Megatrends und ihre Auswirkungen auf die psychischeGesundheit

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Megatrends und ihre Auswirkungen auf die psychischeGesundheit
Steffi G. Riedel-Heller| Megatrends und ihre Auswirkungen auf die psychische Gesundheit

Megatrends und ihre Auswirkungen
auf die psychischeGesundheit
VON STEFFI G. RIEDEL-HELLER
Megatrends sind Tiefenströmungen des Wandels und haben Einflussauf alle Lebensbereiche, auch auf die psychische
Gesundheit der Menschen. Der Beitrag beleuchtet in diesem Kontext exemplarisch die Megatrends Individualisie-
rung, Silver Society, Urbanisierung und Konnektivität.

Was sind Megatrends?                           18,9 Prozent Kontakt zu Behandlern im         diesen Trend ganz plastisch werden. Klas-
                                               weiteren Sinne aufnehmen (8). Am häu-         sischeFamilienformen wiedieMehr-Kind-
Zu Beginn der 1980er Jahre wurde das           figsten sind Angststörungen, gefolgt von      Familie wechseln zu neuen Haushalts-
Konzept der Megatrends durch John Nais-        depressiven Störungen und Störungen in        strukturen,wiez.B.zu Alleinlebenden,kin-
bitt bekannt (1). Megatrends sind seither      Zusammenhang mit Substanzabhängig-            derlosen Paaren, Alleinerziehenden – um
Domäne der Zukunftsforscherinnen und           keit oder -missbrauch (9). Bei alten und      nur einige zu nennen. Individualisierung
Zukunftsforscher verschiedensterCouleur.       hochaltrigen Menschen sind Demenz-            nach dem SoziologenBeckmeint eine Ver-
Sounterhält z.B.auch das Bundesministe-        erkrankungen häufig (10). Von 2000 bis        änderung von der Fremdbestimmung hin
rium für Bildung und Forschung (BMBF)          2019 gab es bei den Fehltagen aufgrund        zu einer Selbstbestimmung. Das bedeutet
ein »Zukunftsbüro«, das technologische         von psychischen Erkrankungen insgesamt        eine Herauslösung aus historisch vorge-
und gesellschaftliche Entwicklungen zur        einen Anstieg um 137 Prozent (11). Eswird     gebenen Sozialformen und Bindungen im
Erkennung von zukünftigen Herausforde-         deutlich, dass die psychische Gesundheit      Sinne traditioneller Versorgungszusam-
rungen untersucht (2, 3). Megatrends be-       schon jetzt für die Bevölkerungsgesund-       menhänge,aber auch einen gleichzeitigen
zeichnen langlebige Entwicklungslinien,        heit von zentraler Bedeutung ist.             Verlust von traditionellen Sicherheiten
die alle Bereiche der Gesellschaft wie z.B.       Dieser Beitrag analysiert, w ie sich ak-   im Hinblick auf Handlungswissen, Glau-
Ökonomie, Politik und Technologie betref-      tuelle Megatrends auf die psychische Ge-      ben und Normen, und erfordert eine neue
fen. Wir sprechen dann von einem Mega-         sundheit auswirken können. In diesem          selbstgewählte Art der sozialen Einbin-
trend,wenn dieser eine gewisseDauer hat,       Zusammenhang sollen die Megatrends            dung oder Reintegration (12). Dieser Weg
allgegenwärtig und vom Charakter her           Individualisierung, Urbanisierung, Silver     wird nicht von allen Menschenhürdenfrei
globaler ist, auch wenn konkrete Entwick-      Society und Konnektivität exemplarisch        beschritten. Einsamkeit und soziale Isola-
lungen in verschiedenen Kulturen unter-        beleuchtet werden.                            tion sind in Deutschland schon jetzt ein
schiedlich verlaufen können. Megatrends                                                      Thema. Schon vor der Pandemie waren
werden auch als Tiefenströmungen des           Megatrend Individualisierung                  12,3 Prozent der 18- bis 79-Jährigen sozial
Wandels bezeichnet. Der Begriff »Trend«                                                      isoliert (13). Die Rate von Einsamkeit und
impliziert, dass es eine robuste Dynamik       Individualisierung ist eine solche gro-       sozialer Isolation steigt im Altersgang, bei
in eine bestimmte Richtung gibt (4). Die       ße Entwicklungslinie. Der Blick auf die       den über 80-Jährigen sind mehr als ein
Megatrend-Listen der einzelnen Protago-        Haushaltsstrukturen und deren Verände-        Drittel betroffen. Einsamkeit und sozia-
nisten sind nicht deckungsgleich, jedoch       rungen über das letzte Jahrhundert lässt      le Isolation wird erst seit einigen Jahren
in vielen Aspekten übereinstimmend. Zu
den wichtigsten aktuellen Megatrends
zählen z.B. der demografische Wandel
(Silver Society),die Individualisierung, die
Urbanisierung, die Digitalisierung oder
digitale Transformation aller Lebensberei-
che, der Wandel der Arbeitswelt, die Glo-
balisierung, der Klimawandel, vermehrte
soziale Ungleichheiten sowie eine globale
Wissensgesellschaft (3, 5, 6).

