales Ziel des gesamten Gesetzbuches war es, sowohl das Wohl von Kindern und
Jugendlichen besser zu schützen als auch einen Schutzauftrag für Fachkräfte und
Träger zu formulieren (vgl. Günder/Nowacki 2020: S. 53). Beim stationären Setting
muss eine Unterscheidung vorgenommen werden, denn die Erziehung in einer Tages-
gruppe nach §32 SGB VIII wird als teilstationäre Maßnahme bezeichnet, während die
Vollzeitpflege nach §33 SGB VIII und die Heimerziehung nach §34 SGB VIII als stati-
onäre Erziehungshilfen bezeichnet werden. Ausschlaggebender Unterschied dieser
drei Hilfen ist die Intensität der Maßnahme, die je nach Bedarf des/der Klient*in ge-
wählt wird (vgl. Günder/Nowacki 2020: S. 55 f.). Während die Kinder und Jugendlichen

5
 https://www.dbsh.de/media/dbsh-www/redaktionell/pdf/Profession/Qualitätskriterien_DBSH.pdf (vgl.
S. 12 f.)

                                                                                               19
in einer Tagesgruppe lediglich ein paar Stunden verbringen, leben sie in einer Pflege-
familie oder einem Heim den ganzen Tag.
Aufgrund des familienergänzenden und -ersetzenden6 Charakters des stationären Set-
tings dienen diese Einrichtungen nicht nur zur Erziehung, sondern sie fungieren auch
als Lebensorte für die Klienten*innen (vgl. Wolf 1999: S. 142), wenn diese für eine
kurze oder lange Dauer nicht mehr bei ihrer Ursprungsfamilie leben können (vgl.
Günder/Nowacki 2020: S. 15).
Trotz dieser Gemeinsamkeiten unterscheiden sich die Vollzeitpflege und die Heimer-
ziehung dennoch in vielerlei Hinsicht. Der primäre Unterschied besteht darin, dass
während Pflegekinder in einer Familie aufwachsen, Heimkinder in einer Institution groß
werden. Pflegeeltern sind keine Angestellten eines Trägers, sie sind die Bezugsperson
eines Pflegekindes, das im eigenen Haushalt wohnt. In der Heimerziehung hingegen
wird die Erziehung in einem Gruppensetting nach einem professionell erstellten Kon-
zept von mehreren, sich abwechselnden pädagogischen Fachkräften vorgenommen.
Diese findet außerdem in einem designierten Gebäude statt, das nicht das Eigenheim
der Fachkräfte ist7. Die 24-Stunden-Betreuung über einen längeren Zeitraum und das
Fehlen von klassischen Elternbeziehungen sorgt dafür, dass das Heimsetting beson-
ders intensiv ist und die Fachkräfte eine enge Beziehung zu den Kindern und Jugend-
lichen aufbauen müssen. Außerdem leiden viele sowohl in der Vollzeitpflege als auch
in der Heimerziehung betreuten Kinder und Jugendlichen unter Auffälligkeiten auf-
grund der vorherigen ungünstigen Lebensverhältnisse oder Traumata aus ihrer Ver-
gangenheit (vgl. Günder/Nowacki 2020: S. 83, 93, 109, 15).
Das stationäre Setting ist also aus zwei Gründen besonders für Autoritätsmacht prä-
destiniert. Die Erziehung wird zu einem Großteil von Fachkräften übernommen (vgl.
Tabel 2020: S. 9), die aus ihrem Status Autoritätsmacht schöpfen können. Zusätzlich
hierzu gehören die betreuten Kinder und Jugendlichen durch ihre Vergangenheit einer
vulnerablen Gruppe an. Diese Aspekte werden besonders in der geschichtlichen Ent-
wicklung der Heimerziehung deutlich.

6
    https://gangway.de/ansprueche-aus-dem-kinder-und-jugendhilfegesetz/ (o. S.)
7
    http://www.bagljae.de/downloads/067_erziehung-in-pflegefamilien-u.-in-familien.pdf (vgl. S. 14 f.)

