Maria Callas Eine Sendereihe von Jürgen Kesting - Kulturradio
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Sonntag, 03. Juni 2018 15.04 – 17.00 Uhr Maria Callas Eine Sendereihe von Jürgen Kesting 22. Folge Der Affekt– und der Naturlaut: Turandot und veristische Musik Die Eine und die Einzige – so lautet das letzte Kapitel eines Buches unter dem Titel „The Last Primadonnas“. Es versammelt Gespräche, die der italienische Journalist Lanfranco Rasponi im Verlauf von drei Jahrzehnten mit 55 Sängerinnen geführt hat. Nur mit der Einen und Einzigen hat er nicht sprechen können – aber mit den meisten anderen hat er über sie gesprochen: über Maria Callas. Herzlich willkommen zur Folge 22. Ein weiteres Mal steht die Musik des Verismo und die von Puccini im Mittelpunkt – und die Kontroversen, die Maria Callas mit diesem Repertoire ausgelöst hat. „Warum ist sie nicht im verzierten Fach geblieben?“, so fragte die Sopranistin Augusta Oltrabella und fügte hinzu: Sie war sensationell darin, aber der Rest der Stimme war einfach künstlich produziert. Verismo war nichts für sie, denn sie war – wer auch immer was auch immer sagen mag – eine Darstellerin durch die musikalische Expression. ... Im Verismo ist die Musik oft nachrangig; man muss nur verstehen, eine Atmosphäre unabhängig von der Partitur zu schaffen. Augusta Oltrabella sprach damit eine Kontroverse an, die in den fünfziger Jahren einen Parteienstreit entfachte, der gelegentlich militante Züge annahm – wie zum Beispiel am 8. Januar 1955 bei einer Aufführung von Umberto Giordanos „Andrea Chenier“ nach der Arie „La mamma morta“: Musik 1 EMI 5 67913-2 Umberto Giordano 04‘43 LC 06646 ANDREA CHENIER T. 209 „La mamma morta Maria Callas, Sopran Orchester des Teatro alla Scala Antonino Votto „La mamma morta“ – die Arie der Maddalena de Coigny aus „Andrea Chenier“ von Umberto Giordano, mitgeschnitten bei einer Aufführung in der Mailänder Scala am 8. Januar 1955, mit Reaktionen wie aus der Fußballkurve. Vier Wochen zuvor hatte Maria Callas die Saison in Gasparo Spontinis „La Vestale“ erfolgreich eröffnet. Für die zweite Premiere der Saison war zunächst Giuseppe Verdis „Il Trovatore“ vorgesehen. Doch fünf Tage vor der Premiere ersuchte Mario del Monaco, die Oper von Giordano auf den Spielplan zu setzen. Ob einer Indisposition fühle er sich nicht in der Lage, den Manrico zu singen. Es ist wohl keine Vermutung, dass „Indisposition“ ein Euphemismus war für Furcht – für begründete Furcht vor der
Maria Callas – 22. Folge Seite 2 von 10 magischen Note in „Di quella pira“. Chenier war eine Partie nach del Monacos Stimme, die verlässlich zum B oder H reichte, nicht aber bis zum C; und es war eine Partie nach seinem Herzen, weil in dieser Oper der Tenor im Mittelpunkt steht. Mario del Monaco hatte sich klug entschieden; nach seiner Arie „Un dì all’azzurro spazio“ prasselte der Beifall wie warmer Regen auf ihn nieder. Die Sängerin der Maddalena muss sich hingegen mit einer Arie begnügen, eben „La mamma morta“, und mit zwei Duetten, in denen allerdings nicht sie dominiert, sondern der Tenor. Stelios Galatopoulos berichtet in seinem Buch „Callas: Sacred Monster“, dass sich an diesem Abend viele Bewunderer von Renata Tebaldi eingefunden hatten. Sie waren der Ansicht, dass die Maddalena eigentlich ihrer Engelsstimme, der Stimme der Tebaldi, zustand, und