Nationale Identität und die Frage der Herkunft in Rom: der Begriff origo
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Einleitung Nationale Identität und die Frage der Herkunft in Rom: der Begriff origo Dieses Buch lädt uns ein, die heute geläufige Vorstellung einer nationalen Identität vor dem Hintergrund der römischen Antike zu überdenken und analytisch zu entzaubern. Dreh- und Angelpunkt einer solchen Dekon- struktion wird die Aeneis Vergils sein, die als ‚Nationalepos‘ par excellence gilt. Diese Bezeichnung ist allerdings anachronistisch und somit gera- dezu suspekt, denn sie suggeriert, dass der bukolische Vergil zur ‚huma- nistischen‘ und somit unbestreitbaren Rechtfertigung der gegen Ende des 19. Jahrhunderts auftretenden Ideologie des Nationalismus tauge. Dabei wird so getan, als ob der Nationalismus zu den natürlichen Neigungen des Menschen gehörte und sich wie ein roter Faden durch die Menschheits- geschichte zöge. Im Folgenden wird es zunächst darum gehen, zu untersuchen, was sich die Römer unter Bürgerrecht vorstellten, galt doch in der Antike ein Mensch als frei, insofern er sich als Bürger einer Stadt verstand. Die Römer haben den Ruf, wie kein anderes Volk den Nationalismus verkörpert zu haben, weil ihre Identität durch die griechische Kultur bedroht worden sei, nach- dem sie den östlichen Mittelmeerraum unterworfen hatten. Allseits bekannt sind die folgenden Verse, die Horaz, der Freund Vergils, in seinem Brief an Augustus schrieb: „Und das besiegte Griechenland bezwang den wilden Sieger, indem es die Künste in das bäuerliche Latium brachte.“1 Allerdings sollte man sich vor einer voreiligen Interpretation dieser Verse eines Dichters hüten, der sich selbst rühmt, die griechischen Oden in Italien bekannt gemacht zu haben: „Hell wird mein Name glänzen … Weil ich äol’scher Harmonie / Zuerst Italiens Sprache lieh.“2
12 Einleitung Wir werden im Laufe unserer Untersuchung auf diese Gemeinplätze über das Verhältnis zwischen Griechen und Römern zurückzukommen haben, da sich am Ende ja herausstellen wird, dass das römische Bürgerrecht kei- nesfalls durch eine kulturelle, ethnische, religiöse, sprachliche oder sonst wie geprägte Identität definiert wurde. Ebenfalls wird sich herausstellen, dass die Aussage, latinisch oder italisch geprägt zu sein, letztlich keine Be- deutung hatte: Denn ein römischer Bürger zu sein, das hieß doch, wie Ae- neas aus der Fremde zu kommen. Bestätigt wird dies eben durch das große ‚nationale Epos’, das sämtliche Vorstellungen von Stammbaum und Her- kunft durcheinander bringt. Einen ‚Kampf der Kulturen‘ hat es zwischen Rom und Griechenland niemals gegeben, und wir werden sehen, dass die Römer im ersten vorchristlichen Jahrhundert bisweilen griechischer waren als die Griechen selbst.3 Weshalb der Rekurs auf die Antike? Mehr als jede andere historische Epoche eignet sich die Antike zur Bekräf- tigung von Ideologien, seien diese nun ‚links‘ oder ‚rechts‘, vor allem wenn sie den europäischen Denkern das beruhigende Gefühl vermittelt, dass ihre Ideen ja schon immer dagewesen seien. Sie geben vor, sich mit den antiken Denkern zu identifizieren, aber in Wirklichkeit verleiben sie diese dem mo- dernen Denken ein; gleichzeitig jedoch bezeichnen sie die ‚Alten‘ als Ur- sprung ihres eigenen Denkens. Ziel der anthropologischen Betrachtung der Antike muss es jedoch sein, diesen intellektuellen Kurzschluss als das zu ent- larven, was er ist, und zwar durch den berühmten „Blick aus der Ferne“4 – einer Ferne von 2000 Jahren Geschichte und einer Vielzahl kultureller