FRIEDENSZEITUNG - Schweizerischer Friedensrat

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FRIEDENSZEITUNG - Schweizerischer Friedensrat
FRIEDENSZEITUNG                                                                                             NR. 36 MÄRZ 2021

1    Äthiopische und eritreische Truppen im Tigray                   14   Die neutralen Staaten im Sicherheitsrat
4    Eritrea-Aufruf: «Ohne dabei das Gesicht zu verlieren»           16   Friedensbedrohende Wirkung der Klimakrise
6    Völkermord: Kein Ende der Straflosigkeit                        26   Die UNO-Resolution 2250 zu Kindern im Krieg
10   Teil 4 der Serie zur Sicherheitsratskandidatur                  28   Syrien: Rekrutierung von Minderjährigen

Aufruf von EritreerInnen in der Schweiz zum Krieg im äthiopischen Tigray-Gebiet

Der Krieg in Tigray – eine Chronik
Anfang November 2020 eskalierte der         zwischen die Fronten geraten sind, son-    Als Premier Abiy Ahmed die landeswei-
Konflikt in der äthiopischen Provinz        dern dass Premierminister Abiy Ahmed       ten Wahlen aufgrund der Covid-19-Pan-
Tigray. Die äthiopische Regierung un-       zur Bekämpfung der TPLF-Milizen            demie verschob, führte die TPLF am 9.
ter Ministerpräsident Abiy Ahmed star-      offenkundig auch auf deren alten Erb-      September 2020 eigene Wahlen durch.
tete eine Militäroffensive gegen die        feind, Eritreas Machthaber Isaias Afe-     Bei einer angeblichen Wahlbeteiligung
Provinz, nachdem die dort regierende        werki, setzt.                              von 98 Prozent reklamierte die Partei alle
TPLF eine Wahl durchführte und eine             So griffen äthiopische Truppen die     bis auf einen Sitz im Regionalparlament
militärische Eskalation vorantrieb. An-     TPLF-Milizen nicht nur vom Gebiet des      für sich.
fang Dezember erklärte Abiy Ahmed           eigentlich unabhängigen Eritreas aus an.   – Darüber hinaus demonstrierte Premier
das Ende des Krieges. Tatsächlich wird      Eritreische Streitkräfte befinden sich     Abiy Ahmed seine Macht dadurch, dass
der Krieg jedoch fortgeführt. EritreerIn-   auch in Tigray, wo sie für Morde und       er sich im Sommer 2020 gemeinsam mit
nen in der Schweiz protestieren nicht       Plünderungen an der Zivilbevölkerung,      dem eritreischen Diktator Isaias Afewer-
nur gegen den Einsatz eritreischer          aber auch für Entführungen eritreischer    ki im berüchtigten Militärausbildungsla-
Truppen im Nachbarland, sondern hal-        Landsleute aus den UNHCR-Lagern            ger Sawa (Eritrea) und im Oktober 2020
ten jetzt den Zeitpunkt für gekommen,       verantwortlich gemacht werden. Sowohl      am Hauptstützpunkt der äthiopischen
um den Aufenthalt von Geflüchteten          die äthiopische Zentralregierung als       Streitkräfte in Bishowto ablichten liess.
aus Äthiopien und Eritrea in unserem        auch Diktator Afewerki bestreiten diese    – Mit einer Währungsreform versuch-
Land endlich zu regularisieren.             Entwicklung der Ereignisse bislang ve-     te Abiy Ahmed im September 2020
                                            hement, doch die Beweise für eine mili-    überdies, die in weiten Teilen der äthi-
  / Eritreischer Medienbund Schweiz /       tärische Präsenz eritreischer Truppen in   opischen Bevölkerung als korrupt ver-
                                            Tigray werden immer erdrückender.          schriene TPLF-Regionalregierung in die
Am 4. November 2020 ist der lang                                                       Knie zu zwingen.
