" Mensch ärgere Dich nicht' ist ein religiöses Spiel" - Institut für ...

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" Mensch ärgere Dich nicht' ist ein religiöses Spiel" - Institut für ...
WISSENSCHAFT

 „‚Mensch ärgere Dich nicht‘
 ist ein religiöses Spiel“
                   Jens Junge ist der einzige Spielewissenschafter im deutschsprachigen Raum.
                   Er weiß, warum Menschen spielen (und manche zu viel). Wussten Sie, dass
                   die ersten Spielsachen schon vor 40.000 Jahren erfunden wurden?
                   Und dass „Super Mario“ Gehirnareale vergrößert? Ein Gespräch.
  LISA GAWENDA
   JENS-JUNGE.DE

                                                  Jens Junge, 56,
                                                  studierte Geschichte, Betriebs- und Volkswirtschaft.
                                                  2011 wurde er Professor für Wirtschaft und Marketing
                                                  an der Design Akademie Berlin. Seit 2014 ist er zu-
                                                  dem Direktor des dort angesiedelten Instituts für
                                                  Ludologie (Spielforschung). Seit vielen Jahren berät
                                                  er Entwickler von Online-Spielen. Vor Kurzem wirkte
                                                  er an der Neugestaltung der Dauerausstellung des
                                                  Spielzeugmuseums Nürnberg mit.

