Mikro-versus Makro-perspektive der retributiven Gerechtigkeit, Strafziele und die Forderung nach Strafe
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Zeitschrift für Sozialpsychologie, 34 (4), 2003, 227–241 MargitE.Oswaldetal.:Mikro-versusMakrop ZFS P34(4),2003,©V erlagHansHuber,Bern erspektive Mikro- versus Makro- perspektive der retributiven Gerechtigkeit, Strafziele und die Forderung nach Strafe Micro versus Macro Perspective on Retributive Justice, Punishment Goals, and the Demand for Punishment Margit E. Oswald, Ulrich Orth und Jörg Hupfeld Universität Bern Zusammenfassung: Wie Personen auf Straftaten reagieren und welche Strafziele sie dabei verfolgen, war bisher kaum Gegenstand psychologischer Forschung. In der vorliegenden Arbeit wird die dimensionale Struktur der Präferenz von Strafzielen untersucht. In zwei Befragungen wurden juristischen Laien Fallge- schichten zur Beurteilung vorgelegt (Raubüberfall, Körperverletzung, Betrug, Vergewaltigung). Die multi- variaten Auswertungen weisen eine hohe Übereinstimmung auf: Strafziele lassen sich durch die zwei voneinander unabhängigen Dimensionen Strafhärte und Mikro- versus Makroperspektive klassifizieren. Wird eine Makroperspektive eingenommen, so ist dies mit einer stärkeren Gewichtung von Gesellschafts- interessen verbunden sowie mit der Präferenz für das Strafziel der positiven Generalprävention. Die Mikro- perspektive ist hingegen mit der Überzeugung verbunden, dass Gerechtigkeit insbesondere aus der Perspek- tive der konkret Beteiligten herzustellen ist. Je nach geforderter Strafhärte geht die Mikroperspektive mit einem Bias entweder für das Opfer und das Strafziel der Vergeltung oder aber für den Täter und das Strafziel der Resozialisierung einher. Schlüsselwörter: Gerechtigkeit, Bestrafung, Strafziele, Mikro- versus Makroperspektive, Straftäter, Opfer Abstract: The reactions of people to criminal offences and their goals of punishment have rarely been a subject of psychological research, so far. The present paper studies the dimensional structure of preferences for punishment goals. In two surveys, laypersons assessed case vignettes of offences (robbery, assault, fraud, rape). The multivariate results consistently show that punishing goals may be characterized by two independent dimensions: punitivity and micro versus macro perspective of retributive justice. A macro perspective leads to higher weighting of the concerns of society and the goal of positive general prevention. The micro perspective, on the other hand, is related to the conviction that justice has to be created in particular from the perspective of those persons actually involved. Dependent on the degree of punitivity the micro perspective can be either related to a bias in favor of the victim, and the goal of retaliation, or in favor of the offender, and the goal of rehabilitation. Keywords: Justice, punishment, goals of punishment, micro versus macro perspective, offender, victim ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
228 Margit E. Oswald et al.: Mikro- versus Makroperspektive Personen, die von Straftaten eines Täters gegen sondern auch die auf Prävention ausgerichteten Dritte erfahren, zeigen oft emotionale Reaktionen Strafziele, wie z. B. das Ziel der Täterabschre- wie Empörung, Furcht oder Mitleid, nehmen Zu- ckung, eine enge Beziehung zur Strafhärte auf schreibungen von Schuld und Verantwortung vor, (vgl. McFatter, 1978; Vidmar & Miller, 1980). reagieren aber auch mit strafbezogenen Verhal- Und hinsichtlich der Vergeltung zeigt eine Studie tensabsichten. So können Personen beispielsweise von McFatter (1982), dass die Funktion der ge- die Absicht verfolgen, dass das begangene Un- rechten Vergeltung am besten durch eine mittlere recht vergolten, die Würde des Opfers wiederher- Strafhärte erfüllt wird, während zu harte oder zu gestellt, der Täter vor weiteren Taten abge- milde Strafen auf das Ziel der Vergeltung bezogen schreckt, die verletzte Norm in ihrer Geltung be- von juristischen Laien und Richtern als unange- kräftigt, oder aber dass der Täter resozialisiert messen beurteilt werden. Ähnlich gilt dies für das wird. Während emotionale Reaktionen auf norm- Ziel der Resozialisierung (McFatter, 1982), aller- verletzendes Verhalten im Rahmen der Aggres- dings liegt die als angemessen beurteilte mittlere sionsforschung untersucht wurden (vgl. Berko- Strafhärte für dieses Ziel wesentlich niedriger als witz, 1990, 1993) und Schuldzuschreibungen im für das Ziel der Vergeltung (Endres, 1992a; Rahmen der Attributionsforschung (vgl. Shaver, McFatter, 1978). 1985; Shultz & Darley, 1991; Weiner, 1995), wa- Eine zweite, weitergehende Frage bezieht sich ren die Strafzielpräferenzen bisher kaum Gegen- auf die dimensionale Struktur der Strafziele: Las- stand psychologischer Forschung. Dies mag damit sen sich die einzelnen Ziele auf nur einer Dimen- zusammenhängen, dass die Bestrafung von Straf- sion der Strafhärte anordnen, oder liegt ihnen eine tätern in der Regel nicht die Sache von Privatper- mehrdimensionale Struktur zugrunde? Kapardis sonen ist, sondern seit dem 16./17. Jahrhundert an (1987), Oswald (1994), Vidmar und Miller (1980) den Staat delegiert wurde (Frehsee, 1987). Er- und Vidmar (2000) beispielsweise weisen darauf kenntnisse über Strafziele und Strafbedürfnisse hin, dass sich die Strafziele auch danach klassifi- der Bevölkerung sind aber gleichwohl von hoher zieren lassen, ob sie sich in unterschiedlichem Relevanz, da deutliche Abweichungen von der Ausmaß entweder auf die Belange der Gesell- staatlichen Sanktionierung nachweislich nicht nur schaft oder aber auf die der Täter beziehen. So das Vertrauen in den Rechtsstaat, sondern auch die kann mit Strafe vor allem beabsichtigt sein, dass Normbefolgung beeinträchtigen (vgl. Robinson & der Täter resozialisiert oder vor weiteren Strafta- Darley, 1995; Tyler, 2001). ten abgeschreckt wird, oder aber dass die Gesell- Eine der Fragestellungen, die zunächst vor al- schaft vor Kriminalität geschützt und in ihrem lem die Strafrechtswissenschaft interessiert hat, Normglauben bestärkt wird. Die Tatsache, dass es betrifft die Beziehung zwischen der Präferenz ein- sich hier teilweise um nur schwer miteinander zu zelner Strafziele und der geforderten Strafhärte vereinbarende Strafziele handelt, wird im Straf- (vgl. Hogarth, 1971; Streng, 1984; Weiner, Gra- recht auch als Strafzielantinomie (Zipf, 1973) be- ham & Reyna, 1997). So überlegt Hassemer zeichnet. Dennoch ist mit der Objektdichotomie (1983, 1990), ob insbesondere das Ziel der Vergel- «Täter versus Gesellschaft» nicht gemeint, dass tung mit einer punitiven Einstellung der betreffen- sich Personen ausschließlich an dem einen oder den Personen verbunden