schwelende Konflikt zwischen der äthi-      Die wichtigsten Eckpunkte                  – Ende Oktober wurden diverse, bis
opischen Zentralregierung unter Pre-        des Tigray-Konflikts                       dato umstrittene Flugbewegungen über
mierminister Abiy Ahmed und der bis         – Die Regionalregierung der nordäthiopi-   dem Tigray-Gebiet registriert. Inwieweit
zu dessen Machtantritt im April 2018        schen Provinz Tigray wurde von der ehe-    die Zentralregierung den Militärschlag
dominierenden Tigray People’s Libera-       maligen Regierungspartei TPLF gestellt.    im Norden des Landes vorbereitet hat,
tion Front (TPLF) militärisch                                                                    hängt von der jeweiligen Dar-
eskaliert. Seitdem bekämpfen                                                                     stellung der Ereignisse ab.
sich im Norden des Landes die                                                                    – Am 3. November griffen an-
Truppen der Zentralregierung                                                                     gebliche TPLF-Milizen einen
und die TPLF-Milizen. Ge-                                                                        Militärstützpunkt der äthiopi-
fährlich und unberechenbar                                                                       schen Streitkräfte an, ermor-
macht den Konflikt die Tat-                                                                      deten zahlreiche Soldaten und
sache, dass nicht nur 100’000                                                                    hielten weitere 5000 Mann als
eri­treische Geflüchtete, die im                                                                 Geiseln fest.
Tigray-Gebiet in UNHCR-La-
gern Zuflucht gesucht haben,                                                                                    Fortsetzung Seite 2
FRIEDENSZEITUNG - Schweizerischer Friedensrat
Fortsetzung von Seite 1                            – Gemäss UNHCR-Angaben haben                 Beteiligung Eritreas am aktuellen Kon-
                                                   sich rund 50’000 Menschen aus dem            flikt höchst problematisch. Wenn Isaias
– Dies war der Startschuss zur militäri-           Tigray-Gebiet in überfüllte Flüchtlings-     Afewerkis Streitkräfte die äthiopischen
schen Offensive der Regierungstruppen              lager im Sudan begeben. Innerhalb von        Truppen im Tigray-Gebiet unterstüt-
gegen die der Regionalregierung gegen-             Tigray bleibt die Lage unübersichtlich       zen, haben sie gleichzeitig ungehinder-
über loyalen TPLF-Truppen. Die Of-                 und die Nahrungs- und Wasserversor-          ten Zugriff auf die vor der eigenen Re-
fensive vom 4. November 2020 erfolgte              gung prekär. Wie viele ZivilistInnen den     gierung geflohenen EritreerInnen in den
aus mehreren Richtungen, u.a. auch von             Angriffen zum Opfer gefallen sind und        Flüchtlingslagern.
nördlicher, also eritreischer Seite her.           wer für die diversen, oft ethnisch moti-         Die Präsenz von eritreischen Trup-
– Eine unabhängige Berichterstattung               vierten Massaker verantwortlich zeich-       pen in Tigray wird von der eritreischen
zum Krieg sowie über ein gleichzeitiges            net, bleibt bis heute ungeklärt.             und der äthiopischen Regierung ve-
Massaker an Angehörigen der amhari-                – Gemäss eigenen Angaben haben sich          hement bestritten, doch werden die
schen Ethnie in Mai Khadra wurde da-               die TPLF-Milizen in die Berge zurück-        Beweise, dass eritreische Soldaten für
durch verunmöglicht, dass Abiy Ahmed               gezogen. Von da aus liefern sie sich         Vergewaltigungen, Plünderungen und
wochenlang eine totale Internet- und               weiterhin Kämpfe mit Angehörigen der         Morde an ZivilistInnen, aber auch für
Telefonsperre über ganz Tigray verhäng-            äthiopischen und eritreischen Streit-        Entführungen von Landsleuten aus den
te und JournalistInnen die Einreise ins            kräfte. Letztere werden für zahlreiche       Flüchtlingslagern verantwortlich sind,
Kriegsgebiet untersagte.                           Plünderungen, Morde und Entführun-           immer erdrückender. Am 11. Dezember
– Einen Monat später, im Dezember                  gen verantwortlich gemacht. Die wich-        sagte der Leiter des UNO-Flüchtlings-
2020 und nach der Bombardierung der                tigsten Exponenten der TPLF-Regio-           hilfswerks, er habe im vergangenen Mo-
Provinzhauptstadt Mekele, erklärte Pre-            nalregierung sind weiterhin auf freiem       nat eine «überwältigende Anzahl» von
mier Abiy Ahmed den Militäreinsatz                 Fuss, während andere, darunter der           Berichten über eritreische Geflüchtete
für beendet. Die Mission (nämlich die              ehemalige Aussenminister, getötet oder       in Tigray erhalten, die getötet, entführt
TPLF-Spitze zur Rechenschaft zu zie-               festgenommen worden sind.                    oder gewaltsam nach Eritrea zurückge-
hen) sei erfolgreich gewesen, liess er ver-        – In der Region Tigray halten sich be-       bracht worden seien.
