Seenotrettung von schutzsuchenden Menschen im zentralen Mittelmeer - See- und menschenrechtliche Verpflichtungen durchsetzen und verteidigen

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Seenotrettung von schutzsuchenden Menschen im zentralen Mittelmeer - See- und menschenrechtliche Verpflichtungen durchsetzen und verteidigen
Seenotrettung von
schutzsuchenden Menschen
  im zentralen Mittelmeer

 See- und menschenrechtliche
 Ve r p f l i c h tu n g e n d u r c h s e tz e n
             und verteidigen
Seenotrettung von schutzsuchenden Menschen im zentralen Mittelmeer - See- und menschenrechtliche Verpflichtungen durchsetzen und verteidigen
Unterstützt durch

                 Herausgeberin:
              SOS MEDITERRANEE
                Deutschland e.V.
               Postfach 44 03 52
                  12003 Berlin
              Tel.: 030.2205.6810
          contact@sosmediterranee.org
            www.sosmediterranee.de

                   Redaktion:
                 Jana Ciernioch
                    V.i.s.d.P.

                  Gestaltung:
              Camila Lombana Díaz

            Fotos (chronologisch):
 Kenny Karpov, Anthony Jean, Susanne Friedel,
 Guglielmo Mangiapane, Patrick Bar, Maud Veith,
                Laurin Schmid.

       Die Veröffentlichungen stellen keine
 Meinungsäußerung von AWO International oder
Aktion Deutschland Hilft (ADH) dar. Für inhaltliche
    Aussagen trägt der Autor/die Autorin die
                 Verantwortung.

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Seenotrettung von schutzsuchenden Menschen im zentralen Mittelmeer - See- und menschenrechtliche Verpflichtungen durchsetzen und verteidigen
SO S MED IT ERRANEE
SOS MEDITERRANEE ist eine europäische,
maritime und humanitäre Organisation zur Rettung
Schiffbrüchiger im Mittelmeer. Sie wurde von
Bürgerinnen und Bürgern im Mai 2015 gegründet
– in Reaktion auf das Sterben im Mittelmeer und
der Untätigkeit der Europäischen Union diesem ein
Ende zu setzen.

SOS MEDITERRANEE arbeitet im europäischen
Verbund     mit Teams in Deutschland, Italien,
Frankreich und der Schweiz zusammen. Gemeinsam
mit dem medizinischen Partner Ärzte ohne Grenzen
(MSF) haben sie 29.523 Menschen vor dem
Ertrinken gerettet.
Seenotrettung von schutzsuchenden Menschen im zentralen Mittelmeer - See- und menschenrechtliche Verpflichtungen durchsetzen und verteidigen
S een otrettu n g von sc h u tzsu c h en den Men sc h en im zentra len Mittelmeer //   1

                                           Hintergr und

Auf der Flucht über den Seeweg zwischen Libyen und           Seenotrettung vor der libyschen Küste und damit an der
Italien sind in den letzten Jahren zehntausende Men-         europäischen Außengrenze auf dem Mittelmeer offiziell
schen      ums    Leben    gekommen.     In  Reaktion        an die libysche Küstenwache ausgelagert. Dies führt zur
auf die Untätigkeit der Europäische Union                    Erosion von geltendem internationalen Seerecht.
(EU) und ihrer Mitgliedstaaten, dem etwas
entgegenzusetzen, hat 2014/15 eine Reihe von zivilen         Die europäischen Mitgliedstaaten müssen ihrer
Seenotrettungsorganisationen, sogenannten SAR-               see-   und     menschenrechtlichen Verpflichtungen
NGOs, im Mittelmeer Rettungseinsätze aufgenommen             nachkommen und diese konsequent durchsetzen,
und dadurch Tausende von schutzsuchenden Menschen            allen voran die Pflicht zur Seenotrettung. Dazu
vor dem Ertrinken bewahrt.                                   gehört auch die Ausschiffung geretteter Menschen
                                                             an einen sicheren Ort, wo ihre Grundbedürfnisse
Seitdem hat sich die Situation auf dem Mittelmeer            gewahrt und sie vor Verfolgung sicher sind. Dies
zwischen Europa und Libyen weiter verschärft. Zum einen      kann nur durch die Einführung eines rechtsbasierten
wird die Arbeit der zivilen Seenotrettungsorganisationen     europäischen Seenotrettungsprogramms erfolgen,
im und somit die humanitäre Hilfe für Schutzsuchende         das derzeit nicht in Sicht ist. Solange es ein solches
auf dem Mittelmer zunehmend behindert. Zum anderen           Seenotrettungsprogramm nicht gibt, muss die zivile
haben die EU-Staaten die Verantwortung für die               Seenotrettung in ausreichendem Umfang möglich sein.
Seenotrettung von schutzsuchenden Menschen im zentralen Mittelmeer - See- und menschenrechtliche Verpflichtungen durchsetzen und verteidigen
2                                                                                                  S een otrettu n g von sc h u tzsu c h en den Men sc h en im zentra len Mittelmeer //                         3