Megatrends und
die psychischeGesundheit

PsychischeStörungen sind häufig und fol-
                                                                                                                                            Foto: Wolfgang Schmidt

genschwer. Ungefähr jeder Dritte hat in
einem Zeitraum von zwölf Monaten eine
oder mehrere psychische Störungen (7).
Dasentspricht rund 17,8Millionen betrof-
fenen Personen, von denen pro Jahr nur

                                                                                                      SOZIALE PSYCHIATRIE 01/2023    27
Megatrends und ihre Auswirkungen auf die psychischeGesundheit
KRISEN

                                wirklich systematisch in repräsentativen        wird diese Zahl bis 2060 auf zwei bis drei
                                Studien erfasst, sodasswir dies nicht über      sinken. Das geht mit entsprechenden He-
                                Jahrhunderte zurückverfolgen können.            rausforderungen für die Versorgung ein-
                                Gleichwohl sehen wir eine Zunahme der           her, da sogenannte intergenerationale
                                Einsamkeit im Rahmen der Covid-19-Pan-          Unterstützungspotenziale, sei es durch
                                demie (14). Ernst und Kolleginnen und           Angehörige oder durch junge Pflegefach-
                                Kollegen haben eine Metaanalyse vorge-          kräfte, abnehmen (20). Weil Demenz-
                                legt, die nur Längsschnittstudien inklu-        erkrankungen mit dem Alter exponenti-
                                dierte und eine signifikante Erhöhung           ell zunehmen, werden mehr Menschen
                                der Einsamkeit im Rahmen der Pandemie           an Demenz erkranken (21). Da es aktuell
                                zeigen konnte (15). Dies ist dramatisch,        keine Heilung gibt, konzentriert sich die
                                denn wir wissen, dass Einsamkeit krank          Forschung auch auf präventive Ansätze.
                                macht. Eine aktuelle Metaanalyse von            In der letzten Dekade hat die Forschung
                                Park et al. (16), die 114 Artikel einschloss,   zu sogenannten modifizierbaren Risiko-
                                zeigte, dass Einsamkeit Auswirkungen            faktoren viele ermutigende Erkenntnisse
                                auf alle Gesundheitsfaktoren hat, wobei         erbracht (22). Diese wurden sukzessive
                                die größten Ausw irkungen auf die psy-          in Public-Health-Programme und Inter-
                                chische Gesundheit und das allgemeine           ventionen für Risikopersonen umgesetzt.
                                Wohlbefinden beobachtet w urden. Eige-          So forderten Hussenöder & Riedel-Heller
                                ne Arbeiten zum sozialen Netzwerk und           schon 2018 eine Brain Health Agenda (22)
                                subsequenter Demenz auf der Grundlage           und die WHO generierte 2019 Empfeh-
                                der Leipziger Langzeitstudie in der alten       lungen zur Risikoreduktion für kognitive
                                Bevölkerung bestätigen dies. Menschen           Störungen und Demenzen (23). Entspre-
                                mit geringem Netzwerk haben ein höhe-           chend den Herausforderungen der de-
                                res Risiko, subsequent an einer Demenz          mografischen Entwicklung wurden gro-
                                zu erkranken als Menschen mit einem             ße, bevölkerungsbezogene multimodale
                                gut ausgeprägten sozialen Netzwerk (17).        und randomisierte Präventionsstudien in
                                Auch neuere biologische Forschung inte-         Europa auf den Weg gebracht (24). Diese
                                ressiert sich dafür und zeigt, dasssoziale      zielen auf die Verbesserungder kognitiven
                                Isolation zu einer kortikalen und hippo-        Funktion bzw. auf die Verzögerung von
                                campalen Atrophie und einem kogniti-            Demenzeintritt und Behinderung. Für die
                                ven Abbau bei nichtdementen Erwachse-           erste deutsche Studie dieser Art (AgeWell.
                                nen im mittleren und späten Lebensalter         de),die von der Universität Leipziginitiiert
                                beiträgt (18).Diese Ergebnisse lassen auf-      wurde, werden bald Ergebnisse erwartet.
                                horchen und unterstreichen, was Sozial-         Zu den zentralen Komponenten soge-
                                psychiater und psychosozial Tätige schon        nannter multimodaler Interventionen im
                                lange w issen – soziale Einbindung ist ein      Rahmen der Demenzprävention zählen
                                Schlüssel für seelische Gesundheit. Wir         Ernährungsberatung, Bewegung, kogni-
                                werden in Zukunft Menschen noch in-             tives Training, die Stimulierung sozialer
                                tensiver bei der sozialen Integration un-       Aktivität sowie Monitoring und Manage-
                                terstützen müssen.                              ment von metabolischen und vaskulären
                                                                                Risikofaktoren. Die Entwicklung und die
                                Megatrend Silver Society –                      flächendeckende Implementierung von
                                demografischer Wandel                           entsprechenden Programmen und prä-
                                                                                ventiven Interventionen zum Erhalt der
                                Deutschland gehört zu den alternden Ge-         kognitiven Fähigkeiten im Alter ist ein
                                sellschaften. Der Anteil älterer Menschen       Schlüsselbereich, um den Herausforde-
                                in Deutschland wächst mit der demogra-          rungen des demografischen Wandels zu
                                fischen Entwicklung. Von 1960 bis 2060          begegnen.
                                wird sich der Anteil der hochaltrigen über
                                80-Jährigen sogar vervierfachen (19). Im        Megatrend Urbanisierung
                                gleichen Zug wird es weniger junge Men-
                                schen geben. Während in Deutschland             Großstädte sind hyperkomplexe dyna-
                                1960 auf eine Person ab 70 Jahren noch          mische Systeme. In Europa lebten im
                                8,6 im Alter von 25 bis 69 Jahren kamen,        Jahr 2018 74,5 Prozent aller Menschen in

