MÖGLICHKEITEN DES UMGANGS MIT SCHWIERIGEN SCHÜLERN - GWG E.V.

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Schwerpunktthema Personzentrierte Schule

Günther Schmidt-Falck

Möglichkeiten des Umgangs mit schwierigen Schülern
Beziehungsangebote im Rahmen von Unterricht und Erziehung

                                              Wenn in der Schule von schwierigen       die entsprechende Mappe einfach nicht
                                          Schülern gesprochen wird, fallen mir auf     finden können?
                                          der Stelle meine „Sargnägel“ ein. Und
                                          ich glaube, es geht vielen Lehrern so. Es
                                          sieht so aus, als stellten sie uns Pädago-   Der Frust ist groß
                                          gen als Person und als Erzieher in Frage:
                                          Sie tun meistens nicht das, was wir wol-        Der Tag ist für mich dann gelaufen.
                                          len. Sie reden im Unterricht ständig rein,   Die Zornesadern schwellen an und (zum
                                          schikanieren und schlagen Mitschüler,        Glück) nach einiger Zeit auch wieder ab.
                                          stören die Kooperation in der Klein-         Und wenn ich in die erste Pause gehe,
                                          gruppe. Sie scheinen immer ihr eigenes       höre ich schnell noch, wie E. dem H. ein
                                          Süppchen zu kochen. Anweisungen, die         gepresstes „Ei, du Wichser, hau ab!“ ent-
                                          ich als Lehrer gebe, werden gerne unter-     gegenschleudert. Ich kann mir lebhaft
                                          laufen, manchmal provokant belächelt.        vorstellen, wie diese Streitereien nach
                                          Viele dieser Schüler arbeiten kaum oder      der Pause in der nächsten Stunde wieder
                                          nur wenig mit. Ihr gesamtes Arbeits- und     über mich hereinbrechen werden.
                                          Leistungsverhalten in der Schule scheint
                                          mehr auf Vermeidung angelegt, denn               So verlockend es aussieht: Diesen
                                          auf Dabeisein. Gleichgültigkeit, fast bis    Phänomenen kann man anscheinend
Günther Schmidt-Falck                     zur Selbstzerstörung, ist allerorten zu      auch mit den ausgeklügeltsten Metho-
                                          beobachten. Zur Verhaltensproblematik        den und Maßnahmen nicht wirkungs-
Lehrer, Koordinator der Schulhaus-        der schwierigen Schüler gesellen sich oft    voll zu Leibe rücken. Lehrkräfte, die
internen Erziehungshilfe (Staatl.         Verständnisprobleme und Teilleistungs-       an einzelnen Verhaltensauffälligkeiten
Schulamt Ansbach) und Lehrerfort-         störungen. Im weitesten Sinne werden         und Störungsbildern ansetzen, laufen
bildner in den Bereichen Konflikthilfe,   alle diese Probleme unter dem Stichwort      Gefahr, sich in einem nicht wirklich zu
Personzentrierte Gesprächsführung         Disziplinstörungen gehandelt.                kontrollierenden Reiz-Reaktionsschema
und Umgang mit schwierigen Schü-                                                       zu verzetteln. Da wird auf den Wechsel
lern. Weiterbildungen u.a. in KTM-            Ich könnte mich jetzt auf den Weg        der Sozial- und Arbeitsformen peinlichst
Beratung (Uni Erlangen-Nürnberg),         machen und Ihnen den derzeitigen             genau geachtet, Projekte werden ge-
Personzentrierte Gesprächsführung         Forschungsstand über Disziplinstörun-        plant, es wird veranschaulicht und mit
(GwG), Coaching i.A. (GwG, Uni            gen und verhaltensauffällige Kinder          professionellen Verhaltensmodifikatio-
Erlangen-Nürnberg)                        im Unterricht hier in epischer Breite        nen gearbeitet. Der Frust ist dann groß,
                                          wiedergeben. Keine Angst, ich werde          wenn die gut gemeinten Bemühungen
Erstveröffentlichung in                   mich hüten. Ich weiß doch zu genau,          der Lehrkraft mit einem „Was soll der
personzentriert Nr. 12 Frühjahr 2003      dass die von Definitionen abgeleiteten       Scheiß?“ kommentiert werden.
