CME-Fortbildung zum Thema: Cannabis - Gibt es gute Gründe für die Verordnung von Medizinalhanf? - Aktualisierte Version 2020 - MedLearning

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CME-Fortbildung zum Thema: Cannabis - Gibt es gute Gründe für die Verordnung von Medizinalhanf? - Aktualisierte Version 2020 - MedLearning
CME-Fortbildung
   zum Thema:
   Cannabis – Gibt es
   gute Gründe für die Verordnung
   von Medizinalhanf?
   Aktualisierte Version 2020

   Dr. med. Rainer Burkhardt
   Facharzt für Innere Medizin, Oldenburg

Wissen teilen, Wissen fördern – März 2020
CME-Fortbildung zum Thema: Cannabis - Gibt es gute Gründe für die Verordnung von Medizinalhanf? - Aktualisierte Version 2020 - MedLearning
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Einleitung

Mit Wirkung ab März 2017 wurde vom Gesetz-                    sea bei jenen Krebs-Patienten …, die auf andere
geber eine neue Möglichkeit geschaffen, Canna-                antiemetische Behandlungen nicht adäquat an-
bisderivate zu Lasten der Gesetzlichen Kranken-               sprechen.“ Nabilon ist ein vollsynthetisch herge-
kassen zu verordnen.                                          stelltes Derivat von Δ9-Tetrahydrocannabinol mit
                                                              verbesserter und zuverlässigerer Bioverfügbarkeit
Zuvor waren die Verordnungen auf Kassenrezept                 bei oraler Anwendung.1 Die Wirkung ist auf mg-
auf die Cannabis haltigen Fertigarzneimittel im               Basis im Vergleich zu Dronabinol (THC) etwa 7
Rahmen ihrer jeweiligen zugelassenen Indikation               Mal so stark. Die Wirkdauer beträgt wahrscheinlich
(laut Fachinformation von Sativex bzw. Canemes)               aufgrund der aktiven Metaboliten 8 – 9 Stunden.2
beschränkt:                                                   Vom BfArM wurde ohne Vorlage aktueller Studien-
                                                              daten eine sogenannte bibliographische Zulas-
Nabiximols (ein gemischter Extrakt aus Cannabis               sung erteilt.3
sativa L. Blättern und Blüten mit definiertem Gehalt
an Δ9-Tetrahydrocannabinol und Cannabidiol,                   Seit 1998 sind Dronabinol ((-)-Δ9-trans-Tetrahydro-
Handelsname Sativex) als Mundspray (THC) „zur                 cannabinol, THC) und Nabilon in Anlage III des
Symptomverbesserung bei erwachsenen Patien-                   Betäubungsmittelgesetztes aufgeführt und damit
ten mit mittelschwerer bis schwerer Spastik auf-              auf Btm-Rezept in Form von Rezepturarzneimitteln
grund von Multipler Sklerose (MS), die nicht ange-            verordnungsfähig, jedoch in der Regel nicht zu
messen auf eine andere anti-spastische Arznei-                Lasten der Krankenkassen. Zusätzlich gab es seit
mitteltherapie angesprochen haben und die eine                2011 die Möglichkeit, beim BfArM eine Ausnahme-
klinisch erhebliche Verbesserung von mit der                  genehmigung für den Gebrauch von medizinischem
Spastik verbundenen Symptomen während eines                   Cannabis im Rahmen einer ärztlich begleiteten
Anfangstherapieversuchs aufzeigen,“ und Nabilon               Selbstbehandlung zu beantragen. Eine Kosten-
Kapseln (Handelsname Canemes) „für die Behand-                übernahme durch die Krankenkasse war damit
lung von chemotherapiebedingter Emesis und Nau-               ebenfalls nicht verbunden.

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Der Anspruch der gesetzlich Krankenversicherten               Nach den Praxisinformationen der KBV (http://www.
auf wissenschaftlich nicht belegte Behandlungs-               kbv.de/html/cannabis-verordnen.php) kommen für die
methoden wurde bereits im Januar 2012 durch                   der Krankenkasse zur Genehmigung vorzulegenden
§ 2 Absatz 1a des SGB V eingeführt: „Versicherte              Verordnungen beispielsweise die folgenden Mittel in
mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig                  Betracht:
tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest                 ●	Off label-Anwendungen der oben genannten
wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die                 zugelassenen Cannabinoid haltigen Fertigarz-
eine allgemein anerkannte, dem medizinischen                     neimittel
Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfü-
                                                              ●	Rezepturen mit Dronabinol (Kapseln oder Tropfen)
gung steht, können auch eine … abweichende
Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz ent-              ●	Ölige Cannabisölharz-Lösung 25 mg/ml Dronabinol
fernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine             ●	Cannabisblüten zur Inhalation nach Verdampfung
spürbare positive Einwirkung auf den Krank-
                                                              ●	Cannabisblüten in Einzeldosen zur Inhalation
heitsverlauf besteht.“
                                                                 nach Verdampfung

Für medizinisch anzuwendendes Cannabis war                    ●	Cannabisblüten zur Teezubereitung
diese Formulierung den politischen Entscheidungs-             ●	Cannabisblüten in Einzeldosen
trägern offenbar zu restriktiv. Hier reicht es jetzt             zur Teezubereitung
nach § 31, Absatz 6, SGB V für die Verordnung
                                                              ●	Ethanolische Dronabinol-Lösung 10 mg/ml
aus, wenn die Krankheit „schwerwiegend“ (nicht
                                                                 zur Inhalation
lebensbedrohlich …) ist und eine etablierte Be-
handlungsmethode „nicht zur Verfügung steht oder              Bei der Verordnung von Cannabisblüten muss im-
… im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung             mer die Sorte mit angegeben werden. Da es sich
der behandelnden Vertragsärztin oder des behand-              um Btm-Verordnungen handelt, ist eine Gebrauchs­
elnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu er-               anweisung erforderlich.
wartenden Nebenwirkungen und unter Berück-
sichtigung des Krankheitszustandes der oder des               Die Gesetzesänderung wurde trotz ablehnender
Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann.“                Stellungnahmen der Arzneimittelkommission der
Der erhoffte Nutzen wurde um „eine spürbare                   deutschen Ärzteschaft und der Bundesärztekammer
positive Einwirkung … auf schwerwiegende Symp-                verabschiedet. Die Ärzteschaft muss nun damit
tome“ erweitert.                                              leben, dass die Politik Begehrlichkeiten geweckt
                                                              hat. Regelungen zur Umsetzung sollen durch die
                                                              gemeinsame Selbstverwaltung erst nach 5 Jahren
                                                              auf der Grundlage der „Begleiterhebung“ durch das
                                                              BfArM erstellt werden.

                                                              Dieser Fortbildungsartikel soll ohne Anspruch auf
                                                              Vollständigkeit für verschiedene potentielle Indika-
                                                              tionen der Cannabisverordnung Rüstzeug im Sinne
                                                              der besten jeweils verfügbaren Evidenz zur Ver-
                                                              fügung stellen, um einen ärztlich verantwortbaren
                                                              Umgang mit der aktuellen Verordnungsstiuation zu
                                                              unterstützen. Vorausgeschickt wird ein Exkurs zum
                                                              Stand der Grundlagenforschung.

