Mikro-versus Makro-perspektive der retributiven Gerechtigkeit, Strafziele und die Forderung nach Strafe

 
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Zeitschrift für Sozialpsychologie, 34 (4), 2003, 227–241

MargitE.Oswaldetal.:Mikro-versusMakrop
ZFS P34(4),2003,©V erlagHansHuber,Bern erspektive

                                                          Mikro- versus Makro-
                                                     perspektive der retributiven
                                                    Gerechtigkeit, Strafziele und
                                                      die Forderung nach Strafe
                                                          Micro versus Macro Perspective on Retributive Justice, Punishment Goals,
                                                                                                 and the Demand for Punishment

                                                                      Margit E. Oswald, Ulrich Orth und Jörg Hupfeld
                                                                                                                               Universität Bern

                               Zusammenfassung: Wie Personen auf Straftaten reagieren und welche Strafziele sie dabei verfolgen, war
                               bisher kaum Gegenstand psychologischer Forschung. In der vorliegenden Arbeit wird die dimensionale
                               Struktur der Präferenz von Strafzielen untersucht. In zwei Befragungen wurden juristischen Laien Fallge-
                               schichten zur Beurteilung vorgelegt (Raubüberfall, Körperverletzung, Betrug, Vergewaltigung). Die multi-
                               variaten Auswertungen weisen eine hohe Übereinstimmung auf: Strafziele lassen sich durch die zwei
                               voneinander unabhängigen Dimensionen Strafhärte und Mikro- versus Makroperspektive klassifizieren.
                               Wird eine Makroperspektive eingenommen, so ist dies mit einer stärkeren Gewichtung von Gesellschafts-
                               interessen verbunden sowie mit der Präferenz für das Strafziel der positiven Generalprävention. Die Mikro-
                               perspektive ist hingegen mit der Überzeugung verbunden, dass Gerechtigkeit insbesondere aus der Perspek-
                               tive der konkret Beteiligten herzustellen ist. Je nach geforderter Strafhärte geht die Mikroperspektive mit
                               einem Bias entweder für das Opfer und das Strafziel der Vergeltung oder aber für den Täter und das Strafziel
                               der Resozialisierung einher.

                               Schlüsselwörter: Gerechtigkeit, Bestrafung, Strafziele, Mikro- versus Makroperspektive, Straftäter, Opfer

                               Abstract: The reactions of people to criminal offences and their goals of punishment have rarely been a
                               subject of psychological research, so far. The present paper studies the dimensional structure of preferences
                               for punishment goals. In two surveys, laypersons assessed case vignettes of offences (robbery, assault,
                               fraud, rape). The multivariate results consistently show that punishing goals may be characterized by two
                               independent dimensions: punitivity and micro versus macro perspective of retributive justice. A macro
                               perspective leads to higher weighting of the concerns of society and the goal of positive general prevention.
                               The micro perspective, on the other hand, is related to the conviction that justice has to be created in
                               particular from the perspective of those persons actually involved. Dependent on the degree of punitivity
                               the micro perspective can be either related to a bias in favor of the victim, and the goal of retaliation, or in
                               favor of the offender, and the goal of rehabilitation.

                               Keywords: Justice, punishment, goals of punishment, micro versus macro perspective, offender, victim

                                                                                                  ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
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Personen, die von Straftaten eines Täters gegen          sondern auch die auf Prävention ausgerichteten
Dritte erfahren, zeigen oft emotionale Reaktionen        Strafziele, wie z. B. das Ziel der Täterabschre-
wie Empörung, Furcht oder Mitleid, nehmen Zu-            ckung, eine enge Beziehung zur Strafhärte auf
schreibungen von Schuld und Verantwortung vor,           (vgl. McFatter, 1978; Vidmar & Miller, 1980).
reagieren aber auch mit strafbezogenen Verhal-           Und hinsichtlich der Vergeltung zeigt eine Studie
tensabsichten. So können Personen beispielsweise         von McFatter (1982), dass die Funktion der ge-
die Absicht verfolgen, dass das begangene Un-            rechten Vergeltung am besten durch eine mittlere
recht vergolten, die Würde des Opfers wiederher-         Strafhärte erfüllt wird, während zu harte oder zu
gestellt, der Täter vor weiteren Taten abge-             milde Strafen auf das Ziel der Vergeltung bezogen
schreckt, die verletzte Norm in ihrer Geltung be-        von juristischen Laien und Richtern als unange-
kräftigt, oder aber dass der Täter resozialisiert        messen beurteilt werden. Ähnlich gilt dies für das
wird. Während emotionale Reaktionen auf norm-            Ziel der Resozialisierung (McFatter, 1982), aller-
verletzendes Verhalten im Rahmen der Aggres-             dings liegt die als angemessen beurteilte mittlere
sionsforschung untersucht wurden (vgl. Berko-            Strafhärte für dieses Ziel wesentlich niedriger als
witz, 1990, 1993) und Schuldzuschreibungen im            für das Ziel der Vergeltung (Endres, 1992a;
Rahmen der Attributionsforschung (vgl. Shaver,           McFatter, 1978).
1985; Shultz & Darley, 1991; Weiner, 1995), wa-             Eine zweite, weitergehende Frage bezieht sich
ren die Strafzielpräferenzen bisher kaum Gegen-          auf die dimensionale Struktur der Strafziele: Las-
stand psychologischer Forschung. Dies mag damit          sen sich die einzelnen Ziele auf nur einer Dimen-
zusammenhängen, dass die Bestrafung von Straf-           sion der Strafhärte anordnen, oder liegt ihnen eine
tätern in der Regel nicht die Sache von Privatper-       mehrdimensionale Struktur zugrunde? Kapardis
sonen ist, sondern seit dem 16./17. Jahrhundert an       (1987), Oswald (1994), Vidmar und Miller (1980)
den Staat delegiert wurde (Frehsee, 1987). Er-           und Vidmar (2000) beispielsweise weisen darauf
kenntnisse über Strafziele und Strafbedürfnisse          hin, dass sich die Strafziele auch danach klassifi-
der Bevölkerung sind aber gleichwohl von hoher           zieren lassen, ob sie sich in unterschiedlichem
Relevanz, da deutliche Abweichungen von der              Ausmaß entweder auf die Belange der Gesell-
staatlichen Sanktionierung nachweislich nicht nur        schaft oder aber auf die der Täter beziehen. So
das Vertrauen in den Rechtsstaat, sondern auch die       kann mit Strafe vor allem beabsichtigt sein, dass
Normbefolgung beeinträchtigen (vgl. Robinson &           der Täter resozialisiert oder vor weiteren Strafta-
Darley, 1995; Tyler, 2001).                              ten abgeschreckt wird, oder aber dass die Gesell-
   Eine der Fragestellungen, die zunächst vor al-        schaft vor Kriminalität geschützt und in ihrem
lem die Strafrechtswissenschaft interessiert hat,        Normglauben bestärkt wird. Die Tatsache, dass es
betrifft die Beziehung zwischen der Präferenz ein-       sich hier teilweise um nur schwer miteinander zu
zelner Strafziele und der geforderten Strafhärte         vereinbarende Strafziele handelt, wird im Straf-
(vgl. Hogarth, 1971; Streng, 1984; Weiner, Gra-          recht auch als Strafzielantinomie (Zipf, 1973) be-
ham & Reyna, 1997). So überlegt Hassemer                 zeichnet. Dennoch ist mit der Objektdichotomie
(1983, 1990), ob insbesondere das Ziel der Vergel-       «Täter versus Gesellschaft» nicht gemeint, dass
tung mit einer punitiven Einstellung der betreffen-      sich Personen ausschließlich an dem einen oder
den Personen verbunden ist. Entsprechend dieser          anderen Objekt orientieren, sondern lediglich in
Erwartung zeigte sich in einer Untersuchung von          Konfliktfällen entweder dem Täter- oder der Ge-
Endres (1992a, 1992b), dass Vergeltung im Ver-           sellschaft den Vorzug geben. In der Literatur wird
gleich zu den übrigen Strafzielen die höchste po-        weiterhin zwischen einer Mikro- versus Makro-
sitive Korrelation mit der Strafhärte aufweist.          perspektive der retributiven Gerechtigkeit unter-
Auch die Resultate einer Befragung an Richtern           schieden (vgl. Brickman, Folger, Goode & Schul,
und Richterinnen weisen darauf hin, dass die Prä-        1981; Tyler, Boeckmann, Smith & Huo, 1997).
ferenz für das Strafziel Vergeltung mit der Bevor-       Wird eine Mikroperspektive bei der Bestrafung
zugung von harten Strafen assoziiert ist (Streng,        normwidrigen Verhaltens eingenommen, so wird
1984). Andere Studien machen jedoch deutlich,            nach derjenigen Strafe oder Konfliktlösung ge-
dass der Zusammenhang zwischen Strafzielen und           sucht, die vor allem den Interessen der am konkre-
Strafhärte komplexer ist als vielfach angenom-           ten Fall beteiligten Täter und Opfer gerecht wird.
men. So weisen nicht nur das Ziel der Vergeltung,        Aus einer Makroperspektive hingegen ist man be-