                                          Handlungsanweisungen spätestens im
Mit freundlicher Genehmigung des          nächsten Klassenzimmer angesichts der
Federverlag Eppelheim/Heidelberg          Realität bedeutungslos werden. Was           Ein anderer Weg
und der Arbeitsgemeinschaft für kli-      nützen sie mir, wenn ich am Montag-
entenzentrierte Therapie (akt), Siegen    morgen beobachte, dass der H. dem                Zu allem Übel sind Aussagen der
                                          E. wieder mal die Zipfelmütze vom            Fachliteratur auch wenig ermutigend:
                                          Kopf reißt und gekonnt auf das Dach          „Fehlen primäre Formen der Ordnung
Anschrift des Autors:                     des Fahrradständers schleudert? Was          als Ergebnisse früher Erziehung, kön-
                                          nützen sie mir, wenn ich anschließend,       nen sie in der Schule nur in seltenen
Günther Schmidt-Falck                     nach Unterrichtsbeginn, feststellen          Fällen nachholend vermittelt werden.
Weiherhofstr. 12                          muss, dass 50 Prozent meiner Schüler         Der Lehrer ist hoffnungslos überfordert,
91580 Petersaurach                        die Hausaufgaben nicht gemacht haben         wenn er nicht auf eine vorausgegan-
E-Mail: SchmiFa@aol.com                   und darüber hinaus dann einen Stift und      gene Erziehung zu einem geordneten

                                                               Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/04    15
Schwerpunktthema Personzentrierte Schule

Sozialverhalten aufbauen kann“ (Geißler      den Mut entwickeln, einmal an einer Sa-      Je mehr ich über mich und meine wun-
1983, S. 21). Im Umgang mit schwieri-        che dranzubleiben. Kann sein, dass Sie       den Punkte Bescheid weiß, desto klarer
gen Schülern möchte ich einen anderen        die Begriffsstutzigen, die Schwachbe-        werden meine Reaktionen, desto weni-
Weg anbieten. Keinen einfacheren, aber       gabten ablehnen, solche, die sich auch       ger muss ich in dem schwierigen Ge-
einen „lebbaren“. Er geht nicht von der      nach der xten Erklärung nicht vorstellen     schäft des Pädagogen Verhaltensweisen
Hoffnung auf eine Knopfdruckpädago-          können, dass hundert Prozent das Ganze       anderer abwehren. Im Zulassen meiner
gik mit klar definiertem Input und zu        sind oder Substantive groß geschrieben       Gefühle steckt auch die Chance zur Ent-
erwartendem Output aus oder stellt die       werden müssen.                               lastung. Ich spüre und weiß, wann ich
Umerziehung der Schüler in den Mittel-                                                    mich beim Schüler „festbeiße“ und die
punkt. Der Weg fängt umgekehrt bei uns           Wie ist es also zu erklären, dass die    Situation mich gefangen hält, gleichsam
selbst an, erfasst vielleicht das Team und   eine Lehrkraft mit großer Geduld und         mein Denken besetzt und meine Hand-
die Kollegen und macht sich, wenn’s          ohne sich persönlich in Frage stellen        lungsfähigkeit reduziert oder mich zu
gut läuft, dann allmählich in der Schule     zu lassen, einem Schüler auch noch           Handlungen verleitet, die ich hinterher
breit: Die Gestaltung von empathischen       das zehnte Mal den Unterschied eines         vielleicht bereue. Ich werde als Person
und wertschätzenden Beziehungen.             Adjektivs und eines Substantivs erklärt,     einschätzbarer und signalisiere damit
                                             während eine andere den Schüler schon        auch meine Grenzen. So manche Ver-
                                             nach der dritten Frage anbrüllt, dass er     haltensweise regt mich dann gar nicht
Ich und die Konflikte                        gefälligst aufzupassen habe? Liegt es an     mehr auf. Ich kann den Schülern freier
                                             eigenen schulischen Erfahrungen? Liegt       begegnen. Je kongruenter ich mit mir
    Am Anfang steht für mir die Einsicht,    es an der eigenen familialen Erziehung?      bin, desto gelassener stehe ich in der
dass Störungen und Probleme nicht            Was stört uns an einem Schüler, der          Klasse. Und als ob ich diese Haltung
unabhängig von meiner Wahrnehmung            mitten im Biologieunterricht vor sich        nicht nur in mir spüre, sondern auch
existieren. Was schwierig ist, erlebe und    hinmurmelt: „So ein Schrott, das inter-      ausstrahle: Das Unterrichtsklima verän-
definiere ich zunächst jeden Tag in der      essiert doch niemand!“ Bringen wir Ver-      dert sich!
