Neuroanatomische Grundlagen des kraniomandibulären Systems - dr-boisseree
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Leitthema Manuelle Medizin 2016 · 54:205–211 W. Schupp1,2 · W. Boisserée3 DOI 10.1007/s00337-016-0151-6 1 Kieferorthopädische Fachpraxis Köln, Köln, Deutschland Online publiziert: 12. Juli 2016 2 Capital Medical University (CMU), Beijing, China © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016 3 Zahnärztliche Praxis Köln, Köln, Deutschland Neuroanatomische Grundlagen des kraniomandibulären Systems Die Basalganglien Das Nervensystem mit seinen periphe- also Allostase, aufrechtzuerhalten [2–4]. Die Idee zur zielgerichteten Bewegung ren und zentralen Anteilen ist ein kom- Für unser Überleben ist die Auswahl wird im subkortikalen Motivationsareal plexes und zusammenhängendes System, passender Bewegungen und die Festle- generiert. Die Weiterverarbeitung erfolgt das sich zwar in einzelne Bausteine auftei- gung einer entsprechenden Reihenfol- gleichzeitig und gleichgeschaltet rational lenlässt, die aberuntrennbarmiteinander ge der Bewegungsabläufe im jeweiligen im frontalen Kortex und emotional im kommunizieren. Das Zentralnervensys- Kontext der Ereignisse unverzichtbar [5]. limbischen Kortex. Damit gibt es keine tem (ZNS) benötigt Informationen aus Hieran sind die Basalganglien unmittel- Muskelaktivität ohne den Einfluss des der Peripherie, um die entsprechenden bar beteiligt. Sie greifen auf bereits vor- limbischen Systems. Über den assoziati- motorischen Aktivitäten und Funktio- handene Bewegungsmuster zurück und ven Kortex findet die Weiterschaltung in nen planen und steuern zu können. Be- speichern neue Muster durch deren Wie- die Basalganglien statt, der Nucleus teg- trachten wir den motorischer Kortex im derholung. Sie selektieren, sortieren und mentalis pedunculopontinus informiert Gyrus praecentralis und die somatoto- integrieren angeborene und erlernte Be- u. a. das Kleinhirn, aber auch Kortex, pische Repräsentation der kontralateral wegungsmuster in Verbindung mit kog- Basalganglien und Thalamus entspre- dargestellten Muskulatur (Homunculus) nitiven und emotionalen, mentalen In- chend einem „integrativen Interface“. ebenso wie den sensorischen Anteil, fällt formationen [5]. Der Nucleus tegmentalis pedunculo- der erhebliche Anteil des kraniomandi- Die Zielmotorik kontrolliert den Ab- pontinus ist mit motorischen Kernen im bulären Systems (CMS) auf (. Abb. 1). lauf zielgerichteter willkürlicher Bewe- Hirnstamm und Rückenmark verbun- Viele Informationen werden nicht be- gungen. Das Zusammenspiel der senso- den [7, 8]. Über den Thalamus gelangen wusst wahrgenommen, sondern unbe- motorischen Regionen im Nervensystem die Informationen in den Hirnstamm wusst und ebenfalls effektiv weiterver- unter Beachtung der Basalganglien bei und von dort über die dorsolateralen arbeitet. Die meisten Informationen aus Willkürbewegungen zeigt . Abb. 2 [6]. Bahnen des Rückenmarks zum Muskel, dem CMS werden im Hirnstamm, dem der die Idee ausführt. Eine unmittelbare Truncus encephali, bestehend aus Mit- telhirn (Mesencephalon), Brücke (Pons) und verlängertem Rückenmark (Medul- la oblongata), verarbeitet. Die Basalgan- glien sind ein integraler Bestandteil des motorischen Systems, sie weisen schon direkt nach der Geburt eine hohe Akti- vität auf [1]. Funktion der Basalganglien Die Basalganglien sind an vielen Prozes- sen wie Wahrnehmung, Lernen, Erinne- Abb. 1 9 Motori- rung, Aufmerksamkeit und motorischen sches Primärfeld Funktionen beteiligt und selektieren zen- im Gyrus praecen- tralis. (Aus [19], mit tral Ein- und Ausgänge sowohl motori- freundl. Genehmi- scher als auch kognitiver und emotiona- gung des Quintes- ler Art, um Stabilität durch Veränderung, senz-Verlags) Manuelle Medizin 4 · 2016 205