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Margit E. Oswald et al.: Mikro- versus Makroperspektive                       229

müht, so zu strafen, dass das Resultat der Strafent-     konkreten Fall beteiligten Täter und Opfer achtet
scheidung verallgemeinerbar ist, d. h., auch auf al-     und deshalb eher bereit ist, schuldmindernde Um-
le anderen, vergleichbaren Fallkonstellationen an-       stände zu berücksichtigen. Betrachtet ein Be-
gewendet werden kann.                                    obachter hingegen das Delikt und die Behandlung
   Betrachtet man die Objektdichotomie «Täter            des Straftäters mehr aus der Makroperspektive, so
versus Gesellschaft» einerseits und die Unter-           wird er stärker auf die Gerechtigkeitsinteressen
scheidung von «Mikro- versus Makroperspektive            der Gesellschaft als Ganzes achten und deshalb
der Gerechtigkeit» andererseits, so fallen gewisse       härter strafen wollen. Tyler et al. (1997, p. 200)
konzeptuelle Gemeinsamkeiten auf. In beiden Fäl-         vermuten zudem, dass Personen dann stärker zur
len, so könnte man sagen, wird eine eher auf Indi-       Übernahme einer Makroperspektive tendieren,
viduen gerichtete Perspektive einer Perspektive          wenn sie überzeugt sind, dass Kriminalität den ge-
gegenüber gestellt, die sich auf die Allgemeinheit       sellschaftlichen Zusammenhalt bedroht und zur
richtet. Allerdings bleibt zu berücksichtigen, dass      Erosion von Normen und Werten beiträgt. Strafe
es bei der Objektdichotomie um die Interessens-          sollte bei dieser Art von Bedrohungsgefühlen vor
vertretung verschiedener Gruppen geht, bei der           allem die Funktion haben, zwischen den Mitglie-
Mikro-Makroperspektive um die Anwendung un-              dern der Gesellschaft den Konsens über die mora-
terschiedlicher Gerechtigkeitsprinzipien. A priori       lische Natur der Strafnormen wieder herzustellen.
ist es daher nicht selbstverständlich, dass z. B. eine   Strafe stellt ein Symbol dar, um die Normgeltung
stärkere Gewichtung von Gesellschaftsinteressen          in der Bevölkerung zu bekräftigen und die Mit-
mit der Übernahme einer Makroperspektive ein-            glieder gegenüber ihren Werten und Normen zu
hergeht. Ein genauerer Vergleich macht zudem             verpflichten. Folgerichtig sollten nach Tyler et al.
deutlich, dass die beiden Klassifikationsansätze         (1997) bei wahrgenommener Bedrohung der Ge-
die Rolle des konkreten Opfers auf sehr unter-           sellschaft höhere Strafen gefordert und die Straf-
schiedliche Weise handhaben. Autoren wie Vid-            gerechtigkeit nicht aus der Perspektive der konkret
mar und Miller (1980), die zur Klassifikation der        Beteiligten, sondern vielmehr aus einer Makroper-
Strafziele die Objektdichotomie «Täter versus Ge-        spektive betrachtet werden.
sellschaft» vorschlagen, subsumieren das Opfer              Diese Position ist aber aus zwei Gründen nicht
unter die Mitglieder der Gesellschaft. Für sie un-       sehr überzeugend: (1) Nehmen Personen eine Mi-
terteilt sich die Kategorie Gesellschaft gewisser-       kroperspektive ein, so orientieren sie sich zwar
maßen in zwei Teilgruppen, in die Gruppe der fak-        am konkreten Geschehen, z. B. an der Beilegung
tischen und in die der potenziellen Opfer. Damit         des Konflikts zwischen den beteiligten Parteien.
verzichten die Autoren zwangsläufig auf die ana-         Bei den konkret Beteiligten handelt es sich aber,
lytische Trennung zwischen konkretem und ab-             wie bereits oben betont wurde, nicht nur um den
strahiertem Opfer (Gesellschaft). Die Klassifika-        jeweiligen Täter, sondern auch um das Opfer, und
tion «Mikro- versus Makroperspektive» unter-             somit ist es eine offene Frage, ob Personen, die
scheidet hingegen explizit, ob Personen das              bei ihren Strafüberlegungen eine Mikroperspekti-
konkrete oder das abstrakte Opfer in ihre Überle-        ve einnehmen, die Perspektive von Opfer und Tä-
gungen einbeziehen, je nachdem, ob Gerechtigkeit         ter einzunehmen versuchen, oder aber vielleicht
primär für die Beteiligten des konkreten Falls (Mi-      vorrangig die Perspektive des konkreten Täters
kroperspektive) oder aber aus einer verallgemei-         oder aber die des konkreten Opfers. Letzteres
nerten Perspektive wieder hergestellt werden soll        dürfte für die geforderte Strafhärte sehr entschei-
(Makroperspektive).                                      dend sein. Denn nehmen Beobachter vor allem
   Hinsichtlich der Frage, ob die Objektdichoto-         die Gerechtigkeitsinteressen des konkreten Op-
mie «Täter- versus Gesellschaftsorientierung»            fers wahr, so könnten sie sehr wohl das Strafziel
oder die Dimension «Mikro- versus Makroper-              der Vergeltung verfolgen, um so dem Opfer Ge-
spektive» in systematischer Weise mit der Höhe           rechtigkeit widerfahren zu lassen und dessen
der geforderten Strafe variieren, gibt es wider-         «Würde» wieder herzustellen (vgl. Heider, 1958).
sprüchliche Hinweise. So vermuten Tyler et al.           Das Ziel der Vergeltung geht aber keineswegs,
(1997, p. 131) beispielsweise, dass der Beobachter       wie wir sahen, mit milden Strafforderungen ein-
durch die Einnahme einer Mikroperspektive ver-           her. Aufgrund der Besonderheit, dass im Rahmen
stärkt auf die Gerechtigkeitsinteressen der am           der retributiven Gerechtigkeit die Übernahme ei-

