MARIO MERZ AT THE STILL POINT OF THE TURNING WORLD SPAZI IMMENSI NINFEA STELLARE DIE STEINE SIND IM JAHRE 1991 IN FRANKFURT GESCHNITTEN, 1991

 
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MARIO MERZ
   AT THE STILL POINT OF THE TURNING WORLD
              SPAZI IMMENSI NINFEA STELLARE
  DIE STEINE SIND IM JAHRE 1991 IN FRANKFURT
                            GESCHNITTEN, 1991

    „Mario Merz malt ein Bild“ könnte          eine Verbindung eingehen, ließ mancher-
der Titel dieses Begleittextes sein. Zuerst    orts das dunkle Licht durchscheinen,
legte er das Glas um den oberen Teil der       an anderen Stellen verdoppelte er die
Kuppel, dann widmete er sich ganz dem          Schichten, stets darauf bedacht, eine Art
mit örtlichen Sandsteinplatten bedeckten       von organischer Bewegung offen zu hal-
inneren Iglu. Deutlich wird, wie male-         ten, formal wie farblich. Unter keinen
risch seine Gesten sind: als würde er Pin-     Umständen durfte der Iglu zugemauert
selstriche setzen, die einen transparent,      oder in seiner Grundform beeinträchtigt
die anderen opak. Und plötzlich erinnert       erscheinen.
man sich, daß Mario Merz Ende der fünf-        Er mußte atmen, sein enormes Gewicht
ziger / Anfang der sechziger Jahre als         als selbstverständliche Erscheinung re-
Maler tätig war.                               lativieren. Als er den inneren Iglu be-
                                               endet hatte, begann er mit der „Vergla-
     Er hatte uns gebeten, Sandstein-          sung“ der unteren Hälfte des äußeren.
platten in unregelmäßiger, gesägter, nicht     Er hatte sich Kristallglas erbeten, das
zerbrochener Form zu besorgten. Er             von fast quadratischen Formen bis zu
brachte sie an, nahm sie weg, sie wurden       schmalen Rechteckflächen reichte. Am
vor Ort gebrochen. Stück für Stück breite-     Tag der Installation suchte er sich weite-
te sich die Hülle aus, ohne je ein Panzer zu   res Glas aus, diesmal gezielt auch Bruch-
werden, locker, wie aus einer Handbewe-        glas. Auch hier, dasselbe Vorgehen: Als
gung heraus. Manchmal meinte er, daß           ginge es darum, einen Himmel zu malen,
diese oder jene Stelle zu „aggressiv“ sei,     durchbrechendes Sonnenlicht, splittern-
ließ das „Rationale mit dem Irrationalen“      des, diffuses, streuendes, klares Licht.
Eine Lichtglocke über einem immensen           entwickelt hat, enthält den „still point“
Horizont. Das war der erste Tag.               als eine Bewußtseinsform, die Erkennt-
                                               nis überhaupt erst ermöglicht. Dieser
       Am nächsten Tag legte er in Neon-       „ruhende Punkt“ beschreibt ein Paradox,
buchstaben den Satz aus T.S. Eliots „Vier      weil er qualitativ jene ihm eigene Ruhe
Quartette“ (1943) „At the still point of the   verfestigen muß, um in oder aus der Be-