                                                                                                         20
3.1 Geschichtliche Entwicklung
Dieses Kapitel soll durch einen Blick in die Vergangenheit ein Verständnis für die heu-
tige Ausrichtung des stationären Settings geben. Für den Gesamtzusammenhang ist
dieser Rückblick besonders bedeutend, da man zukünftige Fehler nur dann verhindern
kann, wenn man weiß, wie sie in der Vergangenheit entstehen konnten.
Ursprungspunkt der Heimerziehung sind in erster Linie mittelalterliche Waisenhäuser
und Anstalten wie Klosterschulen, Findel- und Armenhäuser sowie Hospitäler. Vor de-
ren Gründung in 1546 wurden verwaiste Kinder zumeist zu Verwandten gegeben, wo
sie häufig als billige Arbeitskräfte missbraucht wurden und weder eine richtige Erzie-
hung noch Bildung genießen konnten. Jedoch war auch in den Einrichtungen eine kin-
derfreundliche Pädagogik nicht die zentrale Aufgabe. Stattdessen wurde eine streng
religiöse Erziehung angewandt, wobei die Kinder unter strenger Aufsicht und Regle-
mentierung Hausarbeit verrichten mussten (vgl. Günder/Nowacki 2020: S. 15f.).
In Zuge der Aufklärung wurde eine kinderorientierte und -wertschätzende Pädagogik
entwickelt. Anstelle von Strenge, Zucht und Ordnung wurde nun Liebe durch Bezie-
hungsarbeit zu einem zentralen Element benannt. Auch sollten die Kinderzahlen in
den Gruppen verringert werden, um mehr individuelle Zuneigung zu ermöglichen.
Während diese neuen Standards in manchen Einrichtungen Anwendung fanden,
herrschte in vielen anderen noch immer autoritäre Anstaltsordnungen, bei denen Er-
zieher*innen widerspruchslos gehorcht werden musste. In diesen Einrichtungen gab
es noch immer Strenge und Strafe, das Aufbauen von positiven emotionalen Bezie-
hungen blieb aus (vgl. Günder/Nowacki 2020: S. 18ff.). „[…] Kindern [wurde] durch
Institutionen kein Zuhause geboten, sie wurden in Anstalten kaserniert und zu Zucht
und Ordnung angetrieben. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erfahren, dass
der Begriff „Heim“ erst Anfang des 20. Jahrhunderts üblich wurde […]“ (Günder/Nowa-
cki 2020: S. 21).
Mit dem Nationalsozialismus kamen einige Änderungen. Wer welche Hilfeleistungen
empfangen durfte, wurde daran festgemacht, inwieweit eine Peron nützlich für die so-
genannte „Volksgemeinschaft“ war. Dadurch fand eine Unterteilung statt: erziehungs-
würdige, erbgesunde Kinder und Jugendliche der richtigen „Rasse“ wurden in Jugend-
heimstätten der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) untergebracht. Alle an-
dern kamen zur Bewahrung bei Wohlfahrtsverbänden unter. Auch wand sich der Fo-
kus der Erziehung in Heimen nunmehr auf die Ideologie des Regimes. Hierbei wurde
das Ziel verfolgt, staatstreue junge Nationalsozialisten zu „produzieren“.