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ner Mikroperspektive mit zwei sehr ungleichen            ve der retributiven Gerechtigkeit zusammenhängt
Parteien, dem Opfer und dem Täter, verbunden             und ob letztgenanntes Konstrukt mit Strafhärte
ist, erscheint die Annahme von Tyler et al. (1997)       konfundiert ist, wie Tyler et al. (1997) annehmen.
somit fraglich, dass mit dieser Perspektivenüber-
nahme zwangsläufig niedrigere Strafforderungen
verbunden sein sollen. (2) Aber auch die Annah-
me, dass eine Makroperspektive zu härteren               Untersuchung 1
Strafforderungen führt, ist nicht sehr überzeu-
gend. Denn soll Strafe aus der Makroperspektive          Methode
vor allem den symbolischen Wert haben, die Be-
völkerung von der Geltung der verletzten Norm            Stichprobe
zu überzeugen, so kommt es ja nicht auf die ab-
solute Höhe der Strafe, sondern vor allem darauf         Eine Stichprobe privater Haushalte in Bern wurde
an, dass überhaupt und möglichst für alle erkenn-        mittels zufällig ausgewählter Telefonnummern
bar eine Bestrafung auf den Normbruch erfolgt.           aus dem Telefonverzeichnis gezogen. Die Haus-
Abweichend von Tyler et al. (1997) ist also zu           halte wurden telefonisch kontaktiert, und es wurde
vermuten, dass die Übernahme einer Mikro- oder           sichergestellt, dass es sich um einen privaten Tele-
Makroperspektive weitgehend unabhängig davon             fonanschluss handelt (geschäftliche Anschlüsse
ist, ob eher harte oder milde Strafen gefordert          wurden ausgeschlossen). Aus den erreichten
werden.                                                  Haushalten wurde je eine Person mittels eines Zu-
   Im folgenden werden zwei Untersuchungen               fallsverfahrens ausgewählt: abwechselnd wurde
dargestellt, die sich beide mit der Frage der Struk-     nach jenem Haushaltsmitglied gefragt, welches
tur von Strafzielen auseinandersetzen. In Untersu-       zuletzt oder aber als nächstes Geburtstag hatte.
chung 1 wird die Dimensionalität der Strafziele          Die ausgewählte Person musste zum Zeitpunkt des
überprüft und zu klären versucht, wie die gefunde-       Erstkontakts nicht anwesend sein, und wurde ge-
nen Dimensionen zu interpretieren sind. Dabei            gebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt telefo-
wird im einzelnen untersucht, wie die Strafziele         nisch kontaktiert. Personen mit einem Alter unter
mit der geforderten Strafhärte zusammenhängen            18 Jahren, ohne einheimische Staatsangehörigkeit
und ob die Strafzielpräferenzen systematisch mit         und ohne ausreichende deutsche Sprachkenntnisse
dem relativen Gewicht variieren, das Personen bei        wurden von der Teilnahme ausgeschlossen. Die
ihren Strafüberlegungen den Interessen der Ge-           Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmer
sellschaft, des Täters und des Opfers beigemessen.       erhielten eine geringe Aufwandsentschädigung für
Entgegen der einfachen Objektdichotomie «Täter           die Teilnahme (10 Schweizer Franken).
versus Gesellschaft» (s. o.) wurde explizit auch            Telefonisch erreicht wurden 793 Personen, von
das im konkreten Fall beteiligte Opfer berücksich-       denen 425 (54 %) in die Teilnahme an der Untersu-
tigt. Hiermit soll mehr als bisher der Möglichkeit       chung einwilligten. Bei Einwilligung wurde der
Rechnung getragen werden, dass Personen nicht            Fragebogen per Post zugeschickt. Einen verwertba-
nur im konkreten Fall die berechtigten Interessen        ren Fragebogen schickten N = 357 Personen (84 %)
des Täters anders gewichten als die des Opfers,          zurück. Die Teilnahmequote beträgt also 45 % (357
sondern auch einen Unterschied in der Interes-           von 793). Das mittlere Alter der Befragten war 46.3
sensgewichtung vornehmen, je nachdem, ob es              Jahre (SD = 17.7, Range 19–89). 61 % der Befrag-
sich um ein konkretes oder ein abstrahiertes Opfer       ten waren Frauen, 39 % waren Männer.
(Gesellschaft) handelt. In Untersuchung 2 wird
vor allem überprüft, ob sich die Befunde der ersten
Untersuchung replizieren lassen, wenn eine ande-         Fallgeschichten
re Personenpopulation untersucht wird, andere
Delikte und andere Verfahren zur Erfassung der           Den Untersuchungsteilnehmern wurde im Frage-
Variablen verwendet werden. Darüber hinaus wird          bogen jeweils eine von drei Fallgeschichten vor-
aber auch überprüft, wie die Gewichtung von Tä-          gelegt (je ein Drittel der Befragten las eine Fall-
ter-, Opfer- und Gesellschaftsinteressen mit der         geschichte zu einem Raubüberfall, zu einer Kör-
Übernahme einer Mikro- versus Makroperspekti-            perverletzung bzw. zu einem Betrugsdelikt; die

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Fallgeschichte zum Raubüberfall ist exemplarisch       Linie mit den Endpunkten viel zu hart und viel zu
im Anhang abgedruckt). Täter und Opfer waren           milde.
stets männlich, der Täter war jeweils 36 Jahre als        Gewichtung der Täterinteressen, Opferinteres-
und besaß die einheimische Staatsangehörigkeit.        sen und Gesellschaftsinteressen. Die Untersu-
Die Fallgeschichten wurden im Stil einer Nach-         chungsteilnehmer gaben an, welche Bedürfnisse
richtenmeldung in einer Tageszeitung präsentiert,      und Interessen bei der staatlichen Reaktion für sie
in der einige Fakten, die Festnahme des Täters und     im Vordergrund stehen. Insgesamt 100 Punkte wa-
jeweils eine kurze Aussage des Opfers sowie des        ren von den Befragten auf Täter, Opfer und Gesell-
Täters berichtet wurde. Beim Raubüberfall war          schaft aufzuteilen. Bei dieser Vorgehensweise ist
ein Besitzer einer Tankstelle nachts von einem un-     eine der drei Variablen von den anderen linear ab-
bewaffneten aber körperlich gewalttätigen Täter        hängig und vollständig vorhersagbar. Aus diesem
überfallen worden, der Bargeld im Wert von             Grund werden wir auch nur zwei der drei Variab-
10.000 Schweizer Franken erbeutete. Bei der Kör-       len in die folgenden Faktorenanalysen einbezie-
perverletzung wurde das Opfer bei einer Ausei-         hen. Wir tun dies aus Gründen der methodischen
nandersetzung zweier Straßenverkehrsteilnehmer         Exaktheit, obwohl sich zeigen lässt, dass keine
geschlagen und erlitt einen dauerhaften Gehör-         wesentlichen Unterschiede in den Ergebnissen
schaden. Beim Betrugsdelikt konnte ein Mitarbei-       festzustellen sind, wenn man auf alle drei anstatt
ter einer Baufirma mittels gefälschter Dokumente       nur auf jeweils zwei der Variablen in der Analyse
einen älteren Bewohner eines Mietshauses über-         Bezug nimmt.
zeugen, ihm 10.000 Schweizer Franken für Reno-            Punitivität. Die Punitivität wurde mit 4 Items
vierungsarbeiten zu überweisen, die der Mieter je-     erfasst (Cronbachs α = .83): «Ich finde, dass Straf-
doch gar nicht hätte bezahlen müssen.                  täter bei uns viel zu sanft angefasst werden.»; «Auf
                                                       den Verstoß gegen Gesetze und Normen in unserer
                                                       Gesellschaft sollte man mit größtmöglicher Härte
Messinstrumente                                        reagieren.»; «Ich finde, dass dem von vielen Men-
                                                       schen geäußerten Ruf nach härteren Strafen nicht
Strafziele. Die Untersuchungsteilnehmer wurden         nachgekommen werden sollte.»; «Mit harten Stra-
gebeten, Aussagen zu Strafzielen nach ihrer Wich-      fen ist niemandem gedient, nicht dem Opfer, nicht
tigkeit in eine Rangreihe zu bringen. Erfasst wur-     dem Täter und schon gar nicht der Gesellschaft.»
den die Ziele negative Spezialprävention («Der         Die Antworten wurden auf einer 5-stufigen Skala
Täter soll davor abgeschreckt werden, in Zukunft       erfasst, und sind hier kodiert mit Werten zwischen
wieder so eine Straftat zu begehen.»), Resoziali-      0 (stimme nicht zu) und 4 (stimme zu).
sierung («Dem Täter soll geholfen werden, künftig
ein straffreies Leben führen zu können.»), Vergel-
tung («Der Täter soll für das begangene Unrecht
seiner Schuld entsprechend büßen.»), Wiedergut-        Ergebnisse
machung («Der Täter soll den Schaden, den er an-
gerichtet hat, wiedergutmachen.»), negative Ge-        Die Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilneh-
neralprävention («Es sollen andere Personen da-        mer bearbeiteten den Fragebogen jeweils nur für ei-
vor abgeschreckt werden, ähnliche Straftaten zu        ne der drei Fallgeschichten. Es wurde deshalb zu-
begehen.») und positive Generalprävention («Es         nächst geprüft, ob sich die Zusammenhangsstruktu-
soll das Rechtsbewusstsein in der Bevölkerung ge-      ren der Variablen in Abhängigkeit von der
stärkt werden.»). Die Ränge sind kodiert mit Wer-      vorgelegten Fallgeschichte unterscheiden. Hierzu
ten zwischen 1 (unwichtigstes Ziel) und 6 (wich-       wurde ein Test auf Gleichheit der Korrelationsmat-
tigstes Ziel).                                         rizen für unabhängige Stichproben durchgeführt.
   Fallbezogene Strafhärte. Die Untersuchungs-         Beide üblichen Diskrepanzstatistiken (Generalized
teilnehmer beurteilten eine vorgegebene gerichtli-     Least Squares, GLS; Maximum Likelihood, ML)
che Strafzumessung (8 Monate Freiheitsstrafe auf       ergaben, dass sich die drei Korrelationsmatrizen
Bewährung; dies entspricht bezogen auf die ge-         nicht signifikant unterscheiden (GLS: χ² = 86.49,
schilderten Fälle in etwa der üblichen Strafe)         df = 90, p = .585; ML: χ² = 93.74, df = 90, p = .373).
durch eine Markierung auf einer 11.7 cm langen         Auf weitere deliktspezifische Analysen kann also