Ent- wicklungsschritte, die zwischen ‚ihnen‘ und ‚uns‘ stehen. Die Anthropologie bricht mit der Vorstellung eines Zeitkontinuums; für sie bedeutet Geschichte lediglich Distanz, und jegliche evolutionistische Sicht der Geschichte ist ihr fremd. ‚Wir‘ leben nicht wie ‚sie‘, die Römer und Griechen, und ‚wir‘ denken nicht wie ‚sie’; und diese Unterschiede sind keinesfalls das Resultat eines zur Geschichte der Menschheit gehörenden technischen oder moralischen Fort- schritts: Zwischen ‚ihnen‘ und ‚uns‘ liegen einfach Welten, von denen wir uns kaum ein Bild machen. Und schließlich gilt, dass wir von uns selbst ein ganz anderes Bild haben werden, wenn wir uns nach der Beschäftigung mit der Antike wieder unserer eigenen Gegenwart zuwenden: Die Wirklichkeit,
Nationale Identität und die Frage der Herkunft in Rom: der Begriff origo 13 in der wir leben, ist nicht die zwingende Folge der Vergangenheit, und wo- möglich ist so etwas wie nationale Identität schlechterdings obsolet. Weshalb Rom und nicht Athen? Athen war ein Stadtstaat, der sich gegenüber der Außenwelt abschloss. Der Athener war Bürger seiner Polis und hatte diesen Status väterlicherseits – und mütterlicherseits – ererbt; nur selten gestand das Volk der Athener Fremden diesen Status eines Bürgers zu. Wie in allen griechischen Stadt- staaten legte man großen Wert darauf, die eigene Identität in den Vorder- grund zu rücken. Dass die griechischen Stadtstaaten sich von der Außenwelt abkapselten, geht zurück auf ihr Ideal von Freiheit (eleutheria), das sie dazu brachte, her- vorzuheben, was sie von den anderen unterschied, und sich dessen zu rüh- men. Jeder dieser Stadtstaaten bestand darauf, eine eigene Götterwelt zu ha- ben und ein eigenes Alphabet sowie eigene Gesetze und eine eigene Sprache. Jeder hatte eine eigene politeia (Verfassung), womit die Art und Weise ge- meint ist, wie man in der Polis lebte, und aus dieser politeia ging die Identi- tät der jeweiligen Polis hervor. Diese politeia ist eine Summe von Gesetzen, welche die soziale Struktur und das politische Leben bestimmten ebenso wie die Erziehung der Kinder – unabhängig davon, ob die Stadtstaaten durch eine Oligarchie regiert wurden, das ganze Volk, einen Tyrannen oder Könige. Die politeia geht aus dem nomos hervor, also der Übereinkunft bzw. dem Gesetz, und nicht aus der physis, der Natur. Am Beginn einer solchen politeia steht meistens ein mythischer Weiser als Gesetzgeber wie Lykurg in Sparta, Solon in Athen oder eben Drakon und Theseus. Der bios – also die Lebensweise, die Sitten, die Kultur – ist in jedem Stadtstaat unterschiedlich: Nichts unterschei- det sich mehr voneinander als der Kriegertyp Spartas und der Bürger Athens, der auf der Ruderbank eines Kriegsschiffes seinen Dienst für die Stadt leistet. Diese Kultur der Differenz bringt im Kontext der griechischen Antike eine Bekräftigung der jeweiligen Identität zum Ausdruck und ist vergleich- bar mit dem, was in der Sprachwissenschaft unter Dialektalisierung verstan- den wird. Gleichzeitig gilt jedoch, dass trotz der Vorstellung einer vererbba- ren Zugehörigkeit zur Bürgerschaft keiner der jeweiligen Stadtstaaten eine ursprünglich biologisch definierte und durch Abstammung weitergegebene Identität kennt; genauso wenig existiert die Vorstellung eines von den Ah-
