FRIEDENSZEITUNG - Schweizerischer Friedensrat
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FRIEDENSZEITUNG NR. 36 MÄRZ 2021 1 Äthiopische und eritreische Truppen im Tigray 14 Die neutralen Staaten im Sicherheitsrat 4 Eritrea-Aufruf: «Ohne dabei das Gesicht zu verlieren» 16 Friedensbedrohende Wirkung der Klimakrise 6 Völkermord: Kein Ende der Straflosigkeit 26 Die UNO-Resolution 2250 zu Kindern im Krieg 10 Teil 4 der Serie zur Sicherheitsratskandidatur 28 Syrien: Rekrutierung von Minderjährigen Aufruf von EritreerInnen in der Schweiz zum Krieg im äthiopischen Tigray-Gebiet Der Krieg in Tigray – eine Chronik Anfang November 2020 eskalierte der zwischen die Fronten geraten sind, son- Als Premier Abiy Ahmed die landeswei- Konflikt in der äthiopischen Provinz dern dass Premierminister Abiy Ahmed ten Wahlen aufgrund der Covid-19-Pan- Tigray. Die äthiopische Regierung un- zur Bekämpfung der TPLF-Milizen demie verschob, führte die TPLF am 9. ter Ministerpräsident Abiy Ahmed star- offenkundig auch auf deren alten Erb- September 2020 eigene Wahlen durch. tete eine Militäroffensive gegen die feind, Eritreas Machthaber Isaias Afe- Bei einer angeblichen Wahlbeteiligung Provinz, nachdem die dort regierende werki, setzt. von 98 Prozent reklamierte die Partei alle TPLF eine Wahl durchführte und eine So griffen äthiopische Truppen die bis auf einen Sitz im Regionalparlament militärische Eskalation vorantrieb. An- TPLF-Milizen nicht nur vom Gebiet des für sich. fang Dezember erklärte Abiy Ahmed eigentlich unabhängigen Eritreas aus an. – Darüber hinaus demonstrierte Premier das Ende des Krieges. Tatsächlich wird Eritreische Streitkräfte befinden sich Abiy Ahmed seine Macht dadurch, dass der Krieg jedoch fortgeführt. EritreerIn- auch in Tigray, wo sie für Morde und er sich im Sommer 2020 gemeinsam mit nen in der Schweiz protestieren nicht Plünderungen an der Zivilbevölkerung, dem eritreischen Diktator Isaias Afewer- nur gegen den Einsatz eritreischer aber auch für Entführungen eritreischer ki im berüchtigten Militärausbildungsla- Truppen im Nachbarland, sondern hal- Landsleute aus den UNHCR-Lagern ger Sawa (Eritrea) und im Oktober 2020 ten jetzt den Zeitpunkt für gekommen, verantwortlich gemacht werden. Sowohl am Hauptstützpunkt der äthiopischen um den Aufenthalt von Geflüchteten die äthiopische Zentralregierung als Streitkräfte in Bishowto ablichten liess. aus Äthiopien und Eritrea in unserem auch Diktator Afewerki bestreiten diese – Mit einer Währungsreform versuch- Land endlich zu regularisieren. Entwicklung der Ereignisse bislang ve- te Abiy Ahmed im September 2020 hement, doch die Beweise für eine mili- überdies, die in weiten Teilen der äthi- / Eritreischer Medienbund Schweiz / tärische Präsenz eritreischer Truppen in opischen Bevölkerung als korrupt ver- Tigray werden immer erdrückender. schriene TPLF-Regionalregierung in die Am 4. November 2020 ist der lang Knie zu zwingen. schwelende Konflikt zwischen der äthi- Die wichtigsten Eckpunkte – Ende Oktober wurden diverse, bis opischen Zentralregierung unter Pre- des Tigray-Konflikts dato umstrittene Flugbewegungen über mierminister Abiy Ahmed und der bis – Die Regionalregierung der nordäthiopi- dem Tigray-Gebiet registriert. Inwieweit zu dessen Machtantritt im April 2018 schen Provinz Tigray wurde von der ehe- die Zentralregierung den Militärschlag dominierenden Tigray People’s Libera- maligen Regierungspartei TPLF gestellt. im Norden des Landes vorbereitet hat, tion Front (TPLF) militärisch hängt von der jeweiligen Dar- eskaliert. Seitdem bekämpfen stellung der Ereignisse ab. sich im Norden des Landes die – Am 3. November griffen an- Truppen der Zentralregierung gebliche TPLF-Milizen einen und die TPLF-Milizen. Ge- Militärstützpunkt der äthiopi- fährlich und unberechenbar schen Streitkräfte an, ermor- macht den Konflikt die Tat- deten zahlreiche Soldaten und sache, dass nicht nur 100’000 hielten weitere 5000 Mann als eritreische Geflüchtete, die im Geiseln fest. Tigray-Gebiet in UNHCR-La- gern Zuflucht gesucht haben, Fortsetzung Seite 2