ist. Entsprechend dieser anderen Objekt orientieren, sondern lediglich in Erwartung zeigte sich in einer Untersuchung von Konfliktfällen entweder dem Täter- oder der Ge- Endres (1992a, 1992b), dass Vergeltung im Ver- sellschaft den Vorzug geben. In der Literatur wird gleich zu den übrigen Strafzielen die höchste po- weiterhin zwischen einer Mikro- versus Makro- sitive Korrelation mit der Strafhärte aufweist. perspektive der retributiven Gerechtigkeit unter- Auch die Resultate einer Befragung an Richtern schieden (vgl. Brickman, Folger, Goode & Schul, und Richterinnen weisen darauf hin, dass die Prä- 1981; Tyler, Boeckmann, Smith & Huo, 1997). ferenz für das Strafziel Vergeltung mit der Bevor- Wird eine Mikroperspektive bei der Bestrafung zugung von harten Strafen assoziiert ist (Streng, normwidrigen Verhaltens eingenommen, so wird 1984). Andere Studien machen jedoch deutlich, nach derjenigen Strafe oder Konfliktlösung ge- dass der Zusammenhang zwischen Strafzielen und sucht, die vor allem den Interessen der am konkre- Strafhärte komplexer ist als vielfach angenom- ten Fall beteiligten Täter und Opfer gerecht wird. men. So weisen nicht nur das Ziel der Vergeltung, Aus einer Makroperspektive hingegen ist man be- ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
Margit E. Oswald et al.: Mikro- versus Makroperspektive 229 müht, so zu strafen, dass das Resultat der Strafent- konkreten Fall beteiligten Täter und Opfer achtet scheidung verallgemeinerbar ist, d. h., auch auf al- und deshalb eher bereit ist, schuldmindernde Um- le anderen, vergleichbaren Fallkonstellationen an- stände zu berücksichtigen. Betrachtet ein Be- gewendet werden kann. obachter hingegen das Delikt und die Behandlung Betrachtet man die Objektdichotomie «Täter des Straftäters mehr aus der Makroperspektive, so versus Gesellschaft» einerseits und die Unter- wird er stärker auf die Gerechtigkeitsinteressen scheidung von «Mikro- versus Makroperspektive der Gesellschaft als Ganzes achten und deshalb der Gerechtigkeit» andererseits, so fallen gewisse härter strafen wollen. Tyler et al. (1997, p. 200) konzeptuelle Gemeinsamkeiten auf. In beiden Fäl- vermuten zudem, dass Personen dann stärker zur len, so könnte man sagen, wird eine eher auf Indi- Übernahme einer Makroperspektive tendieren, viduen gerichtete Perspektive einer Perspektive wenn sie überzeugt sind, dass Kriminalität den ge- gegenüber gestellt, die sich auf die Allgemeinheit sellschaftlichen Zusammenhalt bedroht und zur richtet. Allerdings bleibt zu berücksichtigen, dass Erosion von Normen und Werten beiträgt. Strafe es bei der Objektdichotomie um die Interessens- sollte bei dieser Art von Bedrohungsgefühlen vor vertretung verschiedener Gruppen geht, bei der allem die Funktion haben, zwischen den Mitglie- Mikro-Makroperspektive um die Anwendung un- dern der Gesellschaft den Konsens über die mora- terschiedlicher Gerechtigkeitsprinzipien. A priori lische Natur der Strafnormen wieder herzustellen. ist es daher nicht selbstverständlich, dass z. B. eine Strafe stellt ein Symbol dar, um die Normgeltung stärkere Gewichtung von Gesellschaftsinteressen in der Bevölkerung zu bekräftigen und die Mit- mit der Übernahme einer Makroperspektive ein- glieder gegenüber ihren Werten und Normen zu hergeht. Ein genauerer Vergleich macht zudem verpflichten. Folgerichtig sollten nach Tyler et al. deutlich, dass die beiden Klassifikationsansätze (1997) bei wahrgenommener Bedrohung der Ge- die Rolle des konkreten Opfers auf sehr unter- sellschaft höhere Strafen gefordert und die Straf- schiedliche Weise handhaben. Autoren wie Vid- gerechtigkeit nicht aus der Perspektive der konkret mar und Miller (1980), die zur Klassifikation der Beteiligten, sondern vielmehr aus einer Makroper- Strafziele die Objektdichotomie «Täter versus Ge- spektive betrachtet werden. sellschaft» vorschlagen, subsumieren das Opfer Diese Position ist aber aus zwei Gründen nicht unter die Mitglieder der Gesellschaft. Für sie un- sehr überzeugend: (1) Nehmen Personen eine Mi- terteilt sich die Kategorie Gesellschaft gewisser- kroperspektive ein, so orientieren sie sich zwar maßen in zwei Teilgruppen, in die Gruppe der fak- am konkreten Geschehen, z. B. an der Beilegung tischen und in die der potenziellen Opfer. Damit des Konflikts zwischen den beteiligten Parteien. verzichten die Autoren zwangsläufig auf die ana- Bei den konkret Beteiligten handelt es sich aber, lytische Trennung zwischen konkretem und ab- wie bereits oben betont wurde, nicht nur um den strahiertem Opfer (Gesellschaft). Die Klassifika- jeweiligen Täter, sondern auch um das Opfer, und tion «Mikro- versus Makroperspektive» unter- somit ist es eine offene Frage, ob Personen, die scheidet hingegen explizit, ob Personen das bei ihren Strafüberlegungen eine Mikroperspekti- konkrete oder das abstrakte Opfer in ihre Überle- ve einnehmen, die Perspektive von Opfer und Tä- gungen einbeziehen, je nachdem, ob Gerechtigkeit ter einzunehmen versuchen, oder aber vielleicht primär für die Beteiligten des konkreten Falls (Mi- vorrangig die Perspektive des konkreten Täters kroperspektive) oder aber aus einer verallgemei- oder aber die des konkreten Opfers. Letzteres nerten Perspektive wieder hergestellt werden soll dürfte für die geforderte Strafhärte sehr entschei- (Makroperspektive). dend sein. Denn nehmen Beobachter vor allem Hinsichtlich der Frage, ob die Objektdichoto- die Gerechtigkeitsinteressen des konkreten Op- mie «Täter- versus Gesellschaftsorientierung» fers wahr, so könnten sie sehr wohl das Strafziel oder die Dimension «Mikro- versus Makroper- der Vergeltung verfolgen, um so dem Opfer Ge- spektive» in systematischer Weise mit der Höhe rechtigkeit widerfahren zu lassen und dessen der geforderten Strafe variieren, gibt es wider- «Würde» wieder herzustellen (vgl. Heider, 1958). sprüchliche Hinweise. So vermuten Tyler et al. Das Ziel der Vergeltung geht aber keineswegs, (1997, p. 131) beispielsweise, dass der Beobachter wie wir sahen, mit milden Strafforderungen ein- durch die Einnahme einer Mikroperspektive ver- her. Aufgrund der Besonderheit, dass im Rahmen stärkt auf die Gerechtigkeitsinteressen der am der retributiven Gerechtigkeit die Übernahme ei- ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