                                                                                    21
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zerbrach das nationalsozialistische Regime
mit seinen ideologischen Vorstellungen. Jedoch hinterließ der Krieg eine Welle an hei-
mat- und elternlosen Kindern. Aufgrund von mangelnder Infrastruktur, Einrichtungen
und Fachpersonal konnte dieser Ansturm nur durch strenge Disziplinierung und harte
Hierarchien bewältigt werden. Diese Form von Anstaltspädagogik mit strikten Regeln
und Massenunterbringungen wurde erstmals in den 1960er Jahren von linken Studen-
ten*innen angeprangert. Dadurch bekam die Öffentlichkeit einen Einblick in die Not-
lage der Heimkinder und die Rahmenbedingungen der Einrichtungen (vgl. Günder/No-
wacki 2020: S. 21 ff). Im Zuge des Zwischenberichts der Kommission Heimerziehung
kam es schließlich zu Reformen. Neue Standards waren nun die Dezentralisierung,
Entinstitutionalisierung, Entspezialisierung, Regionalisierung, Professionalisierung
und Individualisierung (vgl. Wolf 1999: S. 112). Einrichtungen fungierten nicht mehr
nach einem Änderungs- und Verbesserungsprinzip, sondern sollten eine weitestge-
hend „normale“ und familienähnliche Umgebung schaffen, die den Kindern und Ju-
gendlichen Entwicklungsmöglichkeiten bietet (vgl. Günder/Nowacki 2020: S. 23).

Dieser Ausschnitt aus der geschichtlichen Entwicklung der Heimerziehung macht er-
sichtlich, dass diese für die längste Zeit von Machtmissbrauch, strikten Regelsystemen
und unbeweglichen Hierarchien geprägt war. Die Kinder und Jugendlichen, die ohne
eigenes Verschulden in diesen Einrichtungen ihre Kindheit verbringen mussten, wur-
den entrechtet und standen somit auf der untersten Stufe der Hierarchie. Sie waren
schutzlos gegenüber dem Fachpersonal, das zu häufig die eigene Machtposition
nutzte und die Klienten*innen physisch aber auch psychisch und sexuell misshandelte.
Erst durch das erzwungene Bekanntwerden dieser Skandale bemerkte die Gesell-
schaft, wie auch die Politik, dass es in der Heimerziehung dringend zu Veränderungen
kommen muss. Es ist für Fachkräfte überaus wichtig diese Entwicklung zu kennen und
die diesbezüglichen Konnotationen zu verstehen. Die Heimkinder mussten sich diese
Rechte über lange Zeit hart erkämpfen und auch heute müssen alle Beteiligten stets
wachsam sein und die aktuellen Regelungen beachten und kritisch reflektieren.

                                                                                   22
3.2 Das stationäre Setting seit 2010
Heutzutage fungiert das stationäre Setting nach anderen Prinzipien und im SGB VIII
festgelegten Gesetzesparagraphen, die verschiedene Maßnahmen und Aufgaben ge-
nau vorschreiben, wodurch das Kindeswohl besser gewährleistet werden soll. Auf-
grund der Intensität der Betreuung ist die stationäre Erziehungshilfe die teuerste Ju-
gendhilfeform (vgl. Günder/Nowacki 2020: S. 83).
Empirisch machte das stationäre Setting im Jahr 2018 insgesamt 23% der Hilfen zur
Erziehung und Hilfen für junge Volljährige aus. Den Großteil bildet dabei die Heimer-
ziehung mit 13%, gefolgt von der Vollzeitpflege mit 8% und den Tagesgruppen mit 2%
(vgl. Tabel 2020: S. 9).

          Abb. 2: Hilfen zur Erziehung einschließlich Hilfen für junge Volljährige 2018

Dem Monitor Hilfen zur Erziehung von 2018 zufolge gab es für die Jahre 2010 bis 2016
folgende Entwicklungen: während die Fallzahlen in der Tagesgruppenerziehung san-
ken, sind die Ausgaben über denselben Zeitraum jedoch bundesweit um knapp 29
Millionen Euro angestiegen. Durchschnittlich sind die Kinder, die diese Hilfe beanspru-
chen 9 Jahre alt. Die Vollzeitpflege wuchs um 22% auf ca. 90 000 Fälle an. Zusammen
mit den Fallzahlen wurden auch die Ausgaben größer. So wurden 2016 bundesweit
1,2 Milliarden Euro investiert (vgl. Fendrich et al. 2018: S. 72 ff.). Das Durchschnittsal-
ter der Klienten*innen liegt bei 8 Jahren. Die Heimerziehung bildet nicht nur den größ-
ten Teil der stationären Hilfen, sondern ist mit 56% der bundesweiten Ausgaben für
Hilfen   zur   Erziehung     auch    die   kostenintensivste.      Seit    2000    steigen   die