Fortsetzung von Seite 1 – Gemäss UNHCR-Angaben haben Beteiligung Eritreas am aktuellen Kon- sich rund 50’000 Menschen aus dem flikt höchst problematisch. Wenn Isaias – Dies war der Startschuss zur militäri- Tigray-Gebiet in überfüllte Flüchtlings- Afewerkis Streitkräfte die äthiopischen schen Offensive der Regierungstruppen lager im Sudan begeben. Innerhalb von Truppen im Tigray-Gebiet unterstüt- gegen die der Regionalregierung gegen- Tigray bleibt die Lage unübersichtlich zen, haben sie gleichzeitig ungehinder- über loyalen TPLF-Truppen. Die Of- und die Nahrungs- und Wasserversor- ten Zugriff auf die vor der eigenen Re- fensive vom 4. November 2020 erfolgte gung prekär. Wie viele ZivilistInnen den gierung geflohenen EritreerInnen in den aus mehreren Richtungen, u.a. auch von Angriffen zum Opfer gefallen sind und Flüchtlingslagern. nördlicher, also eritreischer Seite her. wer für die diversen, oft ethnisch moti- Die Präsenz von eritreischen Trup- – Eine unabhängige Berichterstattung vierten Massaker verantwortlich zeich- pen in Tigray wird von der eritreischen zum Krieg sowie über ein gleichzeitiges net, bleibt bis heute ungeklärt. und der äthiopischen Regierung ve- Massaker an Angehörigen der amhari- – Gemäss eigenen Angaben haben sich hement bestritten, doch werden die schen Ethnie in Mai Khadra wurde da- die TPLF-Milizen in die Berge zurück- Beweise, dass eritreische Soldaten für durch verunmöglicht, dass Abiy Ahmed gezogen. Von da aus liefern sie sich Vergewaltigungen, Plünderungen und wochenlang eine totale Internet- und weiterhin Kämpfe mit Angehörigen der Morde an ZivilistInnen, aber auch für Telefonsperre über ganz Tigray verhäng- äthiopischen und eritreischen Streit- Entführungen von Landsleuten aus den te und JournalistInnen die Einreise ins kräfte. Letztere werden für zahlreiche Flüchtlingslagern verantwortlich sind, Kriegsgebiet untersagte. Plünderungen, Morde und Entführun- immer erdrückender. Am 11. Dezember – Einen Monat später, im Dezember gen verantwortlich gemacht. Die wich- sagte der Leiter des UNO-Flüchtlings- 2020 und nach der Bombardierung der tigsten Exponenten der TPLF-Regio- hilfswerks, er habe im vergangenen Mo- Provinzhauptstadt Mekele, erklärte Pre- nalregierung sind weiterhin auf freiem nat eine «überwältigende Anzahl» von mier Abiy Ahmed den Militäreinsatz Fuss, während andere, darunter der Berichten über eritreische Geflüchtete für beendet. Die Mission (nämlich die ehemalige Aussenminister, getötet oder in Tigray erhalten, die getötet, entführt TPLF-Spitze zur Rechenschaft zu zie- festgenommen worden sind. oder gewaltsam nach Eritrea zurückge- hen) sei erfolgreich gewesen, liess er ver- – In der Region Tigray halten sich be- bracht worden seien. lauten. Zivile Opfer und die Teilnahme sonders viele eritreische Flüchtlinge auf, eritreischer Truppen am Krieg streitet er die ihr Land aufgrund von politischer Die Folgen des Krieges vehement ab. Verfolgung und/oder des unbegrenzten – Flüchtlingskrise: Um die 50’000 Men- Militärdienstes verlassen haben. Das schen aus der Region Tigray sind in FRIEDENSZEITUNG UNHCR schätzt deren Zahl gegenwärtig auf knapp 100’000 Personen. den Sudan geflüchtet, um die 100’000 eritreische Geflüchtete befinden sich in Tigray in einer prekären Lage. Herausgegeben vom Schweizerischen Die Rolle Eritreas im Tigray-Konflikt – Humanitäre Krise: Seit Beginn der Mi- Friedensrat SFR, Gartenhofstr. 