Multiple Sklerose, Spastik und Cannabis - Sclérose en plaques, spasticité et cannabis

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Multiple Sklerose, Spastik und Cannabis - Sclérose en plaques, spasticité et cannabis
CURRICULUM                            Schweiz Med Forum 2004;4:732–738   732

Multiple Sklerose, Spastik und Cannabis
Sclérose en plaques, spasticité et cannabis
Claude Vaney

Quintessenz                                                       Quintessence
 Die dargestellten Arbeiten spiegeln das verstärkte Be-           Les travaux cités reflètent l’effort toujours plus grand de
mühen wider, die therapeutischen Möglichkeiten des schon          faire des recherches sur les possibilités thérapeutiques du
im Altertum als Heilmittel verwendeten Cannabis wieder neu        cannabis, utilisé comme plante médicinale dans l’Antiquité
zu erforschen und diesen auch als Heilmittel einzusetzen.         déjà, et de l’employer également à titre thérapeutique. Jus-
Während bisher nur die antiemetischen und appetitsteigern-        qu’ici seules les propriétés antiémétiques et orexigènes du
den Eigenschaften von Tetrahydrocannabinol (THC) relativ          THC étaient relativement bien documentées. Mais des études
gut belegt waren, weisen Studien nach, dass Cannabis auch         indiquent que le cannabis peut également avoir un rôle en
eine Rolle als Muskelrelaxans mit schmerzlindernder Wir-          tant que myorelaxant à effet analgésique.
kung haben kann.
                                                                   Dans la plupart des travaux publiés à l’heure actuelle,
    In den meisten bisher veröffentlichten Arbeiten wurde        le cannabis a été administré par voie orale. Même si ce mode
Cannabis oral verabreicht. Auch wenn diese Applikationsart        d’administration n’est pas optimal en raison de la variabilité
wegen der variablen und geringen Bioverfügbarkeit nicht           de la biodisponibilité, qui est de toute façon faible, il présente
optimal ist, hat dieser Verabreichungsweg den Vorteil der         l’avantage de la simplicité de sa posologie et de son mode
einfachen Dosierbarkeit und Handhabung. Pharmakokine-             d’emploi. La fumée de cannabis serait idéale, pharmacociné-
tisch ideal wäre das Rauchen von Cannabis, was allerdings         tiquement parlant, ce qui ne peut toutefois être recommandé
wegen der bekannten krebserregenden Wirkung in dieser             en raison de l’effet carcinogène de cette voie d’administra-
Anwendungsart nicht empfohlen werden kann. Andere Zube-           tion. D’autres formes, par ex. rectales, topiques, par inhala-
reitungsarten, z.B. rektal, topisch, durch Inhalation oder mit-   tion ou spray sublingual, sont en l’occurrence des alternati-
tels eines sublingualen Sprays, sind hier vielversprechende       ves très prometteuses qu’il s’agit encore d’étudier.
Alternativen, welche weiterverfolgt werden.
                                                                   Même si le THC n’est certainement pas grevé de tous
    Auch wenn Tetrahydrocannabinol (THC) auf Grund aller         les risques qui lui sont actuellement attribués en général, il
bisherigen Studien sicher nicht die Gefährlichkeit besitzt,       ne faut pas scotomiser ses effets potentiels – réversibles, il est
die ihm bisher allgemein zugeschrieben wird, muss auch auf        vrai – sur les fonctions cognitives et psychomotrices, qui ont
die potentiell – zwar reversiblen – kognitiven und psycho-        été décrits dans un article paru récemment [1].
motorischen Beeinträchtigungen hingewiesen werden, wel-
che bereits in einem kürzlich in dieser Zeitschrift erschiene-     L’aptitude à conduire peut être diminuée immédiatement
                                                                  après la prise de cannabis, et l’absorption prolongée de hau-
nen Artikel beschrieben wurden [1].
                                                                  tes doses de THC diminue les performances cognitives. Pour
 So kann nach der unmittelbaren Einnahme von Cannabis            contourner justement ces effets (indésirables) psychoactifs,
die Fahrtüchtigkeit eingeschränkt sein und sich eine längere      qui sont le facteur limitant du THC à très hautes doses, la
hochdosierte Einnahme von THC leistungsmindernd auf die           recherche se concentre actuellement sur l’activation des
kognitiven Fähigkeiten auswirken. Gerade um diese psycho-         cannabinoïdes endogènes, non psychoactifs à doses physio-
aktiven (Neben-)Wirkungen zu umgehen, welche bei höheren          logiques, ce qui devrait être possible par des substances
Dosen von THC den limitierenden Faktor darstellen, ist die        inhibant la dégradation des endocannabinoïdes – tout comme
Forschung heute bedacht, die körpereigenen, in ihrer physio-      pour les antidépresseurs, qui y parviennent par ex. pour la
logischen Dosierung nicht psychoaktiven Cannabinoide zu ak-       sérotonine.
tivieren, was durch Substanzen, welche den Abbau der Endo-
cannabinoide hemmen, möglich sein könnte – in Analogie zu          Pour terminer, il ne faut naturellement pas s’attendre à
                                                                  ce que les patients SEP rient et dansent de joie après avoir
Antidepressiva, die dies z.B. für Serotonin zu tun vermögen.