14 Einleitung nen ererbten ursprünglichen Charakters oder einer in der Welt der Vorfah- ren verwurzelten Eigentümlichkeit, aus der das Wesen Athens, Spartas, The- bens oder Milets hervorgegangen sei. Was also kategorisch ausgeschlossen wird, ist ein von Geburt an existierender physischer Unterschied oder eine natürliche Disposition, durch welche Identität determiniert würde und aus dem sich Rückschlüsse auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Polis zie- hen ließen. Den griechischen Stadtstaaten kommt es lediglich auf die ‚poli- tischen‘ Unterschiede an, also auf die Unterschiede, die sich an der politeia festmachen lassen. Wenn die Frauen Spartas als schöner gelten, so ist dies lediglich darauf zurückzuführen, dass in Sparta körperliche Ertüchtigung groß geschrieben wird. All dies steht indes keinesfalls im Widerspruch zu der Tatsache, dass jeder Stadtstaat eine auf Fiktion beruhende Identität aus- prägt, wie beispielsweise die Abstammungsmythen in Theben oder die in Athen vorherrschende Idee einer ursprünglichen Besiedlung der Polis. Jede Handlungs- und Redeweise hat ihre Berechtigung5, und die griechischen Stadtstaaten waren keinesfalls frei von einem gewissen Lokalpatriotismus. In Zeiten politischer Unruhen waren Metöken und andere nicht zur Bürger- schaft Gehörende die ersten Opfer dieser eleutheria. Rom hingegen praktizierte eine ganz andere Politik: Ein griechischer Historiker der augusteischen Epoche, Dionys von Halikarnass, richtete sein Augenmerk auf diese Besonderheit und stellte fest, dass die Römer, anstatt die von ihnen besiegten Völker zu unterjochen oder zu vernichten, Kolo- nien gründeten, denen sie das Stadtrecht verliehen. Seine These hat umso mehr Gewicht, als ihm ansonsten alles daran gelegen ist, zu beweisen, dass die Römer eigentlich Griechen seien. Aber bei dem genannten Aspekt ist der Unterschied nicht zu leugnen: „Wenn man die Bräuche der Griechen mit denjenigen der Römer ver- gleicht, so kann ich für meinen Teil keinen Grund finden, diejenigen der Lakedaimonier, der Thebaner oder der Athener zu loben, die sich doch so sehr ihrer Weisheit rühmen: Alle verteidigen mit eifersüchtigem Stolz ihre edle Abkunft und verleihen keinem, jedenfalls nur ganz weni- gen Menschen das Bürgerrecht; ich sage hier nichts dazu, dass einige die Fremden sogar vertreiben.“6 Dies sei, so Dionys, der Grund, weshalb die Römer Herren der Welt wurden, als der griechische Einfluss schwand. Seinen Reichtum und seine Macht
Nationale Identität und die Frage der Herkunft in Rom: der Begriff origo 15 schuldet Rom seiner riesigen Bevölkerung aus freien Bürgern fremder Her- kunft, bei denen es sich um ehemalige Feinde handelt, die, nachdem sie be- siegt worden waren, in das römische imperium7 integriert wurden. Wegen dieser Menschen konnte die res publica über unzählige Armeen verfügen sowie über eine Elite, die sich ständig erneuerte. Dass diese Politik schon immer diejenige Roms war, wird im Jahr 48 n. Chr. Kaiser Claudius vor dem Senat bekräftigen: „Meine Vorfahren – von denen der älteste Clausus ist, von seiner Her- kunft her (origine) ein Sabiner, dem zugleich das Bürgerrecht zugebilligt wurde sowie die Aufnahme in die Patrizierfamilien – fordern mich auf, ähnlich zu verfahren in Bezug auf die Verwaltung des Staates, indem ich nämlich in diesem Bereich anwende, was sich andernorts als vortrefflich erwiesen hat. Ich weiß nämlich nur zu gut, dass die Iulier aus Alba, die Coruncanier aus Camerium, die Porcier aus Tusculum und – um nicht in längst vergangenen Zeiten nachzuforschen – dass Senatoren aus Etru- rien, Lucanien und ganz Italien berufen worden sind, ja dass Italien selbst bis zu den Alpen erweitert worden ist, damit nicht nur einzelne Männer, sondern Länder und Völker sich in unserem Volk (in nomen nostrum) zusammenfinden. Damals