7, 8004 Nachdem sie 1991 gemeinsam die litäroperation Anfang November 2020 Zürich, Telefon +41 (0)44 242 93 21, kommunistische DERG-Regierung aus hat die Zentralregierung die gesamte info@friedensrat.ch, www.friedensrat.ch Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba Region Tigray mit einer totalen Tele- PC-Konto 80-35870-1 SFR Zürich. vertrieben und sich Eritrea 1993 für un- fon- und Internetsperre belegt. Jour- Redaktion/Layout: Peter Weishaupt. abhängig erklärt hatte, führten Eritreas nalistInnen hatten wochenlang keinen Mitarbeit: Jenny Heeb, Eritreischer Machthaber Isaias Afewerki und Äthi- Medienbund, Friedensgutachten 2020, opiens Regierung unter dem aus Tigray Markus Heiniger, Valentina Maggiul- stammenden TPLF-Führer Melles Ze- li, Francine Perret, Marionna Schlat- ter, Syrien Network for Human Rights, nawi zwischen 1998 und 2000 einen blu- Andreas Zumach. tigen Grenzkrieg, gefolgt von einer über Korrektur: Liliane Studer. zwei Jahrzehnte dauernden «no peace/ no war»-Situation mit Truppenpräsenz Bilder: Titel: EMB; Seite 2/3: KDV/AP; Seite 5: Amnesty; Seite 7: Kichka; Seite an der gemeinsamen Grenze. 13: UNO; Seite 24: WHI; Seite 25: Karin Diese Pattsituation wurde mit dem Scheidegger; Seite 26: Peace Counts; Sei- Friedensabkommen 2018 zwar beendet, te 28: sn4hr; Seite 32: SFR. doch bereits im April 2019 hatte Eritrea Druck: Mattenbach AG, Winterthur die Grenze zum Tigray-Gebiet aufgrund Auflage: 2000 Ex., März 2021 eines massiven Exodus (ca. 50’000 Per- sonen) einseitig wieder geschlossen. Die Die FRIEDENSZEITUNG erscheint Geschichte der ehemaligen Waffenbrü- vierteljährlich jeweils im März, Juni, September und Dezember. Sie geht an der führt bis heute zu einer erbitterten die Mitglieder des SFR, der Abopreis ist Erbfeindschaft zwischen der eritrei- im Mitgliederbeitrag inbegriffen. Einzel schen Regierung und der TPLF. abo: Fr. 50.–. ISSN 1664-4492 Gegenwärtig halten sich nicht we- niger als 96’000 eritreische Flüchtlinge PERFOR MANCE im Tigray-Gebiet auf, wie Angaben des UNHCR aus den Flüchtlingslagern May neutral Drucksache Aini, Hintsats, Shimelba und Adi Ha- Ein Tigray-Mädchen sitzt auf einem Hügel mit Blick auf das F No. 01-19-795947 – www.myclimate.org © myclimate – The Climate Protection Partnership rush zu entnehmen ist. Dies macht eine die vor dem Konflikt in der Region Tigray in Ä FRIEDENSZEITUNG 36-21 2
Editorial Wie sind EritreerInnen Die Demokratie bleibt vom Krieg betroffen? eine Baustelle Eritreische Geflüchtete in Tigray Dieses Jahr wird ein wenig ruhmreiches Ju- Zu den Zielorten der Militäroperationen biläum in der Geschichte der Schweiz gefei- gehören vier grosse Lager in Tigray, in de- ert: Vor 50 Jahren befand die Mehrheit der nen 100’000 Flüchtlinge aus Eritrea unter Schweizer Männer, die Schweizer Frauen soll- internationalem Schutz untergebracht ten das Stimmrecht auf der Ebene des Bun- waren und sind. Es wird geschätzt, dass des erhalten. Erstaunlich finde ich, wie wenig Tausende Geflüchteter von eritreischen dies Anlass für grundsätzliche Überlegungen Truppen entführt und gewaltsam nach zum Wesen unserer Demokratie ist. Eritrea zurückgebracht worden sind. Die Entführten wurden gezwungen, sich an So ist das Stimmrecht immer noch an das den Kämpfen gegen die lokale Bevölke- Bürgerrecht gebunden (mit wenigen Ausnah- rung zu beteiligen. Andere wurden getö- men in Kantonen und Gemeinden), weshalb Zugang zum Kriegsgebiet. Geschätzte tet oder flohen aus den