230 Margit E. Oswald et al.: Mikro- versus Makroperspektive ner Mikroperspektive mit zwei sehr ungleichen ve der retributiven Gerechtigkeit zusammenhängt Parteien, dem Opfer und dem Täter, verbunden und ob letztgenanntes Konstrukt mit Strafhärte ist, erscheint die Annahme von Tyler et al. (1997) konfundiert ist, wie Tyler et al. (1997) annehmen. somit fraglich, dass mit dieser Perspektivenüber- nahme zwangsläufig niedrigere Strafforderungen verbunden sein sollen. (2) Aber auch die Annah- me, dass eine Makroperspektive zu härteren Untersuchung 1 Strafforderungen führt, ist nicht sehr überzeu- gend. Denn soll Strafe aus der Makroperspektive Methode vor allem den symbolischen Wert haben, die Be- völkerung von der Geltung der verletzten Norm Stichprobe zu überzeugen, so kommt es ja nicht auf die ab- solute Höhe der Strafe, sondern vor allem darauf Eine Stichprobe privater Haushalte in Bern wurde an, dass überhaupt und möglichst für alle erkenn- mittels zufällig ausgewählter Telefonnummern bar eine Bestrafung auf den Normbruch erfolgt. aus dem Telefonverzeichnis gezogen. Die Haus- Abweichend von Tyler et al. (1997) ist also zu halte wurden telefonisch kontaktiert, und es wurde vermuten, dass die Übernahme einer Mikro- oder sichergestellt, dass es sich um einen privaten Tele- Makroperspektive weitgehend unabhängig davon fonanschluss handelt (geschäftliche Anschlüsse ist, ob eher harte oder milde Strafen gefordert wurden ausgeschlossen). Aus den erreichten werden. Haushalten wurde je eine Person mittels eines Zu- Im folgenden werden zwei Untersuchungen fallsverfahrens ausgewählt: abwechselnd wurde dargestellt, die sich beide mit der Frage der Struk- nach jenem Haushaltsmitglied gefragt, welches tur von Strafzielen auseinandersetzen. In Untersu- zuletzt oder aber als nächstes Geburtstag hatte. chung 1 wird die Dimensionalität der Strafziele Die ausgewählte Person musste zum Zeitpunkt des überprüft und zu klären versucht, wie die gefunde- Erstkontakts nicht anwesend sein, und wurde ge- nen Dimensionen zu interpretieren sind. Dabei gebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt telefo- wird im einzelnen untersucht, wie die Strafziele nisch kontaktiert. Personen mit einem Alter unter mit der geforderten Strafhärte zusammenhängen 18 Jahren, ohne einheimische Staatsangehörigkeit und ob die Strafzielpräferenzen systematisch mit und ohne ausreichende deutsche Sprachkenntnisse dem relativen Gewicht variieren, das Personen bei wurden von der Teilnahme ausgeschlossen. Die ihren Strafüberlegungen den Interessen der Ge- Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmer sellschaft, des Täters und des Opfers beigemessen. erhielten eine geringe Aufwandsentschädigung für Entgegen der einfachen Objektdichotomie «Täter die Teilnahme (10 Schweizer Franken). versus Gesellschaft» (s. o.) wurde explizit auch Telefonisch erreicht wurden 793 Personen, von das im konkreten Fall beteiligte Opfer berücksich- denen 425 (54 %) in die Teilnahme an der Untersu- tigt. Hiermit soll mehr als bisher der Möglichkeit chung einwilligten. Bei Einwilligung wurde der Rechnung getragen werden, dass Personen nicht Fragebogen per Post zugeschickt. Einen verwertba- nur im konkreten Fall die berechtigten Interessen ren Fragebogen schickten N = 357 Personen (84 %) des Täters anders gewichten als die des Opfers, zurück. Die Teilnahmequote beträgt also 45 % (357 sondern auch einen Unterschied in der Interes- von 793). Das mittlere Alter der Befragten war 46.3 sensgewichtung vornehmen, je nachdem, ob es Jahre (SD = 17.7, Range 19–89). 61 % der Befrag- sich um ein konkretes oder ein abstrahiertes Opfer ten waren Frauen, 39 % waren Männer. (Gesellschaft) handelt. In Untersuchung 2 wird vor allem überprüft, ob sich die Befunde der ersten Untersuchung replizieren lassen, wenn eine ande- Fallgeschichten re Personenpopulation untersucht wird, andere Delikte und andere Verfahren zur Erfassung der Den Untersuchungsteilnehmern wurde im Frage- Variablen verwendet werden. Darüber hinaus wird bogen jeweils eine von drei Fallgeschichten vor- aber auch überprüft, wie die Gewichtung von Tä- gelegt (je ein Drittel der Befragten las eine Fall- ter-, Opfer- und Gesellschaftsinteressen mit der geschichte zu einem Raubüberfall, zu einer Kör- Übernahme einer Mikro- versus Makroperspekti- perverletzung bzw. zu einem Betrugsdelikt; die ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
Margit E. Oswald et al.: Mikro- versus Makroperspektive 231 Fallgeschichte zum Raubüberfall ist exemplarisch Linie mit den Endpunkten viel zu hart und viel zu im Anhang abgedruckt). Täter und Opfer waren milde. stets männlich, der Täter war jeweils 36 Jahre als Gewichtung der Täterinteressen, Opferinteres- und besaß die einheimische Staatsangehörigkeit. sen und Gesellschaftsinteressen. Die Untersu- Die Fallgeschichten wurden im Stil einer Nach- chungsteilnehmer gaben an, welche Bedürfnisse richtenmeldung in einer Tageszeitung präsentiert, und Interessen bei der staatlichen Reaktion für sie in der einige Fakten, die Festnahme des Täters und im Vordergrund stehen. Insgesamt 100 Punkte wa- jeweils eine kurze Aussage des Opfers sowie des ren von den Befragten auf Täter, Opfer und Gesell- Täters berichtet wurde. Beim Raubüberfall war schaft aufzuteilen. Bei dieser Vorgehensweise ist ein Besitzer einer Tankstelle nachts von einem un- eine der drei Variablen von den anderen linear ab- bewaffneten aber körperlich gewalttätigen Täter hängig und vollständig vorhersagbar. Aus diesem überfallen worden, der Bargeld im Wert von Grund werden wir auch nur zwei der drei Variab- 10.000 Schweizer Franken erbeutete. Bei der Kör- len in die folgenden Faktorenanalysen einbezie- perverletzung wurde das Opfer bei einer Ausei- hen. Wir tun dies aus Gründen der methodischen nandersetzung zweier Straßenverkehrsteilnehmer Exaktheit, obwohl sich zeigen lässt, dass keine geschlagen und erlitt einen dauerhaften Gehör- wesentlichen Unterschiede in den Ergebnissen schaden. Beim Betrugsdelikt konnte ein Mitarbei- festzustellen sind, wenn man auf alle drei anstatt ter einer Baufirma mittels gefälschter Dokumente nur auf jeweils zwei der Variablen in der Analyse einen älteren Bewohner eines Mietshauses über- Bezug nimmt. zeugen, ihm 10.000 Schweizer Franken für Reno- Punitivität. Die Punitivität wurde mit 4 Items vierungsarbeiten zu überweisen, die der Mieter je- erfasst (Cronbachs α = .83): «Ich finde, dass Straf- doch gar nicht hätte bezahlen müssen. täter bei uns viel zu sanft angefasst werden.»; «Auf den Verstoß gegen Gesetze und Normen in unserer Gesellschaft sollte man mit größtmöglicher Härte Messinstrumente reagieren.»; «Ich finde, dass dem von vielen Men- schen geäußerten Ruf nach härteren Strafen nicht Strafziele. Die Untersuchungsteilnehmer wurden nachgekommen werden sollte.»; «Mit harten Stra- gebeten, Aussagen zu Strafzielen nach ihrer Wich- fen ist niemandem gedient, nicht dem Opfer, nicht tigkeit in eine Rangreihe zu bringen. Erfasst wur- dem Täter und schon gar nicht der Gesellschaft.» den die Ziele negative Spezialprävention («Der Die Antworten wurden auf einer 5-stufigen Skala Täter soll davor abgeschreckt werden, in Zukunft erfasst, und sind hier kodiert mit