Leitthema Abb. 2 9 Ablauf der Pla- nung einer Willkürbewe- gung unter Berücksichti- gung der Basalganglien. (Mod. nach Rettig [6]) Rückmeldung erfolgt als somatosenso- salganglien entscheiden unter Kenntnis wegungsabfolge. Die weitere Funktion rische Information in das Cerebellum, dieser Informationen, ob eine motori- der Basalganglien ist die emotionale und den assoziativen und den limbischen sche, eine emotional-motivationale oder motivationale Beeinflussung der Hand- Kortex. eine kognitive Handlungsanweisung er- lungsvorbereitung und -auswahl über folgt oder nicht. Die Auswahl erfolgt nach limbische Anteile. Unter dem Einfluss »denDieAblauf Zielmotorik kontrolliert zielgerichteter den Kriterien der Aufrechterhaltung der Allostase. Über die direkte Verschaltung des limbischen Systems erfolgen hier die Handlungsauswahl, die Hemmung in den Basalganglien wird die Aktivität nichtgewünschter und schließlich die willkürlicher Bewegungen im Thalamus erhöht, über die indirek- Freischaltung gewünschter Handlungs- te und hyperdirekte Verschaltung in den sequenzen [10–12]. Die Basalganglien erhalten aus den Sin- Basalganglien wird sie gehemmt. Das re- Die Basalganglien liegen ausschließ- nesorganen, aus derMuskulatur, denSeh- sultierende Nettoergebnis bestimmt da- lich subkortikal. Aus weit verteilten Area- nen und anderem tiefen somatischen Ge- nach darüber, ob und in welcher Region len des Kortex strahlen Fasern in die webe wie auch dem Bindegewebe ihren eine Stimulation im Kortex stattfindet. Basalganglien ein. Von hier aus gelan- Input. Diese Informationen des Kortex gen sie über den Thalamus zurück in werdenüberdenThalamus denBasalgan- glien mitgeteilt. Kortikale Bereiche, wie »die Zielmotorik Die Basalganglien bereiten vor und steuern den Kortex, weshalb man von Schleifen, „loops“, spricht. Kortikale Areale, Basal- der orbitofrontale Kortex, der anteriore ganglien und Thalamus sind somit in zinguläre Kortex, der laterale präfron- diese Form von „loops“ miteinander verbun- tale Kortex und Bereiche des Motokor- den. Komplexe bewusste Planung, un- tex, steuern striatale Kernbereiche an, die Ohne die Mitwirkung der Basalganglien bewusste und unwillkürliche motorische im dorsolateralen und ventromedialen können die motorischen Kortexareale Erfahrung sowie emotionale Aspekte zie- Nucleus caudatus, im Putamen und im keine Willkürbewegung auslösen oder hen auf parallel verlaufenden Bahnen Nucleus accumbens liegen und mit dem steuern. Die Basalganglien bereiten eine zwischen Kortex, Basalganglien, Thala- Globus pallidus als Ausgangsregion der Zielmotorik vor und steuern diese. Hier mus und abermals Kortex ihre Kreise. Basalganglien verbunden sind. Der Glo- erfolgt die Umsetzung der kortikalen Aus diesen parallel verarbeiteten Infor- bus pallidus kommuniziert mit ventralen Bewegungsplanung in konkrete Bewe- mationen entsteht eine Aktivierung, die und medialen Thalamuskernen, die eine gungsprogramme. Diese Bewegungs- die Grundlage der Willkürbewegung dar- Rückprojektion zu den kortikalen Aus- programme steuern die Kraftentfaltung, stellt. Entsprechend ihren unterschiedli- gangsstrukturen vermitteln [9]. Die Ba- Richtung und Geschwindigkeit einer Be- chen Funktionen verteilen sich die Fasern 206 Manuelle Medizin 4 · 2016
Zusammenfassung · Abstract auf 5 voneinander getrennten Bahnen, Manuelle Medizin 2016 · 54:205–211 DOI 10.1007/s00337-016-0151-6 die zu 2 Systemen zusammengefasst wer- © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016 den [10]: die motorische dorsale Schleife und die limbische ventrale Schleife. W. Schupp · W. Boisserée Die Basalganglien bestehen aus [13, Neuroanatomische Grundlagen des kraniomandibulären Systems. 