lauten. Zivile Opfer und die Teilnahme             sonders viele eritreische Flüchtlinge auf,
eritreischer Truppen am Krieg streitet er          die ihr Land aufgrund von politischer        Die Folgen des Krieges
vehement ab.                                       Verfolgung und/oder des unbegrenzten         – Flüchtlingskrise: Um die 50’000 Men-
                                                   Militärdienstes verlassen haben. Das         schen aus der Region Tigray sind in

FRIEDENSZEITUNG                                    UNHCR schätzt deren Zahl gegenwärtig
                                                   auf knapp 100’000 Personen.
                                                                                                den Sudan geflüchtet, um die 100’000
                                                                                                eritreische Geflüchtete befinden sich in
                                                                                                Tigray in einer prekären Lage.
   Herausgegeben vom Schweizerischen               Die Rolle Eritreas im Tigray-Konflikt        – Humanitäre Krise: Seit Beginn der Mi-
   Friedensrat SFR, Gartenhofstr. 7, 8004          Nachdem sie 1991 gemeinsam die               litäroperation Anfang November 2020
   Zürich, Telefon +41 (0)44 242 93 21,            kommunistische DERG-Regierung aus            hat die Zentralregierung die gesamte
   info@friedensrat.ch, www.friedensrat.ch         Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba            Region Tigray mit einer totalen Tele-
   PC-Konto 80-35870-1 SFR Zürich.
                                                   vertrieben und sich Eritrea 1993 für un-     fon- und Internetsperre belegt. Jour-
   Redaktion/Layout: Peter Weishaupt.              abhängig erklärt hatte, führten Eritreas     nalistInnen hatten wochenlang keinen
   Mitarbeit: Jenny Heeb, Eritreischer             Machthaber Isaias Afewerki und Äthi-
   Medienbund, Friedensgutachten 2020,             opiens Regierung unter dem aus Tigray
   Markus Heiniger, Valentina Maggiul-
                                                   stammenden TPLF-Führer Melles Ze-
   li, Francine Perret, Marionna Schlat-
   ter, Syrien Network for Human Rights,           nawi zwischen 1998 und 2000 einen blu-
   Andreas Zumach.                                 tigen Grenzkrieg, gefolgt von einer über
   Korrektur: Liliane Studer.                      zwei Jahrzehnte dauernden «no peace/
                                                   no war»-Situation mit Truppenpräsenz
   Bilder: Titel: EMB; Seite 2/3: KDV/AP;
   Seite 5: Amnesty; Seite 7: Kichka; Seite        an der gemeinsamen Grenze.
   13: UNO; Seite 24: WHI; Seite 25: Karin             Diese Pattsituation wurde mit dem
   Scheidegger; Seite 26: Peace Counts; Sei-       Friedensabkommen 2018 zwar beendet,
   te 28: sn4hr; Seite 32: SFR.                    doch bereits im April 2019 hatte Eritrea
   Druck: Mattenbach AG, Winterthur                die Grenze zum Tigray-Gebiet aufgrund
   Auflage: 2000 Ex., März 2021                    eines massiven Exodus (ca. 50’000 Per-
                                                   sonen) einseitig wieder geschlossen. Die
   Die FRIEDENSZEITUNG erscheint
                                                   Geschichte der ehemaligen Waffenbrü-
   vierteljährlich jeweils im März, Juni,
   September und Dezember. Sie geht an             der führt bis heute zu einer erbitterten
   die Mitglieder des SFR, der Abopreis ist        Erbfeindschaft zwischen der eritrei-
   im Mitgliederbeitrag inbegriffen. Einzel­       schen Regierung und der TPLF.