28 SOZIALE PSYCHIATRIE01/2023
Steffi G. Riedel-Heller | Megatrends und ihre Auswirkungen auf die psychische Gesundheit

Städten. Besondere Probleme bergen die
sogenannten Megacitys mit mehr als 10
Millionen Einwohnern w ie z.B. Tokio,
Mumbai oder Mexiko-Stadt – auch im
Hinblick auf die psychische Gesundheit.
Die Forschung zu Umwelt und Psyche,
insbesondere zum Klima und zur psy-
chischen Gesundheit, wächst im Mo-

                                                                                                                                       www.bob-born.de
ment exponentiell. Aktuelle Studien ha-
ben gezeigt, dass z.B. Grünflächen einen
protektiven Einfluss auf die psychische
Gesundheit haben. Ein höherer Anteil
von Grünflächen in der Wohnumgebung
ist mit niedrigem Risiko für bestimmte        leben von Stressführen können. Deshalb       w irkungen auf die psychische Gesund-
psychische Störungen verbunden (25).          w ird diskutiert, ob Techno-Stress einen     heit der Menschen haben können. Zum
Natürlich sind Querschnittsstudien an-        Einfluss auf die psychische Gesundheit       einen mehren sich Befunde zu Techno-
fällig für systematische Fehler und die       hat. Übersichtsarbeiten definieren ver-      Stressund nachteilige Ausw irkungen auf
Ergebnisse davon abhängig, w ie gut an-       schiedene Domänen von Techno-Stress,         die Psyche.Zum anderen bergen eHealth-
dere Faktoren, w ie z.B. der sozioökono-      w ie die Überlastung durch Technik, die      Programme durchaus Chancen.
mische Status der Studienteilnehmer,          technische Komplexität, Verunsicherung
kontrolliert w urde. Umso interessanter       durch Technik, Unsicherheit durch Tech-      Ausblick
ist eine große Erhebung in UK, das Bri-       nik, aber auch technische Invasion in
tish Household Panel (26). Hier konnte        alle Lebensbereiche,die die Grenzen zw i-    Megatrends sind Tiefenströmungen des
gezeigt werden, dass ein Umzug in eine        schen Arbeit und Freizeit verschwimmen       Wandels und haben Einfluss auf alle Le-
Gegendmit höherem Grünanteil bis drei         lassen, Unzuverlässigkeit durch Technik      bensbereiche, auch auf die psychische
Jahre nach Umzug mit signifikanten            und technische Arbeitsplatzüberwa-           Gesundheit der Menschen. Megatrends
Verbesserungen in der psychischen Ge-         chung (27). Erste Ergebnisse von Studien     wirken nicht eindimensional, sondern
sundheit assoziiert ist und ein Umzug in      legen nahe, dass sich bestimmte Arten        vielfältig und komplex. Einige Zukunfts-
eine Gegendmit niedrigerem Grünanteil         von technischem Stress bei der Arbeit        forscher gehen davon aus, dass aus dem
kurzfristig mit einer Verschlechterung        ungünstig auf die psychischeGesundheit       Zusammenwirken von Trends gesell-
der psychischen Gesundheit einherging.        auswirken können. Gleichzeitig können        schaftlicher Wandel entsteht. Beispielhaft
Diesewenigen Befunde machen deutlich,         digitale Technologien aber auch positive     wurden hier die Megatrends Individuali-