turning world“ ebenerdig auf Glas und          wegung heraus jene Bewegungen zu
Stein. Die Buchstaben beschreiben einen        orten, die den Künstler zum Seismo-
Halbbogen, der vom äußeren Iglu ausge-         graphen machen. Insofern ist der Iglu
hend tangential den inneren berührt und        eine Form, die sich selbst vergißt. Sie
wieder an den äußeren stößt.                   leuchtet aus den Gesten, den Materialien,
                                               den Farben, die sie stets von neuem ent-
       Es hat viele Gespräche und Orts-        stehen läßt.
besichtigungen gegeben, bevor dieser
Iglu Realität wurde. In einem dieser Ge-            Die Neonspur ist wie ein Fluß, der
spräche sagte Mario Merz sinngemäß,            vorüberzieht. Blickt man vom Fenster auf
er hätte es satt, über die Bedeutung des       den Iglu, sieht man, wie sich die Worte
Iglu und die Fibonacci-Reihe zu spre-          spiegelnd zu einem neuen Kreis schlie-
chen. Jene mathematische Reihe, die            ßen, sich wie Lichtfächer in vielfacher
er immer wieder als Metapher einer             Brechung im Raum verlieren.
poetischen Beschleunigung verwendet
(1-1-2-3-58-13-21 …). Ich verstehe Mario            Ich hatte mir von Mario Merz eine
Merz, weil er so oft einzig auf die Form       Arbeit für Frankfurt gewünscht. Zum ei-
festgenagelt wird, als gäbe es nur diese       nen, weil sie gemäß der Vorstellung der
und nicht den vielfältigen Weg, der sie        „Georg und Franziska Speyer‘sche Hoch-
entstehen läßt. Das Geheimnis des Ähn-         schulstiftung“ der 20jährigen Arbeit des
lichen und Verschiedenen ist dem Leben         früheren Kulturdezernenten Hilmar
eingeschrieben. Der Iglu ist ein Prototyp,     Hoffmann gewidmet sein sollte, zum an-
insofern als er eine selbsttragende Kon-       deren, weil ein Museum immer zuerst an
struktion und das räumliche Modell einer       seinen Ort gebunden ist. At the still point
sich öffnenden Spiralform darstellt, ein        of the turning world (Am ruhenden Punkt
dynamisches Prinzip verkörpernd, des-          der sich drehenden Welt) reflektiert ge-
sen Korrelat die Beschleunigung der in         nau jene Frage, die Mario Merz 1977 in
der Natur verankerten Fibonacci-Reihe          einer anderen Arbeit stellte: „Noi giriamo
ist.                                           intorno alle case o le case girano intorno
                                               a noi?“ (Kreisen wir um die Häuser oder
       Das poetische Modell, das der 1925      kreisen die Häuser um uns?). Eine Frage,
geborene Mario Merz für eine kosmische,        die man sich gerade in Frankfurt beson-
organische, gesellschaftsdynamische,           ders eindringlich stellen kann.
ökologische, auf sich selbst und die
schöpferische Methode bezogene Vor-                 Jean-Christophe Ammann
stellung gegen Ende der sechziger Jahre
MARIO MERZ
(1925, Mailand — 2003, Turin)