Werten zwischen wieder so eine Straftat zu begehen.»), Resoziali- 0 (stimme nicht zu) und 4 (stimme zu). sierung («Dem Täter soll geholfen werden, künftig ein straffreies Leben führen zu können.»), Vergel- tung («Der Täter soll für das begangene Unrecht seiner Schuld entsprechend büßen.»), Wiedergut- Ergebnisse machung («Der Täter soll den Schaden, den er an- gerichtet hat, wiedergutmachen.»), negative Ge- Die Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilneh- neralprävention («Es sollen andere Personen da- mer bearbeiteten den Fragebogen jeweils nur für ei- vor abgeschreckt werden, ähnliche Straftaten zu ne der drei Fallgeschichten. Es wurde deshalb zu- begehen.») und positive Generalprävention («Es nächst geprüft, ob sich die Zusammenhangsstruktu- soll das Rechtsbewusstsein in der Bevölkerung ge- ren der Variablen in Abhängigkeit von der stärkt werden.»). Die Ränge sind kodiert mit Wer- vorgelegten Fallgeschichte unterscheiden. Hierzu ten zwischen 1 (unwichtigstes Ziel) und 6 (wich- wurde ein Test auf Gleichheit der Korrelationsmat- tigstes Ziel). rizen für unabhängige Stichproben durchgeführt. Fallbezogene Strafhärte. Die Untersuchungs- Beide üblichen Diskrepanzstatistiken (Generalized teilnehmer beurteilten eine vorgegebene gerichtli- Least Squares, GLS; Maximum Likelihood, ML) che Strafzumessung (8 Monate Freiheitsstrafe auf ergaben, dass sich die drei Korrelationsmatrizen Bewährung; dies entspricht bezogen auf die ge- nicht signifikant unterscheiden (GLS: χ² = 86.49, schilderten Fälle in etwa der üblichen Strafe) df = 90, p = .585; ML: χ² = 93.74, df = 90, p = .373). durch eine Markierung auf einer 11.7 cm langen Auf weitere deliktspezifische Analysen kann also ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
232 Margit E. Oswald et al.: Mikro- versus Makroperspektive Tabelle 1. Untersuchung 1: Mittelwerte, Standardabweichungen und Korrelationen der erfassten Variablen (338 ≤ N ≤ 357) Variablen M SD 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Strafziele 1. Neg. Spezialprävention 3.42 1.41 1.00 2. Resozialisierung 4.07 1.73 –.22** 1.00 3. Vergeltung 4.02 1.67 .01 –.39** 1.00 4. Wiedergutmachung 4.21 1.57 –.38** .07 –.06 1.00 5. Neg. Generalprävention 2.51 1.50 .07 –.38** –.31** –.41** 1.00 6. Pos. Generalprävention 2.78 1.55 –.34**–.20** –.29** –.29** .15** 1.00 Weitere Variablen 7. Strafhärte 6.13 2.46 .06 –.23** .10 –.10 .19** .00 1.00 8. Täterinteressen 24.41 14.81 –.07 .29**–.12* –.02 –.07** –.05 –.17** 1.00 9. Opferinteressen 45.40 18.77 .09 –.06 .15** .14* –.10 –.22** .09 –.44** 1.00 10. Gesellschaftsinteressen 30.19 18.12 –.04 –.18** –.05 –.13* .16** .26** .04 –.36** –.68** 1.00 11. Punitivität 1.97 1.15 .28** –.40** .22** –.14** .19** –.09 .28**–.35** .24** .04 Anmerkungen. * p < .05. ** p < .01. (2-seitig). verzichtet werden. Im Folgenden werden direkt die 1 deliktübergreifenden Ergebnisse berichtet. Tabelle 1 zeigt die Mittelwerte, Standardabwei- Gesellschaft chungen und Korrelationen der erfassten Variab- Pos. Generalpr. len. Es fällt auf, dass fallbezogene Strafhärte und 0,5 Neg. Generalpr. Punitivität mit der Vertretung der Gesellschaftsin- teressen praktisch unkorreliert sind (jeweils r = .04). Strafhärte Anschließend berechneten wir eine Hauptkom- 0 -1 -0,5 0 0,5 1 ponentenanalyse über die Strafzielvariablen, Puni- Resozial. Punitivität tivität, fallbezogene Strafhärte und die Variablen Neg. Spez. der relativen Gewichtung von Gesellschafts- und Wiedergutm. -0,5 Vergeltung Opferinteressen. Da aufgrund der vorgenomme- nen Operationalisierung der relativen Gewichtung von Gesellschafts-, Opfer- und Täterinteressen je- Opfer weils eine der drei Variablen von den Werten der -1 beiden anderen abhängig ist, wurde hier die Ge- wichtung der Täterinteressen nicht mit in die Ana- Abbildung 1. Untersuchung 1: Zweifaktorielle Lösung der lyse einbezogen. Die Hauptkomponentenanalyse Hauptkomponentenanalyse für die Strafzielvariablen, fall- über die genannten Variablen ergibt einen Eigen- bezogene Strafhärte, Punitivität, Gesellschaftsinteressen und werteverlauf mit vier Eigenwerten über 1 (2.25, Opferinteressen (N = 334, Varianzaufklärung = 44.0 %). 2.15, 1.30, 1.20). Der Scree-Test spricht klar für die Extraktion von zwei Faktoren (in Übereinstim- Abbildung 1 zeigt das Ladungsmuster der Va- mung mit Ergebnissen multidimensionaler Skalie- riablen auf den zwei extrahierten Faktoren. Puni- rung, vgl. Oswald, Hupfeld, Klug & Gabriel, tivität lädt positiv und hoch auf dem ersten Faktor, 2002). Die zweifaktorielle Lösung weist die in- lädt wenig auf dem zweiten Faktor und kann des- haltlich beste Interpretierbarkeit auf. Es werden halb als Markiervariable des ersten Faktors gelten. zwei Faktoren extrahiert mit anschließender Vari- Die Strafhärte lädt etwas schwächer, aber aus- max-Rotation, die Varianzaufklärung beträgt schließlich auf dem ersten Faktor. Die Gewich- 44.0 %. Die Kommunalität von zwei Variablen tung der Gesellschaftsinteressen lädt hingegen po- liegt zwischen .20 und .29 (Vergeltung, Strafhär- sitiv und hoch auf dem zweiten Faktor, lädt prak- te), die Kommunalität von zwei weiteren Variab- tisch nicht auf dem ersten Faktor und kann deshalb len zwischen .30 und .39 (Wiedergutmachung, ne- als Markiervariable des zweiten Faktors gelten. gative Spezialprävention), die Kommunalitäten Die beiden Faktoren werden deshalb als Strafhär- der übrigen Variablen liegen über .40. tefaktor und als Gesellschaftsfaktor bezeichnet. ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
Margit E. Oswald et al.: Mikro- versus Makroperspektive 233 Strafzielvariablen (Hauptkomponentenanalyse, 1 Varimax-Rotation, Varianzaufklärung 56.4 %; Ei- Pos. Generalpr. genwerteverlauf mit drei Eigenwerten über 1: 1.84, 1.54, 1.20). Die Kommunalitäten liegen 0,5 Neg. Generalpr. sämtlich zwischen .50 und .65. Abbildung 2 zeigt das Ladungsmuster auf den extrahierten Faktoren. Resozial. Auf der einen Dimension liegen sich die beiden Strafziele positive Generalprävention und Vergel- 0 tung gegenüber und auf der anderen Dimension -1 -0,5 0 0,5 1 die Strafziele Resozialisierung und Wiedergutma- Wiedergutm. chung den beiden Strafzielen negative Spezial- und negative Generalprävention. Die Lage der -0,5 Neg. Spezialpr. Strafziele zueinander bleibt im Vergleich zur ers- ten Faktorenanalyse weitgehend stabil. Vergeltung -1 Diskussion Abbildung 2. Untersuchung 1: Zweifaktorielle Lösung der Die Ergebnisse der ersten Untersuchung zeigen, Hauptkomponentenanalyse für die Strafzielvariablen (N = 343, Varianzaufklärung = 56.4 %). dass die Strafzielpräferenzen juristischer Laien anhand zweier Dimensionen sinnvoll klassifizier- bar sind und dass es sich bei diesen Dimensionen Die Strafzielvariablen laden bis auf ein