sie wollten bekunden, dass ihnen das hohe H der Callas nicht gefallen hatte. Folge war eine erbitterte Kontroverse zwischen zwei Lagern. Antonio Ghiringhelli, der Intendant der Scala, war bemüht, weitere Konflikte dadurch zu unterbinden, dass er die beiden Primadonnen zu verschiedenen Zeiten einsetzte. Aber das Gezänk hielt an, und es kam zum Éclat, als Maria Callas mit einer verletzenden Bemerkung zitiert wurde. Wenn meine liebe Freundin Renata Tebaldi an einem Abend Norma und an einem weiteren Lucia singt und dann Violetta, Gioconda und Medea – dann und nur dann sind wir Rivalinnen. Andernfalls ist es, als ob man Champagner und Cognac miteinander vergliche. Nein, nicht Cognac, sondern Coca-Cola. Heute können wir, wie John Steane in seinem Kommentar zum Mitschnitt mit süffisanter Ironie formulierte, für die Indisposition von Mario del Monaco nur dankbar sein: zum einen, weil er als Chenier in bester Form auf die Bühne kam, zum anderen, weil Maria Callas ein eindringliches Portrait der Maddalena hinterließ. Auch sie war stimmlich sehr gut disponiert, wie ein Ausschnitt aus dem langen Finalduett zeigt; und es ist deutlich zu erkennen, dass sie alle Energie-Reserven ausnutzt, um dem Novus Hercules an ihrer Seite Paroli zu bieten. Musik 2 EMI 5 67913-2 Umberto Giordano 09‘45 LC 06646 ANDREA CHENIER T. 218 und 219 “Benedico il destino” Maria Callas, Mario del Monaco Orchester des Teatro alla Scala Antonino Votto Das war der letzte Teil des Finalduetts aus Umberto Giordanos „Andrea Chenier“ mit Maria Callas und Mario del Monaco, mitgeschnitten am 8. Januar 1955 in der Mailänder Scala. Dirigent der Aufführung war Antonino Votto. Noch einmal zu der von Augusta Oltrabella gestellten Frage: „Warum nur ist sie nicht im verzierten Fach geblieben?“ Maria Callas ist ja im verzierten Fach geblieben. Seit 1952 hat sie auf der Bühne überwiegend Rollen des romantischen und klassischen Repertoires gesungen, abgesehen von den wenigen Aufführungen als Maddalena in „Andrea Chenier“, von drei Abenden als Cio-Cio-San in Chicago – © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de
Maria Callas – 22. Folge Seite 3 von 10 beide 1955 – und von sechs Aufritten als Fedora. Die Aufführung dieser Oper von Giordano wurde leider nicht übertragen. Der Grund dafür, dass sie in etlichen veristischen Opern auf der Klang-Bühne aufgetreten ist, war die Repertoire-Politik der EMI, die sich in der Frühzeit der Langspielplatte auf das kommerziell als Bank angesehene Standard-Repertoire konzentrierte. So war es fast zwangsläufig, dass der exzellenten Aufnahme von Mascagnis „Cavalleria Rusticana“ von 1953 ein Jahr später eine Einspielung von Leoncavallos „Pagliacci“, des zweiten Hauptwerks des Verismo folgen musste. Gab es für die Einspielung der Oper von Mascagni einhelligen Beifall, so fielen die Beurteilungen für die von Leoncavallos Oper widersprüchlich aus. In einer Werk- Diskographie rühmt Roland Graeme die besondere Fähigkeit von Maria Callas, die Farben der Stimme zu wechseln und auf die dramatische Situation einzustellen. Hingegen befindet Michael Scott, dass die Partie zu keiner Zeit zu Maria Callas gepasst habe. Wie der Friedensrichter aus einer Novelle von Bocaccio mag man sowohl Graeme als auch Scott recht geben – und auf den Einwand, dass doch nicht beide Recht haben können, erwidern: Auch du hast