                                                                ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
232                             Margit E. Oswald et al.: Mikro- versus Makroperspektive

Tabelle 1. Untersuchung 1: Mittelwerte, Standardabweichungen und Korrelationen der erfassten Variablen (338 ≤ N ≤ 357)
Variablen                     M      SD      1    2      3      4           5           6         7            8             9           10
Strafziele
 1. Neg. Spezialprävention   3.42 1.41 1.00
 2. Resozialisierung         4.07 1.73 –.22** 1.00
 3. Vergeltung               4.02 1.67 .01 –.39** 1.00
 4. Wiedergutmachung         4.21 1.57 –.38** .07 –.06 1.00
 5. Neg. Generalprävention 2.51 1.50      .07 –.38** –.31** –.41** 1.00
 6. Pos. Generalprävention   2.78 1.55 –.34**–.20** –.29** –.29** .15** 1.00
Weitere Variablen
 7. Strafhärte               6.13 2.46 .06 –.23** .10 –.10          .19** .00 1.00
 8. Täterinteressen         24.41 14.81 –.07   .29**–.12* –.02 –.07** –.05 –.17** 1.00
 9. Opferinteressen         45.40 18.77 .09 –.06      .15** .14* –.10 –.22** .09 –.44** 1.00
10. Gesellschaftsinteressen 30.19 18.12 –.04 –.18** –.05 –.13* .16** .26** .04 –.36** –.68** 1.00
11. Punitivität              1.97 1.15 .28** –.40** .22** –.14** .19** –.09     .28**–.35** .24** .04
Anmerkungen. * p < .05. ** p < .01. (2-seitig).

verzichtet werden. Im Folgenden werden direkt die
                                                                                                      1
deliktübergreifenden Ergebnisse berichtet.
   Tabelle 1 zeigt die Mittelwerte, Standardabwei-
                                                                                                               Gesellschaft
chungen und Korrelationen der erfassten Variab-                                        Pos. Generalpr.
len. Es fällt auf, dass fallbezogene Strafhärte und                                                0,5
                                                                                                                              Neg. Generalpr.

Punitivität mit der Vertretung der Gesellschaftsin-
teressen praktisch unkorreliert sind (jeweils r =
.04).
                                                                                                                            Strafhärte
   Anschließend berechneten wir eine Hauptkom-                                                        0
                                                                -1                   -0,5                  0                     0,5               1
ponentenanalyse über die Strafzielvariablen, Puni-                   Resozial.                                                            Punitivität
tivität, fallbezogene Strafhärte und die Variablen                                                                         Neg. Spez.

der relativen Gewichtung von Gesellschafts- und
                                                                                 Wiedergutm.      -0,5                     Vergeltung
Opferinteressen. Da aufgrund der vorgenomme-
nen Operationalisierung der relativen Gewichtung
von Gesellschafts-, Opfer- und Täterinteressen je-                                                                 Opfer
weils eine der drei Variablen von den Werten der
                                                                                                      -1
beiden anderen abhängig ist, wurde hier die Ge-
wichtung der Täterinteressen nicht mit in die Ana-           Abbildung 1. Untersuchung 1: Zweifaktorielle Lösung der
lyse einbezogen. Die Hauptkomponentenanalyse                 Hauptkomponentenanalyse für die Strafzielvariablen, fall-
über die genannten Variablen ergibt einen Eigen-             bezogene Strafhärte, Punitivität, Gesellschaftsinteressen und
werteverlauf mit vier Eigenwerten über 1 (2.25,              Opferinteressen (N = 334, Varianzaufklärung = 44.0 %).
2.15, 1.30, 1.20). Der Scree-Test spricht klar für
die Extraktion von zwei Faktoren (in Übereinstim-               Abbildung 1 zeigt das Ladungsmuster der Va-
mung mit Ergebnissen multidimensionaler Skalie-              riablen auf den zwei extrahierten Faktoren. Puni-
rung, vgl. Oswald, Hupfeld, Klug & Gabriel,                  tivität lädt positiv und hoch auf dem ersten Faktor,
2002). Die zweifaktorielle Lösung weist die in-              lädt wenig auf dem zweiten Faktor und kann des-
haltlich beste Interpretierbarkeit auf. Es werden            halb als Markiervariable des ersten Faktors gelten.
zwei Faktoren extrahiert mit anschließender Vari-            Die Strafhärte lädt etwas schwächer, aber aus-
max-Rotation, die Varianzaufklärung beträgt                  schließlich auf dem ersten Faktor. Die Gewich-
44.0 %. Die Kommunalität von zwei Variablen                  tung der Gesellschaftsinteressen lädt hingegen po-
liegt zwischen .20 und .29 (Vergeltung, Strafhär-            sitiv und hoch auf dem zweiten Faktor, lädt prak-
te), die Kommunalität von zwei weiteren Variab-              tisch nicht auf dem ersten Faktor und kann deshalb
len zwischen .30 und .39 (Wiedergutmachung, ne-              als Markiervariable des zweiten Faktors gelten.
gative Spezialprävention), die Kommunalitäten                Die beiden Faktoren werden deshalb als Strafhär-
der übrigen Variablen liegen über .40.                       tefaktor und als Gesellschaftsfaktor bezeichnet.

ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
Margit E. Oswald et al.: Mikro- versus Makroperspektive                              233

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                            1
                                                                          Varimax-Rotation, Varianzaufklärung 56.4 %; Ei-
                                     Pos. Generalpr.                      genwerteverlauf mit drei Eigenwerten über 1:
                                                                          1.84, 1.54, 1.20). Die Kommunalitäten liegen
                          0,5                           Neg. Generalpr.   sämtlich zwischen .50 und .65. Abbildung 2 zeigt
                                                                          das Ladungsmuster auf den extrahierten Faktoren.
       Resozial.
                                                                          Auf der einen Dimension liegen sich die beiden
                                                                          Strafziele positive Generalprävention und Vergel-
                            0                                             tung gegenüber und auf der anderen Dimension
  -1               -0,5          0                0,5                 1   die Strafziele Resozialisierung und Wiedergutma-
   Wiedergutm.                                                            chung den beiden Strafzielen negative Spezial-
                                                                          und negative Generalprävention. Die Lage der
                          -0,5
                                                   Neg. Spezialpr.        Strafziele zueinander bleibt im Vergleich zur ers-
                                                                          ten Faktorenanalyse weitgehend stabil.
                                     Vergeltung

