Mit Mütze, Bier und Suppe Gemeinsam gegen Leerstand
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Mit Mütze, Bier und Suppe Gemeinsam gegen Leerstand Roland Gruber, nonconform architektur vor ort Beinahe jede Anfrage, die ein Bürgermeister in den letzten Jahren an unser Büro richtete, widmete sich der Frage, wie mit den Leerständen in der eigenen Stadt oder Gemeinde umzugehen sei. Denn das Phänomen der aussterbenden Ortskerne ist nicht zu übersehen. „Durch die rapide Überalterung im ländlichen Raum und die jahrzehntelange monofunktionale Siedlungserweiterung an den Ortsrändern kommt es schnell zum Donut-Effekt“, erklärt Hilde Schröteler-von Brandt, Professorin an der Universität Siegen. „Das bedeutet, dass sich zuerst die identitätsprägenden Ortszentren entleeren. Wo die Einwohner fehlen, rutschen auch die Handelsflächen mit ins Donut-Loch.“ Doch Leerstand ist mehr als das landesweite Aussterben von Ortskernen. Von Verfall und Unternutzung betroffen sind auch Ställe, alte Speicherbauten und nicht mehr genutzte Höfe, Fabriken, die aufgrund des Strukturwandels in Landwirtschaft und Industrie aufgelassen werden mussten, öffentliche Bauten, in die Jahre gekommene Einfamilienhaussiedlungen sowie monostrukturelle Gewerbegebiete der letzten Jahrzehnte. Die Beschäftigung mit Schrumpfungsprozessen und mit der Transformation des baulichen Bestands stellt die Planung vor vollkommen neue Herausforderungen. „Die Raumplanung, eine Disziplin, die sich unter den Bedingungen fordistischen Wachstums entwickelt hat, steht angesichts des tiefgreifenden strukturellen ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels vor großen Herausforderungen“, stellt Rudolf Scheuvens, Professor für Örtliche Raumplanung und Stadtentwicklung an der Technischen Universität Wien, im Rahmen der Österreichischen Leerstandskonferenz fest. „Dies vor allem dann, wenn die Voraussetzungen des steten Wachstums nicht mehr zutreffen.“ Die Auseinandersetzung mit der Leerstandsproblematik wirft komplexe Fragen über die Produktion und den Gebrauch der gebauten Umwelt auf: Wie kann Leerstand erfasst werden? Welche Ursachen liegen diesem immer häufiger auftretenden Phänomen zugrunde? Welche Strategien können Gemeinden und Städte ergreifen, um Leerständen vorzubeugen? Vor allem aber: Welche neuen Planungsmethoden müssen entwickelt werden, um einen konstruktiven Umgang mit den Potenzialen leerstehender Räume zu fördern? Und wie können die Bürgerinnen und Bürger in den Lösungsprozess konstruktiv miteinbezogen werden? Mit der vor ort ideenwerkstatt®, einer neuen, von uns entwickelten Planungsmethode versuchen wir, all diese Fragen mithilfe jener Menschen zu beantworten, die mit der Problematik am besten und längsten vertraut sind – mit den Bewohnerinnen und Bewohnern, mit den Nutzerinnen und Nutzern. Der Clou dabei: Wir verlassen unsere Schreibtische und bauen direkt vor Ort unser 1