Klasse bei jedem Schüler, in jedem Fach,     ständnis auf und denken: „Klar, Biologie
zu jedem Zeitpunkt anders. Stört mich        hat mich auch immer genervt! Ich muss
in Mathe die Leistungsverweigerung           halt meinen Stoff durchbringen. Eigent-      Ein Beziehungsangebot machen
von H., so kann ich mit E.’s Desinte-        lich hat er ja recht.“ Oder fühlen wir uns
resse im gleichen Fach ganz anders           persönlich angegriffen? Wie gehen wir            Dietmar kam Anfang November in
umgehen. Und wenn ich es denn im             mit den Zwängen der Notengebung              die Klasse. Ich erinnere mich noch gut
Unterricht bemerken würde, so wäre ich       um? Wie wichtig war und ist uns der          an seine zusammengekniffenen Augen,
auf G. total sauer, weil sie mal wieder      ordentliche Hefteintrag? Wie stehe ich       als ihn der Schulleiter eines Morgens an
jede Gelegenheit benutzt, nichts zu tun      zu aggressiven Verhaltensweisen? Habe        meiner Klassenzimmertür ablieferte. Für
und ihre Umgebung von der Mitarbeit          ich selbst Probleme, meine Aggression        seine 15 Jahre war er groß gewachsen,
im Unterricht abzuhalten. Die Lauten         zu zeigen und lehne sie deswegen bei         die Schultern eingezogen, die Hände
stören mich häufig am meisten. Von           anderen ab?                                  tief in den Rapper-Hosen vergraben. Sei-
denen lasse ich mich stark aus der Ruhe                                                   ne Augen huschten unauffällig durch die
bringen. Noch schlimmer sind die süf-            Ich kann und will Ihnen diese Fragen     Reihen seiner Mitschüler. Kein Gesicht
fisanten Verweigerer, die genau wissen,      nicht beantworten. Es lohnt sich aber,       kam ihm bekannt vor, und damit war
dass ich ihnen nichts anhaben kann. Die      auf die Suche zu gehen. Das Stöbern in       wohl seine letzte Hoffnung begraben,
leisen Zurückgezogenen mit dem Hang          der eigenen Biografie und die Wahrneh-       nicht auf sich alleine gestellt zu sein.
abzutauchen und die mit den depressi-        mung in aktuellen Situationen bringen
ven Zügen stören mich am wenigsten.          Sie sich selbst näher. Ich habe für mich         Nach seinem Einstieg fügte sich
Sie tun mir in der Regel nichts. Oft         erfahren: Eigene Verhaltensweisen und        Dietmar die ersten Tage ganz gut in
bemerke ich ihr Nichtstun nicht einmal.      Wertmaßstäbe werden mir plötzlich ver-       die Klasse ein. Ich glaube, es war in
Manchmal möchte ich mich schon mehr          ständlicher und so manche meiner hef-        der zweiten Woche nach seiner „Ein-
um sie kümmern, weil ich spüre, dass sie     tigen Reaktionen im Schulalltag waren        schulung“, als es zum ersten Konflikt
Probleme haben und darin gefangen            plötzlich verschwunden, weil ich per-        zwischen uns kam. Dietmar war von
sind.                                        sönlich nicht mehr so verletzlich war.       Tag zu Tag mehr aufgetaut. Ich ertappte
                                                                                          mich schon dabei, dass ich manchmal
    Der Umgang mit schwierigen Schü-                                                      sorgenvoll auf ihn blickte. Wie würde
lern beginnt genau an dieser Stelle.         Eigene Kongruenz                             er sich noch entwickeln? Sollte zu den
Kann sein, dass Sie als Leser an andere                                                   vielen verhaltensschwierigen Schülern
Probleme im Umgang mit Kindern und              Der erste Schritt im Umgang mit           noch ein weiterer dazu gekommen sein?
Jugendlichen denken. Sie fühlen sich         schwierigen Schülern besteht in der          Und, nicht zu vernachlässigen: Spürt er
vielleicht von den Hilflosen gestört, die    Herstellung einer eigenen Kongruenz,         mein Misstrauen?
es nie schaffen, für sich einzutreten und    einer Übereinstimmung mit sich selber.