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Das Endocannabinoid-System

Nach Entdeckung der für den Gebrauch als Droge                physiologischen Verhältnissen bedeutsamere
verantwortlichen psychoaktiven Wirkstoffe in Canna-           2-Arachidonoylglycerol (2-AG, Abbildung 1).6 Diese
bis (vor allem (-)-Δ9-trans-Tetrahydrocannabinol =            werden wie andere Lipid-Mediatoren (z. B. Prosta-
Dronabinol, im folgenden auch als THC bezeichnet,             glandine) bei Bedarf aus arachidonsäurehaltigen
da die übrigen Isomere von THC keine wesentliche              Membranlipiden synthetisiert und freigesetzt. 7
Rolle für die Wirkung spielen) wurde postuliert,              Daher gelten die entsprechenden, in ihrer Aktivität
dass sie Wirkungen körpereigener (endogener)                  durch weitere Mediatoren geregelten Enzyme als
Mediatoren an speziellen Rezeptoren nachahmen.                wesentlicher Teil des Endocannabinoid-Systems.8
Für diesen Komplex aus Mediatoren und Rezep-                  Als theoretisch attraktiver Ansatzpunkt für eine
toren wurde der Begriff Endocannabinoid-System                pharmakologische Beeinflussung gelten die die En-
geprägt. In den Folgejahren wurden 8 potentielle              docannabinoide abbauenden und ihre Wirkung
dazugehörige Mediatoren identifiziert und davon 2             limitierenden Enzyme: Fettsäureamid-Hydrolase
näher charakterisiert.4,5 Dabei handelt es sich um            für Anandamid und Monoacylglyzerol-Lipase für
Eicosanoide (Derivate der Arachidonsäure): Anan-              2-AG.8
damid (Arachidonoyl Ethanolamid) und das unter

                                     O                                                           O
                                                                                                            OH
                                          N          OH                                               O
                                          H
                                                                                                            OH

                                    CH3                                                         CH3
                      Anandamide                                             2-arachinonoylglycerol

Abbildung 1: Strukturformeln der Endocannabinoide Anandamidh (links) und 2-Arachidonoylglycerol (rechts)

Die Endocannabinoide entfalten ihre Wirkung an                zyten und im Gastrointestinaltrakt. Die Endocanna-
mehreren Rezeptoren in der Zellmembran, aber                  binoide sind sehr lipophil und erreichen ihre Rezep-
auch an nukleären Rezeptoren wie PPAR α und γ                 torbindungsstellen vermutlich durch die Lipidphase
(mit Auswirkung auf die Genexpression). Zwei an               der Zellmembran.
G-Proteine gekoppelte membranständige Rezep-
toren wurden als CB1- und CB2-Rezeptoren be-                  Neben den CB1- und CB2-Rezeptoren wird auch
zeichnet. Sie gelten als die wichtigsten Rezeptoren           einem Calcium-Kanal, dem ionotropen Vanilloid-
des Endocannabinoid-Systems. Der CB1-Rezeptor                 Rezeptor TRPV1 (auch als Capsaicin-Rezeptor
ist unter anderem an GABAergen und glutamat-                  bekannt) eine wichtige Rolle im Endocannabinoid-
ergen Synapsen des zentralen Nervensystems                    System zugeschrieben. TRPV1 spielt als Rezeptor
präsynaptisch lokalisiert. Postsynaptisch freige-             für THC keine wesentliche Rolle.9
setztes 2-AG beeinflusst dort retrograd die exzita-
torische bzw. inhibitorische Signalübertragung.               Die Bereiche, für die eine physiologische Rolle des
CB2-Rezeptoren finden sich unter anderem an                   Endocannabinoid-Systems angenommen wird, sind
Mikrogliazellen, Makrophagen, Monozyten, Lympho-              breit gefächert: Appetitregulation, Energiebilanz,

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Abbildung 2: Weibliche Cannabisblüte. Quelle: Wikimedia Commons, Urheber: Bokske,
GNU Free Documentation License

Neuroprotektion, Affektregulation, Sozialverhalten,           2008 wurde der in Europa als Appetithemmer ein-
Stressbewältigung, Brechreiz, Temperaturregulation,           geführte CB1-Rezeptorantagonist (genauer: inverser
Schmerzempfindung, Immunregulation und Entzün-                CB1-Rezeptoragonist) Rimonabant wegen psychia-
dung. Eine wichtige Rolle in der Schwangerschaft              trischer Nebenwirkungen (Angst, Depressionen und
und Embryonalentwicklung wird ebenfalls postu-                Suizidalität) vom Markt genommen.13
liert.5,10–12
                                                              Die Entwicklung eines Fettsäureamid-Hydrolase-
Das Endocannabinoid-System ist somit durch eine               Inhibitors, der durch eine Verstärkung der Ananda-
Fülle von Mediatoren, Rezeptoren und Enzymen                  mid-Verfügbarkeit entzündungshemmend wirken
gekennzeichnet, damit außerordentlich komplex                 sollte, endete 2016 in Phase 1 mit der Auslösung
und bisher nur partiell verstanden. Die Nutzung               schwerer neurologischer Störungen bis hin zum
dieses Systems für therapeutische Zwecke ist an-              Hirntod eines gesunden freiwilligen Versuchsteil-
gesichts eines traditionellen Einsatzes von Hanf              nehmers.14
als Medizinalpflanze (Abbildung 2) verlockend, aber
auch risikoreich.

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Phytocannabinoide

Die pharmakologisch aktiven Bestandteile der                  THC (Abbildung 3) entfaltet seine Wirkung als par-
Cannabispflanze sind lipophile (und daher liquor-             tieller Agonist an CB1- und CB2- Rezeptoren. Die
gängige) aromatische Verbindungen. Im Gegensatz               Art der Wirkung hängt somit auch von der An-
zu den Opiaten handelt es sich nicht um Alkaloide,            wesenheit von Endocannabinoiden ab, die gege-
da sie keinen Stickstoff enthalten. Bislang wurden            benenfalls antagonisiert werden. Darüber hinaus
etwa 80 Phytocannabinoide isoliert, davon gelten 9            interagiert THC mit anderen G-Protein gekoppel-
als Hauptbestandteile. 9 Während THC als wesent-              ten Rezeptoren und moduliert Opioid-Rezeptoren.
licher psychoaktiver (euphorisierender) Inhalts-              Die akut psychotogene Wirkung ist durch Rimona-
stoff der Cannabispflanze gilt, scheint ein weite-            bant antagonisierbar. Das spricht für eine Rolle
rer gut erforschter Bestandteil, das Cannabidiol              des CB1-Rezeptors. Es gibt Hinweise (wenn auch
(CBD) weniger psychische Wirkungen (und dann                  widersprüchlicher Art) für eine Vermittlung der
eher sedierende) zu haben. Die Phytocannabinoi-               akuten Wirkung durch eine vermehrte Dopamin-
de finden sich vor allem in den unbestäubten weib-            freisetzung.16
lichen Blüten.15

                                 CH3

                                                    OH
                                               H

                          H
                       H 3C             O                                               CH3
                          H3C
Abbildung 3: Strukturformel von (–)-Δ9-trans-Tetrahydrocannabinol = Dronabinol

Dem Cannabidiol (Abbildung 4) werden entzün-                  Sowohl THC als auch Cannabidiol modulieren
dungshemmende, analgetische, angstlösende und                 synaptische Glycinrezeptoren und verstärken deren
antiproliferative Wirkungen zugeschrieben. Trotz              inhibitorische (antispastische) Wirkung. Außerdem
umfangreicher Forschung ist unklar, über welche               scheinen sie als schwache Agonisten die Expression
Rezeptoren die Cannabidiol-Wirkungen vermittelt               PPAR γ-abhängiger Gene mit Auswirkungen auf den
werden.9 In der Diskussion sind unter anderem Wir-            Energiestoffwechsel, Zellproliferation und -Diffe-
kungen an Serotonin- und Adenosin-Rezeptoren                  renzierung zu stimulieren.
sowie eine modulierende Wirkung im Endocanna-
binoid-System.9 Cannabidiol unterliegt nicht dem              Die Fülle der mit ihren potentiellen Interaktionen
Btm-Gesetz. Es ist von der gesetzlichen Neurege-              zu berücksichtigenden Substanzen (Endocanna­
lung nicht erfasst. Daher gilt die Regelung auch              binoide und Phytocannabinoide sowie aktive
nicht für einen Off-Label-Einsatz des für zwei spe-           Meta­boliten) und der im Endocannabinoidsystem
zielle Epilepsie-Syndrome als Orphan Drug zuge-               bzw. bei der Phytocannabinoidwirkung involvier-
lassenen Cannabidiol-Monopräparates.                          ten Re­zeptoren macht deutlich, dass keine einfa-