w ie stark unsere Umwelt auf unsere Psy-      Ausw irkungen auf das psychische Wohl-       sierung, Urbanisierung, Silver Society und
che einw irkt und die Urbanisierung mit       befinden von Tätigen haben, wenn die-        Konnektivität und ihre Einflüsse auf die
Gefahren verbunden ist. Neue Konzepte         se z.B. eine bessere Arbeitsorganisation     psychische Gesundheit von Menschen be-
der Stadtentwicklung sind hier dringend       ermöglichen. Zudem bergen technische         schrieben. Dies erfolgte bei Weitem nicht
nötig. Die gesundheitsförderliche Gestal-     Möglichkeiten auch Chancen zur Förde-        erschöpfend, sondern eher als Startpunkt
tung von Quartieren und Nachbarschaf-         rung der psychischen Gesundheit. Dies        für weiteres Nachdenken. ■
ten w ird ein Zukunftsthema.                  muss in diesem Zusammenhang auch
                                              erwähnt werden. Das Feld der eHealth-        Prof. Dr. med. Steffi G. Riedel-Heller, MPH,
                                                                                           Institut für Sozialmedizin,Arbeitsmedizin und
Megatrend Konnektivität                       odermHealth-Anwendungen ist groß und
                                                                                           Public Health (ISAP)
                                              sehr dynamisch. Hier soll nur ein Beispiel   E-Mail:
Bei diesem Megatrend geht esum die Ver-       gegeben werden: Onlinebasierte Selbst-       Steffi.Riedel-Heller@medizin.uni-leipzig.de
netzung durch digitale Infrastrukturen,       management-Programme bei leichter
die neue Lebensstile, Verhaltensmuster        und mittelschwerer depressiverSympto-
und auch neue Geschäftsmodelle hervor-        matik w ie z.B.das kostenfreie moodgym
bringen. Wie steht es um die Vernetzung       (https://moodgym.de/) haben ihre Wirk-
in Deutschland? Der Anteil der Inter-         samkeit bew iesen (28).Das bestätigt eine
netnutzer in Deutschland ist von 2001         aktuelle systematische Übersichtsarbeit
bis 2021 auf über 90 Prozent gestiegen.       und eine Metaanalyse für onlinebasier-
Die übergroße Mehrheit der Deutschen          te verhaltenstherapeutische Programme
nutzen Computer häufig. Das trifft auf        bei Depression, die 39 Studien mit über
die Arbeit und auch auf die Freizeit zu.      8.000 Teilnehmern inkludieren konnte
Wir w issen, dass bestimmte Formen der        (29). Dieses Beispiel zeigt, dass Mega-
Mensch-Maschine-Interaktionen zum Er-         trends durchaus auch gegenläufige Aus-

                                                                                                    SOZIALE PSYCHIATRIE 01/2023       29
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                                               Part 1. In: Br J Psychiatry, 179, 250–254          Nursing Care Ratios and Care Preferences of
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Warner Books                                   11 DAK Gesundheit. DAK-Psychoreport 2020:          doi.org/10.1055/s-0043-102151)
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