                           -1                                             Diskussion
Abbildung 2. Untersuchung 1: Zweifaktorielle Lösung der                   Die Ergebnisse der ersten Untersuchung zeigen,
Hauptkomponentenanalyse für die Strafzielvariablen (N =
343, Varianzaufklärung = 56.4 %).
                                                                          dass die Strafzielpräferenzen juristischer Laien
                                                                          anhand zweier Dimensionen sinnvoll klassifizier-
                                                                          bar sind und dass es sich bei diesen Dimensionen
   Die Strafzielvariablen laden bis auf ein paar Ab-                      um einen Strafhärtefaktor handelt sowie um einen
weichungen weitgehend analog zur ersten Analyse                           Faktor, der die Bereitschaft der Person erfasst, bei
auf den beiden Faktoren: Ladungen auf dem Straf-                          ihren Strafüberlegungen die Gesellschaftsinteres-
härtefaktor weisen jetzt negative Spezialpräven-                          sen mehr oder weniger zu berücksichtigen.
tion (positiv) und Resozialisierung (negativ) auf.                           Ein Ziel der zweiten Untersuchung ist nun, wie
Eine positive Ladung auf dem Gesellschaftsfaktor                          bereits erwähnt, dieses Ergebnis mittels einer neuen
weist das Strafziel positive Generalprävention auf.                       Stichprobe und mittels teilweise veränderter Fallge-
Wiedergutmachung besitzt neben einer negativen                            schichten und Erhebungsverfahren zu replizieren.
Ladung auf dem Strafhärtefaktor auch eine nega-                           Zudem werden zwei weitere Variablen berücksich-
tive Ladung auf dem Gesellschaftsfaktor. Die ne-                          tigt, welche zum einen die Übernahme einer Mikro-
gative Generalprävention lädt sowohl auf dem                              versus Makroperspektive der retributiven Gerech-
Strafhärtefaktor als auch auf dem Gesellschafts-                          tigkeit und zum anderen die Bedrohung der Gesell-
faktor positiv. Die Vergeltung lädt hingegen auf                          schaft durch Kriminalität erfassen.
dem Strafhärtefaktor positiv und auf dem Gesell-
schaftsfaktor negativ.
   Die Opferinteressen laden vor allem auf dem Ge-
sellschaftsfaktor (negativ); die Ladungen sind dem                        Untersuchung 2
Strafziel der Vergeltung relativ ähnlich. Die Gesell-
schaftsinteressen schließlich werden wie berichtet                        Methode
als Markiervariable des Gesellschaftsfaktors ver-
wendet; die Ladungen sind dem Strafziel der posi-                         Stichprobe
tiven Generalprävention relativ ähnlich. Wird ent-
weder anstelle der relativen Gewichtung der Opfer-                        Die Stichprobe besteht aus N = 303 Studierenden
oder aber der Gesellschaftsinteressen die Gewich-                         unterschiedlicher Fakultäten der Universität Bern,
tung der Täterinteressen in die Analyse einbezogen,                       davon 80 Psychologiestudierende. Die Bearbeitung
so zeigt sich, dass diese ausschließlich auf dem                          des Fragebogens fand in den Räumen der Universi-
Strafhärtefaktor (negativ) laden.                                         tät statt. Die Untersuchungsteilnehmerinnen und -
   Zur weiteren Validierung berechneten wir eine                          teilnehmer erhielten eine geringe Aufwandsent-
Zweifaktorenlösung unter Einbezug lediglich der                           schädigung für die Teilnahme (20 Schweizer Fran-

                                                                                  ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
234                         Margit E. Oswald et al.: Mikro- versus Makroperspektive

ken). Das mittlere Alter der Befragten war 23.7 Jah-        Gewichtung der Täterinteressen, Opferinteres-
re (SD = 3.5, Range 19–48). 61 % der Befragten wa-       sen und Gesellschaftsinteressen. Die Untersu-
ren Frauen, 39 % waren Männer.                           chungsteilnehmer gaben an, welche Bedürfnisse
                                                         und Interessen bei der staatlichen Reaktion für sie
                                                         im Vordergrund stehen. Drei Items waren zu be-
Fallgeschichten                                          antworten, bei denen von den Befragten jeweils
                                                         100 Punkte zwischen Opfer und Täter, zwischen
Den Untersuchungsteilnehmern wurde ein Aus-              Gesellschaft und Täter, und zwischen Opfer und
schnitt aus einem für diese Untersuchung erstell-        Gesellschaft aufzuteilen waren. Diese im Ver-
ten Radiointerview zur Kriminalitätsentwicklung          gleich zu Untersuchung 1 veränderte Vorgehens-
vorgespielt, in dem unter anderem Informationen          weise bei der Messung wurde gewählt, da sich ge-
zu einem konkreten Fall gegeben wurden (je die           zeigt hatte, dass einige Untersuchungsteilnehmer
Hälfte der Befragten hörte eine Fallgeschichte zu        mit der Aufteilung von 100 Punkten auf drei Ob-
einem Vergewaltigungsdelikt bzw. einem Betrugs-          jekte Schwierigkeiten hatten. Als Mass der Ge-
delikt; die Fallgeschichte zur Vergewaltigung ist        wichtung der Täterinteressen wird dann die mitt-
exemplarisch im Anhang abgedruckt). Der Täter            lere Punktzahl verwendet, die der Täter in den
war stets männlich, das Opfer stets weiblich. Der        zwei entsprechenden Vergleichen (Opfer und Tä-
Täter war jeweils ca. 40 Jahre alt und besaß die         ter; Gesellschaft und Täter) erhielt. Entsprechend
einheimische Staatsangehörigkeit. Beim Verge-            wurden die Werte für die Variablen Opferinteres-
waltigungsdelikt wurde die Besitzerin einer Buch-        sen und Gesellschaftsinteressen ermittelt. Der
handlung im Lager von einem Kunden unter Ein-            Wertebereich für jede dieser Variablen liegt also
satz körperlicher Gewalt überfallen. Beim Be-            zwischen 0 und 100 Punkten. Bei dieser Vorge-
trugsdelikt konnte ähnlich wie in der ersten             hensweise ist wiederum eine der drei Dimensio-
Untersuchung ein Mitarbeiter einer Baufirma mit-         nen von den anderen linear abhängig und vollstän-
tels gefälschter Dokumente eine ältere Bewohne-          dig vorhersagbar. Wie in Untersuchung 1 werden
rin eines Mietshauses überzeugen, ihm 10.000             deshalb die Faktorenanalysen lediglich mit zwei
Schweizer Franken für Renovierungsarbeiten zu            der drei Dimensionen gerechnet.
überweisen, welche die Mieterin jedoch gar nicht            Punitivität. Die Punitivität wurde mit 4 Items
hätte bezahlen müssen.                                   identisch zu Untersuchung 1 erfasst (Cronbachs
                                                         α = .87). Die Antworten wurden auf einer 7-stufi-
                                                         gen Skala erfasst, und sind hier kodiert mit Werten
Messinstrumente                                          zwischen 1 (stimme gar nicht zu) und 7 (stimme
                                                         völlig zu).
Strafziele. Die Strafziele wurden mit Items iden-           Einnahme einer Mikro- versus Makroperspekti-
tisch zu Untersuchung 1 erfasst; die Ränge sind          ve. Die Skala wurde aus 6 Items gebildet (Cron-
kodiert mit Werten zwischen 1 (unwichtigstes             bachs α = .71): «Bei Strafentscheidungen ist es
Ziel) und 6 (wichtigstes Ziel).                          wichtig, vom konkreten Fall zu abstrahieren, und
   Fallbezogene Strafhärte. In Untersuchung 2            sich zu überlegen, wie aus gesamtgesellschaftli-
wurde im Vergleich zu Untersuchung 1 eine ande-          cher Perspektive auf solche Delikte reagiert wer-
re Methode und andere Items zur Messung der              den sollte.»; «Man kommt am ehesten zu einem
fallbezogenen Strafhärte verwendet. Die Untersu-         gerechten Urteil, wenn man nur den konkreten Fall
chungsteilnehmer beurteilten eine vorgegebene            berücksichtigt und sich auf die legitimen Interes-
gerichtliche Strafzumessung (7 Jahre Freiheits-          sen der unmittelbar Beteiligten konzentriert.»;
strafe; dies entspricht bezogen auf die geschilder-      «Eine Strafe oder alternative Maßnahme ist im
ten Fälle einer schweren Strafe) mit vier Items          Einzelfall nur dann gerecht, wenn sie auch allge-
(Cronbachs α = .91). Beispielsweise erfasste ein         mein, d. h. auf andere vergleichbare Fälle ange-
Item, ob die Strafe als viel zu hart oder als viel zu    wendet werden kann.»; «Man sollte am Einzelfall
mild bewertet wurde. Die Antworten wurden auf            interessiert sein und sich weniger darum küm-
einer 7-stufigen Skala erfasst, und sind hier kodiert    mern, welche gesellschaftlichen Auswirkungen es
mit Werten zwischen 1 (geringe Strafhärte) und 7         hat, wenn man generell (auch in anderen Fällen)
(hohe Strafhärte).                                       so handeln würde.»; «Stellen Sie sich vor, es wür-