AT THE STILL POINT OF THE
TURNING WORLD
SPAZI IMMENSI NINFEA STELLARE
DIE STEINE SIND IM JAHRE 1991
IN FRANKFURT GESCHNITTEN , 1991

Eisen, Sandstein, Glas, Ton, Neon,
Schraubzwingen

Museum für Moderne Kunst,
Frankfurt am Main
Schenkung der Georg und Franziska
Speyer’sche Hochschulstiftung,
Frankfurt am Main
Zu Ehren von Hilmar Hoffmann
Inv. Nr. 1991/334
MARIO MERZ
AT THE STILL POINT OF THE TURNING WORLD
SPAZI IMMENSI NINFEA STELLARE
DIE STEINE SIND IM JAHRE 1991 IN FRANKFURT
GESCHNITTEN, 1991

     “Mario Merz paints a picture” could      allowed a joining together of the “rational
be the title of this accompanying text.       with the irrational”, he allowed the dark
First of all, he lays the glass around the    light to shine through at certain points, at
top part of the dome, then he concen-         other points he doubled the layers, con-
trates totally on the inside igloo which is   stantly concerned with leaving room for
covered with slabs made form local            a kind of organic movement, formally as
sandstone. It becomes clear how painter-      well as in terms of colour. Under no cir-
ly his gestures are: as if he were applying   cumstances was the igloo to be walled
brushstrokes, some transparent and            up or appear impaired with regard to its
others opaque. And suddenly we remem-         basic form. It had to breath, relativize
ber that Mario Merz worked as a painter       its colossal weight as a natural appear-
at the end of the 1950‘s/ beginning of the    ance. When he had completed the inner
1960‘s.                                       igloo, he began with the “glazing” of the
                                              lower half of the outside. He had asked
     He had asked us to acquire sand-         for crystal glass, which ranged from
stone slabs that were irregular, sawn into    almost square forms to narrow rectangu-
shape rather than broken. He secured          lar pieces. On the day of installation, he
them, took them down, broke them on           chose more glass, this time he also speci-
the spot. Bit by bit, the shell began to      fically chose broken glass. Again here,
spread, without ever becoming a form of       the procedure was the fragmented, diffu-
armour, loosely, as if through a movement     se, scattered, clear light. A bell jar of light
of the hand. Sometimes he thought that        over an immense horizon. That was the
this or that part was too “aggressive”, he    first day.
The next day, he placed the sentence       position of those movements in or stem-
from T.S. Eliot‘s “Four Quartets” (1943)         ming from the movement which turn the
“At the still point of the turning world” in     artist into a seismograph. In this respect,
neon letters at ground level, on to glass        the igloo is a form which forgets itself. It
and stone. The letters form a hemicycle          radiates from the gestures, the materials,
which, starting from the outer igloo, runs       the colours, which allow a constant re-
into contact with the inner one and then         newal of its origination.
runs into the outer one again.
                                                      The neon trail is like a river that
      Many discussions were held and             flows by. If you look from the window on
locations viewed before this igloo beca-         to the igloo, you see how the words in
me reality. In one of these discussions,         their reflection join to form a new circle
the gist of what Mario Merz said was             and how they loose themselves in the
that he was fed up with talking about            room in fans of light which are refracted
the significance of the igloo and the             in a variety of ways.
Fibonacci sequence — that mathematical
sequence which he has used again and                  I wanted a work by Mario Merz for
again as a metaphor for poetic accerela-         Frankfurt. On the one hand, because it
tion (1-1-2-3-5-8-13-21 …). I can understand     was to be, in accordance with the idea of
Mario Merz because he is so often nailed         the “Georg and Franziska Speyer’sche
down to the form alone, as if this was all       Hochschulstiftung”, dedicated to the
that existed and not the various ways of         work spanning twenty years of the former
achieving its creation. The secret of the        head of the department of culture, Hil-
similar and the different is imprinted in         mar Hoffmann, and on the other hand,
life. The igloo is a prototype in so far as it   because a museum‘s first and foremost
shows a self-supporting construction and         connection is to its location.
the three-dimensional model of an open-
ing spiral shape that embodies a dynamic              At the still point of the turning
principle, of which the acceleration of the      world is an exact reflection of the ques-
Fibonacci sequence is the correlate.             tion which Mario Merz asked in another
                                                 work in 1977. “Noi giriamo intorno alle
      The poetic model which Mario               case o le case girano intorno a noi?” (Do
Merz (born 1925) developed for a cos-            we circle around the houses or do the
mic, organic, sociodynamic, ecological           houses circle around us?) A question
idea at the end of the 1960‘s bears refe-        which we can ask ourselves with particu-
rence to itself and the creative method.         lar urgency in Frankfurt.
It contains the “still point” as a form of
consciousness through which realisation               Jean-Christophe Ammann
becomes at all possible. This “still point”
describes a paradox because it has to                 Translation: Jennifer Greitschus,
pin down, in qualitative terms, this —                Frankfurt/Main
its own — stillness in order to locate the
MARIO MERZ
(1925, Mailand — 2003, Turin)

AT THE STILL POINT OF THE
TURNING WORLD
SPAZI IMMENSI NINFEA STELLARE
DIE STEINE SIND IM JAHRE 1991
IN FRANKFURT GESCHNITTEN , 1991

Iron, sandstone, glass, clay, fluorescent light,
screw clamps

Museum für Moderne Kunst,
Frankfurt/Main
Acquired with the generous support
of the Georg und Franziska Speyer‘sche
Hochschulstiftung, Frankfurt/Main
In honour of Hilmar Hoffmann
Inv. no. 1991/334
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