recht. Sie hat die Santuzza mit einer anderen, mit einer reicheren Stimme gesungen als Nedda in „Pagliacci“. Scott führt dies auf die Abnahme ihrer stimmlichen Kräfte zurück. Es liege eine traurige Ironie darin, dass sie sich damals in eine schöne Frau verwandelte und ihre Stimme den Blütenschimmer der Jugend verlor. Da aber Maria Callas für jede Rolle nach einer charakteristischen Physiognomie sucht, ist wohl auch anzunehmen, dass ihre Nedda schlanker und drahtiger sein sollte als Santuzza. Gleichwohl ist unüberhörbar, dass in der Ballatella – dem sogenannten Vogellied – einige Schärfen zu hören sind. Der Triller vor dem Vivace-Teil schwingt nicht wirklich ebenmäßig, und in der hohen Tessitura der Schlussphrasen fliegt die Stimme nicht, wie es die Vögel, die Zigeuner des Himmels, tun. Musik 3 EMI 5 56287 2 Ruggiero Leoncavallo 04‘38 LC 06646 PAGLIACCI T. 206 „Qual fiamma avea nel guardo ….. Stridono lassù“ Maria Callas, Sopran Orchester des Teatro alla Scala Tullio Serafin Nedda hat bei ihrem Vogellied, das sich in einem immer reicheren Orchestersatz entfaltet, einen Lauscher gehabt: Tonio. Er, der Außenseiter der Truppe, versucht, sich ihr zu nähern. Packend an dieser Szene ist die Glut der Gesangssprache: man spürt die eskalierende Agressivität und sexuelle Gier des Außenseiters, der sich als „contorto“ bezeichnet, als missgestaltet, und der Ton von Neddas verächtlicher Replik. Wenn Tonio zu einer Liebeserklärung ansetzen will, die wie ein Zitat aus einer Oper klingt – „Darf ich, o darf ich dir sagen?“ –, erwidert sie mit aufreizendem Hohn: Dass du mich liebst? Ha! Du wirst heute abend noch genügend Zeit haben, mir das zu sagen, wenn’s dich danach drängt ... Wenn du auf der Bühne deine Faxen machen darst. © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de
Maria Callas – 22. Folge Seite 4 von 10 Nedda spricht hier wie eine „belle dame sans merci“, die aus dem Gedicht von John Keats bekannt ist. Gemeint ist die im Umgang mit Männern grausame Frau. Sie behandeltTonio mit gezielter Grausamkeit wie einen Underdog. Vor Erregung zitternd – delirante con impeto – versucht Tonio, Nedda zu umarmen. Seine Worte – „Oh, tosta sara mia – Oh, bald wirst du mein sein“ – verraten, dass es sich um eine versuchte Vergewaltigung handelt. Tonio wird von Nedda mit der Peitsche abgewehrt. In der Darstellung von Maria Callas und Tito Gobbi gerät dies zu einer beklemmenden vokalen Aktion: einem höchstwertigen Beispiel für den canto verismo mit seiner dramatischen Deklamatorik, wobei sich die Begierde und Rohheit Tonios und der Ekel und der Zorn Neddas im Spiegel der Klänge abbilden. Musik 4 EMI 5 56287 2 Ruggiero Leoncavallo 04‘04 LC 06646 PAGLIACCI T. 208 “So ben che lo scemo contorto io son” Maria Callas, Tito Gobbi Orchester des Teatro alla Scala Tullio Serafin Tonio entfernt sich mit einem Racheschwur, bei dem er blasphemisch die himmlische Jungfrau anruft. Gleich darauf nimmt ein „pensier segreto“, ein verborgener Gedanke, von dem Nedda vor dem Vogellied gesprochen hatte, Gestalt an: Silvio, ein junger Bauer. Neddas Stimme, in der Szene mit Tonio vom Zorn verzerrt, klingt selig, wenn sie den Namen Silvio ausspricht. Das folgende Liebesduett zeigt, dass in der veristischen Oper trotz aller naturalistischen Effekte der Primat des Gesangs nicht gebrochen ist. Maria Callas und Rolando Panerai lassen uns, paradox gesprochen, einen Verismo-Belcanto erleben. Musik 5 EMI 5 56287 2 Ruggiero Leoncavallo 09’30 LC 06646 PAGLIACCI T. 209, 210, 211, „Nedda!...Silvio!