                                DIE RETTUNGSPFLICHT AUF SEE
                                    GILT UNTERSCHIEDSLOS
                                 GEGENÜBER JEDER PERSON.

                       Abb. 1: Wer rettet im Mittelmeer (2016-2018)?

        NGOs                Ital. Küstenwache                  Ital. Marine     Frontex
        EUNAVFOR/MED        Militärschiffe (Int.)              Handelsschiffe
50000

45000

40000

35000

30000

25000
                                                                                                                           D ie P f lic ht z ur Seenotret t ung
20000
                                                                                                                            gilt f ür alle Sc hif fe auf See
15000

10000                                                                                     Die Pflicht zur Seenotrettung ist explizit im internationa-                          Ein Seenotfall liegt vor, wenn ein Schiff oder die darauf
                                                                                          len Seerecht verankert.1 Als Völkergewohnheitsrecht gilt                             befindlichen Personen ernsthaft in Gefahr sind und ohne
                                                                                          sie überall auf See und für alle Schiffe gleichermaßen,                              Hilfe von außen nicht in Sicherheit gelangen können
5000
                                                                                          sofern sie dadurch ihre Besatzung nicht in Gefahr                                    (Manövrierunfähigkeit, gefährliche Überbelegung oder
                                                                                          bringen.                                                                             Mangel an Bordrettungsmitteln wie Rettungswesten)4.
   0
                2016                                    2017                      2018    Ausnahmslos alle Seefahrer_innen sind an die Prinzipien                              Die Boote, die mit schutzsuchenden Menschen an Bord
                                                                                          der Seenotrettung gebunden.2 Die Rettungspflicht auf                                 von der libyschen Küste in Richtung Europa ablegen, sind
                                                                                          See gilt unterschiedslos gegenüber jeder Person. Die                                 in der Regel gefährlich überbelegt, nicht hochseetauglich
                                                                                          Umstände spielen dabei keine Rolle. Denn die Pflicht zur                             und verfügen nicht über Rettungswesten. Deshalb sind
                                            Quelle: Ital. Küstenwache
                                                                                          Seenotrettung knüpft allein an das Schutzbedürfnis der                               diese ab dem Zeitpunkt, an dem sie die Küste verlassen,
                                                                                          in Seenot geratenen Menschen an.3                                                    als Seenotfall zu betrachten.

                                                                                          1 Vgl. IMO (1974): International Convention for the Safety of Life at Sea (SOLAS),
                                                                                          IMO (1979): International Convention on Search and Rescue (SAR), UN (1982):          EN/TXT/HTML/?uri=CELEX:32014R0656&from=EN; Siehe auch Deutscher
                                                                                          United Nations Convention on the Law of the Sea (UNCLOS), IMO (2004a):               Bundestag (2013): Wissenschaftliche Dienste. Völkerrechtliche Schutzpflichten
                                                                                          Resolution MSC.167(78): Guideline On Treatment Of Persons Rescued At Sea);           gegenüber Migranten in Seenot, S. 5.
                                                                                          Siehe United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR)/ International
                                                                                          Maritime Organisation (2006): Rescue at Sea, A guide to principles and practice      4 Vgl.   Kapitel   I,    Ziff.   1.3.13,   SAR.   Diese   Definition   entspricht   der
                                                                                          as applied to migrants and refugees.                                                 völkergewohnheitsrechtlichen Bedeutung von Seenot. Vgl. auch Art. 9 Ziff.
                                                                                                                                                                               2.f, EU Regulation 656/2014; Deutscher Bundestag (2016): Wissenschaftliche
                                                                                          2 Vgl. Art. 98, UNCLOS.
                                                                                                                                                                               Dienste, Rechtliche Konsequenzen einer Behinderung von Seenotrettern, WD 2
                                                                                          3 Vgl. Art. 9 EU Regulation 656/2014, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/       – 3000 – 138/16, S. 7.
Seenotrettung von schutzsuchenden Menschen im zentralen Mittelmeer - See- und menschenrechtliche Verpflichtungen durchsetzen und verteidigen
4                                                                          S een otrettu n g von sc h u tzsu c h en den Men sc h en im zentra len Mittelmeer //   5