                                                                  pris du THC, comme les Scythes dont parle Hérodote. Mais
 Abschliessend darf natürlich nicht erwartet werden, dass        la vente libre de THC et de cannabis à des fins thérapeutiques
die MS-Betroffenen durch die Einnahme von THC wie die von         pourrait par contre aider les patients SEP à vivre avec moins
Herodot beschriebenen Skythen entzückt vor Lust lachen und        de spasmes. L’abandon de la mauvaise conscience sur la
                    tanzen werden. Hingegen könnte die            consommation d’une médecine interdite devrait alors très
                    Freigabe von THC und Cannabis zu the-         considérablement contribuer à améliorer leur qualité de vie.
                    rapeutischen Zwecken dem MS-Betrof-
                    fenen zu einem spasmenärmeren Alltag
                    verhelfen. Dabei würde der Wegfall des
                    schlechten Gewissens ob dem Konsum
                    einer verbotenen Medizin ganz wesent-
                    lich zur Verbesserung ihrer Lebensqua-
                    lität beitragen.

                      CME zu diesem Artikel finden                Vous trouverez les questions à choix multiple
                      Sie auf S. 748 oder im Internet             concernant cet article à la page 749 ou sur internet
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Einleitung                                           es noch nicht gesichert, ob auch psychischer
                                                     Stress ebenfalls einen begünstigenden Faktor
«Weniger Muskelspasmen, ein besserer Schlaf          darstellt. Während früher die Meinung galt, dass
und ein Gewinn an Mobilität», das war das            die Axone intakt bleiben und dass lediglich die
erstaunliche Fazit der kürzlich im Lancet er-        Myelinscheiden der Entzündung anheimfallen,
schienenen kontrollierten Studie mit einem           finden sich heute zunehmend Hinweise für einen
630 MS-Patienten oral verabreichten Cannabis-        relativ früh im Krankheitsgeschehen einsetzen-
extrakt [2]. Dieser positive Wirkungsnachweis        den axonalen Untergang im Sinne einer Degene-
bestätigt nicht nur die Erfahrungsberichte der       ration [3].
krampflösenden Wirkung von Cannabisproduk-
ten, meistens Marihuana-Zigaretten, aber auch        Die vielfältigen Symptome der MS
von Hanftee aus der schweizerischen «Volksme-        Pathologisch-anatomisch ist die MS durch dis-
dizin», sondern weist auch auf die Möglichkeit       seminierte, grossflächige Entmarkungsherde
hin, dass gewisse, bereits aus dem Tierexperi-       mit reaktiver Gliose charakterisiert, die soge-
ment gewonnene Beobachtungen sich auf den            nannten Plaques. Solche Plaques können sich
Menschen übertragen lassen. Auch wenn diese          irgendwo in der weissen Substanz des Zentral-
Forschungsergebnisse eine unkritische Eupho-         nervensystems bilden, werden aber besonders
rie hinsichtlich der therapeutischen Möglich-        häufig entlang der langen, stark myelinisierten
keiten der Hanfpflanze sicher nicht zulassen, so     Fasern gefunden. Auf elektrophysiologischer
öffnen sie dennoch den Weg, um sachlich über         Ebene kommt es je nach Ausmass dieser Schä-
den medizinischen Nutzen, aber auch die Gren-        digung zu einer Verlangsamung oder einem
zen von Cannabis und seinem Hauptwirkstoff           kompletten Unterbruch der motorischen Er-
THC (Tetrahydrocannabinol) zu berichten. Dies        regungsleitung in den Nervenbahnen mit konse-
soll in dieser Übersicht vorwiegend anhand der       kutiver Lähmung, Muskelschwäche und Müdig-
Behandlung der Spastizität bei Patienten mit         keit. Im sensorischen Reizleitungssystem hinge-
Multipler Sklerose geschehen, zumal der oft          gen können die elektrischen Reizleitungsimpulse
therapieresistente Charakter dieses Symptoms         verzerrt weitergeleitet werden, was zu schmerz-
die Suche nach unkonventionellen Massnahmen          haften Missempfindungen führen kann. Letztlich
zu ihrer Linderung hinreichend rechtfertigt.         kann es vorkommen, dass entblösste motorische