“; „E fra quest’ansie in 212 eterno vivrai“; „Non mi tentar“; „E allor percché , di , tu m’hai stregato“ Maria Callas; Rolando Panerai Orchester des Teatro alla Scala Tullio Serafin Das Liebesduett zwischen Nedda und Silvio zeigt zwar, in welchem Maße auch in der veristischen Oper das belcantische Melos gewahrt bleibt, gleichwohl hat die Schreibweise, die musikalische Manier der nuova scuola italiana die Technik des Singens verändert. Schon Verdi ließ die Stimmen in der Region des passaggio, der Übergangslage zwischen den Registern, in Engführung mit dem Orchester singen. Die Sängerinnen brauchten mehr Volumen in der Mittellage und mehr Brillanz in der Höhe. Was dadurch verloren ging, waren Agilität und Leichtigkeit. Dass eine unter Volldruck geführte Stimme an Beweglichkeit verliert, versteht sich von selbst – ebenso, dass sie vom Umfang her kürzer wird. Sopranistinnen wie Rosa Ponselle, Claudia Muzio, Gina Cinga, Renata Tebaldi oder Victoria de los Angeles hatten zwar © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de
Maria Callas – 22. Folge Seite 5 von 10 klangreiche Einregister-Stimmen, aber der Umfang betrug nur zwei Oktaven bis zum C, oft nur bis zum H oder B. Wie die Partien Verdis für die donna di forza sind auch die von Puccini angelegt. Einige der „Last Primadonnas“ haben in den Gesprächen mit Lanfranco Rasponi etwa die Partie der Cio-Cio-San als „voice killer“ bezeichnet. Demungeachtet ist Butterfly auch von einigen lyrischen Sopranen – etwa Toti dal Monte oder Erna Berger – bewältigt worden, mit Turandot dagegen ist eine Lyrische überfordert. Überhaupt ist es nur wenigen Sopranistinnen gelungen, „In questa reggia“ nach Gesang klingen zu lassen. Turandot gehörte zu den Partien, mit denen Maria Callas 1948 und 1949 Sensation machte. Sie hat „In questa reggia“, wie Auszüge aus einer Aufführung im Teatro Colòn von Buenos Aires zeigen, mit der ungeheuren Energie der Jugend gesungen. In der Aufnahme der Arie aus dem Jahre 1954 offenbart sie auf faszinierende Weise die bipolare Psyche der Prinzessin: die Autorität, die sich gegen den Fremden richtet, und zugleich die Angst gegenüber dem Mann, den sie als Gemahl anerkennen wird. Die Gesamtaufnahme, entstanden im Juli 1957, kam sehr spät, vielleicht zu spät. Kurz zuvor hatte sie an der Scala Glucks Ifigenia und in Köln die Amina in „La Sonnambula“ gesungen, die Bellini-Partie mit einer schlanken, zarten Stimme. Dass sie mit dieser leichten Stimme überhaupt noch die Turandot singen konnte, kam einem Wunder gleich; es war jedenfalls eine Energieleistung ohnegleichen. Man kann die Aufnahme nur mit dem liebenden Ohr hören, und auch dann – oder gerade dann – hört man mit Schmerzen, dass sie ein Selbstopfer darbringt. Zunächst die Arie, in den Kalaf einstimmt und dann die Rätselszene. Partner von Maria Callas ist Eugenio Fernandi. Musik 6 EMI Giacomo Puccini 17’20 CDS 7 47971 2 TURANDOT LC 06646 „In questa reggia“; „Straniero, ascolta“; „Guizza al T. 201 bis 206 pari di fiamma“ ; „Gelo che ti dà fuoco“; „Gloria, o vincitore”; „Figlio del cielo“ Maria Callas, Sopran; Eugenio Fernandi, Tenor Orchester des Teatro alla Scala Tullio Serafin Das war die Rätselszene