herrschte Frieden im Innern, und gegenüber den äußeren Feinden waren wir mächtig, als die Menschen, die jenseits des Flusses Po lebten, in unseren Staat aufgenommen waren, und als man in die scheinbar auf der ganzen Erde stationierten Legionen die Tüchtig- sten der Provinzbewohner aufnahm und so das geschwächte Imperium stützte. Bereut es jemand, dass die Balber aus Spanien und nicht weni- ger hervorragende Männer aus dem narbonensischen Gallien zu uns gekommen sind? Ihre Nachkommenschaft bleibt, und in ihrer Liebe zu diesem Vaterland (in hanc patriam) stehen sie uns nicht nach. Welchen anderen Grund für den Untergang von Lakedaimoniern und Athenern gab es als den, dass sie, obwohl sie militärisch stark waren, die Besieg- ten als Fremdartige (alienigenis) betrachteten und somit ausschlossen? Im Gegensatz dazu war Romulus, der Gründer unseres Staates, so weise, dass er viele Völker (populos) an einem und demselben Tag zu Feinden und kurz darauf als Bürger hatte. Fremde haben uns regiert: Dass die Söhne von Freigelassenen Staatsämter übernahmen, ist nicht, wie viele fälschlicherweise meinen, etwas Neues, sondern wird seit frühen Zeiten im Volk praktiziert.“8
Kapitel 4 Schreibanleitung zur Aeneis: eine Poetik der origo Zur gleichen Zeit, als Augustus die alten Riten, die den Bürgersinn stärken sollten, wieder aufleben ließ – zu ihnen gehörte auch der Pilgerzug nach La- vinium – und in Rom den Bau der Ara Pacis mit der Darstellung des Opfers von Aeneas in Lavinium veranlasste, schrieb Vergil auf Augustus’ Wunsch ein Epos über Aeneas’ Flucht aus der brennenden Stadt nach Italien. La- vinium, wo der origo gedacht wird, verbindet den Pilgerzug, die bildliche Darstellung und das Epos miteinander und damit drei unterschiedliche Er- innerungsrituale. Mit Blick auf die Aeneis stellt sich die Frage, ob auch sie monumentum der origo sein kann und zugleich episches Gedicht. Zur Zeit Vergils beruht jedes Epos auf einer griechischen Erzählung, die mehr oder weniger direkt auf Homer zurückgeht. Wenn es sich dann bei einem Epos um eine Gründungserzählung handelt, dominiert oftmals wie in der Odyssee das Motiv der Heimkehr: Erzählt werden die Abenteuer von Helden aus dem trojanischen Krieg, die auf dem Weg nach Hause Städte gründen oder Kinder zeugen, die dann ihrerseits zu Stadtgründern werden, wie Romanus, der Sohn von Odysseus und Kirke. Ist die Aeneis wirklich etwas anderes als eine dieser vielen Gründungserzählungen? Immerhin löst die origo eine Stadt aus dem mythographischen Kontext dieser Gründungs- erzählungen, indem sie einen Anfang setzt und sich somit fundamental von jeglicher Vorstellung einer immer weiter zurückgehenden Abstammungs- lehre unterscheidet. Die homerischen Epen dagegen erzählen vom Stamm- baum eines Helden und schaffen so einen genealogischen Zusammenhang, der ihn als Teil eines Geflechts von familiären Zusammenhängen zeigt; durch die gastliche Aufnahme an den verschiedenen Stationen seiner Heim- kehr wird dieser auf Abstammung fixierte Zusammenhang noch verkompli- ziert. Auf den ersten Blick scheint die Aeneis diesem Schema zu entsprechen und sich in die Tradition der Heimkehrerzählungen zu stellen, denn anstatt mit Aeneas’ Ankunft in Italien zu beginnen wird zunächst vom Fall Trojas erzählt und von Aeneas’ Reisen – dies stellt ihn in den Kontext der homeri-