10]: Die Basalganglien Striatum Zusammenfassung 4 Striatum dorsale Die Okklusion dominiert in der finalen Konvergenz. Die Verschaltung im WDR- habituellen Interkuspidation die Posi- Komplex („wide dynamic range neurons“) hat j Nucleus caudatus (Hauptteil) tionierung der Kiefergelenke und damit eine Stimulation im zentralen Nervensystem j Putamen (Hauptteil) auch die motorische Funktion. Besteht zur Folge. Diese Informationen erreichen 4 Striatum ventrale eine Diskrepanz zwischen der zentrischen, u. a. die Basalganglien, die unmittelbar j Nucleus caudatus (ventral) physiologischen Kiefergelenkposition und an der Planung der zielgerichteten und j Nucleus accumbens der Kiefergelenkposition in habitueller willkürlichen Bewegung beteiligt sind. Die Interkuspidation bei bestehender Malok- Basalganglien wirken an vielen Prozessen j Putamen (ventral) klusion, ist damit immer eine Verlagerung mit, z. B. Wahrnehmung, Lernen, Emotion, der Kiefergelenke aus ihrer physiologischen Erinnerung, Aufmerksamkeit und motorische Pallidum Position heraus verbunden. Die Fehlbelastung Funktionen. Sie selektieren zentral Ein- und 4 Pallidum laterale (dorsal, ventral) eines oder mehrere Zähne in Malokklusion Ausgänge sowohl motorischer als auch 4 Pallidum mediale (dorsal, ventral) führt ebenso wie die Fehlbelastung im kognitiver und emotionaler Art. Kiefergelenk über Proprio-, Mechano- und Nozizeptoren zu einer Stimulation im Schlüsselwörter Assoziierten Kernen N. trigeminus mit Weiterleitung über die Muskuloskeletales System · Dentale 4 Nucleus subthalamicus Pars caudalis nucleus spinalis nervi trigemini Okklusion · Kiefergelenk · Basalganglien · 4 Substantia nigra und damit verbundenen zervikotrigeminalen Kognition Bei der Verschaltung der Basalganglien lassen sich die nachfolgend beschriebe- Neuroanatomical principles of the craniomandibular system. nen Wege unterscheiden (. Abb. 3). The basal ganglia Abstract Direkter, erregender Weg. Er projiziert The interconnection in the wide dynamic In the final habitual intercuspation the mittels GABAergen Nervenzellen (hem- occlusion dominates the positioning of the range (WDR) neurons complex results in mend) vom Striatum zum Pallidum me- temporomandibular joints (TMJ) and thus stimulation in the central nervous system. diale sowie in die Substantia nigra pars also motor function. If there is a discrepancy This information reaches among others the reticularis. Von dort erfolgt die Weiter- between the central physiological TMJ basal ganglia, which are directly involved position and the mandibular joint position in the planning of procedural learning and leitung über GABAerge Nervenzellen in voluntary motor movement. The basal in habitual intercuspation with existing die Thalamuskerne. Die Hintereinander- malocclusion, the consequence is a dis- ganglia are involved in many processes, such schaltung zweier hemmender Neurone placement of the TMJ from the physiological as perception, learning, emotion, memory, führt zu einer Desinhibition, also einer position. Incorrect loading of one or more attention and motor function. They select Erregung der Thalamuskerne. teeth in malocclusion as well as incorrect central signal input and output of both motor, loading of the TMJ, lead via proprioceptors, cognitive and emotional nature. mechanoreceptors and nociceptors to Indirekter, hemmende Weg. Der in- stimulation in the trigeminal nerve with Keywords direkte, hemmende Weg des Striatum relaying via the caudal section of the spinal Musculoskeletal system · Dental occlusion · projiziert zum externen, lateralen Pal- nucleus of the trigeminal nerve and the Temporomandibular joint · Basal ganglia · lidumsegment, das mit GABAergen associated trigemino-cervical convergence. Cognition Nervenzellen den Nucleus subthalami- cus hemmt. Der Nucleus subthalami- cus wirkt durch den Neurotransmitter Der Nucleus accumbens (. Abb. 2) Input in die Basalganglien. Beide spielen Glutamat erregend auf das Pallidum me- enthält Afferenzen zum limbischen Sys- eine