aus „Turandot“ mit Maria Callas und Eugenio Fernandi. Anders als all die Märtyrerinnen der Liebe, die im Mittelpunkt von Puccinis Opern stehen, ist Turandot gleichsam eine Schwester fataler Frauen wie Salome, Elektra oder Lulu. Sie hat, wie Ulrich Schreiber in seinem Opernführer darlegt, pathologische und sadistische Züge. Sie kann nur gerettet werden durch den Tod der Liù – der kleinen Sklavin, die Puccini geliebt hat wie viele andere seiner femmes fragiles: Manon, Mimì oder Cio-Cio-San. Es war wohl eine geheime Utopie, dass er die beiden Figuren miteinander verbinden, ineinander aufgehen lassen wollte. Puccini hat um diesen Schluss gerungen, ihn aber nicht gefunden – er ist vor © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de
Maria Callas – 22. Folge Seite 6 von 10 Vollendung der Oper gestorben. Erst nach dem Tod Liùs schmilzt der Eis-Gürtel, von dem Turandot umgeben ist: „Del prima pianto – die ersten Tränen spüre ich.“ Musik 7 EMI CDS 7 47971 2 Giacomo Puccini 05’09 LC 06646 TURANDOT T. 219 „Del primo pianto” Maria Callas, Sopran; Eugenio Fernandi, Tenor Orchester des Teatro alla Scala Tullio Serafin Die bildenden Künstler haben mit dem Körper der Venus von Milo oder dem Gesicht der Mona Lisa Typen geschaffen, welche die Phantasie von Jahrhunderten fesselten. Unter den literarischen Figuren sei Manon, so wieder Maupassant, in höherem Maße Frau als alle anderen: naiv und zugleich durchtrieben, perfide und liebenswert, aufreizend und spirituell, grauenvoll und charmant: ein „Liebestier von angeborener Schlauheit ohne jedes Schamgefühl“. Vor einem solchen Horizont sind die Rolle wie die Darstellung zu sehen. Das zentrale Thema des Werks ist der Kampf zwischen Tugend und Leidenschaft, der, wie es im Roman heißt, zugunsten der „Macht der Gefühlsbewegungen entschieden wird“. Des Grieux, ein junger Chevalier, hat seine Studien beendet, als er der verführerischen Manon Lescaut begegnet und vom Blitz getroffen wird. Er gibt all seine Lebenspläne auf; flieht mit der Geliebten nach Paris; wird zum Hasardeur und Spieler; muss erleben, dass Manon, ein triebgesteuertes und luxusbedürftiges Geschöpf, ihn mit dem wohlhabenden Monsieur de B. betrügt; versucht vergeblich, sich von Manon zu lösen; gerät zunehmend auf die schiefe Bahn; folgt der zur Deportation Verurteilten nach New Orleans; gerät wieder in ähnliche Lebens- und Liebeskonflikte; flieht mit Manon in die Wüste – für sie wird es die Flucht in den Tod. Wenn ein Verbot ausgesprochen wird, so heißt es bei Nietzsche und später auch bei Sigmund Freud, muss ein Begehren vorhanden sein. Das Begehren und die sexuelle Libertinage gefährden die Ordnung: sei es die moralische, sei es die soziale. Die erste Ausgabe des Romans von Prévost wurde als sittengefährdend konfisziert. Doch lebte die Figur der Manon fort als literarisches Modell. Von zentraler Bedeutung ist sie für die „La Dame aux Camélias“ von Alexandre Dumas, die Vorlage für „La Traviata“. Zur Opernheroine wurde Manon in dem Moment, da Weiblichkeit als Fatalität in den Mittelpunkt der Oper rückte: durch Dalila, Carmen oder Thaïs. Mit der lasziven Kindfrau Manon lieferte zunächst Jules Massenet dem Publikum der Gründerzeit das Wunschbild seiner Lüste. Puccini erlebte den Stoff, wie er sagte, als Italiener: mit der Leidenschaft der Verzweiflung. Wie in „La Bohème“ gibt es auch in „Manon Lescaut“ eine erste, zarte Gefühlsannäherung. Manon soll auf Wunsch ihrer Eltern in ein Kloster. Ihr soll, wie es im Roman heißt, „der Hang zu den irdischen Freuden“ ausgetrieben werden. Auf der Fahrt trifft sie auf Des Grieux, der sogleich vom coup de foudre getroffen ist: „In Eurem Antlitz leuchtet und blüht der Frühling“. Giuseppe di Stefano findet © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de