paar Ab- um einen Strafhärtefaktor handelt sowie um einen weichungen weitgehend analog zur ersten Analyse Faktor, der die Bereitschaft der Person erfasst, bei auf den beiden Faktoren: Ladungen auf dem Straf- ihren Strafüberlegungen die Gesellschaftsinteres- härtefaktor weisen jetzt negative Spezialpräven- sen mehr oder weniger zu berücksichtigen. tion (positiv) und Resozialisierung (negativ) auf. Ein Ziel der zweiten Untersuchung ist nun, wie Eine positive Ladung auf dem Gesellschaftsfaktor bereits erwähnt, dieses Ergebnis mittels einer neuen weist das Strafziel positive Generalprävention auf. Stichprobe und mittels teilweise veränderter Fallge- Wiedergutmachung besitzt neben einer negativen schichten und Erhebungsverfahren zu replizieren. Ladung auf dem Strafhärtefaktor auch eine nega- Zudem werden zwei weitere Variablen berücksich- tive Ladung auf dem Gesellschaftsfaktor. Die ne- tigt, welche zum einen die Übernahme einer Mikro- gative Generalprävention lädt sowohl auf dem versus Makroperspektive der retributiven Gerech- Strafhärtefaktor als auch auf dem Gesellschafts- tigkeit und zum anderen die Bedrohung der Gesell- faktor positiv. Die Vergeltung lädt hingegen auf schaft durch Kriminalität erfassen. dem Strafhärtefaktor positiv und auf dem Gesell- schaftsfaktor negativ. Die Opferinteressen laden vor allem auf dem Ge- sellschaftsfaktor (negativ); die Ladungen sind dem Untersuchung 2 Strafziel der Vergeltung relativ ähnlich. Die Gesell- schaftsinteressen schließlich werden wie berichtet Methode als Markiervariable des Gesellschaftsfaktors ver- wendet; die Ladungen sind dem Strafziel der posi- Stichprobe tiven Generalprävention relativ ähnlich. Wird ent- weder anstelle der relativen Gewichtung der Opfer- Die Stichprobe besteht aus N = 303 Studierenden oder aber der Gesellschaftsinteressen die Gewich- unterschiedlicher Fakultäten der Universität Bern, tung der Täterinteressen in die Analyse einbezogen, davon 80 Psychologiestudierende. Die Bearbeitung so zeigt sich, dass diese ausschließlich auf dem des Fragebogens fand in den Räumen der Universi- Strafhärtefaktor (negativ) laden. tät statt. Die Untersuchungsteilnehmerinnen und - Zur weiteren Validierung berechneten wir eine teilnehmer erhielten eine geringe Aufwandsent- Zweifaktorenlösung unter Einbezug lediglich der schädigung für die Teilnahme (20 Schweizer Fran- ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
234 Margit E. Oswald et al.: Mikro- versus Makroperspektive ken). Das mittlere Alter der Befragten war 23.7 Jah- Gewichtung der Täterinteressen, Opferinteres- re (SD = 3.5, Range 19–48). 61 % der Befragten wa- sen und Gesellschaftsinteressen. Die Untersu- ren Frauen, 39 % waren Männer. chungsteilnehmer gaben an, welche Bedürfnisse und Interessen bei der staatlichen Reaktion für sie im Vordergrund stehen. Drei Items waren zu be- Fallgeschichten antworten, bei denen von den Befragten jeweils 100 Punkte zwischen Opfer und Täter, zwischen Den Untersuchungsteilnehmern wurde ein Aus- Gesellschaft und Täter, und zwischen Opfer und schnitt aus einem für diese Untersuchung erstell- Gesellschaft aufzuteilen waren. Diese im Ver- ten Radiointerview zur Kriminalitätsentwicklung gleich zu Untersuchung 1 veränderte Vorgehens- vorgespielt, in dem unter anderem Informationen weise bei der Messung wurde gewählt, da sich ge- zu einem konkreten Fall gegeben wurden (je die zeigt hatte, dass einige Untersuchungsteilnehmer Hälfte der Befragten hörte eine Fallgeschichte zu mit der Aufteilung von 100 Punkten auf drei Ob- einem Vergewaltigungsdelikt bzw. einem Betrugs- jekte Schwierigkeiten hatten. Als Mass der Ge- delikt; die Fallgeschichte zur Vergewaltigung ist wichtung der Täterinteressen wird dann die mitt- exemplarisch im Anhang abgedruckt). Der Täter lere Punktzahl verwendet, die der Täter in den war stets männlich, das Opfer stets weiblich. Der zwei entsprechenden Vergleichen (Opfer und Tä- Täter war jeweils ca. 40 Jahre alt und besaß die ter; Gesellschaft und Täter) erhielt. Entsprechend einheimische Staatsangehörigkeit. Beim Verge- wurden die Werte für die Variablen Opferinteres- waltigungsdelikt wurde die Besitzerin einer Buch- sen und Gesellschaftsinteressen ermittelt. Der handlung im Lager von einem Kunden unter Ein- Wertebereich für jede dieser Variablen liegt also satz körperlicher Gewalt überfallen. Beim Be- zwischen 0 und 100 Punkten. Bei dieser Vorge- trugsdelikt konnte ähnlich wie in der ersten hensweise ist wiederum eine der drei Dimensio- Untersuchung ein Mitarbeiter einer Baufirma mit- nen von den anderen linear abhängig und vollstän- tels gefälschter Dokumente eine ältere Bewohne- dig vorhersagbar. Wie in Untersuchung 1 werden rin eines Mietshauses überzeugen, ihm 10.000 deshalb die Faktorenanalysen lediglich mit zwei Schweizer Franken für Renovierungsarbeiten zu der drei Dimensionen gerechnet. überweisen, welche die Mieterin jedoch gar nicht Punitivität. Die Punitivität wurde mit 4 Items hätte bezahlen müssen. identisch zu Untersuchung 1 erfasst (Cronbachs α = .87). Die Antworten wurden auf einer 7-stufi- gen Skala erfasst, und sind hier kodiert mit Werten Messinstrumente zwischen 1 (stimme gar nicht zu) und 7 (stimme völlig zu). Strafziele. Die Strafziele wurden mit Items iden- Einnahme einer Mikro- versus Makroperspekti- tisch zu Untersuchung 1 erfasst; die Ränge sind ve. Die Skala wurde aus 6 Items gebildet (Cron- kodiert mit Werten zwischen 1 (unwichtigstes bachs α = .71): «Bei Strafentscheidungen ist es Ziel) und 6 (wichtigstes Ziel). wichtig, vom konkreten Fall zu abstrahieren, und Fallbezogene Strafhärte. In Untersuchung 2 sich zu überlegen, wie aus gesamtgesellschaftli- wurde im Vergleich zu Untersuchung 1 eine ande- cher Perspektive auf solche Delikte reagiert wer- re Methode und andere Items zur Messung der den sollte.»; «Man kommt am ehesten zu einem fallbezogenen Strafhärte verwendet. Die Untersu- gerechten Urteil, wenn man nur den konkreten Fall chungsteilnehmer beurteilten eine vorgegebene berücksichtigt und sich auf die legitimen Interes- gerichtliche Strafzumessung (7 Jahre Freiheits- sen der unmittelbar Beteiligten konzentriert.»; strafe; dies entspricht bezogen auf die geschilder- «Eine Strafe oder alternative Maßnahme ist im ten Fälle einer schweren Strafe) mit vier Items Einzelfall nur dann gerecht, wenn sie auch allge- (Cronbachs α = .91). Beispielsweise erfasste ein mein, d. h. auf andere vergleichbare Fälle ange- Item, ob die Strafe als viel zu hart oder als viel zu wendet werden kann.»; «Man sollte am Einzelfall mild bewertet wurde. Die Antworten wurden auf interessiert sein und sich weniger darum küm- einer 7-stufigen Skala erfasst, und sind hier kodiert mern, welche gesellschaftlichen Auswirkungen es mit Werten zwischen 1 (geringe Strafhärte) und 7 hat, wenn man generell (auch in anderen Fällen) (hohe Strafhärte). so handeln würde.»; «Stellen Sie sich vor, es wür- ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