Rolle bei der motorischen Kontrol- diale, das dadurch Bewegungsimpulse tem und ist damit integratives Interface le, aber auch in der Kognition [14]. Die in den Thalamuskernen hemmt [6, 10]. zwischen Basalganglien und limbischem kognitive Schleife verläuft vom präfron- System. Er spielt eine wichtige Rolle talen Kortex zum Nucleus caudatus und Hyperdirekter, hemmender Weg. Er bei lustbetonten und motivationalen von dort parallel zur motorischen Schlei- verläuft über Striatum, Pallidum laterale Zuständen und gilt damit als Antago- fe über Substantia nigra, Globus pallidus und Nucleus subthalamicus zum Palli- nist der Amygdala, die hauptsächlich und anteroventrale Thalamuskerne zu- dum mediale. negative Schlüsselreize verarbeitet [10]. rück zum präfrontalen Kortex [15]. Die Striatum und Nucleus subthalamicus efferente Verschaltung der Basalganglien als zwei separate Strukturen geben ihren erfolgtüberGlobus pallidus und Substan- Manuelle Medizin 4 · 2016 207
Leitthema hemmt und motorische, für die Allostase wichtige Funktionen enthemmt werden. Bedeutung der Basalganglien für die Funktion des CMS Die motorische Aktivität des CMS wird durch die Basalganglien determiniert und die simultanen Bewegungsabläufe werden koordiniert. Die Okklusion hat unmittelbaren Einfluss auf die Unter- kieferbewegung und den Muskeltonus. Sowohl die Rezeptoren aus dem pa- rodontalen Ligament (PDL), das freie Nervenendungen mit Ramifikation bis zur Zementoblastenschicht als Mecha- no- und Nozirezeptoren besitzt, sowie Ruffini-Körperchen als Mechanorezep- toren v. a. im Apexbereich mit einer Auflösung bis 10 μ [17] als auch in den Kiefergelenken erhalten ständig Infor- mationen über den N. trigeminus in das ZNS. Bei einer veränderten Kie- fergelenkposition und bei okklusalem Trauma vermitteln die sich daraus erge- benen Informationen unmittelbar eine Abb. 3 8 Verschaltung der Basalganglien im Detail: indirekter, hemmender Weg (rot), direkter, erre- Reflexantwort an die Kaumuskulatur zur gender Weg (grün), hyperdirekter, hemmender Weg (gelb). (mit freundl. Genehmigung von Damir Del Monte, www.damirdelmonte.de) Adaptation, die durch die Basalganglien gesteuert wird [5]. Besteht die veränderte Kiefergelenkposition oder das okklusa- tia nigra mit Strukturen, die Bewegungen im Sinne der Allostase, welcher Prozess le Trauma über längere Zeit, hat dies sowie physiologische und kognitive Pro- gerade für den Organismus von Bedeu- eine verlangsamte und vermindert ko- zesse initiieren. In der Regel erfolgt ein tung ist. ordinierte Bewegung des Unterkiefers hemmender Einfluss. Die Basalganglien Da die Kommunikation der mo- sowie einen höheren Muskeltonus zur hemmen somit die spontane motorische, torischen, der okulomotorischen, der Folge. Auch unbewusste Bewegungen physiologische und kognitive Aktivität kognitiven Schleife und der limbischen können stattfinden. Aus einer Fehlok- des Organismus. Nach Schwarting [16] Schleifen untereinander noch nicht voll- klusion entwickelt sich eine motorische besteht die Funktion der Basalganglien ständig geklärt ist, kann auch noch kei- Reaktion, die zu einer veränderten Re- darin, zwischen den vielfältigen Afferen- ne definitive Aussage darüber gemacht lation des Unterkiefers zum Oberkiefer zen diejenige zu selektieren, die von größ- werden, wie und wo die Hemmung führt. Die dadurch erfolgte Stimulierung ter Bedeutung für den Organismus ist. der Funktionen untereinander erfolgt. der Propriozeptoren der Kiefergelenke Infolgedessen werden nach Schwarting Den Startpunkt der Bewegungsplanung führt kompensatorisch zu einer musku- [16] die entsprechenden Prozesse ent- erhält die motorische Schleife von der lären Anpassung. Hierdurch lässt sich hemmt, während irrelevante oderinkom- ventralen, emotionalen Schleife. Da das die Wirkung einer Okklusionsschiene patible