   abo: Fr. 50.–. ISSN 1664-4492                       Gegenwärtig halten sich nicht we-
                                                   niger als 96’000 eritreische Flüchtlinge
                         PERFOR MANCE
                                                   im Tigray-Gebiet auf, wie Angaben des
                                                   UNHCR aus den Flüchtlingslagern May
                                neutral
                             Drucksache            Aini, Hintsats, Shimelba und Adi Ha-          Ein Tigray-Mädchen sitzt auf einem Hügel mit Blick auf das F
No. 01-19-795947 – www.myclimate.org
© myclimate – The Climate Protection Partnership   rush zu entnehmen ist. Dies macht eine                      die vor dem Konflikt in der Region Tigray in Ä

FRIEDENSZEITUNG 36-21                                                                                                                          2
FRIEDENSZEITUNG - Schweizerischer Friedensrat
Editorial
                                                          Wie sind EritreerInnen                        Die Demokratie bleibt
                                                          vom Krieg betroffen?
                                                                                                        eine Baustelle
                                                          Eritreische Geflüchtete in Tigray             Dieses Jahr wird ein wenig ruhmreiches Ju-
                                                          Zu den Zielorten der Militäroperationen       biläum in der Geschichte der Schweiz gefei-
                                                          gehören vier grosse Lager in Tigray, in de-   ert: Vor 50 Jahren befand die Mehrheit der
                                                          nen 100’000 Flüchtlinge aus Eritrea unter     Schweizer Männer, die Schweizer Frauen soll-
                                                          internationalem Schutz untergebracht          ten das Stimmrecht auf der Ebene des Bun-
                                                          waren und sind. Es wird geschätzt, dass       des erhalten. Erstaunlich finde ich, wie wenig
                                                          Tausende Geflüchteter von eritreischen        dies Anlass für grundsätzliche Überlegungen
                                                          Truppen entführt und gewaltsam nach           zum Wesen unserer Demokratie ist.
                                                          Eritrea zurückgebracht worden sind. Die
                                                          Entführten wurden gezwungen, sich an          So ist das Stimmrecht immer noch an das
                                                          den Kämpfen gegen die lokale Bevölke-         Bürgerrecht gebunden (mit wenigen Ausnah-
                                                          rung zu beteiligen. Andere wurden getö-       men in Kantonen und Gemeinden), weshalb
          Zugang zum Kriegsgebiet. Geschätzte             tet oder flohen aus den Lagern. Zwei La-      ein erheblicher Teil der Bevölkerung zwar mit
          zwei Millionen Menschen haben keinen            ger, Adi Harush und May Aini, erhielten       ihrer Arbeit zum Wohlstand des Landes und
          Zugang zu Lebensmitteln, Wasser oder            am 27. Dezember die erste Nahrungsmit-        mit ihren Steuern zu den Staatseinnahmen
          Sicherheit, 650’000 von ihnen gelten als        telhilfe vom Welt­ernährungsprogramm.         beiträgt, aber von der Mitbestimmung über
          intern Vertriebene (IDPs). Abiy Ahmeds          Die anderen Lager, Shemelba und Hint-         deren Verwendung ausgeschlossen bleibt.
          Regierung hat den Zugang nach Tigray            sats, haben seit drei Monaten keine Nah-      Der Grundsatz, dass jene, die zum Gemein-
          auch für UNO-Agenturen und Men-                 rungsmittel mehr erhalten.                    wesen beitragen, auch bei seiner Ausgestal-
          schenrechtsorganisationen stark einge-              Eritreische Geflüchtete, die aus          tung mitbestimmen können sollten, gilt in
          schränkt. Hilfswerke und ExpertInnen            Tigray in die Hauptstadt Addis Abeba          der Schweiz nicht. Diese Lücke könnte mit
          werfen der Zentralregierung vor, Hun-           geflohen sind, wurden verhaftet und           der Erweiterung des Stimmrechts auf die in
          ger als Waffe gegen die Zivilbevölkerung        zwangsweise in die Flüchtlingslager           der Schweiz Ansässigen geschlossen werden.
          in Tigray einzusetzen.                          nach Tigray zurückgebracht, obwohl es         Umstritten ist auch, ab welchem Alter das
          – Destabilisierung und Internationa-            in diesen Lagern an Sicherheit sowie          Stimmrecht gelten soll. Die Idee des Stimm-
          lisierung des Konflikts: Trotz Premier          an Nahrung mangelt und eine Zwangs-           rechtsalters 0 ist völlig aus den Diskussionen
          Abiys Beteuerungen sind die Kämpfe im           abschiebung nach Eritrea droht. Das           verschwunden.