Margit E. Oswald et al.: Mikro- versus Makroperspektive 235 de für die berichtete Straftat eine Strafe gefunden tionsmatrizen für unabhängige Stichproben durch- werden, die sowohl der Täter als auch das Opfer geführt. Die Diskrepanzstatistiken ergaben, dass als gerecht und angemessen empfinden. Vor einem sich die zwei Korrelationsmatrizen nicht signifi- höheren Gericht (einer höheren Instanz) aber wird kant unterscheiden (GLS: χ² = 64.11, df = 66, p = diese Strafe abgewiesen, mit der Begründung, .543; ML: χ² = 70.98, df = 66, p = .315). Auf wei- dass Sie keiner Strafe entspricht, wie sie normaler- tere deliktspezifische Analysen kann also auch in weise in solchen Fällen verhängt wird. Wie beur- Untersuchung 2 verzichtet werden. Im Folgenden teilen Sie die Entscheidung des höheren Ge- werden direkt die deliktübergreifenden Ergebnisse richts?»; «Ich finde, dass man diesen Fall im Ver- berichtet. gleich zu anderen Fällen bewerten sollte, um zu Tabelle 2 zeigt Mittelwerte, Standardabwei- einem gerechten Urteil zu kommen.» Die Antwor- chungen und Korrelationen der erfassten Variab- ten wurden auf einer 7-stufigen Skala erfasst, und len. Die Korrelationen zeigen, dass die fallbezoge- sind hier kodiert mit Werten zwischen 1 (stimme ne Strafhärte bzw. Punitivität sowohl mit der Ein- gar nicht zu bzw. völlig falsch) und 7 (stimme völ- nahme einer Mikro- versus Makroperspektive als lig zu bzw. völlig richtig). auch mit Gesellschaftsinteressen praktisch unkor- Bedrohung der Gesellschaft durch Kriminalität. reliert sind (Korrelationen von r = -.07 bis r = .12). Die Skala wurde aus 6 Items gebildet (Cronbachs Die Korrelationen zeigen des weiteren, dass auch α = .75): «Durch solche Handlungen, wie die des die Variable Gesellschaftsbedrohung mit der Ein- Täters, verlieren die Menschen das Vertrauen zu- nahme einer Mikro- versus Makroperspektive un- einander und kapseln sich immer mehr voneinan- korreliert ist (r = .02). der ab.»; «Unrechtmäßige Handlungen wie diese Eine Hauptkomponentenanalyse über alle Va- bringen die Normen der Gesellschaft ins Wanken, riablen ergibt einen Eigenwerteverlauf mit vier Ei- weil es heutzutage normal geworden ist, dass jeder genwerten über 1 (2.59, 2.18, 1.39, 1.10). Der seine eigenen Spielregeln aufstellt.»; «Durch Per- Scree-Test legt bei diesem Verlauf die Extraktion sonen wie diesen Täter wird der Umgang in unse- zweier Faktoren nahe. Probeweise werden zwei rer Gesellschaft immer rauer und respektloser und Faktorenlösungen mit zwei und drei Faktoren be- damit das Zusammenleben verschlechtert.»; «Ei- rechnet. Die Extraktion zweier Faktoren ergibt ei- ne Straftat wie diese kann der Gesellschaft keinen ne Varianzaufklärung von 39.7 %, die Extraktion Schaden zufügen, weil die Menschen hier in der dreier Faktoren 51.3 %. Ladungen und Kommuna- Schweiz im allgemeinen die Normen der Gesell- litäten der zwei- und dreifaktoriellen Lösung mit schaft respektieren.»; «Normbrüche wie diese hat Varimax-Rotation werden in Tabelle 3 dokumen- es schon immer gegeben. Die Gesellschaft hat da- tiert. Wird ein dritter Faktor extrahiert, so fallen im ran bislang keinen Schaden genommen und wird Vergleich zur zweifaktoriellen Lösung die Straf- das auch in Zukunft nicht tun.»; «Die grundlegen- ziele negative Spezialprävention, Wiedergutma- den moralischen Werte sind in unserer Gesell- chung und negative Generalprävention aus dem schaft so tief verankert, dass sie durch Straftaten ersten Faktor heraus und bilden den dritten Faktor. wie diese nicht ernsthaft bedroht sind.» Die Ant- Bei diesen Variablen liegen die Kommunalitäten worten wurden auf einer 7-stufigen Skala erfasst, in der dreifaktoriellen Lösung wesentlich höher und sind hier kodiert mit Werten zwischen 1 (stim- als in der zweifaktoriellen Lösung. Für die übrigen me gar nicht zu) und 7 (stimme völlig zu). Variablen bestehen hingegen zwischen der zwei- und dreifaktoriellen Lösung keine wesentlichen Unterschiede bei den Ladungen. Ergebnisse Die zweifaktorielle Lösung weist inhaltlich die bessere Interpretierbarkeit auf. In Abbildung 3 wird Die Untersuchungsteilnehmer bekamen jeweils deshalb das Ladungsmuster der Variablen bei der nur eine der zwei Fallgeschichten zur Beurteilung zweifaktoriellen Lösung gezeigt. Punitivität lädt po- vorgelegt. Es wurde deshalb wie in Untersuchung sitiv und hoch auf dem ersten Faktor, lädt nicht auf 1 zunächst geprüft, ob sich die Zusammenhangs- dem zweiten Faktor und kann deshalb erneut als strukturen der Variablen in Abhängigkeit von der Markiervariable des ersten Faktors gelten. Die vorgelegten Fallgeschichte unterscheiden. Hierzu Strafhärte lädt etwas schwächer, aber dennoch deut- wurde erneut ein Test auf Gleichheit der Korrela- lich auf dem ersten Faktor. Erwartungsgemäß zeigte ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
236 Margit E. Oswald et al.: Mikro- versus Makroperspektive 1 Gesellschaft Pos. Generalpr. Makroger. 0,5 Neg. Generalpr. Neg. Spez. Punitivität 0 -1 -0,5 0 0,5 1 Gesellsch.bedr. Strafhärte Resozial. Wiedergutm. Vergeltung -0,5 Opfer -1 Abbildung 3. Untersuchung 2: Zweifaktorielle Lösung der Hauptkomponentenanalyse für die Strafzielvariablen, fall- bezogene Strafhärte, Punitivität, Gesellschaftsinteressen, Opferinteressen, Makrogerechtigkeit und Bedrohung der Gesellschaft durch Kriminalität (N = 299, Varianzaufklä- rung = 39.7 %). sich, dass sowohl die Gewichtung der Gesell- schaftsinteressen als auch die Einnahme einer Mik- ro- versus Makroperspektive positiv und hoch auf dem zweiten Faktor, aber praktisch nicht auf dem ersten Faktor laden. Sie können deshalb als Mar- kiervariablen des zweiten Faktors gelten. Dies brachte uns dazu, den zweiten Faktor nicht mehr als Gesellschaftsfaktor, sondern als Mikro-Makrofak- tor zu bezeichnen. Der erste Faktor bleibt analog zur ersten Untersuchung der Strafhärtefaktor. Die Strafzielvariablen laden folgendermaßen: Ausschließliche Ladungen auf dem Strafhärtefaktor weist die negative Spezialprävention auf. Aus- schließliche Ladungen auf dem Mikro-Makrofaktor weist die positive Generalprävention auf. Die nega- tive Generalprävention lädt sowohl auf dem Straf- härtefaktor als auch auf dem Mikro-Makrofaktor positiv. Die Vergeltung lädt hingegen auf dem Straf- härtefaktor positiv und auf dem Mikro-Makrofaktor negativ. Resozialisierung und Wiedergutmachung laden sowohl auf dem Strafhärtefaktor als auch auf dem Mikro-Makrofaktor negativ. Die Opferinteressen laden auf dem Strafhärte- faktor (positiv) und auf dem Mikro-Makrofaktor (negativ); die Ladungen sind dem Strafziel der Vergeltung relativ ähnlich. Die Gesellschaftsinte- ressen und die Mikro- versus Makroperspektive ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