                                                                                                                                              DAS SEERECHT VERPFLICHTET DIE KÜSTENSTAATEN NICHT NUR
                                                                                                                                              SUCH- UND RETTUNGSEINSÄTZE DURCHZUFÜHREN, SONDERN
                                                                                                                                                       AUCH DIE DAFÜR NÖTIGEN KAPAZITÄTEN
                                                                                                                                                                BEREITZUSTELLEN.

Staa te n mü sse n d a f ü r so rg e n , d a s s j e d e r
Perso n in Se e n ot g e h o l fe n w i rd

Küstenstaaten müssen grundsätzlich dafür                              Die     Koordination    einer  Rettung    muss
sorgen, dass jeder in Seenot geratenen                                grundsätzlich von dem Staat übernommen
Person geholfen wird. Sie sind verpflichtet,                          werden, der für das Gebiet, in dem der Notfall
sich dabei zu koordinieren. Das Seerecht                              stattfindet,   verantwortlich    ist.  Deshalb
verpflichtet die Küstenstaaten nicht nur                              sieht das Seevölkerrecht vor, dass Staaten
Such- und Rettungseinsätze durchzuführen,                             konkrete Meereszonen, sogenannte Such-
sondern auch die dafür nötigen Kapazitäten                            und Rettungszonen (SAR-Zonen), bestimmen,
bereitzustellen. Sie müssen also nicht nur auf                        in denen sie die seenotrettungsrechtliche
Notfälle reagieren, sondern auch vorbeugend                           Verantwortung übernehmen7. Libyen hat im
Maßnahmen ergreifen, wie z.B. eine 24-Stunden                         Sommer 2018 erstmals eine eigene SAR-Zone
mit Englisch sprechendem Personal besetzte                            vor der libyschen Küste benannt. Seenotfälle
Seenotrettungsleitstelle   einrichten.5   Diese                       in dieser Region wurden bis dahin durch Italien
ist dazu verpflichtet, das nächste Schiff in                          koordiniert. Seitdem stehen auch die Einsätze
unmittelbarer Nähe zu einem Seenotfall mit                            der zivilen Rettungsschiffe im Mittelmeer unter
der Rettung zu beauftragen. Zugleich ist die                          der Koordination der libyschen Behörden8.
Seenotleistelle dafür zuständig, die Zuweisung
eines sicheren Hafens für die zeitnahe
Ausschiffung der Überlebenden an einen sicheren
                                                                      at sea, Resolution MSC. 167(78), Ziffer 3.1.9, http://www.imo.org/
Ort zu unterstützen.6
                                                                      en/KnowledgeCentre/IndexofIMOResolutions/Maritime-Safety-
                                                                      Committee-(MSC)/Documents/MSC.167(78).pdf.
5   Vgl. Art. 98 Abs. 1 UNCLOS; Art. 33 Ziff. 2 SOLAS : http://www.
                                                                      7 Vgl. Anlage, Kapitel I, Ziffer 1.3.2. SAR.
refworld.org/docid/46920bf32.html; Kapitel III SAR: http://www.
refworld.org/docid/469224c82.html.
                                                                      8 Vgl. IMO: Global SAR Plan, https://gisis.imo.org/Public/COMSAR/
6   Vgl. IMO (2004): Guidelines on the treatment of persons rescued   RCC.aspx?CID=LBY&Action=View&ID=2032.
Seenotrettung von schutzsuchenden Menschen im zentralen Mittelmeer - See- und menschenrechtliche Verpflichtungen durchsetzen und verteidigen
6                                                                                                      S een otrettu n g von sc h u tzsu c h en den Men sc h en im zentra len Mittelmeer //   7

                                                                                                                                              Abb 2: Ausschiffung von im Mittelmeer geretteten Menschen
                                                                                                                                              (vor & nach der Schließung italienischer Häfen im Juni 2018)
                                                                                                                                                  Ausschiffung von im Mittelmeer geretteten Menschen (vor & nach der Schließung italienischer Häfen
                                                                                                                                                  im Juni 2018)

Di e Zur ü c kwe isu n g Sc h u tz s u c h e n d e r M e n sc h en                                                                                                         Januar - Juni 2018
n ach Libye n ist re c h tsw i d ri g
                                                                                                                                                                             Malta Spanien
                                                                                                                                                                              1%     3%