temporäres Büro auf. Gemeinsam mit den Betroffenen erarbeiten wir live, also in Echtzeit, eine Handvoll maßgeschneiderter Konzepte. Nach nur drei Tagen voller Ideen, Interviews und Inspirationen und der Analyse von oft tausenden Ideen wird die konkrete Lösung in einem gemeinschaftlichen Verdichtungsakt entwickelt, um unmittelbar darauf auf Herz und Nieren geprüft zu werden. Mütze, Bier und Suppentopf sind dabei wichtige alltägliche Bausteine, auf die wir in den World Cafés und Besprechungsrunden zurückgreifen, um die Hemmschwelle zu überwinden und der Kreativität der Bürgerinnen und Bürger auf die Sprünge zu helfen. Das gemeinsame Entwickeln von Zukunft darf durchaus Freude bereiten und auch mal Spaß machen. In der letzten Ausgabe von oö.Planet (01/14) wird uns attestiert, „die Bürgerbeteiligung quasi neu erfunden“ zu haben. Auch so ein Feedback macht Freude. Im Rahmen unserer Arbeit mit der vor ort ideenwerkstatt® sind in den letzten Jahren einige Projekte beziehungsweise Projektinitiativen entstanden, die im Umgang mit der Leerstandsproblematik in Gemeinden und Städten eine neue strategische Stoßrichtung exemplarisch vorzeigen. Die im Folgenden präsentierte Auswahl umfasst Lösungsvorschläge für einzelne leerstehende Gebäude, aber auch für leerstehende, ausgestorbene Ensembles und ganze Gemeindegebiete. Die Rathausbühne in Guntramsdorf In der niederösterreichischen Gemeinde im Südwesten Wiens stand das alte, nicht sanierungsfähige Rathaus in der Ortsmitte leer. Durch diesen Umstand wurde der umliegende Rathausplatz kaum mehr genutzt war ein funktionsleerer Raum. In Zusammenarbeit mit den Bürgerinnen und Bürgern wurde beschlossen, das Gebäude im Ortszentrum bis auf die Kellerdecke abzutragen und das dadurch geschaffene Podest als Dorfplatz, Veranstaltungszone und leicht erhöhte Festivalbühne zu nutzen. Der alte Keller bleibt erhalten und ist sowohl Versorgungsfläche für die Rathausbühne wie auch Showroom der regionalen Winzer sowie für kleine Veranstaltungen aller Art zu nutzen. Das Ergebnis trägt Früchte: „Ich freue mich über die vielen engagierten Bürgerinnen und Bürger, die diese Chance zur Mitgestaltung genutzt haben, um gemeinsam einen Platz der Begegnung als neuen Ortsmittelpunkt zu schaffen“, sagt Bürgermeister Karl Schuster. Leoben: Ein Schulhaus macht Schule Mitte des 20. Jahrhunderts hatte Leoben fast 40.000 Einwohner. Seit der Stahlkrise in den Siebziger Jahren ging die Einwohnerzahl auf nunmehr 24.000 kontinuierlich zurück. Unter der schrumpfenden Bevölkerung litt auch das zuletzt fast leerstehende Schulhaus in Leoben-Donawitz. Ein intensiver Beteiligungsprozess mit allen Schülern, Lehrern, Eltern, der Schulgemeinschaft, den Behörden und den Planer führte zum Entschluss, im bestehenden Schulgebäude mehrere Schultypen von der Volksschule über die Neue Mittelschule (NMS) bis hin zur Polytechnischen Lehranstalt unterzubringen und das Gebäude punktgenau zu verändern. „Drei Schulen unter einem Dach, das ist ein außergewöhnliches Projekt“, meint Alt- Bürgermeister Matthias Konrad. „Das ist eine Leobener Schulstrukturreform.“ 2
Stadt Haag entdeckt den Theatersommer Mit seinen rund 5.000 Einwohnern ist Haag eine typische Kleinstadt im niederösterreichischen Alpenvorland. Das Zentrum schien ausgestorben, der Leerstand rund um den Hauptplatz war enorm, das kommerzielle Leben konzentrierte sich in den Fachmarktzentren am Ortsrand. Im Jahr 2000 entstand die Idee, den Hauptplatz nachhaltig wiederzubeleben und ein alljährlich wiederkehrendes Theaterfestival zu etablieren. Die mobile Tribüne mit ihrem charakteristischen Design und ihren 600 Sitzplätzen, die wir zu diesem Zweck geplant haben, ist heute nicht nur ein temporäres Wahrzeichen, das mittlerweile mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet wurde, sondern auch ein Impulsgeber und Initiator für neues Leben und neue Bauimpulse im Haager