          Tigray-Gebiet nicht beendet. Wer mo-            UNO-Flüchtlingshilfswerk äusserte Be-
          mentan die Kontrolle über das Gebiet            sorgnis, da die äthiopische Regierung         Das Dreieck Demokratie, Rechtsstaat, Men-
          hat, bleibt völlig unklar. Zudem schei-         ihr keinen Zugang zu den Flüchtlingsla-       schenrechte ist in der Schweiz institutionell
          nen sich weiterhin eritreische Streitkräf-      gern in Tigray ermöglicht.                    nicht ausgebaut und unter dem Druck des
          te in Tigray aufzuhalten. Hinzu kommen                                                        Rechtspopulismus stark in Schieflage gera-
          Auseinandersetzungen an der Grenze              EritreerInnen in Eritrea                      ten. Von einem demokratischen Rechtsstaat
          zum Sudan und ethnische Unruhen in              Im November wurden drei Missile-An-           ist die Schweiz noch weit entfernt. So fehlt
          anderen Landesteilen Äthiopiens.                griffe in Eritrea gemeldet. Zu Beginn des     eine Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Zuläs-
                                                          Krieges gab es zahlreiche Berichte, dass      sigkeit von Volksinitiativen wird von den
                                                          wehrpflichtige EritreerInnen zusammen-        Eidgenössischen Räten beurteilt, also nach
                                                          getrieben werden.                             politischen Opportunitäten statt nach den
                                                                                                        gesetzlichen Kriterien, was unter dem Druck
                                                          EritreerInnen in der Schweiz                  der SVP zur Zulassung mehrerer völker-
                                                              Der Grossteil der EritreerInnen in        rechtswidriger Initiativen geführt hat.
                                                          der Schweiz hat Verwandte in Tigray,
                                                          da in der Grenzregion viele eritreische       Ebenso fehlen fast völlig gesetzliche Rahmen-
                                                          Geflüchtete leben. Zu ihren Verwandten        bedingungen für die Finanzierung von Partei-
                                                          können sie keinen Kontakt aufnehmen,          en und Abstimmungskomitees sowie Transpa-
                                                          da die Telefon- und Internetverbindung        renzvorschriften für deren Einnahmen (womit
                                                          in der Region unterbrochen wurde. Sie         die Schweiz gegen die von ihr ratifizierte Straf-
                                                          können sich nicht über den aktuellen          rechtskonvention des Europarates gegen
                                                          Zustand informieren und die Meldun-           Korruption verstösst). Immerhin ist nun die
                                                          gen über die Zwangsentführungen und           «Tranzparenzinitiative» unterwegs.
                                                          -einberufungen sind sehr besorgniserre-
                                                          gend. EritreerInnen in der Schweiz, wie       Wie allergisch die herrschenden Kreise in die-
                                                          etwa der EMBS-Mediensprecher Ok-              sem Land auf gelebte Demokratie reagieren,
                                                          baab Tesfamariam, sorgen sich zudem           hat der Ausgang der Konzernverantwortungs-
                                                          um ihre Verwandten in Eritrea. Es gab         initiative gezeigt, auf Grund dessen nun NGOs
                                                          Berichte von Angehörigen, die im Krieg        staatliche Mittel entzogen werden sollen. Die
                                                          kämpfen mussten und verletzt wurden.          Demokratie ist wirklich eine Baustelle.
 Flüchtlingslager Umm Rakouba, das Menschen beherbergt,
Äthiopien geflohen sind, in Qadarif, Ostsudan.                                                                                             Ruedi Tobler

          3                                                                                                        FRIEDENSZEITUNG 36-21
FRIEDENSZEITUNG - Schweizerischer Friedensrat
Aufruf von EritreerInnen in der Schweiz vom 26. Januar 2021 zum Krieg im äthiopischen Tigray-Gebiet

... ohne dabei das Gesicht zu verlieren
Die Äthiopien- und Eritrea-Politik der     Mekele mit hoher Wahrscheinlichkeit          mo-Aufständische im Süden des Landes
Schweizer Migrationsbehörden ist ge-       in die umliegenden Berge zurückziehen,       unter Kontrolle zu bringen?
scheitert. Trotz erhöhter Rückkehrhil-     um von dort aus einen möglicherweise              Und wie positioniert sich die Schweiz
feversprechen etwa im Kanton Bern          monate- oder jahrelangen Guerilla­krieg      in diesem undurchsichtigen Spiel um
(Februar 2020) kehren abgewiesene          zu führen; andererseits halten sich im       Macht und Einfluss am Horn von Afrika?