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chen Beziehungen zwischen den Substanzen und                  THC-Gehalt als auch das Verhältnis zu anderen
ihren Wirkungen bestehen. Insofern ist man für                Bestandteilen wie CBD variieren zwischen den
die Vor­hersage von Wirkungen auf empirische Da-              Spezies und Kulturvarietäten sowie den verschie-
ten angewiesen. Diese sollten nach einzelnen                  denen Pflanzenteilen. Darüberhinaus werden sie
Wirk­stoffen einerseits und dem pflanzlichen Pro-             durch die Wachstumsbedingungen und die Art der
dukt als Ganzem unter Beachtung der durch die                 An­wendung bzw. Extraktion beeinflusst. Der An-
Anwen­dungsweise (Rauchen, Verdampfen, Trock-                 bau mit künstlicher Beleuchtung reduziert den
nen, Extra­   hieren) erfolgenden Modifikationen              CBD-Gehalt. In den letzten Jahren wurde ein star-
differen­ziert werden.                                        ker Anstieg des THC-Gehaltes von nicht-medizini-
                                                              schem Cannabis beobachtet.17
Als Maß für die Potenz eines Cannabis-Produktes
dient im Allgemeinen der THC-Gehalt. Sowohl der

                                            CH3

                                                     OH
                     H                          H
                 H 3C
                                 CH2
                                         O                                                  CH3
                                         H
Abbildung 4: Strukturformel von Cannabidiol

Interaktionen

Phytocannabinoide und Nabilon können auf viel-                nabinoide über das Cytochrom P 450 System und
fältige Weise mit anderen Arzneimitteln interagie-            eine Glucuronidierung möglich.18 Eine Kom-binati-
ren. In den Fachinformationen der zugelassenen                on von Nabiximols mit starken Enzyminduk-toren
Fertigarzneimittel wird erwähnt, dass bei Kom-                (z. B. Rifampicin, Carbamazepin, Phenytoin, Pheno-
bination mit Benzodiazepinen, Barbituraten, Codein            barbital, Johanniskraut) sollte daher vermieden
und anderen Arzneimitteln mit möglicherweise                  werden. Cannabidiol kann auch Interaktionen durch
sedierender oder muskelrelaxierender Wirkung                  Beeinflussung des P-Glycoprotein vermittelten Me-
eine additive Sedierung möglich ist. Auch Antide-             dikamententransportes (z. B. von Digoxin) verur-
pressiva aller Wirkstoffklassen, Lithium, Sympa-              sachen.19 Die Verkehrstüchtigkeit kann durch Can-
thomimetika, Theophyllin, Anticholinergika, Disul-            nabinoide eingeschränkt sein. Der gleichzeitige
firam, Naltrexon und Opioide werden als Inter-                Konsum von Alkohol reduziert das Reaktionsver-
aktionspartner genannt. Pharmokokinetische Inter-             mögen additiv.18
aktionen sind aufgrund des Abbauweges der Can-

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Wirksamkeit und Nutzen

Im medizinisch-wissenschaftlichen Teil des Deut-              Um eine Orientierung zu erleichtern, soll im Folgen-
schen Ärzteblattes wurde es 2012 für erwiesen er-             den für die am häufigsten erwähnten Indikationen
achtet, „dass Cannabinode bei verschiedenen Er-               die vorliegende Evidenz konkreter dargestellt
krankungen einen therapeutischen Nutzen besit-                werden. Dabei handelt es sich überwiegend um
zen“.20 Als Indikationen wurden unter anderem                 kleine Studien (n < 100) mit einer im Hinblick auf
Spastik bei Multipler Sklerose, Übelkeit und Er-              die Behandlung chronischer Erkrankungen kurzen
brechen infolge einer Chemotherapie, Anorexie                 Beobachtungsdauer (< 2 Monate), die zu einem
und Kachexie bei HIV/Aids, chronische neuropathi-             erheblichen Teil im crossover design durchge-
sche Schmerzen und Schmerzen bei MS genannt.                  führt wurden. Sie wurden oftmals als Pilotstudien
                                                              konzipiert. Zum Zweck der Hypothesengenerie-
Bei systematischer Aufarbeitung der im wesent-                rung wurden sekundäre Endpunkte teilweise nach-
lichen unveränderten Datenlage ergab sich dage-               träglich definiert und häufig ohne ausreichende
gen 2017 die Schlussfolgerung: „Es besteht eine               Adjustierung für multiple Testungen ausgewertet.
eingeschränkte Evidenz für den Einsatz von THC/               Sofern eine Verblindung angestrebt wurde, ist zu
CBD-Spray bei neuropathischen Schmerzen. Es                   bedenken, dass diese wegen der Teilnehmern mit
besteht keine ausreichende Evidenz für Canna-                 Cannabis-Vorerfahrung bekannten psychologischen
binoide (Dronabinol, Nabilon, Medizinalhanf, THC/             Wirkungen nur teilweise gelungen sein dürfte.
CBD-Spray) bei Tumorschmerzen, rheumatischen                  Dadurch besteht ein Risiko, die pharmakologi-
und gastrointestinalen Schmerzen oder bei Appetit-            schen Effekte zu überschätzen.22 Für zukünftige
losigkeit bei Krebs und AIDS“.21                              Studien werden zusätzliche Maßnahmen zur
                                                              besseren Verblindung und eine Überprüfung des
                                                              Erfolgs der Verblindung angeregt.

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Nabiximols für mittelschwere bis schwere
Spastik bei Multipler Sklerose