                                                     und sensible Nervenfasern sich kurzschliessen
                                                     und durch ephaptische Überleitung zu paroxys-
Multiple Sklerose                                    malen Phänomenen, wie einer Trigeminusneur-
                                                     algie, Anlass geben. Die Symptome der MS sind
Die Multiple Sklerose (MS) ist in unseren Breiten-   vielfältig, wobei zu Beginn der Erkrankung meist
graden das häufigste neurologische Leiden,           Missempfindungen, Sehstörungen und eine be-
welches bei jungen Erwachsenen zu einer blei-        einträchtigte Gehfähigkeit auftreten. Im weite-
benden Invalidität führt. Allein in der Schweiz      ren Verlauf können dann spastische Paresen mit
leiden zirka 6000 bis 8000 Personen an MS. Be-       schmerzhaften Spasmen, eine Ataxie, Blasen-
troffen sind vor allem junge Erwachsene, beginnt     und Sexualstörungen das Krankheitsbild bestim-
doch die Krankheit in 70% der Fälle zwischen         men. Nicht selten sind auch die höheren Hirn-
dem 20. und 40. Lebensjahr. Die genaue Ur-           leistungen betroffen, was Beeinträchtigungen
sache der Krankheit ist noch unbekannt, es wird      des Gedächtnisses, der Auffassungsgabe und
jedoch angenommen, dass es bei genetisch prä-        der Gefühlswelt zur Folge haben kann. Auch auf
disponierten Individuen zu einer sogenannten         das soziale Umfeld, besonders auf die Familie,
autoimmunen Reaktion gegen Bestandteile des          den Arbeitsplatz und die Freizeitmöglichkeiten,
Nervensystems kommt. Pathogenetisch kann             wird die MS einschränkend einwirken.
man davon ausgehen, dass körpereigene auto-
reaktive Lymphozyten mit Hilfe sogenannter Ad-       Die immunmodulierenden Substanzen
häsionsmoleküle die Blut-Hirn-Schranke durch-        heilen nicht
queren und unter Freisetzung von Botenstoffen        Da die Ursache der Erkrankung nicht bekannt
(Tumornekrosefaktor, Interferon gamma) und           ist, gibt es bisher auch noch keine wirksame
Entzündungsmediatoren (Komplementsystem)             kausale Therapie. Kortikosteroide im Schub ver-
die isolierende myelinhaltige Markscheide der        kürzen zwar die Schubdauer, es ist aber nicht
Nervenfasern angreifen und zerstören. Diese          erwiesen, dass sie allfällige Restsymptome ver-
autoimmune Reaktion wird möglicherweise im           ringern. Auch hat ihre Verabreichung keinen
Verlauf der Pubertät durch einen viralen Infekt      Einfluss auf die Häufigkeit von Rückfällen. Ent-
oder durch andere Umwelteinflüsse getriggert.        sprechend lässt sich eine Dauertherapie mit
Die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Virus und      Steroiden in keiner Art rechtfertigen. In den
Markscheide könnte eine derartige «Verwechs-         letzten Jahren haben die Therapieberichte mit
lung» begünstigen. Während banale Infektionen        Beta-Interferonen (Avonex®, Betaferon®, Rebif®)
– meist der oberen Luftwege – als auslösende         sowie Copolymer I (Copaxone®) zu grossen Hoff-
Faktoren eines MS-Schubes anerkannt sind, ist        nungen Anlass gegeben. Diese immunmodulie-
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renden Substanzen vermindern bei schubweisen         men), bei denen sich die Beine unwillkürlich und
Verläufen die Rückfallhäufigkeit um einen Drit-      oft mit Schmerzen verbunden beugen oder strek-
tel und die Häufigkeit schwerer Schübe um die        ken. Die Erfahrung zeigt, dass Spastizität und
Hälfte. Neuerdings konnten Beta-Interferone          erhöhter Muskeltonus nicht ein konstantes
auch eine Wirksamkeit bei sekundär progredien-       Phänomen darstellen und im Rahmen eines
tem Verlauf zeigen, wenn noch deutliche klini-       Schubes, bei Blasenentzündungen, Druckstellen
sche oder kernspintomographisch fassbare Hin-        auf der Haut, starker Verstopfung sowie unter
weise für eine entzündliche Krankheitsaktivität      Angst und bei starker Müdigkeit zunehmen kön-
vorhanden waren. Obwohl auch bei diesen Ver-         nen [5].