Das Seerecht schreibt vor, dass aus    Zahlreiche     Berichte       belegen                des Hohen Flüchtlingskommissars
Seenot gerettete Menschen an einen     eindeutig    die    unmenschlichen                   der Vereinten Nationen (UNHCR)
sicheren Ort („place of safety“)       Bedingungen,      die      in     den                aktuell nicht die Bedingungen eines
gebracht werden müssen. Dort darf      libyschen Internierungslagern für                    „place of safety“.11 Das Land hat we-                                                                          Libyen
                                                                                                                                                           Italien                                          46%
keine Gefahr mehr für Leib und Leben   Migrant_innen und Asylsuchende                       der die Genfer Flüchtlingskonvention
                                                                                                                                                            50%
bestehen und die Grundbedürfnisse      herrschen.9 Selbst die deutsche                      unterzeichnet,       noch     verfügt
der Geretteten (Nahrung und eine       Bundesregierung       spricht     von                es über ein funktionierendes
medizinische       Grundversorgung)    „allerschwersten, systematischen                     Einwanderungs- und Asylsystem.
müssen gedeckt sein. Mit Verweis       Menschenrechtsverletzungen          in               Es gibt demnach keine Möglichkeit
auf die Genfer Flüchtlingskonvention   Libyen“.10 Libyen erfüllt auch laut                  der Flüchtlingsstatusbestimmung
(GFK) als auch die Europäische                                                              nach internationalen Standards.12
Menschenrechtskonvention (EMRK)        9 Vgl. Gemeinsamer Bericht der United Nations        Wer Schutzsuchende nach Libyen
dürfen Schiffe der EU und ihrer        Support Mission in Libya (UNSMIL) sowie des          zurückbringt oder sie an die
Mitgliedsstaaten niemanden in einen    Hohen    Kommissars     der   Vereinten   Nationen   libysche Küstenwache übergibt,                                               Juli - Dezember 2018
Verfolgerstaat,     beziehungsweise    für   Menschenrechte    (OCHCR),   Detained   and    verstößt demnach auch gegen die
an einen Ort mit prekärer              Dehumanised. Report on Human Rights Abuses           Pflicht zur Seenotrettung. Denn die
Menschenrechtslage zurückbringen       against Migrants in Libya, 13. Dezember 2016,        Bedingungen eines „place of safety“                                                   Spanien
(„Refoulement-Verbot“). Aber auch      https://www.ohchr.org/Documents/Countries/           sind in Libyen nicht erfüllt.                                                   Malta   4%
                                                                                                                                                                     Italien 8%
private Schiffe, wie z.B. Handels-     LY/DetainedAndDehumanised_en.pdf; Siehe auch
                                                                                                                                                                       3%
oder zivile Rettungsschiffe sind       Human Rights Watch (2019): “No Escape From
                                                                                            January – December 2018, S. 5, https://data2.
völkergewohnheitsrechtlich       da-   Hell. EU Policies Contribute to Abuse of Migrants
                                                                                            unhcr.org/en/documents/download/67 712#_
ran gebunden. Die geretteten           in Libya”, https://www.hrw.org/report/2019/01/21/
                                                                                            ga=2.262981701.87056328.1550153793-
Menschen müssen stattdessen in         no-escape-hell/eu-policies-contribute-abuse-
                                                                                            159048022.1548334772.
einen sicheren Ort ausgeschifft        migrants-libya.
werden, da nur dort ihr Anspruch auf                                                        11 Vgl. UNHCR (2018): UNHCR Position on Returns
                                       10 Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 19/4164
internationalen Schutz rechtmäßig                                                           to Libya www.refworld.org/pdfid/5b8d02314.pdf.
                                       vom 05.09.2018; Siehe auch UNHCR (2019):
geprüft werden kann.
                                       Desperate   Journeys.   Refugees    and   migrants   12 Vgl. Deutscher Bundestag (2018), Drucksache
                                       arriving in Europe and at Europe's borders,          19/569, 09. März 2018, S. 9.
                                                                                                                                                                                                  Libyen
                                                                                                                                                                                                   85%

                                                                                                                                                                                  Quelle: UNHCR
                                                                                                                                                  Quelle : UNHCR
Seenotrettung von schutzsuchenden Menschen im zentralen Mittelmeer - See- und menschenrechtliche Verpflichtungen durchsetzen und verteidigen
8                             S een otrettu n g von sc h u tzsu c h en den Men sc h en im zentra len Mittelmeer //   9