Die Befristung des Beschlusses des Gemeinsamen                NRS Scores um mehr als 30 % gegenüber dem Ba-
Bundesauschusses (GBA) vom 21. 6. 2012, der für               siswert bei Rekrutierung bzw. nach der in der SA-
Nabiximols einen Anhaltspunkt für einen geringen              VANT-Studie eingeschobenen Auswaschphase
Zusatznutzen festgestellt hatte, wurde am 1. 11. 2018         (1 – 4 Wochen), unter Plazebo bei 55 bzw. 37 %. 23,24
nach Vorliegen der Ergebnisse einer zusätzlichen              Der geringere Anteil der Plazebo-Responder in
kleinen Studie (SAVANT23) aufgehoben. Die Sicher-             SAVANT ist durch den Ausschluss der Patienten
heit der Datenlage wurde auf einen „Hinweis“ für              bedingt, die am Ende der Auswaschphase noch um
einen geringen Zusatznutzen hochgestuft – im Ver-             mehr als 20 % gegenüber dem Basis-NRS-Wert bei
gleich zu einer optimierten Standardtherapie mit              der Rekrutierung gebessert waren.
Baclofen (oral) oder Tizanidin oder Dantrolen unter
Berücksichtigung der zugelassenen Dosierungen.                Studien zur Behandlung spastischer Symptome bei
Dabei sollen mindestens zwei vorangegangene                   Multipler Sklerose mit anderen Cannabis-Dar-rei-
Therapien erfolgt sein, in denen jeweils verschiedene         chungsformen ergaben zum Teil positive Er-geb-
orale Spasmolytika, davon mindestens ein Arznei-              nisse.25 Eine zusammenfassende Auswertung der
mittel mit Baclofen oder Tizanidin, optimiert ein-            Studiendaten mit oralen und oromukosalen Canna-
gesetzt sind. Als Grundlage der Entscheidung dien-            bis-Darreichungsformen ergab inkonsistente Ergeb-
ten zwei 12-wöchige Studien, in deren doppelt                 nisse. Insbesondere ließ sich ein signifikanter the-
blinde, Plazebo kontrollierte Phase nur Patienten             rapeutischer Nutzen bei objektiver Erfassung der
einbezogen wurden, die in einem vorangegange-                 Spastizität mit der Ashworth-Skala in 10 Studien
nen Therapieversuch mit Nabiximols eine klinisch              (ohne SAVANT) mit zusammen 2012 Patienten
relevante Verbesserung der subjektiven Symptoma-              nicht bestätigen.26 Die günstige Beeinflussung der
tik (mindestens 20 % bei der Bewertung durch                  subjektiv erfassten Spastik durch Nabiximols
die Patienten auf einer 11-stufigen Skala = NRS               konnte nach Ausschluss der vom Hersteller gespon-
Score) hatten, sogenannte Responder (n = 241 in               sorten Studien nicht bestätigt werden.26 Die im Auf-
GWSP0604 24 bzw. 106 in SAVANT). Davon wurden                 trag des Bundegesundheits-ministeriums erstellte
die 57 bzw. 94 Patienten, deren Basisdaten der zu-            CaPRis-Studie (Cannabis: Potential und Risiken)
gelassenen Indikation von Nabiximols entsprachen              kam zu dem Schluss, dass die Wirksamkeit von
und für die die erforderlichen Daten vorlagen, vom            Cannabis-Arzneimitteln bei Spastizität im Zusam-
GBA berücksichtigt. Unter Nabiximols kam es am                menhang mit Multipler Sklerose oder Paraplegie
Ende der Doppeltblindphase der Studien bei 82 bzw.            nach objektivierbaren Prüfkriterien nicht belegt wer-
85 % dieser Patienten zu einer Verbesserung des               den konnte.27

Nabilon für chemotherapiebedingte
Emesis und Nausea bei Krebs-Patienten

Studien zum Einsatz von Nabilon (Abbildung 5) für            und einer Parallelgruppen-Studie wurde Nabilon
chemotherapiebedingte Emesis und Nausea bei                  bei zusammen 490 Patienten mit anderen Anti-
Krebs-Patienten wurden überwiegend in den                    emetika verglichen.28 Diese Studien wurden ge-
Jahren 1979 bis 1986 publiziert. Es handelt sich             meinsam mit Dronabinol-Studien aus den Jahren
um 3 Plazebo kontrollierte Crossover-Studien mit             1975 bis 1991 in einem Cochrane-Review ausgewer-
zusammen 226 Patienten. In 8 Crossover-Studien               tet. Alle Studien hatten ein hohes Verzerrungs-

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potential vor allem aufgrund unzureichender Ver-              2 von 7 Patienten, unter alleiniger Standard-
blindung und unvollständiger Datenerfassung. Es               therapie bei 7 von 9 Patienten in Rahmen des
ergab sich im Vergleich zu Plazebo ein häufigeres             untersuchten Therapiezyklus zu verzögertem Er-
Ausbleiben von Erbrechen oder von Übelkeit und                brechen.30 In einer weiteren Studie (1 Therapie-
Erbrechen unter den geprüften Cannabinoiden,                  zyklus, 64 Patienten) wurde Dronabinol mit Ondan-
aber auch häufigere Therapieabbrüche wegen                    setron, der Kombination aus beiden und Plazebo
Nebenwirkungen. Im Vergleich zu anderen Anti-                 (an Tag 2 bis 5 des Therapieschemas) verglichen.
emetika ergab sich keine bessere Wirksamkeit der              Im Plazeboarm wurde vor der Chemotherapie ein-
Cannabinoide, aber ebenfalls häufigere Nebenwir-              malig Ondansetron und Dexamethason verabreicht,
kungen.28                                                     in den aktiven Therapiearmen zusätzlich vor und
                                                              nach der Chemotherapie am ersten Tag Dronabi-
Studien, die Nabilon mit neueren im Zusammen-                 nol. Dronabinol und Ondansetron zeigten eine
hang mit der Chemotherapie eingesetzten Anti-                 ähnliche Überlegenheit im Vergleich zu Plazebo,
emetika aus der Wirkstoffgruppe der Neurokinin-1-             die Kombination war nicht besser als die Einzel-
Rezeptor-Antagonisten (Aprepitant und andere)                 substanzen.31
vergleichen, existieren ebensowenig wie Studien
zur Anwendung von Nabilon im Zusammenhang                     Cannabinoide können nach einer aktuellen Über-
mit modernen Chemotherapien oder additiv zu                   sichtsarbeit aufgrund der Datenlage nicht als Erst-
zeitgemäßen antiemetischen Therapien.29                       linien- oder Zweitlinientherapeutika bei chemo-
                                                              therapiebedingter Emesis und Nausea empfohlen
Publiziert wurde eine Pilotstudie (Phase II) zur              werden.32 Es drängt sich die Vermutung auf, dass
additiven Behandlung von verzögerter chemo-                   bei der Beantragung der Wiederzulassung des
therapieinduzierter Übelkeit und Erbrechen mit                Nabilon-Präparates die durch die gesetzliche
Nabiximols Mundspray zusätzlich zu Standard-                  Neuregelung erleichterten off-label-Anwendungen
therapien mit 5HT3-Rezeptorantagonisten und                   stärker im Blick waren als die zugelassene Indi-
Dexamethason. Mit Nabiximols kam es nur bei                   kation.

                                      CH3
                                    H    CH3
                                        O

                 O
                                    H
                                 HO                                                               CH3
                                                   H 3C           CH3

Abbildung 5: Strukturformel von Nabilon, (6aS,10aS)-Enantiomer, von Jürgen Martens, The Merck Index, Wikimedia
Commons, Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license

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Cannabis in der Schmerztherapie –
neuropathisch

Nach einer ersten Auswertung der Begleiterhe-                 gebnisse haben einen niedrigen oder sehr niedri-
bung zur Anwendung von Cannabisarzneimitteln                  gen Evidenzgrad, insbesondere die mittlere Verän-
in Deutschland war die mit 68,8 % häufigste Indika-           derung der Schmerzintensität auf numerischen oder
tion die Schmerzbehandlung.33 Systematische Über-             analogen Schmerzskalen gegenüber dem Thera-
sichtsarbeiten zu Nutzen und Risiken der Canna-               piebeginn und die Häufigkeit des Ansprechens mit
binoide bei chronischen Schmerzen sind kritisch zu            einer 50 prozentigen Besserung der Schmerzen.
würdigen.34 Am ehesten gibt es Belege für eine Wirk-          Zusätzlich besteht der Vorbehalt der selektiven
samkeit bei peripheren neuropathischen Schmer-                Publikation, da 3 seit langem abgeschlossene
zen,35 allerdings mit geringer Effektstärke und nied-         kommerziell gesponserte Studien ohne Veröffent-
rigem Evidenzgrad.                                            lichung der Ergebnisse im Studienregister gefunden
                                                              wurden.34,35
Dabei ist es problematisch bzw. unmöglich, Studi-
en mit unterschiedlichen Präparaten (Nabiximols-              Von qualitativ hochstehenden Belegen für eine Wirk-
Mundspray, Nabilon, Dronabinol oder vaporisier-               samkeit von Cannabinoiden bei neuropathischen
tes bzw. gerauchtes Cannabis) in der Anwendung                Schmerzen kann somit nicht ausgegangen wer-
bei diversen ursächlichen Erkrankungen (Multiple              den.35 Untersuchungen im Vergleich oder in Ergän-
Sklerose, diabetische, HIV-assoziierte und Chemo-             zung zu einer Behandlung neuropathischer Schmer-
therapie-induzierte Neuropathien, Armplexus- und              zen mit den dafür zugelassenen modernen Coanal-
Rückenmarksverletzungen sowie periphere und                   getika liegen nicht vor. Potentiell positive Wirkungen
zentrale neuropathische Schmerzen verschiede-                 werden durch unerwünschte Wirkungen (Sedierung,
ner Ätiologie) mit unterschiedlichen Ergebnispara-            Verwirrtheit und psychotische Symptome) aufge-
metern und stark voneinander abweichender An-                 wogen.
wendungsdauer (2 bis 26 Wochen) metaanalytisch
zusammenzufassen.                                             In der aktuellen AWMF-Leitlinie zur Therapie neuro-
                                                              pathischer Schmerzen werden Cannabinoide unab-
Im Cochrane Review 35 fand sich auf diesem Hinter-            hängig von der Ursache der Neuropathie nicht emp-
grund eine moderate Evidenz für eine im Vergleich             fohlen, da ihr Effekt als gering und die Nebenwir-
zu Plazebo häufigere Besserung der Schmerzen                  kungsrate als hoch eingeschätzt wird. Kriterien für
durch ein Cannabis-Derivat um mindestens 30 %                 ihren Einsatz in Einzelfällen bei Versagen anderer
auf einer Schmerzskala, die als mäßige Besserung              Schmerztherapien im Rahmen eines multimodalen
zu charakterisieren ist. Geschätzt einer von 11 be-           Schmerztherapiekonzepts werden nicht genannt.36
handelten Patienten erreicht dieses Ergebnis zu-
sätzlich unter Verum (NNT = 11, 95 % Konfidenz-
intervall 7 bis 33). Ebenfalls moderat ist die Evidenz
für einen unter Verum häufigeren Behandlungsab-
bruch wegen unerwünschter Wirkungen (NNH = 25,
95 % Konfidenzintervall 16 – 50). Alle anderen Er-