laufsformen eine positive Wirkung auf die auf-
gepfropften Schübe (Schubrate, Schwere der           In vielen Fällen lösen die konventionellen
Schübe) und auch auf die Progression in klini-       Medikamente die Spasmen
schen Studien belegt ist, bleibt ihre Wirkung in     Während Medikamente bei Lähmungserschei-
der Langzeittherapie noch nicht eindeutig ge-        nungen und Koordinationsstörungen nur in
klärt. Verglichen mit den bisher angewandten         den seltensten Fällen wirksam sein können,
Immunsuppressiva, die einen zweifelhaften            kann die Spastizität, insbesondere wenn von
oder bescheidenen Effekt hatten und mit einem        schmerzhaften Spasmen begleitet, oft durch
nennenswerten Behandlungsrisiko verbunden            Arzneimittel günstig beeinflusst werden. Bei
waren, stellen die relativ geringen Nebenwirkun-     dieser medikamentösen Therapie muss man
gen der Beta-Interferone (mit Ausnahme der           wissen, dass es sich hierbei oft um eine Gratwan-
kosmetisch störenden Hautrötungen sowie              derung zwischen erwünschter Reduktion des
eines grippeähnlichen Zustandes in den ersten        Muskeltonus einerseits und unerwünschter Ver-
Behandlungswochen oder -monaten) und von             stärkung der Parese andererseits handelt. In
Copolymer I sicher einen Fortschritt dar. Jedoch     der Tat kann durch Reduktion der Spastik die
bringen auch diese Medikamente noch keine            Schwäche etwas deutlicher zum Vorschein
Heilung der MS – und unter dieser Behandlung         kommen. Entsprechend ist es notwendig und
finden sich immer noch Patienten, die Schübe         sinnvoll, eine gewisse stützende «Reststeifigkeit»
durchmachen und sich bezüglich ihrer Behinde-        zu belassen. Weiter ist zu beachten, dass trotz
rung verschlechtern. Der aktuell im deutschspra-     aller Fortschritte der Pharmakologie die komple-
chigen Raum angewandte Konsensus bezüglich           xen pathophysiologischen Veränderungen im
der Indikation dieser kostspieligen Behandlun-       Rückenmark, welche der Spastizität zugrunde
gen wurde kürzlich in seiner zweiten, revidier-      liegen, nicht rückgängig gemacht werden kön-
ten Fassung auf deutsch publiziert [4].              nen. Auch darf man nicht enttäuscht sein, wenn
                                                     die Muskeln zwar etwas lockerer werden, aber
Lästige Muskelspasmen schränken                      die gestörte Feinmotorik weitgehend unverän-
die Lebensqualität ein                               dert fortbesteht. Die Dosierung der spastikhem-
Durch den Krankheitsbefall des Rückenmarks           menden Medikamente wie Baclofen, Dantrolen,
können nebst Sensibilitätseinbussen und manch-       Tizanidin, Gabapentin und ihre Verteilung über
mal schmerzhaften Missempfindungen auch              den Tag muss für jeden Patienten, mit niedrigen
motorische Störungen – wie Lähmungen oder            Dosierungen beginnend und anschliessender
Muskelverspannungen (Spastizität) – entstehen,       schrittweiser Steigerung, individuell festgelegt
welche in unterschiedlichem Masse ausgeprägt         werden. Dabei sollte beachtet werden, dass bei
sein können. Die «Spastizität», welche einer         Vorliegen einer Paraparese ein Teil der Spasti-
erhöhten Grundspannung der Muskulatur ent-           zität notwendig sein mag, um dem Patienten
spricht, ist ein komplexes Phänomen, dessen          Stehen und Gehen zu ermöglichen. In einer kürz-
Zustandekommen nicht restlos geklärt ist. Man        lich erschienenen Cochrane review konnte aller-
stellt sich vor, dass durch die MS-bedingten Ent-    dings die Überlegenheit einer dieser Substanzen
zündungsherde im Rückenmark die übergeord-           über die andern nicht belegt werden [6]. Baclo-
neten Hirnzentren ihren hemmenden Einfluss           fen kann auch über ein spezielles Pumpsystem
auf die sonst untergeordneten Bewegungs- und         intrathekal verabreicht werden. Dabei wird die
Reflexzentren im Rückenmark nicht mehr aus-          Pumpe subkutan unter die Bauchhaut implan-
üben, was zu einer unkontrollierten, etwas           tiert, und von dort aus wird ein Katheter zum
regellosen Reflexaktivität dieser «verwaisten»       Intrathekalraum geleitet. Das Medikament kann
Rückenmarkszentren führt. Manchmal ist bei           damit direkt in vorher festgelegter Frequenz und
der Spastizität die Reflexaktivität derart erhöht,   Menge verabreicht werden. Der Vorteil dieser
dass es zu rhythmisch aufeinanderfolgenden, er-      Methode ist, dass eine viel geringere Dosis als
schöpflichen oder unerschöpflichen Kontraktio-       oral verabreicht werden muss und das Medi-
nen von Muskeln oder Muskelgruppen (Klonus)          kament viel genauer an die gewünschte Stelle ge-
kommt. Gut bekannt ist der Fussklonus beim           langt. Die Resultate dieser Behandlungsweise,
Aufsetzen des Fussballens auf die Fussstützen        welche nur in wenigen spezialisierten Zentren
des Rollstuhls und die besonders nachts im Lie-      durchgeführt werden kann, ist dann zu empfeh-
gen auftretenden Muskelverspannungen (Spas-          len, wenn alle anderen Versuche, die Spastizität
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Abbildungen 1 und 2.