Maria Callas – 22. Folge Seite 7 von 10 wieder den amourösen Ton für das erst zarte, dann drängende Liebeswerben, und Maria Callas antwortet auf unnachahmliche Weise, mit einem Ton, in dem Scheu und die Erwartung auf etwas Verlockendes anklingen. Musik 8 EMI 556301 2 Giacomo Puccini 04’15 LC 06646 MANON LESCAUT T. 105 „Cortese damigella Maria Callas; Giuseppe di Stefano Orchester des Teatro alla Scala Tullio Serafin Die erste Begegnung zwischen Manon und Des Grieux – mit Maria Callas und Giuseppe di Stefano, begleitet vom Orchester des Teatro alla Scala unter Tullio Serafin. Die Strapazen, die Maria Callas mit „Turandot“ auf sich genommen hatte, werden in der Aufnahme von „Manon Lescaut“ spürbar, so schmerzlich hörbar, dass die EMI die Veröffentlichung drei Jahre lang hinausschob. Es gibt verwackelte hohe Töne, die selbst den ungeübten Hörer zusammenzucken lassen, so dass er auf expressive Nuancen zu achten womöglich nicht mehr bereit ist. Dies beeinträchtigt gerade den ersten ariosen Höhepunkt in der Partie der Manon. Manon ist mit Des Grieux durchgegangen, hat sich aber alsbald einem anderen zugewendet, weil sie, wie ihr Bruder zynisch kommentiert, „des Mangels überdrüssig ist“. Aber fast ebenso rasch ist sie auch der Pracht des sie umgebenden Luxus‘ überdrüssig. Sie glaubt – „In quelle trine morbide“ – zu erfrieren und sehnt sich nach den Küssen des Geliebten. Sängerinnen wie Renata Tebaldi oder Montserrat Caballé haben die fallenden Linien der Arie – ein erlesenes Beispiel für Puccinis morbide-vexatorische Deszendenz-Melodik – berückend tonschön gesungen, etwa das Diminuendo am Ende der letzten Phrase „pace e d’amor“ mit einer zarten messa di voce ausklingen lassen. Maria Callas singt die Musik – wenn Manon vom „gelido mortal“ redet, von der tödlichen Kälte – mit einem fahlen, einem gleichsam fröstelnden Ton. Aber damit wird sie dem Text eher gerecht als der Musik. Musik 9 EMI 556301 2 Giacomo Puccini 04’47 LC 06646 MANON LESCAUT T. 114 „Sei splendida lucente“; „In quelle trine morbide“ Maria Callas; Giuseppe di Stefano Orchester des Teatro alla Scala Tullio Serafin Manons „In quelle trine morbide“ kann klingen wie eine Klage de luxe, nach einem Selbstgenuss des Schmerzes, wenn die Arie nur mit der Fülle des Wohllauts dargeboten wird – wenn ihr nicht auch der Ton der Verzweiflung mitgegeben wird. Dass aber die Stimme von Maria Callas auf der Zielnote der Arie, dem hohen B auf „isolata“, ins Zittern gerät, lässt sich schwerlich als interpretatorische Absicht © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de