G eret tete M e n sc h e n m ü s se n a n
e i nen s ic h e re n Ort ge b ra ch t
werden

Seit Sommer 2018 verweigern Italien                    Seevölkerrecht, noch die GFK und
und andere europäische Länder die                      die EMRK eine allgemeine Pflicht,
Aufnahme von schutzsuchenden                           geretteten Menschen Zugang zum
Menschen, indem sie rettenden                          eigenen Staatsgebiet zur Prüfung
Schiffen die Einfahrt in ihre Häfen                    eines Antrags auf internationalen
verbieten. Im Juni 2018 hat Italien                    Schutz zu gewährleisten. Die EU-
die Koordination von Seenotfällen                      Staaten dürfen Schutzsuchenden
vor der libyschen Küste offiziell an                   den Zutritt zu ihrem Hoheitsgebiet
Libyen übergeben. Seitdem wird über                    aber nicht gewaltsam verweigern.
die Anlandung von Rettungsschiffen                     Tun sie es doch verletzt dies das
von Fall zu Fall entschieden und das                   von der EMRK garantierte Recht,
meist erst dann, wenn europäische                      einen Antrag auf Schutz vor
Staaten sich zur Aufnahme der                          Zurückschiebung und Abschiebung
Geflüchteten bereit erklärt haben.                     zu stellen und gegen eine eventuelle
Bis eine ad-hoc Regelung zwischen                      negative Entscheidung Rechtsmittel
aufnahmebereiten         Regierungen                   einzulegen.15 Menschenrechtsschutz
gefunden wurde, mussten Hunderte                       beginnt folglich nicht erst an der
Schutzsuchende         tage-     und                   Grenze oder auf dem Territorium
manchmal wochenlang auf den                            der EU. Staaten haben zwar das
Rettungsschiffen ausharren. Diese                      Recht und die Pflicht, ihre Grenzen
derzeit geltende Praxis ist mit dem                    zu verwalten. Diese unterliegen
Seerecht unvereinbar. Denn die                         jedoch ihren Verpflichtungen aus
Seenotrettung umfasst die Pflicht,                     dem nationalen, europäischen und
die geretteten Menschen an einen                       internationalen Recht zum Schutz
sicheren Ort zu bringen.13                             von      Asylbewerber_innen     und
                                                       Flüchtlinge.
Auch der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte (EGMR) hatte                        https://www.refworld.org/cases,ECHR,4f4507942.
2012 das Recht von Flüchtenden                         html.
auf einen sicheren Ausschiffungsort
                                                       15 Vgl.     Weinzierl,     Ruth/    Lisson,    Urszula
betont.14 Zwar enthalten weder das
                                                       (2007): Grenzschutz und Menschenrechte. Eine
                                                       europarechtliche     und       seerechtliche   Studie.
13   Vgl. UNHCR (2019), Desperate Journeys, S. 15.
                                                       Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte,
14 Vgl. Hirsi Jamaa and Others v. Italy, Application   S.14,     https://www.institut-fuer-menschenrechte.
no. 27765/09, Council of Europe: European Court        de/fileadmin/_migrated/tx_commerce/studie_
of Human Rights, 23 February 2012, available at:       grenzschutz_und_menschenrechte.pdf.
Seenotrettung von schutzsuchenden Menschen im zentralen Mittelmeer - See- und menschenrechtliche Verpflichtungen durchsetzen und verteidigen
10                                                                          S een otrettu n g von sc h u tzsu c h en den Men sc h en im zentra len Mittelmeer //               11

                                                                       D ie libysc he Küstenwac he dar f hum ani täre
                                                                              Helfer _innen nic ht am Ret ten hi ndern

                                                 IM SEEVÖLKERRECHT IST KLAR GEREGELT, DASS DIE VERANTWORTLICHKEIT FÜR EIN BESTIMMTES SEEGEBIET,
                                                 ALSO BENENNUNG EINER SOGENANNTEN SAR-ZONE, KEINE EXKLUSIVEN ZUGANGSRECHTE ZU DIESEM GEBIET
                                                                    UND AUCH KEINE EXKLUSIVE RETTUNGSKOMPETENZ BEDEUTET.
   Abb. 2: SAR-Zonen im zentralen Mittelmeer