Hanf (Cannabis sativa).

                          1                                                                 2

                          zu lindern, medikamentös oder bewegungsthe-         der Aufklärung. Erst nach der Veröffentlichung
                          rapeutisch, gescheitert sind. Beschränkt sich       einer umfassenden Studie über die medizinische
                          die Tonuserhöhung auf wenige, umschriebene          Anwendung der Pflanze im Jahr 1839 durch den
                          Muskelgruppen, ist eine lokale Anwendung von        in Kalkutta stationierten irischen Arzt William
                          Botulinustoxin zu empfehlen [7].                    O’Shaughnessy fand Cannabis, als indischer
                                                                              Hanf, richtig den Eingang in den europäischen
                          Cannabis hat als Arzneipflanze                      Arzneischatz. In seiner Arbeit liefert er viele
                          eine mehr als tausendjährige Tradition              Beispiele für den Einsatz von Hanf bei Krampf-
                          Hanf (Cannabis sativa) zählt zu den ältesten ge-    zuständen, wie sie bei Tollwut, Cholera und
                          nutzten Kulturpflanzen der Menschheit (Abb. 1       Tetanus auftreten können. In der zweiten Hälfte
                          und 2 x). Aus Zentralasien stammend, gedeiht        des 19. Jahrhunderts wurde Cannabis unter
                          sie heute in den meisten gemässigten und tropi-     anderem bei Migräne, Neuralgien, epilepsie-
                          schen Gebieten der Welt. Ihr wichtigster psycho-    ähnlichen Krämpfen und Schlafstörungen ein-
                          troper Inhaltsstoff ist delta-9-Tetrahydrocanna-    gesetzt. Marihuana war, bis es im Jahre 1898
                          binol (D9-THC). Er kommt vor allem im Harz, in      durch Aspirin konkurrenziert und von einer
                          den weiblichen Blüten und in geringer Konzen-       breiten Palette neuer synthetischer Medika-
                          tration auch in den Blättern vor. Die Anfänge       mente abgelöst wurde, das in Amerika am häu-
                          der medizinischen Verwendung der Hanfpflanze        figsten eingesetzte Schmerzmittel. In Europa,
                          gehen in China, Indien, Ägypten und Assyrien        aber auch in der Schweiz waren zwischen 1850
                          weit in die vorchristliche Zeit zurück, wobei       und 1950 über 100 Cannabismedikamente er-
                          die erste schriftliche Angabe zur medizinischen     hältlich. Dosierungsschwierigkeiten, paradoxe
                          Nutzung auf ein 4700 Jahre altes chinesisches       Wirkungen und die Entwicklung wirksamerer,
                          Lehrbuch über Botanik und Heilkunst zurück-         intravenös verabreichbarer Medikamente führ-
                          geht. Später genoss Cannabis auch im Europa
                          des frühen Mittelalters als Heilmittel ein hohes
                          Ansehen, und Hanf wurde beispielsweise gegen
                          Husten und Gelbsucht eingesetzt. Detailliert wird
                          auf die Wirkung von Hanf durch die Äbtissin
                          Hildegard von Bingen (1098–1179) in ihrer
                          Heilmittel- und Naturlehre «Physica» eingegan-
                          gen, wo sie die Vorzüge der Substanz gegen
                          Magenschmerzen hervorhebt, aber einschrän-
                          kend – in weiser Voraussicht auf heute – be-
                          merkt, dass nur solche, die «gesund im Hirn
                          sind», davon profitieren (Abb. 3 x). In den
                          folgenden Jahren wurde Hanf in den meisten
                          Kräuter- und Arzneibüchern erwähnt, und dies,
                          obschon im Jahre 1484 Papst Innozenz VII.
                          Cannabis verbietet, weil er in dieser Pflanze ein
                          unheiliges Sakrament der Satansmesse sieht.