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Zentralnervöse Schmerzen

Einige Studien untersuchten die Behandlung zent-              Zu bedenken ist weiterhin, dass alle Studien zur
ralnervös bedingter Schmerzen bei Multipler Skle-             Behandlung chronischer Schmerzen eine kurze
rose mit Cannabisprodukten. Hier lagen stärkere               Beobachtungsdauer beinhalten. Über die Lang-
methodische Mängel und inkonsistente Ergebnis-                zeitwirksamkeit von Cannabis Arzneimitteln in der
se vor. Eine Schlussfolgerung zum Nutzen er-                  Schmerztherapie ist wenig bekannt.41 Eine aktuelle
schien den Autoren der bereits erwähnten Über-                Übersicht wertet randomisierte Studien und Be
sichts-arbeit nicht möglich.37 In der größten Studie          obachtungsstudien bezüglich nicht-tumorbedingter
(CAMS) wurden 630 Patienten randomisiert 14                   Schmerzen aus. Im Ergebnis überwiegen die uner-
Wochen lang oral mit Cannabisextrakt bzw. THC                 wünschten Wirkungen gegenüber dem unzurei-
im Ver-gleich zu Plazebo behandelt. Die mit der               chend gesicherten Nutzen.42
Ashworth-Skala als primärer Studienendpunkt ge-
messene Spastik blieb unbeeinflusst. Bei einem                Eine aktuelle Übersicht zur perioperativen Bedeu-
der sekun-dären Endpunkte – Schmerzen – ga-                   tung von Cannabinoiden fand 6 Studien zur Be-
ben 46 bzw. 50 % der Patienten eine Besserung                 handlung akuter postoperativer Schmerzen.43 Drei
gegenüber dem Studienbeginn unter Verum an,                   Studien zeigten keine Beeinflussung der Schmer-
nur 30 % unter Plazebo („signifikant“ ohne Adjus-             zen, eine Studie zeigte signifikant stärkere Schmer-
tierung                                          für          zen unter Nabilon und zwei Studien zeigten eine
multiple Testungen). Die Einschätzung der Ame-
                     38
                                                              Schmerzlinderung, jedoch mit signifikanten Neben-
rican Academy of Neurology, eine Wirksamkeit von              wirkungen (Dysphorie, Sedierung, Übelkeit und
oralem Cannabisextrakt und THC zur Verminderung               andere).
von Schmerzen bei Multipler Sklerose sei etabliert,39
erscheint unzureichend untermauert.                           Die Behandlung akuter Schmerzen mit Cannabis-
                                                              Arzneimitteln ist durch die Neuregelung nicht er-
In einer weiteren systematischen Übersicht wur-               fasst. Experimentelle Untersuchungen mit Gesun-
den Studien zu peripheren und zentralen neuro-                den fanden bei sehr inhomogenen Ergebnissen
pathischen Schmerzen zusammengefasst, aber nur                Hinweise für eine mögliche geringfügige Anhebung
Studien mit den definierten Cannabinoiden Nabi-               der Schmerzschwelle und eine positive Auswir-
lon und Nabiximols Mundspray berücksichtigt.40 In             kung auf die emotionale Reaktion auf Schmerzen
der Metaanalyse der 10 (von 11) Studien, die Er-              durch Cannabinoide.44
gebnisse auf der 11-Punkte-Skala berichteten, er-
gab sich eine signifikante Besserung von frag-
würdiger klinischer Relevanz (0,65 Punkte) im Ver-
gleich zur Kontrolle (Plazebo in 9 Studien, Dihyd-
ro-codein in einer Studie). Eine separate Auswer-
tung der mit Nabilon durchgeführten Studien er-
gab keine signifikante Schmerzreduktion.

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Rheumatische Schmerzen

Häufig wird Cannabis auch zur Behandlung von Ge-              Die anderen beiden Studien untersuchten Patien-
lenkschmerzen empfohlen. Für eine systematische               ten mit Fibromyalgie. Eine davon zeigte Hinweise
Übersicht zum Stellenwert von Cannabinoiden bei               auf eine Besserung der Schmerzsymptomatik durch
der Behandlung rheumatischer Erkran-kungen wur-               Nabilon im Vergleich zu Plazebo. In der zweiten
den 2016 drei randomisierte und kontrollierte Stu-            Studie waren Schlafstörungen im Vergleich zu
dien mit zusammen 129 Patienten gefunden:45 In                Amitriptylin geringfügig gebessert, bezüglich der
der einzigen Studie bei Rheumatoider Arthritis redu-          Schmerzen ergab sich jedoch kein Unterschied.47
zierte Nabiximols Mundspray abends verabreicht                In einer Studie bei Gonarthrose-Patienten wurde
morgendliche bewegungsabhängige Schmerzen                     versucht, das Endocannabinoid-System durch einen
nach 5 Wochen knapp signifikant um 2,2 Punkte                 Fettsäureamid-Hydrolase-Inhibitor zu beeinflussen.
auf einer 11-Punkte-Skala (im Vergleich zu einer              Da sich der Effekt auf die Schmerzen bei der plan-
Besserung um 1,4 Punkte unter Plazebo).46                     mäßigen Zwischenanalyse nicht von Plazebo unter-
                                                              schied, wurde die Studie nach 2 Wochen vorzeitig
                                                              abgebrochen.48

Tumorschmerzen

Die Wirksamkeit von Cannabis bei Tumorschmer-                 de unter Verum signifikant häufiger erreicht. Das
zen ist Thema einer 2019 publizierten systemati-              mittlere Schmerzniveau besserte sich nicht signi-
schen Übersicht.49 Die Qualität der vorliegenden              fikant. In einer aktuellen Empfehlung wird vom
Evidenz ist niedrig, spricht jedoch überwiegend für           Einsatz von Cannabinoiden wegen der existieren-
eine fehlende Wirksamkeit. Weder eine 50 %ige                 den Belege für ihre Unwirksamkeit abgeraten.50
noch eine 30 %ige Besserung der Schmerzen wur