Lagern. Zwei La- ein erheblicher Teil der Bevölkerung zwar mit zwei Millionen Menschen haben keinen ger, Adi Harush und May Aini, erhielten ihrer Arbeit zum Wohlstand des Landes und Zugang zu Lebensmitteln, Wasser oder am 27. Dezember die erste Nahrungsmit- mit ihren Steuern zu den Staatseinnahmen Sicherheit, 650’000 von ihnen gelten als telhilfe vom Welternährungsprogramm. beiträgt, aber von der Mitbestimmung über intern Vertriebene (IDPs). Abiy Ahmeds Die anderen Lager, Shemelba und Hint- deren Verwendung ausgeschlossen bleibt. Regierung hat den Zugang nach Tigray sats, haben seit drei Monaten keine Nah- Der Grundsatz, dass jene, die zum Gemein- auch für UNO-Agenturen und Men- rungsmittel mehr erhalten. wesen beitragen, auch bei seiner Ausgestal- schenrechtsorganisationen stark einge- Eritreische Geflüchtete, die aus tung mitbestimmen können sollten, gilt in schränkt. Hilfswerke und ExpertInnen Tigray in die Hauptstadt Addis Abeba der Schweiz nicht. Diese Lücke könnte mit werfen der Zentralregierung vor, Hun- geflohen sind, wurden verhaftet und der Erweiterung des Stimmrechts auf die in ger als Waffe gegen die Zivilbevölkerung zwangsweise in die Flüchtlingslager der Schweiz Ansässigen geschlossen werden. in Tigray einzusetzen. nach Tigray zurückgebracht, obwohl es Umstritten ist auch, ab welchem Alter das – Destabilisierung und Internationa- in diesen Lagern an Sicherheit sowie Stimmrecht gelten soll. Die Idee des Stimm- lisierung des Konflikts: Trotz Premier an Nahrung mangelt und eine Zwangs- rechtsalters 0 ist völlig aus den Diskussionen Abiys Beteuerungen sind die Kämpfe im abschiebung nach Eritrea droht. Das verschwunden. Tigray-Gebiet nicht beendet. Wer mo- UNO-Flüchtlingshilfswerk äusserte Be- mentan die Kontrolle über das Gebiet sorgnis, da die äthiopische Regierung Das Dreieck Demokratie, Rechtsstaat, Men- hat, bleibt völlig unklar. Zudem schei- ihr keinen Zugang zu den Flüchtlingsla- schenrechte ist in der Schweiz institutionell nen sich weiterhin eritreische Streitkräf- gern in Tigray ermöglicht. nicht ausgebaut und unter dem Druck des te in Tigray aufzuhalten. Hinzu kommen Rechtspopulismus stark in Schieflage gera- Auseinandersetzungen an der Grenze EritreerInnen in Eritrea ten. Von einem demokratischen Rechtsstaat zum Sudan und ethnische Unruhen in Im November wurden drei Missile-An- ist die Schweiz noch weit entfernt. So fehlt anderen Landesteilen Äthiopiens. griffe in Eritrea gemeldet. Zu Beginn des eine Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Zuläs- Krieges gab es zahlreiche Berichte, dass sigkeit von Volksinitiativen wird von den wehrpflichtige EritreerInnen zusammen- Eidgenössischen Räten beurteilt, also nach getrieben werden. politischen Opportunitäten statt nach den gesetzlichen Kriterien, was unter dem Druck EritreerInnen in der Schweiz der SVP zur Zulassung mehrerer völker- Der Grossteil der EritreerInnen in rechtswidriger Initiativen geführt hat. der Schweiz hat Verwandte in Tigray, da in der Grenzregion viele eritreische Ebenso fehlen fast völlig gesetzliche Rahmen- Geflüchtete leben. Zu ihren Verwandten bedingungen für die Finanzierung von Partei- können sie keinen Kontakt aufnehmen, en und Abstimmungskomitees sowie Transpa- da die Telefon- und Internetverbindung renzvorschriften für deren Einnahmen (womit in der Region unterbrochen wurde. Sie die Schweiz gegen die von ihr ratifizierte Straf- können sich nicht über den aktuellen rechtskonvention des Europarates gegen Zustand informieren und die Meldun- Korruption verstösst). Immerhin ist nun die gen über die Zwangsentführungen und «Tranzparenzinitiative» unterwegs. -einberufungen sind