                          Das Interesse an Cannabis, und Kräuterbüchern       Abbildung 3.
                          überhaupt, verschwand dann etwas im Zuge            Hildegard von Bingen.
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ten dann zu einer Abnahme von Cannabisver-           der Fälle schmerzhafte nächtliche Spasmen zu
schreibungen, noch bevor das Cannabisverbot          lindern, als Hauptgrund für den regelmässigen
ihnen ein definitives Ende bereitete [8].            Haschischkonsum angegeben wurde [14]. Kürz-
                                                     lich konnte die Wirksamkeit sowohl von oral
THC kann aktuell nur gegen Appetitlosigkeit          wie rektal verabreichtem THC an zwei Patienten,
und Erbrechen verschrieben werden                    wovon der eine an MS litt, eindrücklich doku-
Aktuell kann in der Schweiz der praktisch tätige     mentiert werden [15]. Ausser klinischen Anga-
Arzt einen Cannabiswirkstoff lediglich als           ben liefert die Studie auch wertvolle Daten be-
Marinol®, ein synthetisch hergestelltes D9-THC       züglich der Pharmakokinetik zweier verschiede-
(Dronabinol), verschreiben. Allerdings erst nach     ner Verabreichungsformen des THC (oral und
vorgängiger Einholung einer Sonderbewilligung        rektal). Sowohl Mobilitätsverbesserungen wie
beim BAG (Bundesamt für Gesundheit) und              auch Schmerzlinderung wurden beobachtet,
derzeit nur für Aids-Patienten zur Appetitstimu-     dies ohne Nachweis eines negativen psycho-
lierung oder bei Übelkeit und Erbrechen bei          tropen Effektes auf Stimmung und Konzentra-
Chemotherapie von Krebspatienten, wenn an-           tionsfähigkeit. Wegen der besseren Bioverfüg-
dere Mittel versagen. Sonderbewilligungen wur-       barkeit des rektal verabreichten THC (bessere
den auch bei sonst nicht therapierbarer Spastik      Absorption und fehlender First-pass-Effekt) war
vereinzelt erteilt. Hingegen wurde die Anwen-        die orale Dosis höher (10 bis 15 Milligramm
dung von THC zur Schmerzbehandlung, zur              oral versus 2,5 bis 5 Milligramm rektal).
Senkung des intraokulären Drucks oder beim
Restless-leg-Syndrom lediglich im Rahmen von         Drei Studien mit einem Cannabisextrakt
Studien bewilligt. Eine Möglichkeit, Cannabis als    und unterschiedlichem Ergebnis
Hanfkraut zu verschreiben, unter wessen Form         In einer 2002 publizierten plazebokontrollierten,
es die meisten MS-Betroffenen als Tee mit etwas      16 MS-Patienten einschliessenden Studie hin-
Milch einnehmen, besteht gemäss aktueller Ge-        gegen konnte nach einem Monat Beobachtungs-
setzgebung nicht.                                    zeit weder durch die Einnahme eines Cannabis-
                                                     extraktes noch durch synthetisches THC
Einsatz von Cannabis                                 (Marinol®) ein funktioneller Gewinn oder eine
zur Spastizitätssenkung bei MS                       Verbesserung der Lebensqualität bewirkt wer-
Sowohl die im Buch von Grinspoon und Bakalar         den [16]. Einräumend muss gesagt werden,
aufgeführten anekdotischen Erfahrungsberichte        dass die maximal verabreichte Dosis (maximal
[9] wie auch verschiedene Presseberichte wei-        2mal 5 mg tgl.) verhältnismässig niedrig ange-
sen seit längerer Zeit auf die Möglichkeit eines     setzt war. Zwischen 2000 und 2001 durfte der
die Spasmen lindernden Effektes von Cannabis         Autor, mit der Unterstützung des BAG, eine pro-
hin. Diese Hypothese wurde auch anhand von           spektive, randomisierte, plazebokontrollierte,
Einzelbeobachtungen in der medizinischen             zweiarmig parallele Studie mit Dosisfindungs-,
Literatur belegt [10, 11]. Bis heute wurden aller-   Behandlungs- und Plazebophase und jeweils
dings nur wenige plazebokontrollierte Studien        Cross-over zur andern Behandlung durchführen
publiziert, welche den Effekt von Cannabis an        [17]. Nach Einstellung der individuell optimalen
einer etwas grösseren Zahl von MS-Patienten          Dosierung (zwischen 7,5 und 30 mg THC täglich)
untersuchen. Die erste diesbezügliche Studie an      eines auf THC standardisierten Cannabisextrak-
neun Patienten ergab eine statistisch signifi-       tes wurde die mögliche Wirksamkeit und auch
kante, über vier Stunden anhaltende Muskel-          die Verträglichkeit des Präparates untersucht.