16     Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/04
Schwerpunktthema Personzentrierte Schule

    Als ich ihn bat, auch sein Deutsch-     besser mitkommen. „Ich habe schon               Kritiker werfen dem Personzentrier-
buch aufzumachen und sich auf den           keine Lust mehr gehabt mitzumachen.         ten Ansatz gerne vor, dass er in schwie-
Unterricht zu konzentrieren, explodierte    Irgendwie haben die immer nur mich          rigen Fällen nichts bewirkt und der Griff
er förmlich. „Ich lass mich von Lehrern     gesehen“, meinte er. „Andere haben          auf verhaltenstherapeutische Techniken
nicht dumm anquatschen!“, brüllte er        doch auch im Unterricht gestört. Die        unerlässlich sei. Carl Rogers (1992, S.
mir entgegen. „Lehrer haben mir gar         konnten mich einfach nicht leiden. Ich      46) schreibt an anderer Stelle zu die-
nichts zu sagen!“ Ich schaffte es, nicht    würde ja auch mehr lernen, aber oft         sem Phänomen: „Die Umstände haben
in die Falle seiner Abwehrhaltung zu        komme ich nicht mit dem Stoff zurecht,      mir nach und nach eingebläut, dass
tappen. Nach einem tiefen Luftholen         besonders in Mathe.“ Die Mitschüler         ich einem gestörten Menschen mittels
erwiderte ich ihm: „Ich glaube, ich bin     konnten so seine Motive besser nach-        irgendeines intellektuellen Verfahrens
dir zu nahe getreten. Du scheinst häufig    vollziehen und ihn verstehen.               oder Trainings nicht behilflich sein kann.
schlechte Erfahrungen mit Lehrkräften                                                   Kein Ansatz, der sich auf Wissen, auf
gemacht zu haben!“ Dietmars Reaktion                                                    Training, auf die Annahme irgendeiner
sprach Bände. Zuerst starrte er mich mit    Motive nachvollziehen                       Lehre verlässt, kann von Nutzen sein.
großen Augen an, dann sackte er regel-                                                  Diese Ansätze scheinen so vielverspre-
recht zusammen, um sich erneut aufzu-          Einige teilten seine Erfahrungen und     chend und direkt zu sein, dass ich in der
richten: „Ja, Sie meine ich damit ja gar    meinten, dass es ihnen auch oft so er-      Vergangenheit viele davon ausprobiert
nicht! Aber ich habe wirklich schlechte     gangen ist. Auf dieser Basis wurde dann     habe. Es ist möglich einem Menschen
Erfahrungen mit Lehrkräften gemacht.“       eine erste Strategie entworfen, wie die     eine Erklärung seiner selbst zu geben,
Die nachfolgenden Stunden meldete           Schüler und Schülerinnen mit Verständ-      Schritte zu verschreiben, die ihn vor-
sich Dietmar häufig. Es schien, als wolle   nisproblemen im Unterricht umgehen          wärts führen, ihm Kenntnisse über einen
er unter Beweis stellen, dass er „so“ ja    könnten. Es wurden Antworten auf Fra-       befriedigenderen Lebensmodus vermit-
gar nicht ist und durchaus die Chance       gen gesucht: „Wie gehe ich damit um,        teln müssten. Aber solche Methoden
sah, mit mir einen neuen Anfang zu          wenn ich mir Leistungsanforderungen         sind meiner Erfahrung nach nutz- und
wagen. Am nächsten Tag fragte ich           nicht zutraue? Tauche ich dann ab?          folgenlos. Das höchste, was sie errei-
ihn, ob er Interesse habe, sich mit mir     Störe ich den Unterricht? Schalte ich ab    chen können, ist eine temporäre Ver-
zu einem Gespräch zusammenzusetzen.         und verweigere die Mitarbeit?               änderung, die bald verschwindet und
Mir ginge noch seine Äußerung über die                                                  den Einzelnen überzeugter denn je von
anderen Lehrkräfte durch den Kopf und          Das „Sich-Öffnen“ der SchülerInnen       seiner Unfähigkeit zurücklässt.“
ich spürte, dass es in seiner Schulzeit     war bemerkenswert. Somit ergab sich
sicherlich recht schwierige Situationen     die Chance, einen Teil der Realität des         Es gibt sicherlich Situationen, in de-
für ihn gegeben habe. Dietmar willigte      anderen zu erspüren, ihm jeweils „nahe“     nen Verhaltenssteuerungsprogramme
ein und es entstand eine regelrechte        zu sein und ihn zu akzeptieren.             einen sichtbaren Erfolg bringen. Ich
Gesprächsreihe im Zeitraum von fünf                                                     denke in diesem Zusammenhang an
Treffen, in denen ich einige seiner Ängs-                                               Maßnahmen bei einer Aufmerksamkeits-
te und seiner Abwehrhaltungen genauer       Schwierige Wertschätzung                    Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS).