Kachexie bei AIDS

Cannabis wird häufig eine appetitstimulierende                besserung des Appetits (auf einer visuellen Ana-
Wirkung zugeschrieben. Diese könne unter an-                  logskala) gegenüber dem Studien-beginn gaben
derem bei AIDS („wasting syndrome“) genutzt                   38 % der mit Nabilon behandelten Patienten an,
werden. Ein Cochrane Review 51 fand 2013 nur                  unter Plazebo 8 % (signifikanter Unterschied). Un-
eine Studie mit dem primären Ziel, Veränderun-                ter Dronabinol kam es im Mittel zu einer Gewichts-
gen des Appetits und des Gewichtes durch eine                 zunahme von 0,1 Kg, unter Plazebo zu einer Ab-
Behandlung von Patienten mit AIDS bedingter An-               nahme von 0,4 Kg – Unterschied nicht signi-
orexie mit Dronabinol zu erfassen. 52 Die Studie              fikant.52
wurde vor der Verfügbarkeit hochaktiver antiretro-
viraler Therapien durchgeführt. Von den 139 ran-              2 weitere Studien zu den Effekten von Cannabino-
domisierten Patienten wurden 88 ausgewertet,                  iden auf die Ernährung von HIV-infizierten Patien-
die mindestens 4 von den geplanten 6 Wochen                   ten waren mit 10 bzw. 12 Teilnehmern sehr klein.
protokollgemäß behandelt wurden. 10 Plazebo-Pa-               Bei den 10 Teilnehmern handelte es sich um HIV-
tienten wurden wegen des Nachweises von Can-                  positive Marihuana-Raucher, die stationär jeweils
nabinoiden im Urin ausgeschlos-sen. Eine Ver                  4 Tage mit Dronabinol oder gerauchtem Marihua-

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na behandelt wurden. Eine höhere tägliche Kalo-               einer Dronabinol-Behandlung bzw. des Marihuana-
rienaufnahme im Vergleich zu den nicht-verblin-               Rauchens neben einer antiretroviralen Therapie
deten Plazebo-Phasen wurde dosisabhängig für                  zu prüfen. Hier fand sich eine mit 3,2 bzw. 3,0 kg
beide aktiven Behandlungen berichtet, eine Ge-                (ohne Adjustierung für multiples Testen signifikant)
wichtszunahme von 1,1 bzw. 1,2 Kg in 4 Tagen (!?)             stärkere mittlere Gewichtszunahme in den Verum-
nur mit der jeweils höheren Dosierung. 52 Von den             Armen im Vergleich zu 1,1 kg unter Plazebo. Laut
12 Teilnehmern in der anderen aus der Zeit vor                DEXA handelte es sich um eine Zunahme von Kör-
effektiven antiretroviralen Therapiemöglichkeiten             perfett.54 Es ist unklar, ob dieses Ergebnis auf am-
stammenden Studie konnten 5 ausgewertet werden.               bulante Bedingungen übertragbar oder überhaupt
Diese zeigten in 5 Wochen mit Dronabinol eine                 erwünscht ist.
Gewichtszunahme von im Median 0,5 kg, in den
5 Wochen mit Plazebo eine Gewichtsabnahme                     Angesichts der bestenfalls marginalen Effekte und
von im Median 0,7 kg. Der Unterschied war nicht               des Fehlens von Belegen für einen anhaltenden
signifikant.54                                                Nutzen kann auf dem Hintergrund aktueller anti-
                                                              retroviraler Therapien kein Stellenwert von Can-
Eine 3-wöchige stationär durchgeführte Studie mit             nabinoiden bei der Behandlung von HIV-bedingter
67 Patienten hatte das primäre Ziel, die Sicherheit           Anorexie oder Gewichtsverlust gesehen werden.21

Kachexie bei anderen fortgeschrittenen
Erkrankungen

Auch für die Behandlung von tumorbedingter Ano-               Eine stationär durchgeführte cross-over Studie
rexie und Kachexie mit Cannabinoiden gibt es                  mit 15 Patienten (12 ausgewertet) untersuchte den
keine ausreichende Evidenz.56 Eine 6-wöchige                  Effekt von Dronabinol auf die Verweigerung der
Studie mit 243 Patienten zeigte mit Cannabis-                 Nahrungsaufnahme durch Alzheimer-Patienten mit
Extrakt oder THC keine Reduktion der Gewichts-                einem mittleren BMI von 22,6. Die Patienten, die
abnahme im Vergleich zu Plazebo. Die Verbesse-                in den ersten 6 Wochen Dronabinol erhielten,
rung des Appetits war in den 3 Behandlungsarmen               nahmen in dieser Studienphase stärker zu (7 lb.)
nicht signifikant unterschiedlich.56 In einer weiteren        als die zunächst mit Plazebo behandelten (4,6 lb.).59
Studie (469 Patienten, 2 Monate) wurde Dronabi-               Sofern das Ergebnis als glaubwürdig anzusehen
nol mit Megestrol und der Kombination aus beiden              ist, belegt es am ehesten, dass nicht-pharma-
verglichen. Signifikant mehr Megestrol-Patienten              kologische Maßnahmen (hier die Aufnahme und
gaben eine Verbesserung des Appetits an (75 % vs.             Betreuung auf der Demenzstudien-Station) eine
49 %) und nahmen mehr als 10 % an Gewicht zu                  Gewichtszunahme induzieren konnten.
(11 % vs. 3%). Die Kombination war nicht besser
als Megestrol alleine.58.

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Psychische Erkrankungen

Die Wirksamkeit von Cannabinoiden bei Depres-                 der Symptome (Gewalttätigkeit, Alkohol- und
sionen wurde nicht in kontrollierten Studien unter-           Drogenmisbrauch) bei kontinuierlichen oder neu
sucht. Die Auswirkung auf eine depressive Symp-               beginnenden Cannabis-Anwendern im Vergleich
tomatik wurde in Studien mit Schmerz- und MS-                 zu Nie-Anwendern oder denen, die den Cannabis-
Patienten erfasst. Eine Verbesserung der depres-              Konsum beendeten.63 Das synthetische Canna-
siven Symptome wurde nicht erzielt.60                         binoid Nabilon wurde in einer 7-wöchigen cross-
                                                              over-Studie mit 10 Soldaten untersucht, THC un-
Die Entwicklung von Nabilon als Anxiolytikum                  verblindet ebenfalls an 10 Patienten. In beiden
wurde wegen der Nebenwirkungen nicht verfolgt,                Studien wurde nur ein Teil der Symptome (trauma-
obwohl 1981 eine Pilotstudie mit einer 4-wöchigen             bezogene Albträume bzw. Erregung und Schlaf-
Behandlung von 20 Patienten mit positiven Ergeb-              qualität) im Vergleich zu Plazebo positiv beein-
nissen (ohne Angaben zur Randomisierung) publi-               flusst.64 Auf dem Hintergrund der dürftigen Hin-
ziert wurde.61 2011 wurde eine Ein-Dosis-Stu-die              weise für einen Nutzen der Cannabinoide bei
mit Cannabidiol bei 24 Patienten mit sozialer                 posttraumatischen Belastungsstörungen wurden
Angststörung durchgeführt. Im simulierten öffent-             zwei kontrollierte Studien initiiert. Die Studie
liche Rede Test reduzierte das vorab verabreichte             NCT02759185 wurde laut Registereintrag Januar
Cannabidiol Angst, kognitive Hemmung und Un-                  2019 abgeschlossen. Ergebnisse sind jedoch
wohlsein während des Testes signifikant im Ver-               nicht publiziert. Die Ergebnisse der Studie
gleich zu Plazebo.62 Auch unter Berücksichtigung              NCT02517424 sind für Juni 2022 angekündigt. 63
der Besserung von Angst als sekundärem Endpunkt
in Schmerzstudien (nicht notwendigerweise mit
Vorliegen von Angststörungen) kann aus diesen
Ergebnissen kein Stellenwert eines der Canna-bi-
noide in der Behandlung von Angststörungen ab-
geleitet werden.60