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Margit E. Oswald et al.: Mikro- versus Makroperspektive                         235

de für die berichtete Straftat eine Strafe gefunden     tionsmatrizen für unabhängige Stichproben durch-
werden, die sowohl der Täter als auch das Opfer         geführt. Die Diskrepanzstatistiken ergaben, dass
als gerecht und angemessen empfinden. Vor einem         sich die zwei Korrelationsmatrizen nicht signifi-
höheren Gericht (einer höheren Instanz) aber wird       kant unterscheiden (GLS: χ² = 64.11, df = 66, p =
diese Strafe abgewiesen, mit der Begründung,            .543; ML: χ² = 70.98, df = 66, p = .315). Auf wei-
dass Sie keiner Strafe entspricht, wie sie normaler-    tere deliktspezifische Analysen kann also auch in
weise in solchen Fällen verhängt wird. Wie beur-        Untersuchung 2 verzichtet werden. Im Folgenden
teilen Sie die Entscheidung des höheren Ge-             werden direkt die deliktübergreifenden Ergebnisse
richts?»; «Ich finde, dass man diesen Fall im Ver-      berichtet.
gleich zu anderen Fällen bewerten sollte, um zu            Tabelle 2 zeigt Mittelwerte, Standardabwei-
einem gerechten Urteil zu kommen.» Die Antwor-          chungen und Korrelationen der erfassten Variab-
ten wurden auf einer 7-stufigen Skala erfasst, und      len. Die Korrelationen zeigen, dass die fallbezoge-
sind hier kodiert mit Werten zwischen 1 (stimme         ne Strafhärte bzw. Punitivität sowohl mit der Ein-
gar nicht zu bzw. völlig falsch) und 7 (stimme völ-     nahme einer Mikro- versus Makroperspektive als
lig zu bzw. völlig richtig).                            auch mit Gesellschaftsinteressen praktisch unkor-
   Bedrohung der Gesellschaft durch Kriminalität.       reliert sind (Korrelationen von r = -.07 bis r = .12).
Die Skala wurde aus 6 Items gebildet (Cronbachs         Die Korrelationen zeigen des weiteren, dass auch
α = .75): «Durch solche Handlungen, wie die des         die Variable Gesellschaftsbedrohung mit der Ein-
Täters, verlieren die Menschen das Vertrauen zu-        nahme einer Mikro- versus Makroperspektive un-
einander und kapseln sich immer mehr voneinan-          korreliert ist (r = .02).
der ab.»; «Unrechtmäßige Handlungen wie diese              Eine Hauptkomponentenanalyse über alle Va-
bringen die Normen der Gesellschaft ins Wanken,         riablen ergibt einen Eigenwerteverlauf mit vier Ei-
weil es heutzutage normal geworden ist, dass jeder      genwerten über 1 (2.59, 2.18, 1.39, 1.10). Der
seine eigenen Spielregeln aufstellt.»; «Durch Per-      Scree-Test legt bei diesem Verlauf die Extraktion
sonen wie diesen Täter wird der Umgang in unse-         zweier Faktoren nahe. Probeweise werden zwei
rer Gesellschaft immer rauer und respektloser und       Faktorenlösungen mit zwei und drei Faktoren be-
damit das Zusammenleben verschlechtert.»; «Ei-          rechnet. Die Extraktion zweier Faktoren ergibt ei-
ne Straftat wie diese kann der Gesellschaft keinen      ne Varianzaufklärung von 39.7 %, die Extraktion
Schaden zufügen, weil die Menschen hier in der          dreier Faktoren 51.3 %. Ladungen und Kommuna-
Schweiz im allgemeinen die Normen der Gesell-           litäten der zwei- und dreifaktoriellen Lösung mit
schaft respektieren.»; «Normbrüche wie diese hat        Varimax-Rotation werden in Tabelle 3 dokumen-
es schon immer gegeben. Die Gesellschaft hat da-        tiert. Wird ein dritter Faktor extrahiert, so fallen im
ran bislang keinen Schaden genommen und wird            Vergleich zur zweifaktoriellen Lösung die Straf-
das auch in Zukunft nicht tun.»; «Die grundlegen-       ziele negative Spezialprävention, Wiedergutma-
den moralischen Werte sind in unserer Gesell-           chung und negative Generalprävention aus dem
schaft so tief verankert, dass sie durch Straftaten     ersten Faktor heraus und bilden den dritten Faktor.
wie diese nicht ernsthaft bedroht sind.» Die Ant-       Bei diesen Variablen liegen die Kommunalitäten
worten wurden auf einer 7-stufigen Skala erfasst,       in der dreifaktoriellen Lösung wesentlich höher
und sind hier kodiert mit Werten zwischen 1 (stim-      als in der zweifaktoriellen Lösung. Für die übrigen
me gar nicht zu) und 7 (stimme völlig zu).              Variablen bestehen hingegen zwischen der zwei-
                                                        und dreifaktoriellen Lösung keine wesentlichen
                                                        Unterschiede bei den Ladungen.
Ergebnisse                                                 Die zweifaktorielle Lösung weist inhaltlich die
                                                        bessere Interpretierbarkeit auf. In Abbildung 3 wird
Die Untersuchungsteilnehmer bekamen jeweils             deshalb das Ladungsmuster der Variablen bei der
nur eine der zwei Fallgeschichten zur Beurteilung       zweifaktoriellen Lösung gezeigt. Punitivität lädt po-
vorgelegt. Es wurde deshalb wie in Untersuchung         sitiv und hoch auf dem ersten Faktor, lädt nicht auf
1 zunächst geprüft, ob sich die Zusammenhangs-          dem zweiten Faktor und kann deshalb erneut als
strukturen der Variablen in Abhängigkeit von der        Markiervariable des ersten Faktors gelten. Die
vorgelegten Fallgeschichte unterscheiden. Hierzu        Strafhärte lädt etwas schwächer, aber dennoch deut-
wurde erneut ein Test auf Gleichheit der Korrela-       lich auf dem ersten Faktor. Erwartungsgemäß zeigte

                                                                 ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
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                                                                                                      Gesellschaft
                                                                              Pos. Generalpr.
                                                                                                          Makroger.
                                                                                          0,5                             Neg. Generalpr.

                                                                                                       Neg. Spez.            Punitivität
                                                                                            0
                                                            -1               -0,5                0                  0,5                    1
                                                                                                     Gesellsch.bedr.        Strafhärte
                                                                 Resozial.

                                                                     Wiedergutm.                                     Vergeltung
                                                                                          -0,5
                                                                                                                          Opfer

                                                                                            -1

                                                         Abbildung 3. Untersuchung 2: Zweifaktorielle Lösung der
                                                         Hauptkomponentenanalyse für die Strafzielvariablen, fall-
                                                         bezogene Strafhärte, Punitivität, Gesellschaftsinteressen,
                                                         Opferinteressen, Makrogerechtigkeit und Bedrohung der
                                                         Gesellschaft durch Kriminalität (N = 299, Varianzaufklä-
                                                         rung = 39.7 %).

                                                         sich, dass sowohl die Gewichtung der Gesell-
                                                         schaftsinteressen als auch die Einnahme einer Mik-
                                                         ro- versus Makroperspektive positiv und hoch auf
                                                         dem zweiten Faktor, aber praktisch nicht auf dem
                                                         ersten Faktor laden. Sie können deshalb als Mar-
                                                         kiervariablen des zweiten Faktors gelten. Dies
                                                         brachte uns dazu, den zweiten Faktor nicht mehr als
                                                         Gesellschaftsfaktor, sondern als Mikro-Makrofak-
                                                         tor zu bezeichnen. Der erste Faktor bleibt analog zur
                                                         ersten Untersuchung der Strafhärtefaktor.
                                                            Die Strafzielvariablen laden folgendermaßen:
                                                         Ausschließliche Ladungen auf dem Strafhärtefaktor
                                                         weist die negative Spezialprävention auf. Aus-
                                                         schließliche Ladungen auf dem Mikro-Makrofaktor
                                                         weist die positive Generalprävention auf. Die nega-
                                                         tive Generalprävention lädt sowohl auf dem Straf-
                                                         härtefaktor als auch auf dem Mikro-Makrofaktor
                                                         positiv. Die Vergeltung lädt hingegen auf dem Straf-
                                                         härtefaktor positiv und auf dem Mikro-Makrofaktor
                                                         negativ. Resozialisierung und Wiedergutmachung
                                                         laden sowohl auf dem Strafhärtefaktor als auch auf
                                                         dem Mikro-Makrofaktor negativ.
                                                            Die Opferinteressen laden auf dem Strafhärte-
                                                         faktor (positiv) und auf dem Mikro-Makrofaktor
                                                         (negativ); die Ladungen sind dem Strafziel der
                                                         Vergeltung relativ ähnlich. Die Gesellschaftsinte-
                                                         ressen und die Mikro- versus Makroperspektive

ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
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Tabelle 3. Untersuchung 2: Faktorenladungen und Kommunalitäten der Variablen bei zweifaktorieller und dreifaktorieller
Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation (N = 299).
                                          Zweifaktorielle Lösung       Dreifaktorielle Lösung
Variablen                                 F1    F2       h2            F1     F2      F3     h2
Strafziele
  Negative Spezialprävention               .27   –.03   .07             .02    –.25    .61    .43
  Resozialisierung                        –.60   –.19   .39            –.65    –.30   –.06    .51
  Vergeltung                               .37   –.47   .36              .62   –.25   –.38    .59
  Wiedergutmachung                        –.47   –.35   .34            –.13    –.13   –.76    .61
  Negative Generalprävention               .57    .45   .52              .26    .28    .72    .66
  Positive Generalprävention              –.01    .68   .46             –.06    .70    .08    .49
Weitere Variablen
  Strafhärte                               .59   –.16   .38             .57    –.14    .20    .38
  Opferinteressen                          .53   –.58   .61             .51    –.59    .17    .63
  Gesellschaftsinteressen                  .03    .69   .48             .05     .77   –.02    .59
  Punitivität                              .78    .00   .61             .78     .08    .19    .65
  Makroperspektive                         .11    .53   .30             .07     .56    .09    .32
  Gesellschaftsbedrohung                   .48   –.07   .24             .52     .00    .04    .27
  Varianzaufklärung (%)                   21.6   18.2   –              19.7    17.2   14.5   –
Anmerkungen. Ladungen ≥ .45 sind fettgedruckt.

werden wie berichtet als Markiervariablen des                 der Straftat beteiligten Personen (Mikrogerechtig-
Mikro-Makrofaktors verwendet; die Ladungen                    keit) hergestellt werden soll.
sind dem Strafziel der positiven Generalpräven-
tion relativ ähnlich. Die Variable Gesellschaftsbe-
drohung lädt konsistent mit dem bivariaten Korre-
lationsmuster ausschließlich auf dem Strafhärte-              Allgemeine Diskussion
faktor. Wird entweder anstelle der relativen
Gewichtung der Opfer- oder aber der Gesell-                   Die Ergebnisse beider Untersuchungen konnten
schaftsinteressen die Gewichtung der Täterinte-               klar belegen, dass den Präferenzen für einzelne
ressen in die Analyse einbezogen, so zeigt sich,              Strafziele eine zweidimensionale Struktur zugrun-
dass diese vor allem auf dem Strafhärtefaktor (ne-            de liegt. Trotz unterschiedlicher Populationen,
gativ) laden.                                                 verschiedener Delikte und teilweise anderer Erhe-
                                                              bungsverfahren weisen beide Untersuchungen ei-
                                                              ne hohe Übereinstimmung bei den statistischen
Diskussion                                                    Parametern auf (bivariate Korrelationen, Varianz-
                                                              aufklärung der extrahierten Faktoren, Faktorenla-
Die Ergebnisse der zweiten Untersuchung zeigen                dungen der Variablen). Und die zweifaktorielle
in Übereinstimmung mit der ersten Untersuchung,               Lösung einer Hauptkomponentenanalyse über alle
dass die Strafzielpräferenzen von juristischen Lai-           verwendeten Variablen hinweg lässt sich jeweils
en anhand zweier Dimensionen sinnvoll klassifi-               als Kombination zweier unabhängiger Dimensio-
ziert werden können. Bei der ersten den Strafzie-             nen interpretieren. Auf die Frage, wie diese Di-
len zugrunde liegenden Dimension handelt es sich              mensionen inhaltlich zu interpretieren sind, kann
um einen Strafhärtefaktor. Die zweite Dimension,              ebenfalls klar geantwortet werden, dass es sich im
in der ersten Untersuchung als Gesellschaftsfaktor            einen Fall um einen Strafhärtefaktor und im ande-
bezeichnet, wurde aufgrund des Einbezugs einer                ren um einen Faktor der Beurteilungsperspektive
weiteren Markiervariable in der zweiten Untersu-              handelt. In der Literatur taucht der Gedanke der
chung in Mikro-Makrofaktor umbenannt. Mit die-                beim Strafen eingenommen Beurteilungsperspek-
ser Variable wurde die Überzeugung erfasst, ob                tive bisher in unterschiedlichen Kontexten auf.
Strafgerechtigkeit eher aus einer allgemeinen und             Vidmar und Miller (1980) beispielsweise sprechen
vergleichenden Perspektive (Makrogerechtigkeit)               von der Objektdichotomie «Täter versus Gesell-
oder aber eher aus der Perspektive der konkret an             schaft» und Tyler et al. (1997) von einer «Mikro-

                                                                      ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
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versus Makroperspektive der Gerechtigkeit». Bis-          Untersuchung repliziert werden. Jedoch scheinen
her war jedoch unklar, ob und wie diese beiden            die Bedrohungsgefühle, also die Sorge um den ge-
Klassifikationsansätze in Beziehung zueinander            sellschaftlichen Zusammenhang und die Erosion
stehen. Es war aber auch unklar, wie die Bezie-           von Normen und Werten, weder mit der Überzeu-
hung zwischen Beurteilungsperspektive und                 gung verbunden zu sein, dass man beim Strafen
Strafhärte aussieht.                                      vor allem die Gesellschaftsinteressen vertreten
   Aufgrund der vorliegenden Untersuchungser-             solle, noch mit der Übernahme einer Makroper-
gebnisse kann gezeigt werden, dass beide Ansätze          spektive, wie dies Tyler et al. (1997) vermuten.
der Beurteilungsperspektive nur sehr begrenzt mit-        Die Strafüberlegungen der Personen, die in beson-
einander übereinstimmen. So ist die Einnahme einer        derem Masse eine Gesellschaftsbedrohung durch
Makroperspektive zwar eng mit einer relativ starken       Kriminalität wahrnehmen, scheinen sich eher um
Gewichtung von Gesellschaftsinteressen verbun-            den einzelnen Täter, bzw. die Gruppe der Täter zu
den, die Einnahme einer Mikroperspektive besagt           zentrieren. Und dies nicht etwa im Sinn einer Be-
jedoch nicht zwangsläufig, dass die Täterinteressen       rücksichtigung ihrer (legitimen) Interessen, son-
im Vordergrund stehen. Dies müsste aber klarerwei-        dern im Sinn ihrer Ausgrenzung aus der Gesell-
se der Fall sein, wenn der Ansatz der Mikro-Mak-          schaft. Hierfür spricht auch die von Tyler und
roperspektive und der Ansatz der Objektdichotomie         Boeckmann (1997) gefundene enge Beziehung
«Täter versus Gesellschaft» vollständig ineinander        zwischen wahrgenommener Gesellschaftsbedro-
überführbar wären. Die Übernahme einer Mikroper-          hung und der Bereitschaft, den Straftäter sozial
spektive legt nicht eindeutig fest, auf welche «Kon-      auszugrenzen, bzw. ihm prozedurale Rechte des
fliktparteien» sich die Gerechtigkeitsüberlegungen        Strafverfahrens vorzuenthalten.
beziehen. Insbesondere durch die erste Untersu-              Die beiden unabhängigen Dimensionen Strafhär-
chung wird sogar nahegelegt, dass eine Mikroper-          te und Mikro- versus Makroperspektive (bzw. Ge-
spektive tendenziell eher mit der Übernahme einer         sellschaftsinteressen) können die Strafziele auf eine
Opfer- als einer Täterperspektive verbunden sein          überzeugende Weise strukturieren: Resozialisie-
könnte. Ob beide Parteien, also Opfer und Täter,          rung und negative Spezialprävention markieren die
gleichermaßen berücksichtigt werden, oder aber ein        beiden Endpunkte der Strafhärtedimension. Aber
Bias für entweder das Opfer oder den Täter besteht,       auch das Strafziel der Vergeltung geht mit einer ho-
ist letztendlich aber erst in Kombination mit der je-     hen Strafhärte einher, grenzt sich gegenüber der ne-
weiligen Strafhärte zu bestimmen. Eine geringe            gativen Spezialprävention aber durch eine höhere
Strafhärte geht mit einem Bias für den Täter, eine        Bereitschaft ab, die Interessen des konkreten Opfers
höhere Strafhärte hingegen mit einem Opferbias            im Fokus der Aufmerksamkeit zu haben. Dies ver-
einher. Somit ist mit der Übernahme einer Mikro-          weist auf die grundlegende Auffassung, dass mit
perspektive auch nicht zwangsläufig die Überzeu-          dem Ziel der Vergeltung vor allem die Würde des
gung verbunden, dass Gerechtigkeit aus der Per-           Opfers wieder hergestellt werden soll (vgl. Heider,
spektive aller Beteiligter herzustellen ist. Dieser Be-   1958). Die positive Generalprävention liegt nahe
fund macht zudem deutlich, dass das Konstrukt der         bei den Gesellschaftsinteressen, bzw. der Makro-
Mikro-Makroperspektive etwas Unterschiedliches            perspektive retributiver Gerechtigkeit. Dies trifft
bedeutet, je nachdem, ob distributive oder aber re-       auch für die negative Generalprävention zu, welche
tributive Gerechtigkeit wieder hergestellt werden         allerdings in Abgrenzung zur positiven Generalprä-
soll.                                                     vention mit einer recht hohen Strafhärte verbunden
   Die Ergebnisse beider Untersuchungen zeigen            ist. Die Wiedergutmachung schließlich ist eher mit
andererseits aber auch, dass die Vertretung einer         einer Mikroperspektive verbunden und liegt in etwa
Mikro- oder Makroperspektive (bzw. der Gesell-            zwischen der Wahrnehmung von sowohl Täter- wie
schaftsinteressen) unabhängig davon ist, wie hart         Opferinteressen.
Personen auf den Normbruch reagieren. Die Un-                Einschränkend ist zu berücksichtigen, dass in
abhängigkeit beider Dimensionen widerspricht              beiden Untersuchungen in den durchgeführten
den zentralen Annahmen von Tyler et al. (1997).           Faktorenanalysen lediglich etwa 40 % der Varianz
Es kann zwar der postulierte positive Zusammen-           aufgeklärt wurden (unter Einbezug aller Variab-
hang zwischen Strafhärte und wahrgenommener               len; bei Einbezug lediglich der Strafzielvariablen
Gesellschaftsbedrohung im Rahmen der zweiten              liegt die Varianzaufklärung höher). Natürlich wür-