                                                                                             23
Inanspruchnahmen, besondere Anstiege wurden aufgrund der unbegleiteten minder-
jährigen Flüchtlinge in den Jahren 2014 bis 2016 vermerkt. Seit 2017 ist jedoch eine
Trendwende erkennbar, da sich das stationäre Hilfesetting im Zuge der Dezentralisie-
rung immer mehr verkleinert (vgl. Tabel 2020: S. 9 ff.). Die bundesweiten Ausgaben
lagen 2016 bei 4,87 Milliarden Euro. Heimkinder sind durchschnittlich 15 Jahre alt (vgl.
Fendrich et al. 2018: S. 76).

Stationäre Setting sind heutzutage also, besonders aus finanzieller Sichtweise, ein
bedeutender Teil der Hilfen zur Erziehung. Die Altersgruppe der Kinder und Jugendli-
chen, die betreut wird, ist divers und damit auch die Aufgaben, die von Sozialarbei-
ter*innen und anderen Fachkräften bewerkstelligt werden müssen.

4. Autoritätsmacht als Ursprung anderer Machtquellen
In stationären Hilfen leben Kinder und Jugendliche getrennt von ihren leiblichen Eltern.
Aufgrund des familienergänzenden oder -ersetzenden Charakters dieser Hilfeformen
fällt die Erziehung und Versorgung der Klienten*innen Pflegeeltern oder Fachkräften
einer jeweiligen Einrichtung zu. Wie das Kapitel aufzeigen wird, findet Erziehung nie
ohne Macht statt. Deshalb soll dieser Teil der Arbeit beleuchten, über welche Macht-
mittel Fachkräfte in stationären Hilfen verfügen. Hierzu wird erörtert, inwiefern Macht
legitim ist und wo ihre Grenzen liegen. Es werden verschiedene Machtquellen im
Heimsetting erläutert die aufzeigen, wo im Alltag Machtmissbrauch beginnen kann. All
diese Aspekte werden dann übertragen auf Autoritätsmacht als deren Ursprung.
Ein kurzer Exkurs zu sogenannten „totalen Institutionen“ soll als Negativbeispiel für
Heimerziehung dienen.
An dieser Stelle ist anzubringen, dass jede Form von Machtmissbrauch verheerende
Auswirkungen auf die betroffenen Kinder und Jugendlichen hat. Jedoch würde die An-
stellung einer genauen Analyse aller negativen physischen, psychischen und sozialen
Folgen für Klienten*innen den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

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4.1 Legitimität von Macht in der Erziehung
Macht in der Erziehung, insbesondere in einem stationären Unterbringungsrahmen hat
eine lange Geschichte. Wie bereits im entsprechenden Teil der Arbeit erörtert, haben
unausgeglichene Machtverhältnisse zwischen Klienten*innen und Fachkräften in Hei-
men zu einer erheblichen und dauerhaften Schädigung zahlloser Kinder beigetragen.
Das stationäre Setting fungiert, wie in Gliederungspunkt 3 bereits erklärt, als familien-
ergänzende oder -ersetzende Maßnahme. Demnach ist es die Aufgabe der Fach-
kräfte, die diese Dienstleistungen durchführen, einen Teil der Erziehung der Klien-
ten*innen zu übernehmen. Erziehung ist jedoch nicht lediglich die Übernahme von ge-
sellschaftlichen Normen, sondern ein komplexer Interaktionsprozess, der von Kindern
bearbeitet, vereinheitlicht und letztendlich in das eigene Denken und Handeln überge-
hen muss. Selbstverständlich muss Erziehung unter Anleitung von Erwachsenen statt-
finden. Wolf stellt hierzu klar, dass „Macht- und Abhängigkeitsbeziehungen […] für die
Entwicklungschancen eine zentrale Kategorie [sind]“ (1999: S. 139). Jegliche Form
von Erziehung kommt also nicht ohne die Faktoren Macht und Abhängigkeit von der
Erziehungsperson aus. Deshalb spielen für Wolf zwei Aspekte eine besonders große
Rolle für Erziehung:
   -   Welche Erfolgskriterien werden formuliert? Werden Entwicklungsanreize und
       Freiheiten gewährt, damit diese Kinder auch unter der Anleitung und damit ver-
       bundenen Macht- und Abhängigkeitsbeziehungen selbstständig werden kön-
       nen?
   -   Welche Machtmittel werden für die Anleitung verwendet und welche Machtquel-
       len werden angewandt? (vgl. 1999: S. 139)