EritreerInnen nicht – wie vom Staatsse-    Tigray-Gebiet selbst 100’000 eritreische     Ihre Migrationsbehörden inklusive das
kretariat für Migration (SEM) und vom      Flüchtlinge auf, die nun zwischen die        Bundesverwaltungsgericht tun so, als ob
Bundesverwaltungsgericht als «mög-         Fronten geraten sind.                        nichts geschehen wäre. Weiterhin wer-
lich, zumutbar und zulässig» erachtet          Erste Berichte über Entführungen         den Asylbeschwerden von äthiopischen
– in ihre Heimat zurück. Und trotz ei-     aus den dortigen UNHCR-Flüchtlings-          Oromos – auch wenn sie glaubhaft po-
nes Rückübernahmeabkommens, das            lagern durch eri­treische Milizen sind be-   litische Verfolgung geltend machen kön-
die EU und die Schweiz mit Äthiopien       reits laut geworden. Ausserdem hat das       nen – als aussichtslos abgeschmettert,
geschlossen haben, konnten seit dem        UNHCR seit Beginn der äthiopischen           Härtefallgesuche von EritreerInnen wer-
Machtantritt von Premier Abiy Ahmed        Offensive keine Nachrichten mehr von         den trotz Stellenzusagen ohne weitere
im April 2018 erst eine Handvoll Per-      diesen Flüchtlingen erhalten und konnte      Begründung formlos abgeschrieben.
sonen zwangsweise nach Äthiopien zu-       sie nicht versorgen. Die UNO hat immer            Wie lange will man diese Vogel­     -
rückgeführt werden.                        noch keinen Zugang zur Tigray-Region,        -Strauss-Politik noch weiterführen und
    Während die Menschenrechtsla-          obwohl Anfang Dezember ein Abkom-            dabei die Zukunft unzähliger junger und
ge in Eritrea trotz Friedensschluss mit    men mit Äthiopien getroffen wurde.           gesunder Menschen ruinieren? Wäre
Äthiopien unverändert schlecht blieb,          Was wird Premier Abiy mit diesen         nicht jetzt der Zeitpunkt gekommen,
hat auch die Situation beim grossen        Flüchtlingen anfangen? Sämtliche erit-       um den Aufenthalt dieser Menschen,
Nachbarn Äthiopien nicht das gebracht,     reische Oppositionsgruppen hat er be-        welche in den Jahren 2014 bis 2016 aus
was sich das SEM und das Bundesver-        reits aus Äthiopien verbannt, wie es Dik-    Äthiopien und Eritrea zu uns kamen,
waltungsgericht erhofften. Im Norden       tator Isaias Afewerki verlangt hat. Wird     endlich zu regularisieren und wiederer-
des Landes herrscht jetzt Krieg – laut     Abiy ihm in einem weiteren Schritt –         wägungsweise festzustellen, dass eine
Premier Abiy zeitlich begrenzt und ziel-   quasi als Dank für dessen Kooperation        Heimkehr derzeit nicht zumutbar ist?