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de die Extraktion eines dritten Faktors die Varianz-    des Täter-Opfer-Ausgleichs mehr als dies bei der
aufklärung erhöhen. Allerdings zeigt die explora-       Gemeinnützigen Arbeit der Fall ist, auch zusätz-
tive dreifaktorielle Analyse in Untersuchung 2,         lich von der Bereitschaft zur Übernahme einer
dass ein dritter Faktor inhaltlich nur schwer zu er-    Mikroperspektive abhängen. Hinsichtlich der Me-
klären ist, während das Ladungsmuster der ersten        dienberichterstattung wäre beispielsweise zu er-
beiden Faktoren in etwa unverändert bleibt. Fest-       warten, dass die Manipulation von Bedrohungsge-
zuhalten bleibt weiterhin, dass die Zustimmung zu       fühlen, aber auch eine stärker individualisierte Be-
bestimmten Strafzielen lediglich einen eher klei-       schreibung der Straftat deutliche Auswirkungen
nen Teil der Varianz der geforderten Strafhärte er-     auf die Präferenz von Strafzielen haben. Zuneh-
klären kann (vgl. Endres, 1992a, 1992b; Weiner et       mende Bedrohungsgefühle dürften vor allem Ab-
al., 1997). Für eine Analyse der Determinanten der      schreckungsziele salient machen und eine stärkere
Strafhärte sind weitere Personvariablen (z. B. Al-      Individualisierung die Mikroperspektive in den
ter, Geschlecht, Konservatismus) und fallbezoge-        Vordergrund rücken. Ob es im letztgenannten Fall
ne Beurteilungen der Deliktschwere, der Schuld,         aber gleichzeitig zu einer Strafmilderung kommt,
des Täterverhaltens nach der Tat wie z. B. Reue         wird auch davon abhängen, mit welcher Ausführ-
und die Bitte um Verzeihung zu berücksichtigen          lichkeit entweder über den Täter oder aber das Op-
(vgl. Gabriel & Greve, 1996). In der vorliegenden       fer berichtet wird. So weisen einige Befragungser-
Analyse geht es jedoch weniger um die Erklärung         gebnisse darauf hin, dass es tatsächlich zu milde-
von Strafhärte als um die dimensionale Strukturie-      ren Strafen kommt, wenn nicht nur abstrakt über
rung der Strafziele, und hier kann es als ein zent-     eine Straftat, sondern auch über die Person des Tä-
rales Ergebnis angesehen werden, dass manche            ters und die Tatumstände berichtet wird (Zamble
Strafziele, wie z. B. die positive Generalpräven-       & Kalm, 1990). Ob entsprechend härtere Strafen
tion, nahezu unabhängig von der geforderten             gefordert werden, wenn nicht nur abstrakt über ei-
Strafhärte sind, während andere, wie z. B. Reso-        ne Straftat berichtet wird, sondern das Opfer und
zialisierung oder negative Spezialprävention, ei-       die Tatfolgen im Fokus stehen, wäre zu überprü-
nen wichtigen Beitrag zur Erklärung der indivi-         fen.
duellen Strafhärteunterschiede liefern.
   Es wird die Aufgabe weiterführender Untersu-
chungen sein, die Interpretation zu erhärten, dass      Autorenhinweis
interindividuelle und kontextbedingte Unterschie-
de in der Strafzielpräferenz im wesentlichen damit      Die Volkswagenstiftung hat die Untersuchungen
zusammenhängen, dass einerseits das Bedürfnis           finanziell gefördert. Die Daten von Untersuchung
nach harten Strafen variiert und andererseits ver-      1 wurden teilweise in Oswald et al. (2002) veröf-
schiedene Gerechtigkeitsperspektiven eingenom-          fentlicht. Die Autoren danken Marianne Aeber-
men werden. Die in den Untersuchungen identifi-         hard, Stefan Klug und Eliane Schneider für ihre
zierte zweidimensionale Strafzielstruktur könnte        Mitarbeit bei den Untersuchungen.
neben dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn
auch praktischen Nutzen haben. So könnte man
beispielsweise Prognosen darüber aufstellen, wel-
che Personengruppen bestimmte Strafrechtsrefor-
men mehr oder weniger akzeptieren, oder Progno-         Literaturverzeichnis
sen darüber erstellen, wie sich bestimmte Formen
der Medienberichterstattung auf die Veränderung         Berkowitz, L. (1990). On the formation and regulation of
von Strafzielpräferenzen auswirken. Die Akzep-             anger and aggression. American Psychologist, 45,
                                                           494–503.
tanz von Strafrechtsreformen, wie beispielsweise
                                                        Berkowitz, L. (1993). Aggression: Its causes, conse-
die Einführung der Gemeinnützigen Arbeit (GA)              quences, and control. New York: McGraw-Hill.
anstelle von Kurzfreiheitsstrafen (vgl. Kunz,           Brickman, P., Folger, R., Goode, E. & Schul, Y. (1981).
1986; Kunz & Witzleben, 1996) oder die Möglich-            Microjustice and macrojustice. In M.J. Lerner & S.C.
keit zum außergerichtlichen Täter-Opfer-Aus-               Lerner (Eds.), The justice motive in social behavior
gleich (Lamnek, 1994), sollte negativ mit der              (pp. 173–202). New York: Plenum.
Strafhärte variieren. Jedoch dürfte die Akzeptanz       Endres, J. (1992a). Einstellungen zu Straf- und Sanktions-

                                                                 ZFSP 34 (4), 2003, © Verlag Hans Huber, Bern
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