                                                Sowohl Italien, als auch die                         rechtlichen Verpflichtungen aus-                      rettungsoperation im Hoheitsgebiet
                                                Europäische Kommission setzen                        geübt werden.18 Diese wurden von                      trotz    fehlender    Zustimmung
                                                in ihrem Versuch, Migration über                     Seiten der libyschen Küstenwache                      des Küstenstaat nicht gegen
Ital. SAR-Zone                                  das Mittelmeer zu verhindern, auf                    nachweislich mehrfach gebrochen.19                    Völkerrecht. 21
                                                eine systematische und langfristige
                                                Unterstützung       der    libyschen                 Das Seerecht sieht zwar vor, dass                     Was das Zugriffsrecht auf in Seenot
                                                Küstenwache. Seit Libyen die                         ausländische Schiffe möglichst eine                   geratene Personen anbelangt, so
                                                Verantwortung für die Koordination                   Genehmigung einholen, wenn eine                       gilt: Wer zuerst am Einsatzort ein-
                                                aller Seenotfälle in der eigenen, 74                 Seenotrettung im Hoheitsgebiet                        trifft, kann und muss die in Seenot
                                                Seemeilen breiten Rettungszone                       eines anderen Staates erfolgt.                        geratenen Menschen an Bord neh-
                                                übernommen hat, kommt es zu                          Liegt allerdings Gefahr im Verzug                     men.22 Das gilt auch für Rettungen
                                                einer Häufung von Eingriffen in                      vor, weil etwa die Behörden des                       in der libyschen SAR-Zone. Private
                                                laufende Rettungseinsätze seitens                    Küstenstaates nicht reagieren oder                    Seenotrettungsorganisationen dür-
                                                der libyschen Küstenwache.16 In                      die Rettung der Schiffbrüchigen                       fen dort humanitär tätig sein und
                                                Folge dessen sind in mindestens                      durch die nationale Küstenwache                       sind sogar rechtlich zur Rettung ver-
                      Maltesische SAR-Zone      einem Fall Schutzsuchende zu Tode                    möglicherweise zu spät kommen                         pflichtet.
                                                gekommen.17 Und das obwohl im                        würde, so wie es in der Vergangenheit
                                                Seevölkerrecht klar geregelt ist,                    mit den libyschen Behörden häufig
                                                dass die Verantwortlichkeit für ein                  der Fall war 20- verstößt eine Seenot-
                                                bestimmtes Seegebiet, also die
                            Libysche SAR-Zone   Benennung       einer   sogenannten                  18 Vgl. Art. 2 und 3 UNCLOS, http://www.un.org/
                                                Such- und Rettungszone, keine                        depts/los/convention_agreements/texts/unclos/
                                                exklusiven Zugangsrechte zu diesem                   unclos_e.pdf.                                         squilla-a-vuoto-ecco-cosa-succede-se-si-prova-a-
                                                Gebiet und auch keine exklusive                                                                            chiamare/325041/325658.
                                                                                                     19 Vgl. Amnesty International (2017), „Libya’s Dark
                                                Rettungskompetenz bedeutet. Denn
                                                                                                     Web of Collusion. Abuses Against Europe-bound         21 Vgl. Deutscher Bundestag, WD 2 – 3000 –
                                                selbst in libyschen Küstengewässern
                                                                                                     Refugees and Migrants“, https://www.amnesty.org/      075/17, S. 6 f.
                                                muss die Hoheitsgewalt des Staates
                                                                                                     en/documents/mde19/7561/2017/en/.
                                                in Übereinstimmung mit seevölker-                                                                          22 Vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte
                                                                                                     20 Vgl. Deutscher Bundestag, WD 2 - 3000              (2018):   Seenotrettung   und    Flüchtlingsschutz.
                                                                                                     - 075/17, 25. August 2017, S. 8; Siehe auch La        Menschenrechtliche und seerechtliche Pflichten
                                                16 Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache WD 2 -
                                                                                                     Repubblica: “Migranti, quel telefono dei soccorsi     solidarisch erfüllen S. 9 f., https://www.institut-
  39°57’06.69” N,027°39’09.32” E                3000 - 103/18, 13. Juli 2018, S. 5.
                                                                                                     libici che squilla a vuoto: ecco cosa succede se      fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/
                                                17 Vgl. Forensic Oceonography, Mare Clausum. The     si prova a chiamare”, 21. Januar 2019, https://       Publikationen/Stellungnahmen/Positionspapier_
                                                Sea Watch versus Libyan Coast Guard Case, https://   video.repubblica.it/dossier/immigrati-2015/           DIMR_Seenotrettung_Fluechtlingsschutz_Zweite_
                 Quelle: IMO Global SAR Plan    www.forensic-architecture.org/case/sea-watch/.       migranti-quel-telefono-dei-soccorsi-libici-che-       Auflage_30_August_2018.pdf.
12                                                                                                                                       S een otrettu n g von sc h u tzsu c h en den Men sc h en im zentra len Mittelmeer //                                         13