sehr besorgniserre- gend. EritreerInnen in der Schweiz, wie Wie allergisch die herrschenden Kreise in die- etwa der EMBS-Mediensprecher Ok- sem Land auf gelebte Demokratie reagieren, baab Tesfamariam, sorgen sich zudem hat der Ausgang der Konzernverantwortungs- um ihre Verwandten in Eritrea. Es gab initiative gezeigt, auf Grund dessen nun NGOs Berichte von Angehörigen, die im Krieg staatliche Mittel entzogen werden sollen. Die kämpfen mussten und verletzt wurden. Demokratie ist wirklich eine Baustelle. Flüchtlingslager Umm Rakouba, das Menschen beherbergt, Äthiopien geflohen sind, in Qadarif, Ostsudan. Ruedi Tobler 3 FRIEDENSZEITUNG 36-21
Aufruf von EritreerInnen in der Schweiz vom 26. Januar 2021 zum Krieg im äthiopischen Tigray-Gebiet ... ohne dabei das Gesicht zu verlieren Die Äthiopien- und Eritrea-Politik der Mekele mit hoher Wahrscheinlichkeit mo-Aufständische im Süden des Landes Schweizer Migrationsbehörden ist ge- in die umliegenden Berge zurückziehen, unter Kontrolle zu bringen? scheitert. Trotz erhöhter Rückkehrhil- um von dort aus einen möglicherweise Und wie positioniert sich die Schweiz feversprechen etwa im Kanton Bern monate- oder jahrelangen Guerillakrieg in diesem undurchsichtigen Spiel um (Februar 2020) kehren abgewiesene zu führen; andererseits halten sich im Macht und Einfluss am Horn von Afrika? EritreerInnen nicht – wie vom Staatsse- Tigray-Gebiet selbst 100’000 eritreische Ihre Migrationsbehörden inklusive das kretariat für Migration (SEM) und vom Flüchtlinge auf, die nun zwischen die Bundesverwaltungsgericht tun so, als ob Bundesverwaltungsgericht als «mög- Fronten geraten sind. nichts geschehen wäre. Weiterhin wer- lich, zumutbar und zulässig» erachtet Erste Berichte über Entführungen den Asylbeschwerden von äthiopischen – in ihre Heimat zurück. Und trotz ei- aus den dortigen UNHCR-Flüchtlings- Oromos – auch wenn sie glaubhaft po- nes Rückübernahmeabkommens, das lagern durch eritreische Milizen sind be- litische Verfolgung geltend machen kön- die EU und die Schweiz mit Äthiopien reits laut geworden. Ausserdem hat das nen – als aussichtslos abgeschmettert, geschlossen haben, konnten seit dem UNHCR seit Beginn der äthiopischen Härtefallgesuche von EritreerInnen wer- Machtantritt von Premier Abiy Ahmed Offensive keine Nachrichten mehr von den trotz Stellenzusagen ohne weitere im April 2018 erst eine Handvoll Per- diesen Flüchtlingen erhalten und konnte Begründung formlos abgeschrieben. sonen zwangsweise nach Äthiopien zu- sie nicht versorgen. Die UNO hat immer Wie lange will man diese Vogel - rückgeführt werden. noch keinen Zugang zur Tigray-Region, -Strauss-Politik noch weiterführen und Während die Menschenrechtsla- obwohl Anfang Dezember ein Abkom- dabei die Zukunft unzähliger junger und ge in Eritrea trotz Friedensschluss mit men mit Äthiopien getroffen wurde. gesunder Menschen ruinieren? Wäre Äthiopien unverändert schlecht blieb, Was wird Premier Abiy mit diesen nicht jetzt der Zeitpunkt gekommen, hat auch die Situation beim grossen Flüchtlingen anfangen? Sämtliche erit- um den Aufenthalt dieser Menschen, Nachbarn Äthiopien nicht das gebracht, reische Oppositionsgruppen hat er be- welche in den Jahren 2014 bis 2016 aus was sich das SEM und das Bundesver- reits aus Äthiopien verbannt, wie es Dik- Äthiopien und Eritrea zu uns kamen, waltungsgericht erhofften. Im Norden tator Isaias Afewerki verlangt hat. Wird endlich zu regularisieren und wiederer- des Landes herrscht jetzt Krieg – laut Abiy ihm in einem weiteren Schritt – wägungsweise festzustellen, dass eine Premier Abiy zeitlich begrenzt und ziel- quasi als Dank für dessen Kooperation Heimkehr