Maria Callas – 22. Folge Seite 8 von 10 hinstellen. Aber wer bemerkt, dass ihr in der folgenden Gesellschaftsszene im Hause des reichen Pächters Geronte, der ihr den kalten Luxus bietet, ein gesangsdarstellerisches Kabinettstück gelingt? Im Hause des reichen Herrn haben sich Musikanten und Sänger eingefunden, um Manon zu unterhalten wie bei Hofe. Ein Musico singt ein Madrigal auf Cloris, also die Chloë der griechischen Mythologie. Manon muss die Unterweisungen eines Tanzmeisters über sich ergehen lassen und dazu das huldigende Geschwätz von Gaffern, die für sie einen Partner aufs Parkett rufen. Geronte ist zur Stelle, man huldigt Merkur und Venus: Mit Liebe und Reichtum, heißt es, sind hier Frohsinn, Liebe und Reichtum wohlgefällig vereint. Manon beendet das Divertissement mit einer Melodie im galanten Stil, die den verzierten Stil in ironisch gebrochener Form zitiert. Die Wirkung dieses Stücks ist abhängig von den Finessen der Ausführung. Hier zeigt sich, dass es auch in der Musik aus der Ära des sogenannten Verismo Passagen gibt, die eine belcantische Technik verlangen. Die Verzierungen und Triller von „L’ora, o Tirsi“ waren für Soprane wie Licia Albanese, Renata Tebaldi und Mirella Freni nur eine Pflicht, aber keine Kür. Renata Tebaldi bietet betörende Piano-Phrasen an, aber die Ornamente kann sie nur buchstabieren. Sie muss sogar beim Vokalwechsel einen H als Gleitlaut einfügen, und auf den Triller muss sie ganz verzichten. Die Stimme von Maria Callas klingt strapaziert und dünn, aber die Ausführung verrät technische Meisterschaft. Zunächst La Tebaldi. Musik 10 Decca 430 253-2 Giacomo Puccini 04’48 LC 00171 MANON LESCAUT CD 118 „L’ora, o Tirsi, è vaga e bella“ Renata Tebaldi, Sopran Orchester der Accademia di Santa Cecilia Francesco Molinari-Pradelli Maria Callas: Musik 11 EMI 556301 2 Giacomo Puccini 03’45 LC 06646 MANON LESCAUT T. 118 „L’ora, o Tirsi, è vaga e bella“ Maria Callas, Sopran Orchester des Teatro alla Scala Tullio Serafin Die festliche Szene im Salon des Geronte endet damit, dass sich die gelangweilte Manon der stärksten Liebe hingibt: ihrer Selbstliebe. Sie betrachtet sich in einem Spiegel und sagt selbstgefällig: Oh, sarà la più bella – ach, ich bin doch die Schönste. Die Gäste der Soirée haben sich verabschiedet – und plötzlich steht, bleich wie ein Gespenst, des Grieux in der Tür. Manon stürzt ihm in einem glühenden Liebesrausch entgegen, so, als wäre nichts gewesen. Es folgt eine Auseinandersetzung mit Vorwürfen und Anklagen, mit Lockungen und © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de
Maria Callas – 22. Folge Seite 9 von 10 Versprechungen – wieder ein Kampf, bei dem die tentatrice, die Verführerin, obsiegt – aber mit welchen Mitteln? Die Manon von Maria Callas besänftigt den zürnenden des Grieux keineswegs mit leidenschaftlichen Liebeserklärungen. Sie zeigt sich auch in ihrer Leidenschaft berechnend und bringt Des Grieux zunächst dazu, sich selber schuldig zu fühlen, bevor sie erneut sein Begehren zu wecken versucht. Son forse della Manon d’un giorno meno piecenta bella? – Bin ich denn weniger Manon als einst und bin nicht mehr so schön? Maria Callas vertraut der Evidenz von Puccinis Gefühlssprache. Sie singt diese Phrase so betörend und herausfordernd lockend, dass wir – wie Guy de Maupassant – den armen Des Grieux verstehen, der sich der Versucherin nur ergeben kann. Das lange Duett endet mit einer Phrase, die an Wagners „Tristan“ denken lässt. In deiner Arme Seligkeit vergess ich mein Leid. ... Welch ein seligster Gruß …. Manon, lass mich sterben. Einmal mehr zeigt sich Giuseppe di Stefano mit seiner einschmeichelnden Stimme als Puccini-Sänger von seiner besten Seite. Musik 12 EMI 