Prozesse weiterhin gehemmt wer- ZNS immer energieschonend arbeitet, erklären, die Fehlkontakte aufhebt und den. Über die direkte Verschaltung wird werden wahrscheinlich bei einem hohen die Kondylenposition normalisiert [18]. die Aktivität des Thalamus erregt, über und ständigen proprio- und nozizeptiven die indirekte und hyperdirekte wird sie gehemmt. Das Nettoergebnis bestimmt, Input allostatisch diejenigen Funktionen gehemmt, die für den Organismus gerade »auchDiedieBasalganglien Kaumuskulatur steuern ob die Aktivität einer Region im Kortex nicht unmittelbar überlebensnotwendig über den Thalamus gehemmt oder ent- sind, d. h. eher kognitive Prozesse. Dies hemmt wird. Dieses bedeutet, dass hier bedeutet schlussfolgernd, dass durch Fehler in der okklusalen Beziehung indu- bestimmt wird, ob ein motorischer, ein hohe, ständige nozi- und propriozeptive zieren eine sensorische Stimulierung des physiologischer oder ein kognitiver Pro- Stimulation aus dem CMS kognitive und ZNS über den N. trigeminus [19]. Hier- zess initiiert wird oder nicht [16]. Die emotional-motivationale Leistungen ge- durch kommt es zu einer Veränderung Basalganglien entscheiden darüber ganz der dopaminergen Neurone. Okklusale 208 Manuelle Medizin 4 · 2016
Abb. 4 8 Bei einer physiologischen bilateralen Kondylenlage besteht ein Abb. 5 8 Aus der Zentrik (. Abb. 4) gleitet beim festen Zubiss der Unter- Okklusionskontakt in Zentrik nur auf der linken Seite, auf der rechten Seite kiefer nach rechts, die Zähne okkludieren in habitueller Interkuspidation liegt aufgrund der fehlenden Abstützung eine Nonokklusion vor bilateral Störungen, die experimentell bei Ratten mitters bei Frontzahnkontakt und damit (. Abb. 5). Dabei verlagert sich das rechte erzeugt wurden, führten zu einer neuro- zu motorischen Veränderungen führen. Kiefergelenk nach posterior und kranial chemischen Veränderung der Dopamin- Nakamura et al. [22] fanden in einer mit der Folge einer Kompression in die und Noradrenalinaktivität im Striatum, Studie an Ratten, dass die Basalganglien bilaminäre Zone. Die Kiefergelenke sind im frontalen Kortex und im Hypothala- die Kaumuskulatur steuern. Durch die „stress loaded“, die Kraft aus dem Biss in mus. Interessanterweise zeigte sich bei ei- Mikroinjektion von Picrotoxin, einem Okklusion wird über die Kiefergelenke ner Überkappung, d. h. Erhöhung der un- GABA-Antagonisten in Nucleus cauda- in den Schädel übertragen [36]. Aus der teren Inzisiven bei Ratten mit Kunststoff, tus und Putamen, wurde eine rhyth- Kondylenverlagerung resultiert eine In- für einen Tag eine signifikante Erhöhung mische Kieferbewegung ausgelöst. Eine nenrotation des Os temporale [19, 37]. der Akkumulation von DOPA (3,4-Dihy- Injektion von GABA in die Substantia Die Gesichtsskoliose ist linkskonvex mit droxyphenylalanine), parallel dazu kam nigra führt nachhaltig zu einer Erhö- daraus resultierender rechts verkürzter es zu einer signifikanten Erhöhung des hung der orofazialen Muskelaktivität Gesichtsseite. Die Bewegung des Unter- Dopaminlevels im Hypothalamus und ei- [23]. Weitere Untersuchungen bestätig- kiefers aus der zentrischen Position in ner Erhöhung des Dopamin- und Norad- ten die These, dass die Basalganglien die habituelle Interkuspidation ist im- renalinlevels im frontalen Kortex. Nach die Kaumuskulatur steuern [24–31]. mer mit einer vermehrten Muskelkon- 14 Tagen gingen die erhöhten Werte auf Auch Masuda et al. kamen zum gleichen traktion verbunden, hier einer asymme- die Kontrollwerte zurück, außer im lin- Ergebnis: Hier wurden die Kaubewegun- trischen. Die erste Antwort auf den ok- ken Striatum. Wurde im Ober- und Un- gen durch die Basalganglien im Globus klusalen Fehlkontakt ist eine neuromus- terkiefer jeweils ein Inzisiv oder auch nur pallidus und Putamen gesteuert [32]. kuläre. Hieraus erfolgt i.d.R. eine