PER-Bewertung und die neuen Passivhaus-Klassen - Rainer Vallentin

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Rainer Vallentin
                   PER-Bewertung und
                   Eine Kritik – Langfassung zum gleichnamigen Tagungsbeitrag

      die neuen Passivhaus-Klassen

                                                                        1
Impressum

    PER-Bewertung und die neuen Passivhaus-Klassen:
    Eine Kritik

    Langfassung zum gleichnamigen Tagungsbeitrag auf der 20.
    Passivhaus-Tagung am 22. - 23. April 2016 in Darmstadt

    Verfasser: Rainer Vallentin, Architekt, München

    Mitarbeiterin:
    Michaela Kern

    Umschlagsgestaltung:
    Michael Lang, Graphiker, Erding

    Fotos und Zeichnugen :
    Rainer Vallentin
    (andere Fotografen sind direkt bei den Abbildungen genannt)

    Internet-Veröffentlichung unter: www.vraie.de

    Das Urheberrecht liegt beim Autor.

    München, April 2016

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Vorwort

Der Anlass dieses Beitrags ist der gleichnamige Vortrag auf      glasungen, Dämmsysteme, Lüftungsanlagen, Luftdichtkonzep-
der 20. Internationalen Passivhaustagung. Im Tagungsbeitrag      te) das Anwendungsspektrum in architektonischer und städte-
konnten wegen der dort gebotenen Kürze nicht alle Argumente      baulicher Hinsicht immer größer wurde. Entscheidend für die-
und Daten in der eigentlich notwendigen Ausführlichkeit darge-   se positive Gesamtentwicklung ist, dass aus den genannten
legt werden. Das soll nun hier in der Langfassung erfolgen.      Gründen der bauliche und ökonomische Aufwand, ein Passiv-
                                                                 haus zu realisieren, in den 25 Jahren praktischer Erfahrung im-
Der Passivhaus-Standard hat sich im Laufe seiner 25-jäh-         mer geringer geworden ist.
rigen Entwicklung nach und nach als ein erstaunlich anpas-
sungsfähiges Konzept erwiesen: Beginnend mit Wohngebäu-          Die „städtebauliche Robustheit“ ist darüber hinaus eine Vor-
den wurden Schritt für Schritt immer mehr Nutzungstypen als      aussetzung dafür, dass sich die energetische Modernisierung
Passivhaus realisiert. Neben Schulen und Verwaltungsgebäu-       mit Passivhauskomponenten im Gebäudebestand in sehr vie-
den beispielsweise auch Versammlungsstätten, Kirchen, Ein-       len Fällen bewähren konnte. Hierbei haben sich weniger die
zelhandel, Fabriken und Berghütten. Mit zunehmender Erfah-       städtebaulichen Restriktionen als vielmehr die vielfältigen For-
rung bei der Planung und dem Bau von Passivhäusern außer-        men von Eingriffsempfindlichkeit als begrenzende Faktoren er-
halb Mitteleuropas wurde deutlich, dass die dem Passivhaus       wiesen. Letztere sind bei genauerer Analyse weitgehend un-
zugrundeliegende Effizienzidee sich mit gewissen Abwandlun-      abhängig von der Frage der energetischen Qualität der Kom-
gen auch in anderen Klimazonen umsetzen lässt.                   ponenten zu sehen, bei denen diese Hemmnisse nicht beste-
                                                                 hen. In den Bereichen, in denen bestimmte Maßnahmen (z.B.
Während bei den ersten Passivhäusern die Entwurfsaspekte         Außenwärmeschutz, Fenster, bisweilen auch Innendämmun-
der Südorientierung und Kompaktheit noch als mehr oder we-       gen und Lüftungsanlagen) aus baukulturellen nachbarrechtli-
niger zwingend angesehen wurden, hat man im Laufe der wei-       chen oder technischen Gründen nicht verträglich ausführbar
teren Entwicklung entdeckt, dass der städtebauliche Spielraum    sind, müssen andere Lösungen gefunden werden. Sie beste-
in Wirklichkeit sehr groß ist. Dies hat der Autor in mehreren    hen häufig darin, dass die Instandsetzung auf das Allernotwen-
Beiträgen seit 1998 immer deutlicher herausgearbeitet (1). Nur   digste beschränkt wird. Gerade auch aus den Gründen der Be-
wenige Grenzfälle lassen sich nicht oder nur mit unvertretba-    standssicherung und des Werterhalts erfordern diese Berei-
ren Aufwand als Passivhäuser realisieren - das sind z.B. Bau-    che immer besondere bauphysikalische Aufmerksamkeit. Die
ten mit sehr geringer Kompaktheit und Bauwerke, die aus Nut-     hierfür notwendigen Differenzierungen und Nachweise sind im
zungsgründen nicht luftdicht ausgebildet werden können sowie     EnerPhit-Standard (Feist 2012) auf vorbildliche Art und Weise
Gebäude mit kompletter Verglasung aller Fassaden. Ihr Anteil     ausformuliert.
am Baugeschehen ist verschwindend gering, so dass sich das
Passivhauskonzept im Neubau als nahezu universell umsetz-        Der Passivhausstandard war eines der ersten Energiekonzep-
bar erwiesen hat. Hinzu kommt, dass mit der technologischen      te, in dem eine Primärenergiebewertung eingeführt wurde. Be-
Verbesserung der Passivhauskomponenten (z.B. Fenster, Ver-       reits in der ersten Auflage des Passivhaus-Projektierungs-Pa-