Post-traumatische Belastungsstörungen gelten in
einigen US-Staaten als Indikation für medizinische
Anwendung von Cannabis. Eine systematische
Übersichtsarbeit fand jedoch 2017 keine kontrol-
lierten Studien mit pflanzlichen Cannabispräpa-
raten einschließlich des Extraktes Nabiximols zu
dieser Indikation. Drei Beobachtungsstudien fanden
keine Besserung, teilweise sogar eine Verstärkung

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Epilepsie

In Studien mit Cannabis-Derivaten wurden wieder-              tienten mit Lennox-Gastaut Syndrom durchge-
holt epileptische Anfälle als Nebenwirkung be-                führt. Die Häufigkeit der Sturzanfälle konnte um
richtet. Andererseits gibt es Fallberichte über eine          etwa 40 % gesenkt werden – im Vergleich zu etwa
antiepileptische Wirksamkeit von Cannabinoiden.               20 % unter Plazebo.67,68 Ein Cannabidiol-Monoprä-
Eine doppeltblinde kontrollierte crossover-Studie             parat ist als Antiepileptikum für die Behandlung
mit 12 erwachsenen Patienten ist nur als Abstract             der genannten Syndrome in Kombination mit
publiziert und zeigte keinen Unterschied zwischen             Clobazam zugelassen. Es wird vermutet, dass die
Cannabidiol und Plazebo.65                                    Erhöhung des Wirkspiegels anderer Antiepilep-
                                                              tika, vor allem des Clobazams durch eine Interak-
Eine 14-wöchige Plazebo kontrollierte Doppelt-                tion mit Cannabidiol zur Wirksamkeit und zur
blind-Studie mit Cannabidiol zusätzlich zur antiepi-          Somnolenz als Nebenwirkung beiträgt.19 Eine Pla-
leptischen Vorbehandlung wurde bei 120 Kindern                zebo kontrollierte Studie beim West Syndrom
und Jugendlichen mit Dravet Syndrom und be-                   (NCT03421496) sollte im Dezember 2019 abge-
handlungsresistenten Anfällen durchgeführt. Die               schlossen sein. Ergebnisse sind noch nicht pub-
mediane Anfallsfrequenz ging von 12,4 im voran-               liziert. Die Rolle von Cannabinoiden für andere
gegangenen 4-Wochen Zeitraum auf 5,9 pro Monat                Formen der Epilepsie ist bisher unzureichend er-
zurück (unter Plazebo von 14,9 auf 14,1) 65.                  forscht.69
Zwei ähnliche Studien wurden bei 171 bzw. 225 Pa-

Tourette-Syndrom

Die Auswirkung von THC-Kapseln auf die Symp-                  können allenfalls Hinweise auf eine mögliche
tome eines Tourette-Syndroms wurde in 2 Studien               Wirksamkeit (Hypothesen) abgeleitet werden, da
untersucht: Eine Ein-Dosis-crossover-Studie mit               bewusst auf eine volle statistische Korrektur für
12 Patienten und eine 6-wöchige Parallelgrup-                 multiples Testen verzichtet wurde bzw. in Varianz-
penstudie mit 24 Patienten. Aus beiden Studien                analysen nur Trends ermittelt wurden.70,71

Magen-Darm-Erkrankungen

Gerauchtes Marihuana wurde in einer 8-Wochen-                 gleich zu Plazebo.74 Auch das Cochrane Review
Studie mit 21 Patienten bei M. Crohn mit Plaze-               zur Anwendung von Cannabis bei Colitis ulcerosa
bo-Zigaretten verglichen.72 Es zeigte sich ein nicht          fand nur 2 kleine Studien mit zusammen 92 Patien-
signifikanter Trend zur häufigeren Vollremission.             ten ohne Belege für eine Auswirkung auf die
Eine analoge Studie mit oralem Cannabidiol zeigte             Krankheitsaktivität.75
dagegen keine Wirkung.73 Ein aktuelles Cochrane
Review fand eine weitere 8-Wochen-Studie mit                  Eine einzige Studie mit Reizdarmpatienten vom
39 Patienten, von der bislang nur ein Teil der Er-            Durchfalltyp fand keine Auswirkung zwei ver-schie-
gebnisse als Abstract publiziert wurden. Es fan-              dener Dronabinol Dosierungen auf gastro-intesti-
den sich durch Cannabisöl (15 % Cannabidiol, 4 %              nale Transitzeiten im Vergleich zu Plazebo. Weite-
THC) Verbesserungen im CDAI (Crohn‘s Disease                  re Studien werden nicht gefunden.75
Activity Index) und in der Lebensqualität im Ver-

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Nebenwirkungen

Die Nebenwirkungen einer medizinischen Anwen-                 In systematischen Übersichten werden als Neben-
dung von Cannabisderivaten entsprechen teilwei-               wirkungen bei medizinischem Gebrauch von
se den durch den Gebrauch als Droge bekannten                 Cannabinoiden Gedächtnisstörungen, motorische
Schadwirkungen.17 Akut kommt es zu kognitiven                 Koordinationsstörungen mit erhöhtem Risiko von
Beeinträchtigungen, insbesondere der Gedächtnis-              Verkehrsunfällen und kognitive Veränderungen ge-
leistung, der Aufmerksamkeit und der Psycho-                  nannt.25 Die Auswertung von 29 randomisierten Stu-
motorik.                                                      dien mit 3714 Teilnehmern ergab eine odds ratio
                                                              von 3,03 für das Auftreten jeglicher un-erwünschter
Bei regelmäßigem Gebrauch besteht ein Sucht-                  Wirkungen unter Cannabinoiden im Vergleich zu
potential. Es ist größer bei täglichem Gebrauch               Plazebo.60 Wesentliche Unterschiede zwischen
(25 – 50 %) und bei Beginn in jüngerem Alter (1 von           den verschiedenen Wirkstoffen und Darreichungs-
6 Teenagern).77 Der Übergang zu härteren Drogen               formen wurden nicht festgestellt. Die meisten auch
ist nicht selten, kann aber auch an der primären              unter Berücksichtigung von Beobachtungsstudien
Suchtdisposition der Betroffenen liegen. Ein Ent-             erfassten Nebenwirkungen sind nicht schwerwie-
zugssyndrom mit Irritabilität, Schlafstörungen,               gend: Schwindel, Sedierung, Tremor, Kopfschmer-
Dysphorie, Ängsten und Verlangen nach der Droge               zen, Unaufmerksamkeit, Euphorie, Depression,
ist bekannt.78                                                Sprachstörung, Schmerzen, Muskelkrämpfe, Mü-
                                                              digkeit, Asthenie, Mundtrockenheit, Übelkeit, ver-
Die Anwendung von Cannabis in der Schwanger-                  schwommenes Sehen und Blasenstörungen.81 Be-
schaft ist nicht sicher. Kinder von Marijuana-Anwen-          züglich der bei langfristiger Anwendung auftretenden
derinnen sind häufiger anämisch, untergewichtig               Nebenwirkungen liegen wenig Erkenntnisse vor.60
und intensivtherapiebedürftig.11 Ein negativer Ein-
fluss von Cannabinoiden auf die embryonale und                Bei den schwerwiegenden UAW zeigt sich ein
fetale Entwicklung des Nervensystems wird auf-                Trend zu mehr Todesfällen unter Cannabinoiden,
grund der Rolle des Endocannabinoid-Systems für               allerdings überwiegend bei Patienten mit fortge-
möglich gehalten. Aufgrund der Lipohilie ist mit ei-          schrittenen Tumorleiden.56 Luftnot, Lungenentzün-
nem Übertritt der Cannabinoide in die Mutter-milch            dungen, Schübe einer Multiplen Sklerose und Er-
zu rechnen.79 Die Entwicklung des zentralen Ner-              brechen wurden ebenfalls häufiger berichtet.81 Bei
vensystems in der Kindheit und Jugend wird mögli-             der Multiplen Sklerose und anderen zentralner-
cherweise durch Cannabinoide beeinträchtigt.                  vösen Erkrankungen gibt es Hinweise für eine
                                                              stärkere Progredienz kognitiver Einschränkungen
Cannabis kann akut eine vorübergehende positive               unter Cannabinoiden.82 Es ist damit zu rechnen,
oder negative psychotische Symptomatik und                    dass ältere Patienten wegen der reduzierten Funk-
kognitive Beeinträchtigung auslösen. Der Gebrauch             tionsreserven für die UAW von Cannabinoiden an-
in der Adoleszenz erhöht dosisabhängig das Risiko             fälliger sind, z. B. erhöhtes Sturzrisiko.83
der Ausbildung einer Psychose oder Schizophre-
nie. Unabhängig davon kann auch die kognitive                 Auswirkungen des Cannabis-Rauchens auf die
Entwicklung beeinträchtigt werden, der Schulbe-               Lungengesundheit sind wegen der häufigen
such wird häufig abgebrochen, es kommt zu                     Assoziation mit dem Zigarettenrauchen und der
depressiven Symptomen und zu vermehrten suizi-                Beimischung von Tabak schwer von den durch
dalen Gedanken und Handlungen.27,80                           Tabak induzierten Schäden abzugrenzen. Am
                                                              ehesten wird eine chronische Bronchitis induziert