Margit E. Oswald et al.: Mikro- versus Makroperspektive 237 Tabelle 3. Untersuchung 2: Faktorenladungen und Kommunalitäten der Variablen bei zweifaktorieller und dreifaktorieller Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation (N = 299). Zweifaktorielle Lösung Dreifaktorielle Lösung Variablen F1 F2 h2 F1 F2 F3 h2 Strafziele Negative Spezialprävention .27 –.03 .07 .02 –.25 .61 .43 Resozialisierung –.60 –.19 .39 –.65 –.30 –.06 .51 Vergeltung .37 –.47 .36 .62 –.25 –.38 .59 Wiedergutmachung –.47 –.35 .34 –.13 –.13 –.76 .61 Negative Generalprävention .57 .45 .52 .26 .28 .72 .66 Positive Generalprävention –.01 .68 .46 –.06 .70 .08 .49 Weitere Variablen Strafhärte .59 –.16 .38 .57 –.14 .20 .38 Opferinteressen .53 –.58 .61 .51 –.59 .17 .63 Gesellschaftsinteressen .03 .69 .48 .05 .77 –.02 .59 Punitivität .78 .00 .61 .78 .08 .19 .65 Makroperspektive .11 .53 .30 .07 .56 .09 .32 Gesellschaftsbedrohung .48 –.07 .24 .52 .00 .04 .27 Varianzaufklärung (%) 21.6 18.2 – 19.7 17.2 14.5 – Anmerkungen. Ladungen ≥ .45 sind fettgedruckt. werden wie berichtet als Markiervariablen des der Straftat beteiligten Personen (Mikrogerechtig- Mikro-Makrofaktors verwendet; die Ladungen keit) hergestellt werden soll. sind dem Strafziel der positiven Generalpräven- tion relativ ähnlich. Die Variable Gesellschaftsbe- drohung lädt konsistent mit dem bivariaten Korre- lationsmuster ausschließlich auf dem Strafhärte- Allgemeine Diskussion faktor. Wird entweder anstelle der relativen Gewichtung der Opfer- oder aber der Gesell- Die Ergebnisse beider Untersuchungen konnten schaftsinteressen die Gewichtung der Täterinte- klar belegen, dass den Präferenzen für einzelne ressen in die Analyse einbezogen, so zeigt sich, Strafziele eine zweidimensionale Struktur zugrun- dass diese vor allem auf dem Strafhärtefaktor (ne- de liegt. Trotz unterschiedlicher Populationen, gativ) laden. verschiedener Delikte und teilweise anderer Erhe- bungsverfahren weisen beide Untersuchungen ei- ne hohe Übereinstimmung bei den statistischen Diskussion Parametern auf (bivariate Korrelationen, Varianz- aufklärung der extrahierten Faktoren, Faktorenla- Die Ergebnisse der zweiten Untersuchung zeigen dungen der Variablen). Und die zweifaktorielle in Übereinstimmung mit der ersten Untersuchung, Lösung einer Hauptkomponentenanalyse über alle dass die Strafzielpräferenzen von juristischen Lai- verwendeten Variablen hinweg lässt sich jeweils en anhand zweier Dimensionen sinnvoll klassifi- als Kombination zweier unabhängiger Dimensio- ziert werden können. Bei der ersten den Strafzie- nen interpretieren. Auf die Frage, wie diese Di- len zugrunde liegenden Dimension handelt es sich mensionen inhaltlich zu interpretieren sind, kann um einen Strafhärtefaktor. Die zweite Dimension, ebenfalls klar geantwortet werden, dass es sich im in der ersten Untersuchung als Gesellschaftsfaktor einen Fall um einen Strafhärtefaktor und im ande- bezeichnet, wurde aufgrund des Einbezugs einer ren um einen Faktor der Beurteilungsperspektive weiteren Markiervariable in der zweiten Untersu- handelt. In der Literatur taucht der Gedanke der chung in Mikro-Makrofaktor umbenannt. Mit die- beim Strafen eingenommen Beurteilungsperspek- ser Variable wurde die Überzeugung erfasst, ob tive bisher in unterschiedlichen Kontexten auf. Strafgerechtigkeit eher aus einer allgemeinen und Vidmar und Miller (1980) beispielsweise sprechen vergleichenden Perspektive (Makrogerechtigkeit) von der Objektdichotomie «Täter versus Gesell- oder aber eher aus der Perspektive der konkret an schaft» und Tyler et al. (1997) von einer «Mikro- ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
238 Margit E. Oswald et al.: Mikro- versus Makroperspektive versus Makroperspektive der Gerechtigkeit». Bis- Untersuchung repliziert werden. Jedoch scheinen her war jedoch unklar, ob und wie diese beiden die Bedrohungsgefühle, also die Sorge um den ge- Klassifikationsansätze in Beziehung zueinander sellschaftlichen Zusammenhang und die Erosion stehen. Es war aber auch unklar, wie die Bezie- von Normen und Werten, weder mit der Überzeu- hung zwischen Beurteilungsperspektive und gung verbunden zu sein, dass man beim Strafen Strafhärte aussieht. vor allem die Gesellschaftsinteressen vertreten Aufgrund der vorliegenden Untersuchungser- solle, noch mit der Übernahme einer Makroper- gebnisse kann gezeigt werden, dass beide Ansätze spektive, wie dies Tyler et al. (1997) vermuten. der Beurteilungsperspektive nur sehr begrenzt mit- Die Strafüberlegungen der Personen, die in beson- einander übereinstimmen. So ist die Einnahme einer derem Masse eine Gesellschaftsbedrohung durch Makroperspektive zwar eng mit einer relativ starken Kriminalität wahrnehmen, scheinen sich eher um Gewichtung von Gesellschaftsinteressen verbun- den einzelnen Täter, bzw. die Gruppe der Täter zu den, die Einnahme einer Mikroperspektive besagt zentrieren. Und dies nicht etwa im Sinn einer Be- jedoch nicht zwangsläufig, dass die Täterinteressen rücksichtigung ihrer (legitimen) Interessen, son- im Vordergrund stehen. Dies müsste aber klarerwei- dern im Sinn ihrer Ausgrenzung aus der Gesell- se der Fall sein, wenn der Ansatz der Mikro-Mak- schaft. Hierfür spricht auch die von Tyler und roperspektive und der Ansatz der Objektdichotomie Boeckmann (1997) gefundene enge Beziehung «Täter versus Gesellschaft» vollständig ineinander zwischen wahrgenommener Gesellschaftsbedro- überführbar wären. Die Übernahme einer Mikroper- hung und der Bereitschaft, den Straftäter sozial spektive legt nicht eindeutig fest, auf welche «Kon- auszugrenzen, bzw. ihm prozedurale Rechte des fliktparteien» sich die Gerechtigkeitsüberlegungen Strafverfahrens vorzuenthalten. beziehen. Insbesondere durch die erste Untersu- Die beiden unabhängigen Dimensionen Strafhär- chung wird sogar nahegelegt, dass eine Mikroper- te und Mikro- versus Makroperspektive (bzw. Ge- spektive tendenziell eher mit der Übernahme einer sellschaftsinteressen) können die Strafziele auf eine Opfer- als einer Täterperspektive verbunden sein überzeugende Weise strukturieren: Resozialisie- könnte. Ob beide Parteien, also Opfer und Täter, rung und negative Spezialprävention markieren die gleichermaßen berücksichtigt werden, oder aber ein beiden Endpunkte der Strafhärtedimension. Aber Bias für entweder das Opfer oder den Täter besteht, auch das Strafziel der Vergeltung geht mit einer ho- ist letztendlich aber erst in Kombination mit der je- hen Strafhärte einher, grenzt sich gegenüber der ne- weiligen Strafhärte zu bestimmen. Eine geringe gativen Spezialprävention