108 Kapitel 4 schen Erzählungen und thematisiert so seine Vergangenheit. Aeneas bleibt Trojaner, auch über den Krieg hinaus, dessen blutiges Ende er Dido erzählt. All dies ist zunächst einmal eher traditionell – und nicht mit dem Begriff der origo vereinbar. Ist die Aeneis also ein durch und durch griechischer Text und die Grün- dungserzählung von Lavinium? Hat dieses Gedicht also keine andere Funk- tion als die Abstammung des Kaisers Augustus zu belegen, der somit zum Nachfahren des Aeneas würde, ohne dass der Begriff der origo eine Rolle spielte? Oder ist die Aeneis nicht vielmehr eine, ja die paradigmatisch der origo verpflichtete Dichtung? Wie ist es dann Vergil gelungen, aus dem ho- merisch geprägten Erzählschema auszubrechen, denn wenn die origo mit der herkömmlichen Gründungserzählung unvereinbar ist, stellt sich die Frage, welche genuin römische Vorstellungswelt Vergil auf der Basis seiner homerischen Vorlage zu erschaffen vermag. Hier geht es um mehr als um literaturgeschichtliche Quisquilien; im Raum steht vielmehr die Frage, ob es der römischen Dichtung möglich ist, die Übersetzung aus dem Griechischen ins Lateinische für die Entwicklung einer neuen Erzählform zu nutzen; damit würde aus der lateinischen Über- tragung griechischer Poesie mehr als das schmückende Beiwerk, auf das sie allzu oft reduziert worden ist. Kann die Aeneis als eine Art ‚missing link‘ zwischen den verschiedenen Ritualen dienen, zu denen auch der Pilgerzug nach Lavinium gehört, so wie sich die Darstellungen an der Ara Pacis ja nicht als schlichte Erzählung von Ereignissen verstehen, sondern als Mittler und Verbindungsstück zwischen zwei Ritualen? Wenn dem so wäre, stellte sich schließlich die Frage, was in Rom geschah, damit dieses monumen- tum – das die Aeneis dann ja wäre – zur Sprache kommen und die römische Vorstellungswelt sowie die aus ihr resultierenden Handlungsweisen beein- flussen konnte. Was ist die Aeneis? Allzu wenigen Lesern fällt auf, dass dieses Nationalepos, wie man die Aeneis ja nennt, eine Gründungserzählung nicht von Rom durch Romulus, son- dern von Lavinium durch Aeneas ist.179 In den üblichen Äußerungen zu den Anfängen Roms wird dies einfach ignoriert und man tut so, als ob Aeneas der Gründer Roms gewesen wäre.
Schreibanleitung zur Aeneis: eine Poetik der origo 109 Manche sind in dieser Sache geradezu mit Blindheit geschlagen, wie etwa Fustel de Coulanges, der Verfasser des Buches Der antike Staat, der wie selbstverständlich Rom von Aeneas gründen lässt. Seiner von der Idee des Nationalstaats geprägten Sicht auf Rom – verbunden mit einem blinden Glauben an eine Völkerpsychologie und einer quasi-religiösen Betrachtung der frühen Dichtung – opfert dieser große Historiker seine intellektuelle Redlichkeit, wenn er die folgenden in jeder Hinsicht bemerkenswerten Zei- len schreibt: „Nichts war einer Stadt teurer als die Erinnerung an ihre Gründung. Als Pausanias im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung Griechenland bereiste, konnte jede Stadt ihm den Namen ihres Gründers mit seiner Genealogie und den wichtigsten Taten seines Lebens sagen. Dieser Name und diese Taten konnten nicht in Vergessenheit geraten, denn sie waren ein Bestandteil der Religion und wurden jedes Jahr durch die heiligen Zeremonien wachgerufen.“180 Nach Fustel de Coulanges hatte die Erinnerung oftmals die Form eines Ge- dichts: „Es hat sich eine beträchtliche Anzahl griechischer Gedichte erhalten, deren Thema die Gründung einer Stadt ist. Philochoros hatte die von Sa- lamis besungen, Ion die von Chios, Kriton die von Syrakus, Zopyros die von Milet; Apollonios, Hermogenes Hellanikos und Diokles haben über dieses Thema ebenfalls Gedichte oder Geschichtswerke verfaßt. Es gab wohl keine einzige Stadt, die nicht ihre Dichtung oder zumindest ihren Hymnus über die heilige Zeremonie besaß, der sie ihre Entstehung ver- dankte.