kennen lernen konnte.                                                                   Auch die häufig benutzten (Verhaltens-)
                                                 „Akzeptieren heißt hier ein warm-      Verträge machen in bestimmten Fällen
    Er nahm mein Beziehungsangebot          herziges Anerkennen dieses Individuums      einen Sinn, besonders wenn Schüler
an. Ich akzeptierte seine Abwehrhaltun-     als Person von bedingungslosem Selbst-      ein „Geländer“ brauchen, an dem sie
gen als etwas, was er im Moment offen-      wert – wertvoll, was auch immer seine       sich entlanghangeln können. Solche
sichtlich gebraucht hat, und schaffte es,   Lage, sein Verhalten oder seine Gefühle     „Techniken“ finden aber wiederum erst
Rücksicht auf seine Gefühle zu nehmen.      sind. Das bedeutet Respekt und Zunei-       dann einen fruchtbaren Boden, wenn
Die positiven Veränderungen von Diet-       gung, eine Bereitschaft, ihn seine Gefüh-   eine stabile, einfühlsame und tragfähige
mars Verhalten konnte ich im Unterricht     le auf seine Art haben zu lassen“ (Rogers   Beziehung vorhanden ist und Verhal-
und im Umgang mit den Mitschülern in        1992, S. 47). Diese Wertschätzung fällt     tenssteuerungsmaßnahmen aus dieser
der Folgezeit deutlich wahrnehmen. Ein      zugegebenermaßen nicht immer leicht.        Beziehung heraus erwachsen und auf
Gespräch in der Klasse über ihn und uns     Sie erfordert vom Erzieher eine eigene      gegenseitigem Einverständnis beruhen.
nahm ihm zusätzlich viel Druck weg und      innere Klarheit, um von eigenen Krän-
ermöglichte einen tieferen Kontakt. Im      kungen Abstand nehmen und eigene                Ich habe im Rahmen der Schule
Gesprächskreis erhielt er die Möglich-      Wünsche und Bedürfnisse zurückstellen       bisher nur wenige dieser Maßnahmen
keit, über seine bisherigen schulischen     zu können. Darüber hinaus ist ein echtes    erlebt, die das Miteinander weiter ge-
Erlebnisse zu sprechen. Er berichtete,      Interesse für den Schüler und seine emo-    bracht hätten als es ein wertschätzendes
dass Nachfragen im Unterricht, wenn         tionale Lage erforderlich. Gleichzeitig     Beziehungsangebot könnte. Gerade im
er etwas nicht verstanden hatte, sofort     muss ich mich auch abgrenzen können,        Rahmen der Schule haben wir unzähli-
kritisch kommentiert wurden. Er solle       um Angriffe seitens des Schülers nicht      ge Male, Tag für Tag, die Möglichkeit,
besser aufpassen, dann würde er auch        auf mich zu beziehen.                       solche empathischen Beziehungsange-

                                                                Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/04     17
Schwerpunktthema Personzentrierte Schule

bote zu machen. Und wir dürfen nicht         gruenz hervorrufen, wenn eine Diskre-        meldungen über unterrichtliche Bedin-
vergessen: Auch wenn wir den Kern des        panz zwischen dem Selbstbild und dem         gungen: Müdigkeit, langweiliger Stoff,
Personzentrierten Ansatzes ablehnen,         eigenen Erleben besteht. Ein Beispiel:       mangelndes Verstehen, Mitteilungs-
Beziehungen zu den Schülern – und sie        „Wenn ein Kind auf die Mutter wütend         bedürfnisse (wenn im Unterricht kein
zu uns – haben wir allemal. Sie sind nur     ist und die Mutter Kritik grundsätzlich      Raum für Äußerungen gegeben ist) oder
häufig von Unklarheit und Ängsten do-        nicht akzeptiert, sondern abwertet oder      zu wenig Wechsel in den Sozial- und
miniert. Was liegt näher – im Sinne einer    sogar bestraft, kann das Kind seine Wut      Arbeitsformen. So halte ich es für sehr
Humanisierung des Unterrichts – wenn         nicht in sein inneres Bild von sich selbst   sinnvoll, wenn ein Lehrer einen häufig