D ie Be h i n d e r u n g z i v i l e r
Ret t u n g s sc h i f fe h a t f a ta l e Fo l g e n
                                                                                                                               Abb. 3: Folgen der Flucht über das Mittelmeer (Jan 2016 – Feb 2019)

Die Mehrheit der zivilen Rettungs-                     transportierte Fracht nicht rechtzeitig
                                                                                                                                                       Ankünfte in Europa               Abgefangen & nach Libyen zurück gebracht                  Tod oder gelten als Vermisst
schiffe ist aktuell festgesetzt oder                   ausgeliefert wird. Die Fälle mehren sich,
                                                                                                              30000
beschlagnahmt und kann deshalb                         in denen Überlebende von Schiffen
keine humanitäre Hilfe mehr für                        berichteten, die vorbeifuhren, ohne
Schutzsuchende leisten.23 2018, das                    zu helfen. Inzwischen gibt es mehrere
Jahr in dem die Behinderung ziviler                    Fälle, in denen Handelsschiffe die                     25000
Seenotrettung      ihren    bisherigen                 von ihnen geretteten Menschen nach
Höhepunkt fand, starben im Mittelmeer                  Libyen zurückbrachten.25 Die aktuelle
pro Tag durchschnittlich sechs Kinder,                 Politik der EU – die Behinderung ziviler
Frauen oder Männer auf der Flucht aus                  Rettungsschiffe und die Unklarheit                     20000
Libyen. Die Todesrate stieg von einem                  über die Aufnahme schutzsuchender
Toten pro 38 Ankünften im Jahr 2017                    Menschen - führt dazu, dass die
auf einen pro 14 Ankünften in 2018.24                  gesetzliche Pflicht zur Seenotrettung
                                                                                                              15000
                                                       und zur Ausschiffung der Überlebenden
Während       kaum       noch     zivile               in einen sicheren Hafen immer
Rettungsschiffe im Einsatz sein können,                häufiger gebrochen wird. Es droht
müssen immer mehr Handelsschiffe                       die     systematische       unterlassene
                                                                                                              10000
einspringen und Schiffbrüchige retten.                 Hilfeleistung auf dem Mittelmeer! Die
Doch auch für sie wird die zunehmende                  Uneinigkeit der EU bei der Aufnahme
Unsicherheit, wo und wann Gerettete                    von schutzsuchenden Menschen führt
an einen sicheren Ort gebracht werden                  letztlich nicht nur zur Erosion gelten-                5000
können, zum Risiko. Denn können sie                    der see- und flüchtlingsrechtlicher
die von ihnen geretteten Menschen                      Verpflichtungen, sondern auch dazu,
nicht in kürzester Zeit von Bord gehen                 dass die Wahrscheinlichkeit, auf der
lassen, laufen sie Gefahr, dass ihre                   Flucht aus Libyen zu sterben, steigt                      0
                                                                                                                      Jan. Feb. Mrz. Apr. Mai. Jun. Jul. Aug. Sep. Okt. Nov. Dez. Jan. Feb. Mrz. Apr. Mai. Jun. Jul. Aug. Sep. Okt. Nov. Dez. Jan. Feb. Mrz. Apr. Mai. Jun. Jul. Aug. Sep. Okt. Nov. Dez. Jan. Feb.
                                                       und Menschen gegen ihren Willen                                 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 16 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 17 18 18 18 18 18 18 18 18 18 18 18 18 19 19
                                                       zurück nach Libyen gebracht werden.
23 Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 19/3721, 07.
August 2018, S. 5.                                                                                                                                                                                   Quelle: ISPI/IOM/UNHCR
                                                       25 Vgl. Thelen, Raphael: „Tödliche Befehle“, In: Der
24 Vgl. UNHCR (2019): Desperate Journeys, S. 5.        Spiegel, Nr. 47 / 17/11/2018, S. 96 – 97.
14                                                              S een otrettu n g von sc h u tzsu c h en den Men sc h en im zentra len Mittelmeer //             15

     D ie EU muss ihrer humanitären und
     mensc henrec htlic hen Verantwort ung auf dem
     Mit telmeer gerec ht werden