“181 Und da Rom eine Stadt ist, braucht sie einen Hymnus über ihre Gründung; in Ermangelung eines anderen muss die Aeneis also diese Rolle übernehmen, und indem man einfach den Unterschied zwischen Lavinium und Rom igno- riert, sortiert man die Aeneis in die Reihe der den jeweiligen Stadtgründern gewidmeten griechischen Hymnen ein. Vor der Vielfalt und Unterschied- lichkeit der alten Erzählungen über Rom, Romulus und Aeneas verschließt Fustel de Coulanges die Augen und geht sogar so weit zu behaupten, dass bereits Naevius und Cato die gleiche Geschichte erzählt hätten:
Kapitel 6 Wie es Aeneas in der Aeneis gelingt, nicht zur Gründerfigur zu werden Wenn die Aeneis tatsächlich eine Dichtung der origo ist, wie ist dann zu verstehen, dass sie nicht, wie die Origines des Cato, mit Aeneas’ Ankunft in Italien beginnt? Welchen Zweck haben die ersten sechs Bücher? Diese Frage stellt sich, da Aeneas – als origo des römischen Volkes – weder von seiner trojanischen Vergangenheit noch von seinen Vorfahren etwas wei- tergibt. Wozu dienen also seine Irrfahrten im griechisch geprägten Mittel- meerraum? Aeneas verlässt Homer Die Tradition der Mythographen hatte aus Aeneas einen homerischen Hel- den gemacht und eine griechische Gründerfigur, wie Odysseus; für Vergil war es schwierig, ihn von diesen Attributen zu trennen. In der Ilias hat Aeneas ruhmvoll gekämpft: Sein Zweikampf mit Achill nimmt hundertfünfzig Verse ein, und dabei handelt es sich um einen dieser besonderen Kämpfe – die Griechen nennen einen solchen Kampf aristeia –, die einen Helden dadurch auszeichnen, dass sie ihn aus der Masse hervor- heben: „Zwei Männer aber, die ausnehmend Besten, Kamen inmitten beider zusammen, begierig zu kämpfen: Aineias, der Anchises-Sohn, und der göttliche Achilleus. Und Aineias kam als erster drohend herangeschritten, Nickend mit dem schweren Helm; und den Schild, den stürmenden, Hielt er vor die Brust und schüttelte die eherne Lanze. Der Pelide aber drüben stürmte ihm entgegen wie ein Löwe, Ein reißender, den auch die Männer zu töten streben, Gesammelt, das ganze Volk.“ (Ilias XX, 158–166)
158 Kapitel 6 Aeneas’ Tod scheint unausweichlich zu sein, entweder jetzt im Kampf oder später dann bei der Einnahme Trojas, aber sein Überleben ist offenbar vor- gezeichnet, wie einige Verse der Ilias zeigen: „Denn ihm ist es bestimmt, zu entkommen, Auf daß nicht ohne Samen das Geschlecht und spurlos vergehe Des Dardanos, den der Kronide liebte vor allen Söhnen, Die aus ihm geboren wurden und sterblichen Frauen. Denn schon ist des Priamos Geschlecht verhasst dem Kronion. Jetzt aber soll nun des Aineias Gewalt über die Troer herrschen Und seiner Söhne Söhne, die künftig geboren werden.“ (Ilias XX, 302–308) Wie hat er überlebt? Es gibt verschiedene Versionen darüber, wie Aeneas dem allgemeinen Gemetzel entkommen ist. Lesches von Pyrrha schreibt in seiner Kleinen Ilias243, dass Aeneas, nachdem er in griechische Gefan- genschaft geraten war, als Sklave an Pyrrhos, den Sohn des Achill, über- geben und nach Epirus gebracht worden sei, wo er, so heißt es dort weiter, Teil der Dienerschaft von Andromache, der Witwe Hektors, wurde. Laut einigen Mythographen hat Aeneas als Mitwisser, ja Komplize des Odys- seus gemeinsam mit Antenor Troja den Griechen ausgeliefert, um dafür von diesen verschont zu werden; in dieser Deutung ist Aeneas also ein Vaterlandsverräter. Andere wiederum schreiben, es seien vielmehr Ae- neas’ außergewöhnliche