Aus dieser Anführung lässt sich schließen, dass Erziehung ohne Machtgefälle nicht
möglich ist, diese jedoch nicht unbedingt schädlich für die Entwicklung von Kindern
und Jugendlichen sein muss. Wichtig ist der Zweck für den Macht angewandt wird und
die Quellen aus der die Erziehungsperson sie bezieht. Besonders die Machtquellen
geben Auskunft darüber, wo die Grenzen von legitimer Macht liegen und wie es in
grundlegenden Alltagsangelegenheiten zu Machtmissbrauch kommen kann. Deswe-
gen werden einige dieser Machtquellen im folgenden Kapitel beschrieben.

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4.2.1 Machtquellen im stationären Setting
Das stationäre Setting ist aufgrund der Anforderungen an die Fachkräfte und den Auf-
gaben, die bewerkstelligt werden müssen, ein hochgradig komplexer Bereich der Kin-
der- und Jugendhilfe. Deshalb treten hier immer wieder Machtunterschiede zwischen
den Fachkräften und den zu betreuenden Kindern und Jugendlichen auf (vgl. Wolf
1999: S. 141).
Wie bereits im kontextbestimmenden Teil der Arbeit erläutert, ist Macht ein Oberbegriff
für asymmetrische Beziehungen, durch die eine Person eine andere dazu bringt, et-
was zu tun, was die andere Person unter normalen Umständen nicht tun würde. Macht-
quellen sind vielfältige Ressourcen sowie individuelle Merkmale (vgl. Endruwit et al.
2014: S. 278). Die Bedeutung von Machtquellen wurde in Form der Machtunterteilung
nach Imbusch und Elias bereits in Punkt 1.1.2 dargestellt. Dieser Teil der Arbeit be-
schäftigt sich nun genauer mit verschiedenen Machtquellen. Auch wenn diese in allen
Erziehungsformen und -settings auftreten können, beziehen sich die in diesem Kapitel
behandelten Machtquellen in erster Linie auf die Heimerziehung. Denn wie bereits in
Kapitel 3 der Arbeit kurz erläutert, unterscheiden sich Tagesgruppe, Vollzeitpflege und
Heimerziehung fundamental und damit auch die Erziehungsmittel sowie die Beziehung
zwischen den Akteur*innen.

4.2.2 Abhängigkeit
„Das Menschenskind ist pures Objekt omnipotenter Willkür“ (Reemtsma 2008: S. 105).
Mit diesen Worten beschreibt Reemtsma das absolute ausgeliefert sein von Neugebo-
renen. Sie können nur schreien und hoffen, dass sich jemand ihren Bedürfnissen an-
nimmt (vgl. 2008: S. 105). Sie sind also abhängig von Erwachsenen. Diese Abhängig-
keit endet jedoch nicht sofort. Menschen sind auch als Kleinkinder, Kinder und Ju-
gendliche in unterschiedlichem Maße insbesondere von erwachsenen Personen in ih-
rem Umfeld abhängig. Teilweise ist dies individueller Entwicklung geschuldet, teilweise
verschiedenen rechtlichen Vorgaben. Wie das folgende Kapitel aufzeigt, kann diese
Abhängigkeit auf verschiedene Weisen ausgenutzt werden, um Machtverhältnisse zu-
gunsten einer Person auszuschlagen.

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