Ortszentrum. Der Leerstand ist nahezu komplett beseitigt, vor allem auch qualitätsvoller Wohnraum wurde geschaffen. Zeillern rollt seinen roten Teppich aus Die Bevölkerung der niederösterreichischen 1.300-Einwohner-Gemeinde hat einen wichtigen Konsens erzielt: Ein leerstehendes Gasthaus im Ortszentrum wurde angekauft, um darauf „attraktives Wohnen für junge Familien wie auch Raum für betreubares Wohnen für alte Menschen im Zentrum“ zu schaffen. Die rundum liegende Freifläche wurde einem gemeinsamen Ideenfindungsprozess unterzogen und führte schließlich zu der Idee, auf dem Dorfplatz einen „Roten Teppich“ auszurollen. Der buchstäblich rot betonierte Platz, der die Kirche mit dem Schloss Zeillern verbindet, dient heute vor allem als Bühne und Hintergrundkulisse für Hochzeiten. Nicht zuletzt dient er dem Niederösterreichischen Blasmusikausbildungszentrum, das im Schloss Zeillern untergebracht ist, als akustisches Trottoir. Das Projekt entpuppte sich als Breitbanderfolg, denn die Gemeinde ist am besten Weg, eine echte „Blasmusikgemeinde“ zu werden. Hörsching hebt wieder ab Den meisten österreichischen Flugpassagieren ist Hörsching ein Begriff. Doch der 6.000-Einwohner-Ort umfasst nicht nur den Linzer Flughafen, sondern auch ein ausgestorbenes und sanierungsbedürftigen Dorfzentrum. Um das Leben von der Peripherie wieder ins Zentrum zu locken, soll der Brucknerplatz neu gestaltet werden. Die denkmalgeschützten Häuser sollen saniert, ein leerstehendes Gasthaus abgerissen und neu gebaut werden. In Zukunft soll das Zentrum kommunale Nutzungen wie beispielsweise ein Eltern-Kind-Zentrum, ein Bürgerservice, eine Sozialberatungsstelle sowie diverse Geschäfte, Büros und Veranstaltungsräume beherbergen. Vor kurzem wurde ein Projektmanager bestellt, der die ersten Maßnahmen dieses langfristigen Projekts realisieren soll. In Illingen geht’s um die Wurst Seit zwölf Jahren wartet die saarländische Gemeinde im Westen Deutschlands auf eine Neuentwicklung der großen, zentralen Industriebrache. Für die ehemalige Wurstfabrik im Stadtzentrum, die einst 500 Arbeitsplätze umfasste, wurden bereits etliche private Nutzungskonzepte erarbeitet, allerdings konnte bisher keines dieser Szenarien den Ansprüchen der Illinger gerecht werden. Vor zwei Jahren hat die 3
Gemeinde Bundesfördermitteln zur Zentrumsentwicklung beantragt und die Entwicklung der innerstädtischen Brache nun selbst in die Hand genommen. In einem Partizipationsprozess, an dem sich ein Großteil der 15.000 Einwohner beteiligt haben, wurde beschlossen, den Gebäudebestand teilweise zu erhalten und darin Nahversorger, Büros und Wohnungen unterzubringen. Herzstück des Zukunftsszenarios ist ein Marktplatz mit einer Opern-Air-Veranstaltungsfläche für kulturelle Aktivitäten und einem angeschlossenen Pflegewohnheim mit betreutem Wohnen. Die Stadt Innsbruck erprobt die Live-Nutzungsentwicklung Mitten im Stadtzentrum der Tiroler Landeshauptstadt Innsbruck liegt die historische Rotunde. Das beeindruckende Rundgebäude wurde Ende des 19. Jahrhunderts für die Unterbringung des Riesenrundgemäldes „Die Schlacht am Bergisel“ errichtet. Direkt daneben befindet sich eine charmante, ebenfalls in die Jahre gekommene Talstation der Hungerburgbahn aus den 1950er Jahren, die die Bewohner und Touristen einst vom Stadtzentrum in die Gipfel der umliegenden Berge führte. Beide Gebäude sind seit einigen Jahren ungenutzt, die