Frömmigkeit sowie sein Mut gewesen, welche den Siegern ihm gegenüber Respekt abgenötigt hätten244: Aeneas habe sich mit einigen anderen Trojanern bis zum Ende verteidigt, aber als sie schließlich kapitulieren mussten, habe man ihnen in Anerkennung ihres Mutes die Freiheit geschenkt. Dass man ihm den Beinamen ‚der Fromme‘ gegeben habe, sei auf Folgendes zurückzuführen: Die Griechen hätten Ae- neas ebenso wie seinen Gefährten erlaubt, all das von ihren Gütern mit- zunehmen, was sie tragen konnten; während jedoch die anderen sich mit Gold und anderen wertvollen Gegenständen beladen hätten, habe Aeneas seinen alten Vater auf seine Schultern genommen und seine Götterstatuen ebenfalls nicht zurückgelassen. Jedenfalls bewirkten diese wenigen Verse der (homerischen) Ilias, dass Aeneas zum Gründungshelden einer ganzen Reihe von Städten während seiner Irrfahrt durch das Mittelmeer wurde. Man findet ihn in Mazedonien, wo eine Stadt mit Namen Aineia in ihm ihren namensgebenden Gründer
Wie es Aeneas in der Aeneis gelingt, nicht zur Gründerfigur zu werden 159 sah; in Lakonien, also auf dem griechischen Festland bei Sparta, gründet er ebenfalls zwei Städte, und zwar zu der Zeit, als Anchises in Arkadien stirbt, wo man noch zu Pausanias’ Zeiten sein Grab zeigte, das am Fuß eines Berges mit dem Namen Anchisius lag. Eine dieser von Aeneas gegründeten Städte nannte sich Aphrodisias, in Anspielung auf seine Mutter; Pausanias erwähnt eine Stadt Etis, deren Name von demjenigen einer Tochter von Ae- neas abgeleitet wurde. Man kann Aeneas’ Spuren an der Ostküste der Adria verfolgen, ebenso wie auf Sizilien, wo Legenden und lokale Bräuche davon zeugten, dass er dort gewesen war; zu diesen Zeugnissen gehörten insbe- sondere Heiligtümer und Feierlichkeiten zu Ehren seiner Mutter Aphrodite, aber auch ihm geweihte Tempel oder eben sein Grab, das man gleich an mehreren Orten vermutete. Und schließlich stößt man natürlich in Italien auf Aeneas, wo seit dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert Gründungs- erzählungen mit seinem Namen verbunden sind, wie zum Beispiel diejenige von Lavinium. Um Aeneas von dem Bild des homerischen Gründungshelden zu tren- nen, bedient sich Vergil wieder einmal einer Strategie des Bestreitens, ja des Unterlaufens eines vertrauten Bildes: Während seiner Imitation der Odyssee, also im Laufe der ersten sechs Bücher der Aeneis, wird Aeneas mehrmals mit der homerischen Dichtung konfrontiert und nimmt diese als eine Erinnerung wahr, zu der er gehört hat, deren Teil er war, aber von der er sich bei jedem Mal ein bisschen mehr löst – vergleichbar einer in einem Spielfilm auftretenden Figur, die den Bildschirm verlässt und sich unter die Zuschauer mischt, gleichzeitig jedoch gemeinsam mit diesen sich selbst in längst vergangenen und immer wieder gezeigten Szenen sieht. Vergil geht sogar so weit, Aeneas bei neuen Episoden mitspielen zu lassen, bei neuen Folgen, bei denen er eigentlich gar nicht dazugehört und die auf Passagen der Mythographen zurückgehen, welche ihm ein ganz anderes Schicksal zuschreiben. So kommt er zu Pyrrhus, wo er Andromache trifft, oder macht einen Halt auf Kreta und in Thrakien. Aber jedes Mal muss er feststellen, dass er hier eigentlich gar nicht am richtigen Platz ist und dass es für ihn gar kein neues Troja zu gründen gilt. Aeneas’ Schicksal fand eben keinen Niederschlag in den Versen der Ilias: Aeneas wird nicht über Trojaner herrschen, denn es wird kein Troja mehr geben und auch keine Trojaner.
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