Adap- im Unterkiefer einer gekürzt, konnte kei- tation, eine neue Stabilität durch Verän- ne Veränderung der DOPA-, Dopamin- Okklusion und Kiefergelenke derung, also Allostase [4]. Ist die adaptive oder Noradrenalinwerte festgestellt wer- Kapazität bei Beibehaltung der Fehlok- den [20]. Dies deckt sich mit unserer Im Gegensatz zu allen anderen Gelenken klusion jedoch erschöpft, kann eine al- klinischen Erfahrung, dass der Fehlkon- im muskuloskeletalen System werden die lostatische Überlastung („allostatic over- takt im Frontzahnbereich mit dadurch Kiefergelenke in ihre finale Endpositi- load“ [4]) entstehen. bedingtem Fehlen einer physiologischen on nicht allein neuromuskulär geführt Aus der Fehlbelastung im PDL und posterioren Abstützung und Verlagerung [33–35]. In . Abb. 4 sind die Kieferge- in der bilaminären Zone kann sich der Kiefergelenke zu den häufigsten Ur- lenke in einer physiologischen und sym- ein Schmerz in benachbarten Gebieten sachen einer kraniomandibulären Dys- metrischen Position dargestellt. Hierbei entwickeln, auch wenn PDL und Kie- funktion (CMD) zählt [21], ggf. mit Aus- besteht ein Okklusionskontakt in Zentrik fergelenk selbst schmerzfrei sind. Aus wirkungen auf das muskuloskeletale Sys- nur auf der linken Seite, auf der rechten der CMD entwickelt sich neurologisch tem [19]. Aresoetal. [20]schlussfolgerten Seite liegt eine Nonokklusion vor. eine muskuloskeletale Dysfunktion, die daraus, dass länger anhaltende okklusale Beißt der Patient aus dieser Situa- im Pars caudalis nucleus spinalis nervi Störungen zu einer zentralen Verände- tion fest zu, schwenkt der Unterkiefer trigemini als zervikotrigeminale Kon- rung des katecholaminergen Neurotrans- nach rechts, die Zähne okkludieren nun vergenz und durch die Verschaltung im in habitueller Interkuspidation bilateral WDR-Komplex („wide dynamic range Manuelle Medizin 4 · 2016 209
Leitthema neurons“) erklärt werden kann [38–46]. diejenigen auszuwählen, die für den of interspecies differences relevant for its use as a target for deep brain stimulation. Brain 134:11–23 Durch die Koordination der Hirnnerven Organismus von größter Bedeutung 8. Gut NK, Winn P (2016) The pedunculopontine in der Formatio reticularis erfolgt die sind. tegmental nucleus-A functional hypothesis zervikovestibuläre Konvergenz mit der 4 Die Basalganglien bestimmen ganz from the comparative literature. Mov Disord 31(5):615–624 Verschaltung des Trigeminuskerns und im Sinne der Allostase darüber, ob 9. Schiepek G (Hrsg) (2011) Neurobiologie der den Nuclei vestibulares sowie weiteren ein motorischer, ein emotional- Psychotherapie. Schattauer, Stuttgart Hirnnervenkernen wie dem Nucleus motivationaler oder ein kognitiver 10. Del Monte D (2010) Neuroanatomische Grundla- gen des Lernens nervi oculomotorii [19, 47]. Prozess initiiert wird oder nicht. 11. 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In: Möller HJ, Müller-Spahn F, Kurtz de Reize zu anhaltenden Veränderun- motivationale und kognitive Leis- G (Hrsg) Aktuelle Perspektiven der Biologischen gen motorischer Grundfunktionen füh- tungen durch die Steuerung in den Psychatrie. Springer, Wien, S 12–16 16. Schwarting RKW (2016) Überblick über die ren, die sich als Änderung der Muskel- Basalganglien vermindert werden. Forschung der Abteilung „Verhaltensneurowis- spannung, Haltungsänderung, insbeson- senschaft“. Fachbereich Psychologie, Philipps- dere Asymmetrie und eingeschränkte Be- Universität Marburg, Marburg Korrespondenzadresse 17. Radlanski RJ (2011) Orale Strukturbiologie. weglichkeit oder Schmerz äußern.“ Hier- Quintessenz, Berlin bei muss laut Beyer der Ort des Auftre- W. Schupp 18. Douglas CR, Avoglio JL, Oliveira H de (2010) tens der Symptome nicht mit dem Ur- Kieferorthopädische Fachpraxis Köln Stomatognathic adaptive motor syndrome is the correct diagnosis for temporomandibular sprungsort der auslösenden Reize iden- Hauptstr. 