Rotunde steht unter Denkmalschutz. Wie geht man mit solchen Leerständen an neuralgischer urbaner Stelle um? Was soll mit dem gesamten innerstädtischen Rotunden-Areal passieren? Und welche Veränderungsprozesse sind gewünscht? Eine Möglichkeit wäre, das Areal der öffentlichen Hand zu überlassen. Eine andere, es an Investoren zu verkaufen. Doch das letzte Wort sollten die 120.000 Bürgerinnen und Bürger haben! In einem breit angelegten, öffentlichen Ideenfindungsprozess mit Beteiligung aller interessierten Bürgerinnen und Bürger wurden viele verschiedene Nutzungsszenarien und bauliche Veränderungsmöglichkeiten ausgetüftelt und auf eine gemeinsame Idee eingedampft. Das Ergebnis: Das gesamte Rotundenareal soll nun als Brutstätte für Kreativität und Innovation genutzt werden – mit einem Fokus auf die Jugend. Wie die Bespielung im Detail aussehen soll, wird nun direkt vor Ort in einer spannenden Live-Nutzungsentwicklung ausprobiert. Diese differenzierte Testphase wird sich über einige Jahre ziehen und Grundlagen für die weitere inhaltliche Programmierung des Areals liefern. Nur auf diese Weise kann jene kreative Bandbreite erzielt und ausgetestet werden, die von der Bevölkerung gewünscht wird. Das heißt: In den kommenden drei Jahren könnten Organisationen, Institutionen und Privatpersonen langfristige Nutzungsszenarien vorschlagen und direkt vor Ort ausprobieren. Die Zeit wird weisen, welche Nutzung bzw. Nutzungen sich bewähren. Erst danach wird die Rotunde – maßgeschneidert und punktgenau – baulichen Veränderungen unterzogen werden. 4
FACTBOX nonconform architektur vor ort wurde 1999 von den beiden Kärntnern Roland Gruber (geboren und aufgewachsen in Bad Kleinkirchheim) und Peter Nageler (geboren in Paternion, aufgewachsen in Fresach) gegründet und 2003 um Caren Ohrhallinger (Braunau/OÖ) und 2013 um Katharina Kothmiller (St.Pölten) erweitert. Derzeit hat nonconform Büros in Wien und Kärnten (15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter). nonconform arbeitet fast ausschließlich im Schnittfeld von Architektur, Städtebau und kommunaler Entwicklung. Die Arbeitsweise zeichnet sich dadurch aus, dass nonconform bereits frühzeitig in den Planungsprozess involviert wird – noch bevor eine konkrete Bauaufgabe feststeht. Um die Entscheidungsfindung professionell begleiten zu können, hat nonconform mit der vor ort ideenwerkstatt® ein partizipatives Planungsinstrument kreiert, das die Organisation kommunaler Projektentwicklungs- und Planungsprozesse unter größtmöglicher Miteinbeziehung der Bürgerinnen und Bürger von der Ideensuche bis zur Umsetzung betreut. Zahlreiche Kommunen, die an der Durchführung einer vor ort ideenwerkstatt Interesse zeigen, kämpfen mit Leerständen im Ortszentrum und zunehmend auch in Neubaugebieten. Häufig ist die Ratlosigkeit im Umgang mit dem ausgestorbenen Ortskern ein wesentlicher Auslöser für die Beauftragung. Die vor ort ideenwertstatt ist ein alternatives Modell, wenn die klassischen Planungsmethoden versagen. Seit 2011 veranstaltet nonconform architektur vor ort die Österreichische Leerstandskonferenz, die heuer in Leoben stattfinden wird. Der Think Tank befasst sich mit dem unangenehmen Thema Leerstand und bietet Lösungskonzepte und Best-Practice-Beispiele. à www.nonconform.at à www.vorortideenwerkstatt.at à www.leerstandskonferenz.at 5
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