62 profil 38 • 19. September 2021
" Mensch ärgere Dich nicht' ist ein religiöses Spiel" - Institut für ...
p     rofil: Mein zehnjähriger Sohn und seine Kumpel
                                  haben nur noch „Minecraft“, „FIFA“ und „Fort-
                                  nite“ im Kopf. Werden analoge Gesellschaftsspie-
                            le bald aussterben?
                                                                                        entwickelt, einem uralten Propagandaspiel für das
                                                                                        Nirwana. Seine Botschaft lautet: Das Leben ist
                                                                                        schrecklich. Wir erleben ständig Demütigungen und
                                                                                        müssen immer wieder neu anfangen. Ziel ist es, den
                            Junge: Machen Sie sich da keine Sorgen. Seit 2010 ist       Zyklus der Wiedergeburten, im Spiel symbolisiert
                            die Brettspielbranche in Europa jedes Jahr um bis zu        durch das „Rausgekegeltwerden“, zu durchbrechen
                            zehn Prozent gewachsen. Seit dem Spiel „Die Siedler         und ins Nirwana zu gelangen. Die Briten haben „Pa-
                            von Catan“ nutzen mehr und mehr Menschen im Al-             chisi“ in Indien geklaut, vereinfacht und „Ludo“ ge-
                            ter von 30 bis 100 Jahren analoge Brettspiele.              nannt. Vor gut 100 Jahren wurde es dann als „Mensch
                            profil: Tatsächlich? Unlängst ergab eine Studie, dass       ärgere Dich nicht“ auch in Deutschland populär. Viele
                            auch Männer und Frauen über 60 inzwischen öfter             Elemente heutiger Spiele wurden schon vor Jahrtau-
                            am Bildschirm spielen als analog.                           senden erfunden. In meinen Vorlesungen ist das ein
                            Junge: Ich weiß. Das liegt vor allem am Daddeln auf         zentrales Thema: Es gibt insgesamt 104 unterschied-
                            dem Smartphone. Schon in der U-Bahn kommt da                liche Bausteine, aus denen Spiele konstruiert sind,
                            täglich jede Menge Spielzeit zusammen. Der wö-              egal ob alt oder modern, analog oder digital. Diese Ele-
                            chentliche Skat-Abend fällt dann weniger ins Ge-            mente sind wissenschaftlich definiert. Aber denken
                            wicht. Dennoch: Auch analoge Spiele sind eine               Sie ans Kochen: Stellen Sie sich vor, Sie haben 104 Zu-
                            Wachstumsbranche.                                           taten zur Verfügung. Natürlich müssen Sie nicht für
                            profil: Ähneln sich die Spielvorlieben weltweit?            jedes Menü alle verwenden. Eine wichtige Zutat für
                            Junge: Es gibt kulturelle Unterschiede. In der west-        Gesellschaftsspiele ist ein Ressourcensystem, etwa
                            lichen Welt herrschen eher wettbewerbsorientierte           Spielgeld oder Spielkarten von bestimmter Wertig-
                            Gesellschaftsspiele vor, in vielen asiatischen Ländern      keit. Und meist gibt es Zufallsmechanismen, zum Bei-
                            dagegen Spiele, bei denen es um Kooperation geht.           spiel Würfel. Als Experte unterscheide ich insgesamt
                            profil: Brettspiele ohne Wettbewerb?                        acht Arten von Zufall: Sechs-Flächen-Würfel bei-
                            Junge: „Pandemic Legacy“ etwa ist auch in Deutsch-          spielsweise, Drehpfeile oder eben Ereigniskarten.
                            land populär. Ziel dieses Spiels ist es, gemeinsam zu       profil: Sie sind der einzige Spielwissenschaftsprofes-
                            verhindern, dass eine Pandemie um sich greift. Man          sor im deutschen Sprachraum.
                            kann also nur im Kollektiv gewinnen. Angesichts von         Junge: Ja. Hochschulen bieten Psychologie, Religions-
                            Corona war „Pandemic Legacy“ beinahe prophetisch.           wissenschaften, Sport-, Musik- und Filmwissenschaf-
                            profil: „Monopoly“ dagegen können Sie nicht leiden.         ten sowie vieles mehr an. Aber ausgerechnet die Spiel-