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oder verstärkt. Eine tabakunabhängige Auslösung               und ist durch zyklisches Auftreten von Phasen mit
einer COPD oder von Lungenkarzinomen ist nicht                schwergradiger Übelkeit und Erbrechen, häufig mit
belegt.84                                                     Bauchschmerzen, gekennzeichnet, die 1 bis 2 Tage
                                                              anhalten.90,91 Heißes Duschen oder Baden verschafft
Die am besten reproduzierbaren kardiovaskulä-                 Erleichterung, Antiemetika sind weitgehend wir-
ren Cannabis-Effekte sind ein Anstieg der Herzfre-            kungslos. Es muss vom idiopathischen Syndrom
quenz und des Blutdrucks, der bei einer höheren               des zyklischen Erbrechens abgegrenzt werden.92
Dosis jedoch eher sinkt.85 Da diese Wirkungen                 Als Abgrenzungskriterium wird ein Sistieren der
durch THC ausgelöst und über CB1- und CB2-                    Symptomatik für mindestens 6 Monate oder der
Rezeptoren vermittelt werden, ist mit ihnen auch              Dauer von 3 Zyklen nach Beendigung des Canna-
bei nicht-inhalativer Anwendung von Cannabi-                  bis-Konsums angesehen. Das Cannabinoid Hyper-
noiden zu rechnen. Ischämische Schlaganfälle,                 emesis Syndrom wurde bisher nicht nach thera-
Herzinfarkte und Herzrhythmusstörungen werden                 peutischen Anwendungen von Cannabis berichtet.
mit Marijuana-Konsum, Cannabinoid haltigen                    Es sollte aber den Verordnern bekannt sein, damit
Arzneimitteln und synthetischen Cannabinoiden                 die Abklärung durch den Abstinenzversuch ver-
(Designer-Drogen) assoziiert. 86,87 Die Auswirkun-            sucht werden kann.
gen einer passiven Marihuanarauchexposition
sind wenig erforscht. Da die Auslösung von Herz-              Es muss vom idiopathischen Syndrom des zykli-
infarkten zeitnah nach einer passiven Tabakrauch-             schen Erbrechens abgegrenzt werden.92 Als Ab-
exposition durch toxische Gase und inhalierbare               grenzungskriterium wird ein Sistieren der Sympto-
Partikel vermittelt wird, die in Marihuanarauch               matik für mindestens 6 Monate oder der Dauer von
mindestens gleichermaßen enthalten sind, kann                 3 Zyklen nach Beendigung des Cannabis-Konsums
die Ungefährlichkeit nicht unterstellt werden.88              angesehen. Das Cannabinoid Hyperemesis Syn-
                                                              drom wurde bisher nicht nach therapeutischen
Das Cannabinoid Hyperemesis Syndrom wurde                     Anwendungen von Cannabis berichtet. Es sollte
erstmals 2004 beschrieben.89 Es tritt bei jüngeren            aber den Verordnern bekannt sein, damit die Ab-
Personen mit mindestens 1 Jahr anhaltendem min-               klärung durch den Abstinenzversuch versucht
destens wöchentlichem Cannabis-Gebrauch auf                   werden kann.

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Fazit

Die gesetzliche Einführung der Verordnungsfähig-              Wenn etwa für neuropathische Schmerzen auf-
keit von medizinischem Cannabis erfolgte aus                  grund der begrenzten, aber tendenziell positiven
Gründen politischer Opportunität. Abgesehen von               Studienergebnisse dennoch Cannabisprodukte
2 seltenen kindlichen Epilepsie-Syndromen liegen              verordnet werden sollen, ist chemisch definierten
keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnis-              Einzelwirkstoffen oder zumindest chemisch cha-
se vor, die für eine Zulassung neuer Cannabinoid              rakterisierten Extrakten gegenüber getrockneten
haltiger Arzneimittel oder für eine Indikationsaus-           Pflanzen(teilen) der Vorzug zu geben. Eine Emp-
weitung bereits zugelassener ausreichen.                      fehlung zum Rauchen von Cannabis sollte wegen
                                                              der zahlreichen toxischen Bestandteile des Canna-
Nun ist die Ärzteschaft mit den politisch induzier-           bisrauchs nicht gegeben werden. Im Übrigen wird
ten Verordnungswünschen konfrontiert. Wie bei                 auf die Praxisinfor-mationen der KBV hingewie-
allen Therapien kommt es in der Beratung darauf               sen (http://www.kbv.de/html/cannabis-verordnen.
an, eine Abwägung von möglichem Nutzen und                    php).
Schaden vorzunehmen. Ein großer Teil der oben
dargestellten Evidenz kommt aus Pilotstudien,                 Eine Verordnung an Kinder und Jugendliche soll-
die allenfalls Hypothesen generieren könnten.                 te wegen der negativen Beeinflussung der zereb-
Häufig rekrutierten die Studienteilnehmer sich                ralen Entwicklung mit der möglichen Ausnahme
aus Cannabis-Anwendern, die unter Plazebo Ent-                spezieller Epilepsie-Syndrome unterbleiben. Von
zugserscheinungen hatten. Dennoch werden die                  der Anwendung in der Schwangerschaft muss ab-
Ergebnisse weithin als vermeintlich gesicherte                geraten werden. Die potentiell eingeschränkte Fahr-
Indikationen dargestellt. Den anfragenden Patien-             tüchtigkeit muss thematisiert werden.
ten sollte nicht vorenthalten werden, dass die
Hoffnung auf einen positiven Effekt kaum über                 Dr. med. Rainer Burkhardt,
Mutmaßungen hinausgeht, die sich aus Kurzzeit-                Oldenburg (Oldb)
beobachtungen mit wenigen Patienten ergeben.
Über unerwünschte Wirkungen gibt es vergleichs-
weise besser gesicherte Erkenntnisse.

Wissen teilen, Wissen fördern – März 2020
Seite 20  CME-Fortbildung zum Thema: Cannabis – Gibt es gute Gründe für die Verordnung von Medizinalhanf?

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