50, 50996 Köln, Deutschland disorders. Med Hypotheses 74(4):710–718 tisch sein. Wird ein Anteil in einem Seg- schupp@schupp-ortho.de 19. BoisseréeW,SchuppW(2012)Kraniomandibuläres ment (Sklerotom, Myotom, Dermatom, und Muskuloskelettales System. Quintessenz, Danksagung. Für die Überlassung der Grafiken und Berlin Viszerotom) gestört, breitet sich die Stö- 20. Areso MP et al (1999) Occlusal disharmonies die freundliche Unterstützung danken wir Dr. Damir rung über einen genügend langen Zeit- del Monte. modulate central catecholaminergic activity in the raum im Segment aus, dann segmental rat. J Dent Res 78(6):1204–1213 21. Wiegelmann S, Bernhardt O, Meyer G (2015) nach kranial und kaudal, ebenso über The association between occlusal parameters muskuläre, fasziale und gelenkige Ketten Einhaltung ethischer Richtlinien in static and dynamic occlusion and the signs sowie weiter möglicherweise über Stö- and symptoms of temproromandibular disorders. J Cranio Funct 7(1):27–39 rung von Stereotypen. Diese Ausbreitung Interessenkonflikt. W. Schupp und W. Boisserée 22. Nakamura S, Muramatsu S, Yoshida M (1990) Role benötigt nicht sehr viel Zeit, oft reichen geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. of the basal ganglia in manifestation of rhythmical Tage. Manualmediziner sehen fast aus- jaw movement in rats. Brain Res 535(2):335–338 Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren 23. Inchul P et al (2005) Control of oro-facio-lingual schließlich solche funktionell verknüpf- durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren. movements by the substantia nigra pars reticulata: ten Symptome. Eine Primärläsion lässt high-frequency electrical microstimulation and sich i.d.R. nicht mehr identifizieren, die GABAmicroinjectionfindingsinrats. Neuroscience 134(2):677–689 Störungen unterhalten sich dann auch Literatur 24. Krosigk M von, Smith AD (1991) Descending gegenseitig. Durch eine Behandlung im projections from the substantia nigra and retroru- Bereich der Hirnnerven oder der Äste 1. MosetterKM,MosetterR(2010)Myoreflextherapie. bral field to the medullary and pontomedullary Regulation für Körper, Gehirn, Erleben Bd. 2. reticular formation. Eur J Neurosci 3(3):260–273 der oberen Zervikalnerven können die Vesalius, Konstanz 25. Yasui Y et al (1992) Non-dopaminergic neurons Muskelspannungen an den Extremitäten 2. Redgrave P, Prescott TJ, Gurney K (1999) The basal in the substantia nigra project to the reticular vermindert und Asymmetrien beseitigt ganglia: a vertebrate solution to the selection formation around the trigeminal motor nucleus in problem? 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Fachnachrichten orienting and oral movements in the formalin 51. Marx G (2000) Über die Zusammenarbeit mit Neues Online-Tool für model of pain. Neuroscience 81(4):967–988 der Kieferorthopädie und Zahnheilkunde in der 29. Hashimoto N et al (1989) Induction of rhythmic jaw manuellen Medizin. Man Med 38:342–345 Schmerzpatienten movements by stimulation of the mesencephalic 52. Kopp S, Seebald WG (2008) Kraniomandibu- reticular formation in the Guinea pig. J Neurosci läre Dysfunktion- Versuch einer bewertenden Mit „mein-Schmerz.de" gibt es jetzt eine 9(8):2887–2901 Übersicht. Man Med 46:389–392 neue Plattform für chronische Schmerz- 30. Beckstead RM (1983) Long collateral branches of substantia nigra pars reticulata axons to thalamus, patienten, auf der die individuellen Be- superior colliculus and reticular formation in schwerden online erfasst und die Infos aus- monkey and cat. Multiple retrograde neuronal gedruckt werden können. Mit dem Bericht labeling with fluorescent dyes. Neuroscience 10(3):767–779 könne der Patient zu seinem Arzt gehen, 31. Yasui Y et al (1994) Descending projections