                            Warum?                                                      wissenschaft, die Ludologie, die all diese Gebiete ver-
                            Junge: „Monopoly“ ist wie Currywurst mit Pommes.            binden könnte, liegt weitgehend brach. Auch daher ist
                            Manchmal hat man Lust darauf, klar. Aber hinterher          vielen Entwicklern von Computerspielen gar nicht be-
                            fühlt man sich nicht gut. Mich stört nicht, dass es         wusst, was für uralte Prinzipien sie nutzen.
                            dabei um das Anhäufen von Geld geht. Ich kritisiere,        profil: Wie lautet die Kernaussage Ihrer Programm-
                            dass die Spielmechanik von „Monopoly“ grotten-              schrift „Was Start-ups vom Pokern lernen können“?
                            schlecht ist.                                               Junge: Beim Pokern muss man, genau wie im Wirt-
                            profil: Wie meinen Sie das?                                 schaftsleben, die Spielregeln draufhaben: Was darf
                            Junge: Am Anfang spielt der Faktor Zufall eine zentra-      ich? Was ist verboten? Aber das reicht nicht aus.
                            le Rolle. Dann aber kommt es sehr schnell zu einer          profil: Man braucht auch das berühmte Pokerface?
                            extrem ungerechten Eigentumsverteilung. Schon               Junge: Richtig. Und man muss die Signale der Mitspie-
                            nach zehn Minuten weiß meist jeder, wer gewinnen            ler lesen können: Mimik, Stimme, Körpersprache.
                            wird. Wer die dunkelblauen und vielleicht auch noch         Dann lässt sich besser einschätzen, ob jemand glaub-
                            die grünen Grundstücke kaufen kann, wird Sieger.            würdig ist oder nur blufft. Man braucht auch Dinge wie
                            Die Mitspieler haben letztlich keine Chance und zit-        die Wahrscheinlichkeitsrechnung, die Anhaltspunkte
                            tern stundenlang nur noch ihrer Pleite entgegen. Das        liefert, wie die Karten verteilt sind. Und man benötigt
                            ist frustrierend und langweilig.                            ein Gefühl für den Markt, muss die „Mitspieler“ ständig
                            profil: Wenn man Thomas Piketty glaubt, ist das aber        beobachten. Start-ups, die einfach nur verliebt in ihre
                            realistisch: Wer anfangs wenig hat, schreibt der Wirt-      Produktidee sind, scheitern fast immer.
                            schaftswissenschafter, kann sich in der heutigen Welt       profil: Braucht jedes Spiel ein Ziel?
ECHT VIRTUELL
                            kaum mehr Reichtum erarbeiten.                              Junge: Wenn Sie an Brett- oder Kartenspiele denken:
Diese Illustration zeigt    Junge: Ich stimme Piketty zu. Man könnte daher zur          ja. Aber Spielen ist ein viel umfassenderes Phäno-
den Spieleforscher Jens     Erkenntnis gelangen: Wir müssen etwas gegen man-            men: Rollenspiele verfolgen oft kein klares Ziel. In der
Junge wie eine Figur aus    gelnde Chancengleichheit tun. Aber auf solche Ideen         Kindheit sind sie dennoch enorm wichtig. Was ist ty-
einem Computerspiel.        kommt beim „Monopoly“-Spielen niemand.                      pisch für Mama, was für Papa? Warum sind die gera-
Er selbst schätzt Action,
                            profil: Zumindest bleibt selbst bei „Mensch ärgere          de böse zu mir? Rollenspiele helfen Kindern, solche
Abenteuer, Taktik und
Strategie.                  Dich nicht“ meist länger offen, wer gewinnen wird.          Dinge verstehen zu lernen. Auch Berufsrollenspiele
                            Junge: Richtig. Unterschätzen Sie „Mensch ärgere            sind ein Klassiker: Wie verhalten sich Polizisten, wie
                            Dich nicht“ bloß nicht. Die Grundlage dieses Spiels ist     Feuerwehrleute? Aber unser Spieltrieb ist natürlich
                            über 1500 Jahre alt. Im Grunde handelt es sich um ein       viel älter als alle Berufe. Wie so viele Grundlagen des
                            religiöses Spiel.                                           Menschseins stammt er aus dem Tierreich. Viele
                            profil: Das Spiel hat spirituelle Wurzeln?                  Jungtiere necken sich gegenseitig, spielen Fangen
                            Junge: Es hat sich aus dem indischen Brettspiel „Pachisi“   und balgen sich. Menschenaffen und auch Ratten