wir die vorhandenen Beziehungen vom          übernehmen. Vielleicht sieht es sich im      schwätzenden Schüler nicht ermahnt
Kopf auf die Füße stellen und uns von        Laufe seines Heranwachsens als Wesen         oder bestraft, sondern mit folgender Äu-
Akzeptanz und Wertschätzung leiten las-      ohne aggressive Gefühle“ (Klees 2002,        ßerung sein Verstehen signalisiert: „Ich
sen? Es wird nicht immer gelingen und        S. 35). Und weiter heißt es: „Die Reak-      glaube, du kannst dich nicht mehr kon-
unsere Bemühungen werden auch wei-           tionen des Menschen erklären sich aus        zentrieren, oder hast du andere Gründe,
terhin immer wieder von Wutanfällen im       seiner Wahrnehmung von sich selbst,          im Moment nicht aufzupassen?“
Klassenzimmer relativiert werden.            anderen Menschen, Beziehungen und
                                             Situationen“ (Klees 2002, S. 35).
                                                                                          Abwertend
Schülerzentrierung
                                             Ausdruck der Inkongruenz                         Manchmal sind Schüleräußerungen
    Aber der personzentrierte Weg                                                         natürlich schwer zu verkraften, weil sie
schreibt auch nicht vor, dass wir immer          Unser Dietmar aus dem Beispiel hat-      vordergründig eine klare Ablehnung
erfolgreich sein müssen und dass jeder       te sicherlich viele gute Gründe für seine    beinhalten. So wird folgende Antwort
Schüler das gleiche Beziehungsangebot        Reaktion. Wer weiß, was ihm schon            eines im Unterricht zur Rede gestellten
braucht. „Schülerzentrierung“ heißt          alles widerfahren ist. Wie oft wurde er      Schülers, der die Mitarbeit verweigert
herauszufinden und zu spüren, wo der         bestraft, weil er sein Heft nicht schnell    und seine Nachbarn permanent ge-
Schuh drückt. Probleme werden nicht          genug herausgeholt hat? Hat er in die-       stört hat, vom Lehrer vermutlich als
abgewehrt. Der Schüler kann sich mit         sem Moment eine Abwertung der gan-           abwertend erlebt: „Ich kann den Mist
dem Problem auseinander setzen, da           zen Person erlebt? Hat er gelernt, sich      nicht! So schlecht, wie Sie das erklären,
es nicht bewertet wird. Manchmal wer-        selbst so negativ zu sehen, dass er von      begreift das sowieso keiner hier!“ Beim
den unsere Beziehungsangebote auch           sich und seiner Umwelt nichts anderes        genaueren Hinhören wird von der Be-
ausgeschlagen und wir laufen Gefahr,         mehr erwartet? Wollte er einer drohen-       ziehungsseite her eine klare Ablehnung
den Schüler dafür zu verurteilen, dass       den Abwertung durch die Lehrkraft zu-        deutlich. Die Selbstoffenbarungsseite
er nicht auf uns „eingestiegen“ ist.         vorkommen? Dietmars Äußerung wird            des Schülers signalisiert vielleicht: „Ich
Vielleicht sind wir zu wenig auf ihn „ein-   uns keine Antwort darauf geben. Von          bin mit den Aufgaben überfordert.“
gestiegen“? Vielleicht sind auch die Pro-    der Lehrkraft zu erwarten, dass sie des-     Der Appell, der an den Lehrer gerichtet
bleme so gravierend, dass zusätzliche        sen Selbstkonzept vorher schon durch-        wird, kann z.B. heißen: „Erklären Sie
Maßnahmen ergriffen werden müssen?           schaut und entsprechende Handlungen          es mir doch noch einmal!“ Der reine
In jedem Fall halte ich unser Einlassen      vorausplanen kann, ist erst nach einem       Sachinhalt bringt wohl zum Ausdruck:
auf solche Prozesse für unerlässlich,        vertieften Kennenlernen der Person           „Ich verstehe die Aufgaben nicht“ (vgl.