derzeit nicht zumutbar ist? gerichtet zwar, aber unter Miteinbezug gegen die Tigraytruppen – nun auch Die Menschenrechtslage und die des Diktators aus Eritreas Hauptstadt noch die eritreischen Flüchtlinge zur katastrophalen Lebensbedingungen in Asmara, der die abtrünnigen Tigray-Mi- freien Verfügung überlassen? Eritrea werden sich nicht verbessern, lizen vom Norden her angreifen lässt. Wie gedenkt der Träger des Frie- solange Diktator Afewerki an der Macht Und von wem? Von in landesweiten densnobelpreises aus dieser Zwickmühle ist. Die Schweiz kann nun weiter abwar- Razzien eiligst auf Lastwagen zusam- wieder herauszukommen? Und wie wer- ten und zusehen, während die Betrof- mengetriebenen eritreischen Jugendli- den sich die übrigen Volksgruppen im fenen derweil unter menschenunwür- chen, einige davon erst 14 oder 15 Jahre Vielvölkerstaat Äthiopien positionieren? digen Bedingungen im Nothilfesystem alt, die nun als Kanonenfutter vor den Sind ihre Forderungen nach Autonomie gefangen bleiben. Jetzt ist der Moment äthiopischen Truppen her in Richtung und Selbstbestimmung verstummt, nun gekommen, um ihren Aufenthalt zu le- Grenze getrieben werden. da ihre Anführer «der Einheit zuliebe» galisieren, und das wäre für das SEM Abiy Ahmeds Beteuerungen von grösstenteils im Gefängnis sitzen bzw. und das Bundesverwaltungsgericht einem raschen und sauberen Krieg ha- unter Hausarrest gestellt wurden? Oder nicht einmal mit einem Gesichtsverlust ben mit diesem unseligen Pakt viel an wird man in nicht allzu ferner Zukunft verbunden! Die Eskalation im Norden Glaubwürdigkeit verloren. Zum einen nochmals auf die halb verhungerten Äthiopiens ist völlig unberechenbar ge- werden sich die Tigray-Milizen nach Truppen des Diktators aus Asmara an- worden: ein absolut ausschlaggebendes der Einnahme der Provinzhauptstadt gewiesen sein, um beispielsweise Oro- Argument für einen solchen Schritt. Kaum jemand wird dies bestreiten. Nein. Niemand braucht das Ge- sicht zu verlieren, wenn in einem Akt der Menschlichkeit unzähligen jungen Menschen mittels einer realitätsbezoge- nen Praxisanpassung endlich die Chan- ce gegeben würde, ihre angefangenen Berufsausbildungen in der Schweiz ab- zuschliessen. Dieser Aufruf wurde von uns leicht gekürzt. Ne- ben vielen anderen Organisationen wurde er auch vom Schweizerischen Friedensrat unterzeichnet. FRIEDENSZEITUNG 36-21 4
Äthiopien: Amnesty International zu Massakern durch eritreische Truppen in Tigray Verbrechen gegen die Menschlichkeit Am 28. und 29. November 2020 töteten Angehörige der eritreischen Streitkräf- te im äthiopischen Bundesstaat Tigray systematisch Hunderte von unbewaff- neten Zivilpersonen. Sie eröffneten in den Strassen der Stadt Axum das Feuer und durchkämmten ein Haus nach dem anderen – ein Massaker, das mutmasslich einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkommt. Zu diesem Ergebnis kommt Amnesty In- ternational in einem neuen Bericht. / Amnesty International Schweiz / Die Menschenrechtsorganisation sprach mit 41 Überlebenden und Augenzeug Ein Überblick über Axum zeigt die durch die Bombardierung und Luftangriffe be- Innen. Diese berichteten übereinstim- schädigten Strukturen in der Stadt (durch orangefarbene Markierungen gekenn- mend von aussergerichtlichen Hin- zeichnet). Bereiche mit erheblichen Trümmern, die wahrscheinlich auf Plünderun- richtungen, wahllosem Beschuss und gen zurückzuführen sind, werden durch gelbe Markierungen angezeigt. Massenplünderungen nach einer Offen- sive durch äthiopische und eritreische eritreische Militär Massenplünderungen In einem Video, das am Morgen des Truppen. Diese hatten die Stadt Axum und aussergerichtliche Hinrichtungen. 