from um gemeinsam mit ihm weitere Schritte the superior colliculus to the reticular formation zu besprechen, so die Deutsche Gesell- around the motor trigeminal nucleus and the parvicellular reticular formation of the medulla schaft für Schmerzmedizin e.V. (DGS) in ei- oblongata in the rat. Brain Res 656(2):420–426 ner Mitteilung zum Start der neuen Platt- 32. Masuda Y et al (2001) Neuronal activity in the form. Der Bericht gewähre einen schnellen putamen and the globus pallidus of rabbit during mastication. Neurosci Res 39(1):11–19 Überblick über die verschiedenen bio-psy- 33. Boisserée W, Schupp W (2015) Okklusion cho-sozialen Aspekte der zugrunde liegen- und Kondylenposition. Quintessenz Zahntech den Schmerzerkrankung und erleichtere 41(11):1364–1370 34. Kopp S, Seebald WG, Plato G (2000) Erkennen und die Auswahl einer geeigneten Therapie so- Bewerten von Dysfunktionen und Schmerzphäno- wie zusätzlich sinnvoller Begleitmaßnah- menen im kraniomandibulären System. Man Med men. Sowohl Datenrückverfolgungen als 38(6):329–334 35. Kopp S, Seebald WG, Plato G (2000) Kranioman- auch Identifizierungen personenbezoge- dibuläre Dysfunktion. Eine Standortbestimmung. ner Angaben und/oder Krankheitsverläufe Man Med 38(6):335–341 seien absolut ausgeschlossen und damit 36. Hatcher DC, Faulkner MG, Hay A (1986) Develop- ment of mechanical and mathematic models to der Schutz individueller Daten gewährleis- study temporomandibular joint loading. J Prosthet tet, betont die Gesellschaft. Das neue On- Dent 55(3):377–384 line-Portal ist ein kostenloses Angebot der 37. Magoun HI Sr. (1974) The temporal bone: trouble maker in the head. J Am Osteopath Assoc DGS und der Patientenorganisation Deut- 73(10):825–835 sche Schmerzliga, und stellt neben dem 38. Plato G, Kopp S (2008) Der Weg zur Chronifizierung Online-Dokumentationsdienst für Ärzte der kraniomandibulären Dysfunktionen (CMD). Man Med 46:384–385 ® iDocLive eine Ergänzung des Schmerzre- 39. Bernateck M, Fischer MJ (2008) Störfähigkeit gisters DGS-PraxisRegister Schmerz dar. des kraniomandibulären Systems. Man Med Damit wird die Autonomie der Schmerzpa- 46:407–411 40. Plato G, Kopp S (1999) Kiefergelenk und Schmerz- tienten gestärkt. Sie werden zum aktiven syndrome. Man Med 37(3):143–151 Partner in der differenzialdiagnostischen 41. Kobayashi S, Hansson TL (1988) Auswirkung der Evaluation und Therapie ihrer Beschwer- Okklusion auf den menschlichen Körper. Phillip J Restaur Zahnmed 5:255–261 den und können so dem Therapeuten auf 42. Ridder PH (1998) Kieferfunktionsstörungen und Augenhöhe begegnen, fasst die Deutsche Zahnfehlstellungen mit ihren Auswirkungen auf Schmerzliga die Kernidee des neuen Kon- die Körperperipherie. Man Med 36:194–212 43. Fink M et al (2003) Kraniomandibuläres System zeptes zusammen. und Wirbelsäule. Man Med 41:476–480 44. Kopp S et al (2003) Beeinflussung des funktio- Weitere Infos unter: nellen Bewegungsraumes von Hals- Brust- und Lendenwirbelsäule durch Aufbissbehelfe. Man www.mein-Schmerz.de Med 41:39–51 45. Schupp W et al (2009) Okklusionsveränderungen Quelle: Ärzte Zeitung und deren Auswirkungen auf den Halte- und Stützapparat. Man Med 47:107–111 www.aerztezeitung.de 46. Böhni U, Lauper M, Locher H (2015) Manuelle Medizin 1. Thieme, Stuttgart 47. Ohlendorf D et al (2008) Können experimentell herbeigeführte Veränderungen der Okklusion das menschliche Gleichgewicht beeinflussen? Man Med 46:412–417 48. Beyer L (2009) Das tonische motorische System als Zielorgan manueller Behandlungstechniken. Man Med 47(2):99–106 49. Schupp W et al (2015) Diagnostische Verfahren im kraniomandibulären System. Man Med 53:47–59 50. Bumann A, Lotzmann U (Hrsg) (2000) Funkti- onsdiagnostik und Therapieprinzipien. Thieme, Stuttgart New York Manuelle Medizin 4 · 2016 211
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