gerichtet zwar, aber unter Miteinbezug     gegen die Tigraytruppen – nun auch                Die Menschenrechtslage und die
des Diktators aus Eritreas Hauptstadt      noch die eritreischen Flüchtlinge zur        katastrophalen Lebensbedingungen in
Asmara, der die abtrünnigen Tigray-Mi-     freien Verfügung überlassen?                 Eritrea werden sich nicht verbessern,
lizen vom Norden her angreifen lässt.          Wie gedenkt der Träger des Frie-         solange Diktator Afewerki an der Macht
Und von wem? Von in landesweiten           densnobelpreises aus dieser Zwickmühle       ist. Die Schweiz kann nun weiter abwar-
Razzien eiligst auf Lastwagen zusam-       wieder herauszukommen? Und wie wer-          ten und zusehen, während die Betrof-
mengetriebenen eritreischen Jugendli-      den sich die übrigen Volksgruppen im         fenen derweil unter menschenunwür-
chen, einige davon erst 14 oder 15 Jahre   Vielvölkerstaat Äthiopien positionieren?     digen Bedingungen im Nothilfesystem
alt, die nun als Kanonenfutter vor den     Sind ihre Forderungen nach Autonomie         gefangen bleiben. Jetzt ist der Moment
äthiopischen Truppen her in Richtung       und Selbstbestimmung verstummt, nun          gekommen, um ihren Aufenthalt zu le-
Grenze getrieben werden.                   da ihre Anführer «der Einheit zuliebe»       galisieren, und das wäre für das SEM
    Abiy Ahmeds Beteuerungen von           grösstenteils im Gefängnis sitzen bzw.       und das Bundesverwaltungsgericht
einem raschen und sauberen Krieg ha-       unter Hausarrest gestellt wurden? Oder       nicht einmal mit einem Gesichtsverlust
ben mit diesem unseligen Pakt viel an      wird man in nicht allzu ferner Zukunft       verbunden! Die Eskalation im Norden
Glaubwürdigkeit verloren. Zum einen        nochmals auf die halb verhungerten           Äthiopiens ist völlig unberechenbar ge-
werden sich die Tigray-Milizen nach        Truppen des Diktators aus Asmara an-         worden: ein absolut ausschlaggebendes
der Einnahme der Provinzhauptstadt         gewiesen sein, um beispielsweise Oro-        Argument für einen solchen Schritt.
                                                                                        Kaum jemand wird dies bestreiten.
                                                                                             Nein. Niemand braucht das Ge-
                                                                                        sicht zu verlieren, wenn in einem Akt
                                                                                        der Menschlichkeit unzähligen jungen
                                                                                        Menschen mittels einer realitätsbezoge-
                                                                                        nen Praxisanpassung endlich die Chan-
                                                                                        ce gegeben würde, ihre angefangenen
                                                                                        Berufsausbildungen in der Schweiz ab-
                                                                                        zuschliessen.
                                                                                        Dieser Aufruf wurde von uns leicht gekürzt. Ne-
                                                                                        ben vielen anderen Organisationen wurde er auch
                                                                                        vom Schweizerischen Friedensrat unterzeichnet.

FRIEDENSZEITUNG 36-21                                                                                                                4
FRIEDENSZEITUNG - Schweizerischer Friedensrat
Äthiopien: Amnesty International zu Massakern durch eritreische Truppen in Tigray

Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Am 28. und 29. November 2020 töteten
Angehörige der eritreischen Streitkräf-
te im äthiopischen Bundesstaat Tigray
systematisch Hunderte von unbewaff-
neten Zivilpersonen. Sie eröffneten
in den Strassen der Stadt Axum das
Feuer und durchkämmten ein Haus
nach dem anderen – ein Massaker, das
mutmasslich einem Verbrechen gegen
die Menschlichkeit gleichkommt. Zu
diesem Ergebnis kommt Amnesty In-
ternational in einem neuen Bericht.

    / Amnesty International Schweiz /

Die Menschenrechtsorganisation sprach
mit 41 Überlebenden und Augenzeug­
                                                     Ein Überblick über Axum zeigt die durch die Bombardierung und Luftangriffe be-
Innen. Diese berichteten übereinstim-                schädigten Strukturen in der Stadt (durch orangefarbene Markierungen gekenn-
mend von aussergerichtlichen Hin-                    zeichnet). Bereiche mit erheblichen Trümmern, die wahrscheinlich auf Plünderun-
richtungen, wahllosem Beschuss und                   gen zurückzuführen sind, werden durch gelbe Markierungen angezeigt.