28. November von unterschiedlichen Mitte November angegriffen, um sie von Die ZeugInnen konnten die Angehörigen Orten am Fusse des Berges aufgenom- den Milizen der Volksbefreiungsfront der eritreischen Streitkräfte leicht identi- men wurde, sind anhaltende Schüsse zu von Tigray (Tigray People’s Liberation fizieren. Sie fuhren Fahrzeuge mit eritrei- hören. Überlebende undAugenzeugIn- Front, TPLF) zurückzuerobern. schen Nummernschildern, trugen unver- nen berichteten, dass die eritreischen Die Auswertung von Satellitenbil- wechselbare Tarnkleidung und Schuhe, Streitkräfte ab etwa 16 Uhr begonnen dern durch das Crisis Evidence Lab die von den eritreischen Streitkräften hätten, vorsätzlich auf Zivilpersonen zu von Amnesty International bestätigt verwendet werden. Ausserdem sprachen schiessen. Die BewohnerInnen gaben Berichte über wahllosen Beschuss und sie Arabisch oder einen Tigrinya-Dialekt, an, dass die Opfer unbewaffnet gewesen Massenplünderungen. Ausserdem zei- der in Äthiopien nicht gesprochen wird. und viele von ihnen auf der Flucht vor gen die Bilder Bodenveränderungen, Einige trugen die rituellen Gesichtsnar- den Soldaten erschossen worden seien. die auf neue Massengräber in der Nähe ben der ethnischen Gemeinschaft der Nach den Tötungen waren die gepflas- von zwei Kirchen der Stadt hinweisen. Ben Amir, die in Äthiopien nicht vertre- terten Strassen und Plätze von Axum «Die Beweise sind überzeugend und ten ist. Schliesslich machten einige der mit Leichen übersät. legen eine erschreckende Schlussfolge- Soldaten keinen Hehl aus ihrer Identität Am nächsten Tag schossen die erit- rung nahe. Äthiopische und eritreische und sagten den AnwohnerInnen offen, reischen Soldaten auf alle, die versuch- Truppen verübten bei ihrer Offensive dass sie Eritreer seien. ten, die Getöteten zu bergen. Ausser- zur Rückeroberung von Axum mehrere dem durchsuchten die Soldaten weiter Kriegsverbrechen. Eritreische Soldaten «Wir sahen nur Tote und die Häuser. Sie jagten und töteten Män- randalierten und töteten systematisch weinende Menschen» ner und Jugendliche, aber auch eine klei- und kaltblütig Hunderte von Zivilper- ZeugInnen zufolge verübten die eri nere Anzahl von Frauen. Amnesty In- sonen», so Deprose Muchena, Regio- treischen Streitkräfte die schlimmsten ternational hat die Namen von mehr als naldirektor für das östliche und südliche Gewalttaten am 28. und 29. November 240 Opfern zusammengetragen. Zwar Afrika bei Amnesty International. 2020. Der Angriff erfolgte unmittel- konnte Amnesty die Gesamtzahl der bar, nachdem eine kleine Gruppe von Todesopfer nicht verifizieren, doch le- Gross angelegte Militäroffensive TPLF-Milizionären am Morgen des 28. gen übereinstimmende Zeugenaussagen Am 19. November 2020 nahmen äthi- November einen Militärstützpunkt auf und eine Reihe überzeugender Indizien opische und eritreische Streitkräfte in dem Berg Mai Koho angegriffen hatte, der nahe, dass Hunderte EinwohnerInnen einer gross angelegten Offensive die in unmittelbarer Nähe von Axum liegt. von Axum getötet wurden. Stadt Axum ein. Mittels wahlloser Bom- Die Milizionäre waren mit Gewehren be- Täglich veröffentlicht das Europe External Pro- bardierungen und Beschuss töteten und waffnet und wurden von AnwohnerInnen gramme with Africa (EEPA) einen Bericht zur Situ- vertrieben sie zahlreiche ZivilistInnen. mit improvisierten Waffen wie Stöcken, ation in der Kriegsregion. Alle Berichte finden sich In den folgenden neun Tagen beging das Messern und Steinen unterstützt. unter https://www.eepa.be/?page_id=4237. 5 FRIEDENSZEITUNG 36-21
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