auch wenn das Scheitern, warum auch          möglich und wäre im aktuellen Moment         Schulz von Thun 1998).
immer, zum täglichen Geschäft gehört.        eine glatte Überforderung und auch
                                             nicht hilfreich. Die Lehrkraft hat nur die       In dieser Situation zeigt sich, ob die
    Die Gründe für störendes Verhalten       eine Möglichkeit, Dietmars Äußerung          Lehrkraft selbstbewusst und kongruent
im Unterricht, sieht man einmal von          als Ausdruck seiner Inkongruenz anzu-        ist und von der eigenen Betroffenheit
anderen Ursachen wie z.B. ADHS ab,           nehmen und wertzuschätzen. Damit ist         Abstand nehmen kann. Mögliche wert-
sind meistens im jeweiligen Selbstkon-       ein Beziehungsangebot gemacht. Diet-         schätzende Reaktionen – je nachdem,
zept des Schülers zu suchen. Dieses          mars innere Überzeugungen und seine          ob man von der Beziehungsseite oder
Selbstkonzept entsteht – im Rahmen           Abwehr verlieren den Nährboden. Sein         von der Selbstoffenbarungsseite ansetzt,
dieses Aufsatzes wird es hier nur an-        Erleben und seine Bewertungen von            könnten sich so anhören: „Du hast mit
gedeutet – durch die Erfahrungen der         Situationen wurden verstanden. Erst auf      meinen Erklärungen nicht viel anfangen
erlebten Beziehung zur Bezugsperson,         der Basis dieses Verstehens kann Dietmar     können. Soll ich noch einen Versuch
die sogenannten Beziehungs- und Ob-          mit der Zeit andere Wertvorstellungen in     unternehmen?“ oder: „Du verstehst die
jekterfahrungen. Im Selbstkonzept sind       sein Selbstkonzept integrieren.              Aufgabe noch nicht. Brauchst du noch
die entsprechenden Wertvorstellungen                                                      weitere Erklärungen?“
einer Person verankert. Neue Bezie-             Wird das Beziehungsangebot vom
hungserfahrungen, etwa in der Schule         Schüler angenommen, erhält ein Päda-
oder im Elternhaus, können eine Inkon-       goge unter Umständen auch klare Rück-

18     Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/04
Schwerpunktthema Personzentrierte Schule

Schutzhaltungen aufgeben                       keine Haltungen von Schwäche! Lehrer,       Literatur
                                               die die vereinbarten Konsequenzen bei
    In Lehrerkollegien wird immer wie-         Grenzüberschreitungen klar, bestimmt,       Geißler, Erich 1983: Allgemeine Didaktik.
der die Auffassung vertreten, dass man         aber ohne Wertungen, Schimpfen oder             Grundlegung eines erziehenden Unterrichts.
                                                                                               2. Aufl., Bad Heilbrunn. Zit. in: Lockenwitz,
Schüleräußerungen dieser Art nicht             Anschuldigungen verwirklichen, lassen           Thomas 1998: Disziplin in der Schule. Zur
ungestraft durchgehen lassen könne.            Schüler lernen: Grenzen können nicht            Bedeutung und Bearbeitung von Störungen
Sie seien beleidigend und würden die           ohne Konsequenzen übertreten werden,            des Lernens. In: Die Deutsche Schule, 90,
Autorität der Lehrkraft untergraben.           Achtung und Einfühlung beruhen auch             1998, 2, S. 174–188
Die scheinbare Erniedrigung, auf die           auf Gegenseitigkeit.“                       Klees, Katharina 2002: Kindzentrierte Beratung
                                                                                               für Kinder in Notsituationen. In: Gesprächs-
sich die Lehrkraft hier einlässt, ist jedoch                                                   psychotherapie und Personzentrierte Bera-
letztendlich ein Akt der Stärke und keine                                                      tung, 33, 2002, 1, S. 27–37
„weiche Nachgiebigkeit“. Kein Schüler          Ein schmaler Grat                           Rogers, Carl 1992: Entwicklung der Persönlich-
wehrt aus Jux und Tollerei ab. Er hat                                                          keit. 9. Aufl., Stuttgart
aus seiner Sicht immer gute Gründe                 Ich erlebe in meiner Arbeit Tag für     Schulz von Thun, Friedemann 1998: Mitein-
                                                                                               ander reden 1. Störungen und Klärungen.