                                                                                                                     19. September 2021 • profil 38 63
" Mensch ärgere Dich nicht' ist ein religiöses Spiel" - Institut für ...
WISSENSCHAFT

                                    spielen gerne Verstecken. Und einige Tierarten haben        Junge: Britische Forscher zählten durchschnittlich
                                    Spaß daran, mit Gegenständen zu spielen. Delfine            238 Spielzeuge in Kinderzimmern: darunter 29 Ku-
                                    balancieren manchmal Dinge auf der Schnauze.                scheltiere, 33 Autos und 13 Roboter oder andere
                                    Wahrscheinlich spielen Wildtiere unter anderem als          elektronische Geräte. Gesamtwert: umgerechnet
                                    Training für Muskelkraft, Schnelligkeit und Ge-             rund 7800 Euro.
                                    schicklichkeit. Der deutsche Spieleforscher Johann          profil: Wahrscheinlich hatten die Kinder reiche Eltern.
  „Die                              GutsMuths erkannte Ende des 18. Jahrhunderts, wie
                                    wichtig Bewegungsspiele auch für Menschen sind.
                                                                                                Junge: Das ist nicht der Punkt. Fragwürdig wird es,
                                                                                                wenn Kinder so übersättigt sind, dass sie keine Bezie-
  christliche                       Auf ihn geht der Schulsport zurück. Zuvor galt er den       hung mehr zu ihren Kuscheltieren aufbauen. Klassi-
  Religion ist                      Mächtigen aus Staat und Kirche als Zeitverschwen-           scherweise ist das nur bei etwa sieben Spielsachen
  im Grunde                         dung, wenn nicht gar als Teufelszeug.                       möglich.
                                    profil: Als Teufelszeug?                                    profil: Kinder sollten höchstens sieben Spielsachen
  selbst ein                        Junge: Alles, was mit Körperlichkeit zu tun hat, war im     besitzen?
  großes                            Christentum oft mit Scham besetzt. Und Kartenspiele         Junge: Nein. Ich konnte als Kind zum Beispiel nie ge-
  Spiel.“                           waren lange besonders verpönt, schon weil Karten            nügend Autos haben. Das ganze Wohnzimmer habe
                                    auch für Magie und Weissagung genutzt wurden. Aber          ich zugeparkt. Die Faustregel sieben gilt eher für Pup-
                                    selbst didaktische Spiele, bei denen Kinder, wenn sie       pen und Kuscheltiere.
                                    Moralsätze richtig aufsagten, mit Süßigkeiten belohnt       profil: Wann wurden die ersten Spielsachen erfun-
                                    wurden, verurteilten Kirchenväter. Man witterte             den?
                                    schnell Konkurrenz. Denn die christliche Religion ist       Junge: Ziemlich sicher bereits vor rund 40.000 Jahren,
                                    im Grunde selbst ein großes Spiel: Die Gläubigen gehen      parallel zur Entwicklung der Sprache. Ein gutes Bei-
                                    ihren Lebensweg und streben nach einer Belohnung            spiel ist der Löwenmensch: eine 30 Zentimeter große
                                    im Jenseits. Dieses Spiel erklärte die Kirche zum einzi-    Statuette mit Löwenkopf und Menschenkörper. Höh-
                                    gen gültigen. Alle anderen wurden verdammt.                 lenbewohner brauchten etwa 360 Stunden, um sie
                                    profil: Könnten wir ohne Spiele leben?                      aus einem Mammutstoßzahn zu schnitzen. Experten
                                    Junge: Nein. Schon die eigenen Finger kennenzuler-          vermuten, dass der Löwenmensch symbolische Be-
                                    nen, geht ja nur, wenn man mit ihnen herumspielt und        deutung in einer Naturreligion hatte. Religionen sind
                                    nach der Geburt etwa den Saugreflex an ihnen auspro-        letztlich auch Fantasiespiele. In jedem Fall war der
                                    biert. Ohne zu spielen, könnten wir nicht lernen, in der    Löwenmensch ein Spielzeug: ein Objekt, das genutzt
                                    Welt zu überleben. Ist etwas heiß? Kann man es essen?       wurde, um es mit Fantasie anzureichern.
                                    All das wird spielerisch erfahren. Viele synaptische Ver-   profil: Stimmt es, dass Lotto in den USA als Reaktion
                                    bindungen bilden sich dadurch erst aus.                     auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 entwickelt
                                    profil: Spielen verändert das Gehirn?                       wurde?
                                    Junge: Richtig. Wissenschafter ließen Erwachsene zwei       Junge: Das trifft auf „Monopoly“ zu. Lotto wurde im
                                    Monate lang täglich 30 Minuten „Super Mario“ spielen.       17. Jahrhundert erfunden, man spielte es in ganz
   „MONOPOLY“-SPIELFELD             Am Ende maßen sie im Magnetresonanztomografen               Europa und dann verstärkt im Habsburgerreich. Kai-
   „Mich stört nicht, dass es       bei diesen Probanden eine Vergrößerung von Gehirn-          serin Maria Theresia erkannte: Das Volk braucht Spie-
   um das Anhäufen von              arealen, die für räumliche Orientierung, Gedächtnisbil-     le, und die Staatskasse braucht Kohle. Da sie keine
   Geld geht. Ich kritisiere,       dung, strategisches Denken sowie die Feinmotorik der        neue Steuer einführen wollte, kam sie auf die Idee,
   dass die Spielmechanik
   grottenschlecht ist.“
                                    Hände von zentraler Bedeutung sind. Man kann be-            über Glücksspiele Einnahmen zu generieren.
                                    stimmte Bereiche des Gehirns offenbar durch Digital-        profil: Haben die Engländer den Fußball erfunden?
                                    spiele trainieren, ähnlich wie Muskeln.                     Junge: Nein. Die Vorstufen aller modernen Ballsport-
                                    profil: Wissenschaftliche Studien zeigten aber auch,        arten stammen aus Amerika. Bereits vor vielen Jahr-
                                    dass sehr viele Kinder und Jugendliche computer-            hunderten trommelten Indianer ihre stärksten Män-
                                    spielsüchtig sind.                                          ner zusammen und ließen sie mit Bällen aus Kaut-
                                    Junge: Das Suchtpotenzial solcher Spiele hängt eng          schuk Wettkämpfe austragen. Die Spiele wurden
                                    mit dem Geschäftsmodell der Herstellerfirmen zu-            auch „kleiner Krieg“ genannt, und sie ersparten den
                                    sammen: Klassische PC-Spiele wurden auf Daten-              Stämmen oft echte Kriege mit tödlichen Waffen.
                                    trägern verkauft und waren in sich abgeschlossen.           profil: Was spielen Sie selbst am liebsten?
                                    Heute ermöglicht es das Internet, unbegrenzt zu spie-       Junge: Ich brauche Action, Abenteuer, Taktik und
                                    len. Und wenn man wie in einem Rausch 200 Level             Strategie.
                                    durchgespielt hat, schiebt der Hersteller noch einmal       profil: Lassen Sie mich raten: Schach?
                                    100 Level nach.                                             Junge: Ein wunderbares Spiel! Da wäre ich gerne rich-
                                    profil: Helfen Verbote?                                     tig gut. Aber ich verzettle mich zu sehr.
                                    Junge: Die erhöhen den Reiz meist nur. Einen gewis-         profil: Der Dalai Lama sagt: „Es geht darum, alle Er-
                                    sen Schutz kann es bieten, wenn Eltern für das Hobby        scheinungen als Spiel zu begreifen.“
                                    der Kinder Interesse zeigen. Begleitung mit klaren          Junge: In der Natur gibt es sehr viele Zufallskompo-
                                    zeitlichen und inhaltlichen Grenzen funktioniert oft        nenten: Jeder Mensch, der geboren wird, ist bereits
                                    besser als Verbote.                                         mehr als ein Lotto-Gewinn. Bedenken Sie, dass sich
                                    profil: Manche Erziehungswissenschafter plädieren           von Millionen Samenzellen nur eine einzige durch-
                                                                                                                                                           SHUTTERSTOCK.COM

                                    nicht nur im Zusammenhang mit Online-Games für              setzt: Wir sind alle Produkte eines natürlichen
                                    „Spielzeug-Detox“ im Kinderzimmer. Können zu vie-           Glücksspiels.
                                    le Kuscheltiere die Fantasie zerstören?                                                         INTERVIEW: TILL HEIN

64 profil 38 • 19. September 2021
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