     Obwohl bekannt ist, dass sie                            Gemäß Art. 16 der von der                          Auch wenn die EU-Staaten selbst
     Menschen in willkürliche Inhaftier-                     UN-Generalversammlung            zur               keine Schutzsuchenden nach Libyen
     ung in Libyen und zu grausamer,                         Kenntnis    genommenen       Artikel               zurückbringen - die Unterstützung
     unmenschlicher und erniedrigen-                         zur Staatenverantwortlichkeit ist                  der libyschen Küstenwache durch
     der     Behandlung       zurückführt,                   ‚[e]in Staat, der einem anderen                    die EU erfolgt in Kenntnis dieser
     halten    die     EU-Mitgliedstaaten                    Staat bei der Begehung eines                       M e n s c h e n r e c h t s v e r l et z u n g e n .
     an ihrer Unterstützung für die                          völkerrechtswidrigen       Handelns                Dies kann als Beihilfe zu oder
     libysche Küstenwache fest.26 Die                        des letzteren Staates hilft oder ihn               Unterstützung             von         schweren
     systematische      und     langfristi-                  unterstützt, […] völkerrechtlich                   Menschenrechtsverletzungen ge-
     ge    Förderung     der     libyschen                   dafür verantwortlich, dass er dies                 wertet werden.31 Die EU-Staaten
     Küstenwache durch die EU führte                         tut, wenn                                          müssen         folglich         sicherstellen,
     2018 dazu, dass circa 85% aller                                                                            dass schutzsuchende Menschen
     Menschen, die im Mittelmeer                             a) dieser Staat dies in Kenntnis der               nicht nach Libyen zurückgebracht
     auf hoher See gerettet oder                             Umstände des völkerrechtswidrigen                  werden und ihre Unterstützung für
     abgefangen27      wurden, von der                       Handelns tut; und                                  die libysche Küstenwache an klare
     libyschen Küstenwache zurück in                         b) das Handeln völkerrechtswidrig                  Bedingungen knüpfen. Werden diese
     Internierungslager nach Libyen                          wäre, wenn es dieser Staat begehen                 nicht erfüllt, muss die Förderung
     gebracht wurden- noch bevor                             würde.“29                                          eingestellt werden.
     sie europäisches Hoheitsgebiet
     erreichen und damit ein Antragsrecht                    Diese Beihilfehandlungen umfassen                  Die europäischen Mitgliedsstaaten
     auf Asyl haben.28                                       beispielsweise die Zurverfügung-                   müssen ihren seevölker- und
                                                             stellung von Infrastruktur, finanzielle            menschenrechtlichen        Verpflicht-
     26 Vgl. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen            Unterstützung aber auch politische                 ungen nachkommen und diese
     des Europäischen Rates, 28.06.2018, https://www.        Handlungen wie Erklärungen, Zusi-                  auch gegenüber anderen Staaten
     consilium.europa.eu/media/35938/28-euco-final-          cherungen und Vertragsabschlüsse,                  verteidigen. Sie sind keineswegs aus
     conclusions-de.pdf.                                     wie sie im Fall der Unterstützung                  ihrer Verantwortlichkeit gegenüber
                                                             Libyens durch die EU-Staaten erfol-                schutzsuchende       Menschen      im
     27   Zur UNHCR-Definition des Abfangens von
                                                             gen.30                                             Mittelmeer zu entlassen!
     Schutzsuchenden,       siehe     https://www.unhcr.
     org/4963237411.pdf.
                                                             29 Vgl. Proelß, Alexander (2017): Stellungnahme
     28 Vgl. UNHCR (2019): Desperate Journeys, S. 5;
                                                             zu völkerrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit
     Siehe auch Riemer, Lena (2018), From push-backs
                                                             Seenotrettungsmaßnahmen vor der libyschen Küste,
     to pull-backs: The EU’s new deterrence strategy                                                            (2018), Seenotrettung und Flüchtlingsschutz, S. 12 f.
                                                             https://www.docdroid.net/LsrYeMr/voelkerrecht-
     faces legal challenge, https://fluechtlingsforschung.
                                                             seenotrettung-stellungnahme.pdf.
     net/from-push-backs-to-pull-backs-the-eus-new-                                                             31 Vgl. Weinzierl / Lisson, (2007): Grenzschutz und
     deterrence-strategy-faces-legal-challenge/.             30 Vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte      Menschenrechte, S. 17.
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