Massenplünderungen nach einer Offen-
sive durch äthiopische und eri­treische     eritreische Militär Massenplünderungen            In einem Video, das am Morgen des
Truppen. Diese hatten die Stadt Axum        und aussergerichtliche Hinrichtungen.             28. November von unterschiedlichen
Mitte November angegriffen, um sie von      Die ZeugInnen konnten die Angehörigen             Orten am Fusse des Berges aufgenom-
den Milizen der Volksbefreiungsfront        der eritreischen Streitkräfte leicht identi-      men wurde, sind anhaltende Schüsse zu
von Tigray (Tigray People’s Liberation      fizieren. Sie fuhren Fahrzeuge mit eritrei-       hören. Überlebende undAugenzeugIn-
Front, TPLF) zurückzuerobern.               schen Nummernschildern, trugen unver-             nen berichteten, dass die eritreischen
    Die Auswertung von Satellitenbil-       wechselbare Tarnkleidung und Schuhe,              Streitkräfte ab etwa 16 Uhr begonnen
dern durch das Crisis Evidence Lab          die von den eritreischen Streitkräften            hätten, vorsätzlich auf Zivilpersonen zu
von Amnesty International bestätigt         verwendet werden. Ausserdem sprachen              schiessen. Die BewohnerInnen gaben
Berichte über wahllosen Beschuss und        sie Arabisch oder einen Tigrinya-Dialekt,         an, dass die Opfer unbewaffnet gewesen
Massenplünderungen. Ausserdem zei-          der in Äthiopien nicht gesprochen wird.           und viele von ihnen auf der Flucht vor
gen die Bilder Bodenveränderungen,          Einige trugen die rituellen Gesichtsnar-          den Soldaten erschossen worden seien.
die auf neue Massengräber in der Nähe       ben der ethnischen Gemeinschaft der               Nach den Tötungen waren die gepflas-
von zwei Kirchen der Stadt hinweisen.       Ben Amir, die in Äthiopien nicht vertre-          terten Strassen und Plätze von Axum
«Die Beweise sind überzeugend und           ten ist. Schliesslich machten einige der          mit Leichen übersät.
legen eine erschreckende Schlussfolge-      Soldaten keinen Hehl aus ihrer Identität              Am nächsten Tag schossen die erit-
rung nahe. Äthiopische und eritreische      und sagten den AnwohnerInnen offen,               reischen Soldaten auf alle, die versuch-
Truppen verübten bei ihrer Offensive        dass sie Eritreer seien.                          ten, die Getöteten zu bergen. Ausser-
zur Rückeroberung von Axum mehrere                                                            dem durchsuchten die Soldaten weiter
Kriegsverbrechen. Eritreische Soldaten      «Wir sahen nur Tote und                           die Häuser. Sie jagten und töteten Män-
randalierten und töteten systematisch       weinende Menschen»                                ner und Jugendliche, aber auch eine klei-
und kaltblütig Hunderte von Zivilper-       ZeugInnen zufolge verübten die eri­               nere Anzahl von Frauen. Amnesty In-
sonen», so Deprose Muchena, Regio-          treischen Streitkräfte die schlimmsten            ternational hat die Namen von mehr als
naldirektor für das östliche und südliche   Gewalttaten am 28. und 29. November               240 Opfern zusammengetragen. Zwar
Afrika bei Amnesty International.           2020. Der Angriff erfolgte unmittel-              konnte Amnesty die Gesamtzahl der
                                            bar, nachdem eine kleine Gruppe von               Todesopfer nicht verifizieren, doch le-
Gross angelegte Militäroffensive            TPLF-Milizionären am Morgen des 28.               gen übereinstimmende Zeugenaussagen
Am 19. November 2020 nahmen äthi-           November einen Militärstützpunkt auf              und eine Reihe überzeugender Indizien
opische und eritreische Streitkräfte in     dem Berg Mai Koho angegriffen hatte, der          nahe, dass Hunderte EinwohnerInnen
einer gross angelegten Offensive die        in unmittelbarer Nähe von Axum liegt.             von Axum getötet wurden.
Stadt Axum ein. Mittels wahlloser Bom-      Die Milizionäre waren mit Gewehren be-
                                                                                              Täglich veröffentlicht das Europe External Pro-
bardierungen und Beschuss töteten und       waffnet und wurden von AnwohnerInnen
                                                                                              gramme with Africa (EEPA) einen Bericht zur Situ-
vertrieben sie zahlreiche ZivilistInnen.    mit improvisierten Waffen wie Stöcken,            ation in der Kriegsregion. Alle Berichte finden sich
In den folgenden neun Tagen beging das      Messern und Steinen unterstützt.                  unter https://www.eepa.be/?page_id=4237.

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FRIEDENSZEITUNG - Schweizerischer Friedensrat
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