dafür. Je öfter ein Schüler spürt, dass er     Tag, wie schmal der Grat zwischen               Miteinander reden 2. Stile, Werte und Per-
als Person akzeptiert wird, desto mehr         Grenzziehungen und einem einfühlen-             sönlichkeitsentwicklung. Reinbek
wird er Schutzhaltungen im Unterricht          den Verstehen sein kann. Wie oft ist es     Tausch, Reinhard 1999: Achtung und Ein-
aufgeben. Nach einigen Monaten wird            mir in Konfliktfällen passiert, dass ich        fühlung – Kompass für didaktische und
er es nicht mehr nötig haben, mögliche         einen von zwei sich streitenden Schü-           erzieherische Handlungen von Lehrern
                                                                                               und Erziehern. In: Beate Bender, Thomas
Versagensängste hinter einer Fassade           lern vorschnell verurteilt, den Konflikt        Fleischer, Birke Mersmann (Hg.): Person
von abwehrenden Sprüchen zu verste-            heruntergespielt oder das „Opfer“ zu            und Beziehung in Schule und Unterricht.
cken. Er kann sich melden und sagen:           wenig geschützt habe. Auch vorschnelle          Ein Beitrag des Personzentrierten Ansatzes
„Ich habe den Lösungsweg immer noch            Beziehungsangebote sind oft ins Leere           zur Professionalisierung des Lernens in der
nicht verstanden. Können Sie mir das           gelaufen, weil die Konfliktparteien noch        Schule. Köln, S. 3–12
noch einmal erklären?“                         zu stark im Konflikt gefangen waren. Erst
                                               mit der Zeit habe ich gemerkt und tue es
                                               immer noch – auch nachdem ich selbst
Das soziale Gefüge                             die Kraft hatte, Konflikte auszuhalten
                                               –, dass es zunächst klare Regeln und
    Einige schulische Konflikte erfordern      auch manchmal Verbote im aktuellen
allerdings auch klare Grenzziehungen.          Konfliktgeschehen braucht. Erst dann,
Es gilt zu beurteilen, ob und inwieweit        wenn äußere Bedingungen geklärt sind,
die erlebten Verhaltensweisen Grenzen          können im anschließenden Konfliktge-
überschreiten, die das soziale Gefüge          spräch Beziehungen „gestiftet“ werden.
empfindlich stören. Ich zitiere dazu
Reinhard Tausch (1999, S. 9f.), der sich
im Sinne des Personzentrierten Ansatzes        Soziale Beziehungen
zu diesem Problem folgendermaßen
geäußert hat: „Wesentliche Merkmale                Basis eines solchen Konzeptes muss
eines guten Zusammenlebens/Arbeitens           ein Menschenbild sein, das von der
sind soziale Ordnung, Leistungsfähigkeit       Selbstaktualisierung, also vom Wunsch
sowie Freiheit des Einzelnen. Gelegent-        am Sich-Entwickeln, ausgeht. Wer
lich überschreiten Schüler die hierzu          Schüler als böse erlebt und bewertet
vereinbarten Grenzen. Das sind wichtige        – unfähig sich zu entwickeln und desin-
Situationen sozialen Lernens. Manche           teressiert an befriedigenden sozialen Be-
Lehrer verwechseln hierbei Achtung der         ziehungen –, der wird sich schwer tun.
Schüler und Einfühlung in ihr Erleben          Er wird nach jeder empathischen, aber
mit weicher Nachgiebigkeit. Andere             gescheiterten Lehreräußerung denken:
fühlen sich zu schwach oder überfor-           „Hat das überhaupt einen Sinn, was ich
dert, bei Grenzüberschreitungen die            da mache? Das lernen die doch sowieso
vereinbarten Konsequenzen zu verwirk-          nicht!“ Es braucht wohl ein Stück Mut
lichen. Sie schauen etwa bei Gewalttä-         und die Überzeugung, dass die Schüler
tigkeiten auf dem Schulhof oder Schul-         nicht als dissoziale Wesen auf die Welt
weg weg. Andere wiederum schimpfen             gekommen sind, auch wenn sie im Mo-
und werten Schüler ab.“ Und weiter             ment nicht anders können – vielleicht,
heißt es in dem Text von Tausch: „Sehr         weil sie es nie anders gelernt haben.
wichtig: Achtung und Einfühlung sind

                                                                   Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/04           19
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