tonussenkung nach einmaliger oraler Verabrei-        Studienteilnehmende waren 57 zur Rehabilita-
chung von 10 Milligramm THC [12]. Während in         tion hospitalisierte MS-Patienten mit nicht be-
dieser Studie sowohl objektiv wie auch subjektiv     friedigend therapierter Spastik. Während der
eine Tonussenkung beschrieben wird, resultier-       mittels der Ashworth-Skala bestimmte Muskel-
ten in einer späteren Studie mit über fünf Tagen     tonus durch den Extrakt im Vergleich zu Plazebo
oral verabreichtem THC ab einer Dosierung von        nicht relevant beeinflusst wurde, fiel während
7,5 Milligramm nur subjektive Effekte. Objektiv      der Einnahme der Prüfsubstanz die Zahl
feststellbare Tonus- oder Gangverbesserungen         der individuell wahrgenommenen schmerzhaf-
konnten hingegen nicht beobachtet werden [13].       ten Muskelspasmen deutlich geringer aus.
Ebenfalls ohne objektivierbare Tonussenkung          Schlafqualität bezüglich raschen Einschlafens
verlief die Studie von Greenberg, in der THC in      und Mobilität wurde ebenfalls unter dem Ein-
Form von 1,54prozentigen Cannabis-Zigaretten         fluss des Extraktes verbessert. Auch wenn die
appliziert wurde. Ergänzend zu diesen Studien        physischen und psychischen Nebenwirkungen
steht das Ergebnis einer in den USA und Gross-       gesamthaft gering und in keiner Weise lebens-
britannien durchgeführten Umfrage mit einer          bedrohlich ausfielen, so zeigte sich doch, dass
sehr hohen Rücklaufquote von 48 Prozent. Darin       die qualitativ nahezu identischen Nebenwirkun-
gaben 112 Patienten an, regelmässig und mehr-        gen (Müdigkeit, Schwindel und veränderte
mals pro Woche Cannabis zu rauchen, wobei            Wahrnehmung der Umgebung) bezüglich der
die Fähigkeit der Substanz, in über 70 Prozent       erlebten Intensität unter Verum ausgeprägter
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                                                                                                    psychoaktives Cannabinoid mit antipsychotro-
                                                                                                    pen und anxiolytischen Eigenschaften. Als inter-
                                          Spastik                                                   essanter Nebenbefund der zuletzt genannten
                    mit negativer Auswirkung auf Funktion, persönliche
                    Aktivität, Partizipation, Lebensqualität oder Pflege                            Studie liess sich feststellen, dass die mit Canna-
                                                                                                    bis und THC behandelten Patienten weniger
                                                                                                    Schübe durchmachten als die Plazebopatienten.
                                                                                                    Diese Beobachtung weist auf die bereits tier-
                                                                                                    experimentell nachgewiesenen immunmodulie-
                    Korrektur/Behandlung auslösender Faktoren                                       renden Eigenschaften von THC hin, und dass
                        Physiotherapeutische Massnahmen                                             eine solche auch beim Menschen bestehen
                                                                                                    könnte. In der Tat berichten amerikanische
                                                    bei Persistenz                                  Forscher, dass Cannabis das Fortschreiten
                                                                                                    einer experimentell bei der Maus induzierten MS
                                      Orale Antispastika
                                      Baclofen (Lioresal®)                                          signifikant aufhalten kann. Als möglicher Wir-
                                      Tizanidin (Sirdalud®)                                         kungsmechanismus wird eine Verminderung
                                      Dantrolen (Dantrium®)
                                                                                                    der Aktivität der T1-Lymphozyten mit konse-
                                                    bei Persistenz                                  kutiver Verminderung von IFN-g erwogen. Nebst
                                                                                                    diesem entzündungshemmenden Aktionsmodus
                                                                                                    wird in diesem Tiermodell auch postuliert,
                                                                                                    dass THC den axonalen Untergang zu drosseln
                                                                                                    vermag, möglicherweise durch Hemmung der
                                                                                                    Caspsase-3-Aktivität, welche bekanntlich zur
                                                                                                    Apoptose der Axone beiträgt.