556301 2 Giacomo Puccini 08’18 LC 06646 MANON LESCAUT T. 119 Oh, sarò la pi’u bella ... Tu, Tu amore? Maria Callas; Giuseppe di Stefano Orchester des Teatro alla Scala Tullio Serafin Es erinnert wiederum an Wagners „Tristan“ – mit dem sich der junge Puccini lange beschäftigt hat –, dass in diesem Seligkeitsmoment der störende Dritte erscheint: Geronte. Dass Manon vor der Flucht versucht, ihren Schmuck zusammenzuraffen, wird ihr zum Verhängnis: Sie wird verhaftet und kurz darauf zur Deportation verurteilt. Wie andere Partien von Puccini – Tosca, Butterfly, Minnie oder Turandot – ist auch Manon mit Blick auf die vocalità eine paradoxe oder prekäre Partie. Sie muss die féminité der femme fragile ausstrahlen, braucht aber die Stimme eines lyrisch- dramatischen Soprans mit der Fähigkeit, sich gegen ein großes Orchester durchzusetzen. Maria Callas hatte mit der Aufnahme von „Turandot“ ihre Energie- Reserven sehr angegriffen. Es kostete sie danach große Anstrengungen, als Manon ihre Stimme durch die klimaktischen Phrasen des vierten Aktes zu führen. Diese Anstrengungen als gesteigerte Expression zu bezeichnen, als bedingungslose Identifikation mit der Rolle zu loben, läuft auf die Beschönigung einer Schwäche hinaus. Gleichwohl ist es erstaunlich, dass und wie sie mit deutlich reduzierten stimmlichen Mitteln viele ihrer Intentionen verwirklichen kann. In dem kurzen Duett vor ihrem Weltabschiedsgesang – „Sì, soccorso! Tu poi salvarmi“ – gelingt es ihr, die Erschöpfung der in der Wüste verdurstenden Manon im Klang abzubilden. Wie suggestiv deklamiert sie die ersten Phrase von „Sola, perduta, abbandonata“, wie © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de
Maria Callas – 22. Folge Seite 10 von 10 ergreifend das fallende Portamento nach dem Wort „ciel“; wie schmerzlich das verzweifelte Aufbegehren von „Ah, non voglio morir“; und mit welch feinem Rhythmus singt sie die Phrase „Terra dispace mi sembrava questa ... Dieses Land schien mir ein Land des Friedens“. Aber immer wieder gibt es Momente, in denen man als Hörer auch heute – oder gerade heute – mitleidet, eben weil man weiß, dass sie damals in der Endphase ihrer Laufbahn war. Sie hören die Schlussszene der Oper. Musik 13 EMI 556301 2 Giacomo Puccini 12’00 LC 06646 MANON LESCAUT T. 212 “Sola, perduta, abbandonata” Maria Callas; Giuseppe di Stefano Orchester des Teatro alla Scala Tullio Serafin Das Finale von „Manon Lescaut“ mit Maria Callas, Giuseppe di Stefano und dem Orchester des Teatro alla Scala unter Tullio Serafin. Mit dieser Aufnahme ging auch nach sieben Jahren die künstlerische die Partnerschaft mit Giuseppe di Stefano zu Ende. Im Jahr 1957, in dem diese Einspielung entstand, deuteten sich immer wieder stimmliche Probleme an. Dass sie zu Beginn des folgenden Jahres, im Januar 1958, eine Aufführung von „Norma“ an der römischen Oper abbrechen musste, zeitigte einen der größten Theaterskandale der fünfziger Jahre. Im Herbst des Jahres kam es dann auch zum Bruch mit der Metropolitan Opera. Maria Callas wurde zu einer Primadonna ohne Heimat. Mehr dazu in der kommenden Sendung. Das Manuskript der heutigen Folge finden sie, wie immer, im Internet unter Kulturradio. de. Am Mikrophon verabschiedet sich Jürgen Kesting. © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de
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