aber durch eine höhere Strafhärte geht mit einem Bias für den Täter, eine Bereitschaft ab, die Interessen des konkreten Opfers höhere Strafhärte hingegen mit einem Opferbias im Fokus der Aufmerksamkeit zu haben. Dies ver- einher. Somit ist mit der Übernahme einer Mikro- weist auf die grundlegende Auffassung, dass mit perspektive auch nicht zwangsläufig die Überzeu- dem Ziel der Vergeltung vor allem die Würde des gung verbunden, dass Gerechtigkeit aus der Per- Opfers wieder hergestellt werden soll (vgl. Heider, spektive aller Beteiligter herzustellen ist. Dieser Be- 1958). Die positive Generalprävention liegt nahe fund macht zudem deutlich, dass das Konstrukt der bei den Gesellschaftsinteressen, bzw. der Makro- Mikro-Makroperspektive etwas Unterschiedliches perspektive retributiver Gerechtigkeit. Dies trifft bedeutet, je nachdem, ob distributive oder aber re- auch für die negative Generalprävention zu, welche tributive Gerechtigkeit wieder hergestellt werden allerdings in Abgrenzung zur positiven Generalprä- soll. vention mit einer recht hohen Strafhärte verbunden Die Ergebnisse beider Untersuchungen zeigen ist. Die Wiedergutmachung schließlich ist eher mit andererseits aber auch, dass die Vertretung einer einer Mikroperspektive verbunden und liegt in etwa Mikro- oder Makroperspektive (bzw. der Gesell- zwischen der Wahrnehmung von sowohl Täter- wie schaftsinteressen) unabhängig davon ist, wie hart Opferinteressen. Personen auf den Normbruch reagieren. Die Un- Einschränkend ist zu berücksichtigen, dass in abhängigkeit beider Dimensionen widerspricht beiden Untersuchungen in den durchgeführten den zentralen Annahmen von Tyler et al. (1997). Faktorenanalysen lediglich etwa 40 % der Varianz Es kann zwar der postulierte positive Zusammen- aufgeklärt wurden (unter Einbezug aller Variab- hang zwischen Strafhärte und wahrgenommener len; bei Einbezug lediglich der Strafzielvariablen Gesellschaftsbedrohung im Rahmen der zweiten liegt die Varianzaufklärung höher). Natürlich wür- ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
Margit E. Oswald et al.: Mikro- versus Makroperspektive 239 de die Extraktion eines dritten Faktors die Varianz- des Täter-Opfer-Ausgleichs mehr als dies bei der aufklärung erhöhen. Allerdings zeigt die explora- Gemeinnützigen Arbeit der Fall ist, auch zusätz- tive dreifaktorielle Analyse in Untersuchung 2, lich von der Bereitschaft zur Übernahme einer dass ein dritter Faktor inhaltlich nur schwer zu er- Mikroperspektive abhängen. Hinsichtlich der Me- klären ist, während das Ladungsmuster der ersten dienberichterstattung wäre beispielsweise zu er- beiden Faktoren in etwa unverändert bleibt. Fest- warten, dass die Manipulation von Bedrohungsge- zuhalten bleibt weiterhin, dass die Zustimmung zu fühlen, aber auch eine stärker individualisierte Be- bestimmten Strafzielen lediglich einen eher klei- schreibung der Straftat deutliche Auswirkungen nen Teil der Varianz der geforderten Strafhärte er- auf die Präferenz von Strafzielen haben. Zuneh- klären kann (vgl. Endres, 1992a, 1992b; Weiner et mende Bedrohungsgefühle dürften vor allem Ab- al., 1997). Für eine Analyse der Determinanten der schreckungsziele salient machen und eine stärkere Strafhärte sind weitere Personvariablen (z. B. Al- Individualisierung die Mikroperspektive in den ter, Geschlecht, Konservatismus) und fallbezoge- Vordergrund rücken. Ob es im letztgenannten Fall ne Beurteilungen der Deliktschwere, der Schuld, aber gleichzeitig zu einer Strafmilderung kommt, des Täterverhaltens nach der Tat wie z. B. Reue wird auch davon abhängen, mit welcher Ausführ- und die Bitte um Verzeihung zu berücksichtigen lichkeit entweder über den Täter oder aber das Op- (vgl. Gabriel & Greve, 1996). In der vorliegenden fer berichtet wird. So weisen einige Befragungser- Analyse geht es jedoch weniger um die Erklärung gebnisse darauf hin, dass es tatsächlich zu milde- von Strafhärte als um die dimensionale Strukturie- ren Strafen kommt, wenn nicht nur abstrakt über rung der Strafziele, und hier kann es als ein zent- eine Straftat, sondern auch über die Person des Tä- rales Ergebnis angesehen werden, dass manche ters und die Tatumstände berichtet wird (Zamble Strafziele, wie z. B. die positive Generalpräven- & Kalm, 1990). Ob entsprechend härtere Strafen tion, nahezu unabhängig von der geforderten gefordert werden, wenn nicht nur abstrakt über ei- Strafhärte sind, während andere, wie z. B. Reso- ne Straftat berichtet wird, sondern das Opfer und zialisierung oder negative Spezialprävention, ei- die Tatfolgen im Fokus stehen, wäre zu überprü- nen wichtigen Beitrag zur Erklärung der indivi- fen. duellen Strafhärteunterschiede liefern. Es wird die Aufgabe weiterführender Untersu- chungen sein, die Interpretation zu erhärten, dass Autorenhinweis interindividuelle und kontextbedingte Unterschie- de in der Strafzielpräferenz im wesentlichen damit Die Volkswagenstiftung hat die Untersuchungen zusammenhängen, dass einerseits das Bedürfnis finanziell gefördert. Die Daten von Untersuchung nach harten Strafen variiert und andererseits ver- 1 wurden teilweise in Oswald et al. (2002) veröf- schiedene Gerechtigkeitsperspektiven eingenom- fentlicht. Die Autoren danken Marianne Aeber- men werden. Die in den Untersuchungen identifi- hard, Stefan Klug und Eliane Schneider für ihre zierte zweidimensionale Strafzielstruktur könnte Mitarbeit bei den Untersuchungen. neben dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn auch praktischen Nutzen haben. So könnte man beispielsweise Prognosen darüber aufstellen, wel- che Personengruppen bestimmte Strafrechtsrefor- men mehr oder weniger akzeptieren, oder Progno- Literaturverzeichnis sen darüber erstellen, wie sich bestimmte Formen der Medienberichterstattung auf die Veränderung Berkowitz, L. (1990). On the formation and regulation of von Strafzielpräferenzen auswirken. Die Akzep- anger and aggression. American Psychologist, 45, 494–503. tanz von Strafrechtsreformen, wie beispielsweise Berkowitz, L. (1993). Aggression: Its causes, conse- die Einführung der Gemeinnützigen Arbeit (GA) quences, and control. New York: McGraw-Hill. anstelle von Kurzfreiheitsstrafen (vgl. Kunz, Brickman, P., Folger, R., Goode, E. & Schul, Y. (1981). 1986; Kunz & Witzleben, 1996) oder die Möglich- Microjustice and macrojustice. In M.J. Lerner & S.C. keit zum außergerichtlichen Täter-Opfer-Aus- Lerner (Eds.), The justice motive in social behavior gleich (Lamnek, 1994), sollte negativ mit der (pp. 173–202). New York: Plenum. Strafhärte variieren. Jedoch dürfte die Akzeptanz Endres, J. (1992a). Einstellungen zu Straf- und Sanktions- ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
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