      Generalisierte Spastik          Beinbetonte Spastik               Fokale Spastik
                                                                                                    Wirkmechanismus von THC
                                                                                                    und Toxizität des THC
                                                                                                    Welche Mechanismen der Spastizitätsreduktion
     evtl. Kombination oraler         Probeinjektion von             evtl. Botulinum-Toxin          zugrunde liegen, ist noch nicht gesichert. Aus
     Antispastika                     Baclofen intrathekal           Botox®                         tierexperimentellen Arbeiten ist seit längerer
     evtl. Gabapentin                                                Dysport®
     (Neurontin®)                                 positiv                                           Zeit bekannt, dass THC die bei zentralen ZNS-
                                                                                                    Läsionen gesteigerten mono- und polysynapti-
     bei nächtlichen Spasmen                                                                        schen Reflexe zu dämpfen vermag [19]. Auch
     evtl. Benzodiazepine,            Implantation einer
     Sirdalud MR oder THC             intrathekalen Baclofen-                                       weiss man heute, dass die in den neuronalen
                                      Pumpe                                                         Membranen gelegenen Cannabinoidrezeptoren
                                                                                                    und seine körpereigenen Ligande Anandamide
  Modifiziert nach Beer S: Medikamentöse Therapien der Spastik bei MS. ARS Medici 2003;8:383–387.   nicht wie Neurotransmittoren im interneurona-
                                                                                                    len Bereich wirken, sondern intraneuronal
Abbildung 4.                                                                                        (Einfluss auf die Bildung von zyklischem AMP
Flowchart zur Behandlung der Spastik bei MS.                                                        und den Elektrolyttransport von Ca und K)
                                                                                                    die neuronalen, in diesem Fall die GABA-ergen
                                      waren. Ebenfalls ohne signifikanten Einfluss auf              Systeme moduliert [20]. So darf angenommen
                                      den Ashworth-Score, aber mit einem Trend zur                  werden, dass THC die im endogenen Cannabis-
                                      Verbesserung des Muskeltonus fiel die sehr                    Anandamid-System auftretenden Funktions-
                                      grosse, methodisch sorgfältig vorbereitete engli-             störungen, welche Spastik und Schmerzen her-
                                      sche Studie mit 630 MS-Betroffenen aus [2]. Ge-               vorrufen, wieder rückgängig macht.
                                      mäss einem dreiarmig angelegten Design wurde                  Während THC in geringer Dosierung wie Alko-
                                      nach einer vier Wochen dauernden langsamen                    hol und Sedativa einen milden sedativen Einfluss
                                      Steigerung die im Verhältnis zum Körpergewicht                ausübt, führen zwar höhere Dosierungen zu
                                      maximal noch verträgliche Dosis (10 bis 25 mg)                Euphoriezuständen und Halluzinationen, aber
                                      reines THC, ein Cannabisextrakt oder Plazebo                  nicht zu Anästhesie, Koma oder Tod, wie dies
                                      während 11 Wochen eingenommen. 60 bzw.                        bei Opiaten vorkommt. Somit ist die Toxizität des
                                      61% der Patienten mit THC bzw. mit dem Can-                   THC extrem niedrig. Tödliche Vergiftungen nach
                                      nabisextrakt berichteten über eine Verbesserung               Konsum als Rauschdroge oder Anwendung als
                                      der Spastik, wogegen nur 46% unter Plazebo.                   Medikament sind in der Literatur nicht doku-
                                      Zudem gab es Hinweise auf Verbesserung der                    mentiert. Gemäss Angaben des Marinol®-Her-
                                      Gehfähigkeit durch Cannabis und THC bei den                   stellers wird die tödliche intravenöse Dosis beim
                                      gehfähigen Patienten. Bei allen drei erwähnten                Menschen auf 30 Milligramm pro Kilo geschätzt.
                                      Studien handelte es sich beim Cannabisextrakt                 Der therapeutische Index wird je nach Quelle mit
                                      um vom Institut für klinische Forschung in Ber-               1:1000 bis 20 000 angegeben. ZNS-Nebenwir-
                                      lin zur Verfügung gestellte Weichgelatinekap-                 kungen (Sedation, Dysphorie, Angst etc.) treten
                                      seln, die 2,5 mg THC und 1,2 mg Cannabidiol                   in der Regel erst ab 20 Milligramm THC auf,
                                      (CBD) enthielten. Cannabidiol ist ein nicht                   wobei eine gewisse individuelle Variabilität be-
CURRICULUM                                  Schweiz Med Forum 2004;4:732–738               738

                                 steht. Das Risiko einer psychischen Abhängigkeit                  Forschung in Berlin herzlich gedankt für das
                                 besteht nur nach Langzeitanwendung von hohen                      sorgfältige Durchlesen des Manuskripts und
                                 Dosen.                                                            seine wertvollen Hinweise.

                                 Danksagung
                                 An dieser Stelle sei Herrn Dr. med. Martin
                                 Schnelle vom europäischen Institut für klinische

                                 Literatur                                                         12 Petro DJ, Ellenberger C. Treatment of human spasticity
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Neurologische Rehabilitations-
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