                                                                                                                                    3
kets 1997 war ein entsprechendes Berechnungsblatt integriert.         bau und im Bestand (EnerPhit-Standard bzw. schrittweise
    Als Indikator wurde die nicht erneuerbare Primärenergie ver-          Modernisierung mit Passivhaus-Komponenten), die aus
    wendet, weil sie am ehesten als Leitgröße für Umweltbelastun-         der Perspektive des Klimaschutzes zu stellen sind. Der
    gen und Ressourcen-Inanspruchnahme von Energieträgern                 entscheidende Aspekt hierbei ist die hohe energetische
    geeignet erschien (vgl. [Feist 1998], S. VIII/3 ff.).                 Qualität der Bau- und Technikkomponenten. Gleichzeitig
                                                                          ist auf der Versorgungsseite ein konsequenter Ausbau der
    Die Bestimmung des Grenzwertes von 120 kWh/m²a für alle               erneuerbaren Energien erforderlich (vgl. Vallentin 2011,
    Energiedienstleistungen im Gebäude (Heizen, Lüften, Kühlen,           S.IV-140 ff. und Vallentin 2012a, S. 60 ff.).
    Warmwasser, Hilfsstrom und alle sonstigen Stromanwendun-
    gen im Gebäude) erfolgte u.a. anhand der Überlegung, dass er       In diesem Zusammenhang ist die im Vergleich zum sonstigen
    nicht höher liegen sollte, als der Primärenergiebedarf für Haus-   Gebäudebestand völlig andere Heizstruktur von Passivhäu-
    haltsstrom in einem einen vollständig ausgestatteten durch-        sern durchaus aufschlussreich: Während im Bestand fossile
    schnittlichen deutschen Haushalt. Das Passivhaus sollte ins-       Energieträger mit etwa 80 % dominieren, weisen Passivhäu-
    gesamt so effizient konzipiert werden, dass die sonstigen - bis-   ser hohe Anteile bei Wärmepumpen (ca. 50%) und Biomas-
    lang dominierenden - Energieanwendungen für Heizen, Lüften         seheizungen (ca. 20%) auf. Ergänzend besitzen mehr als die
    und Warmwasser ohne zusätzlichen Primärenergieaufwand              Hälfte der Passivhäuser thermische Solaranlagen bzw. PV-An-
    mitenthalten sind (vgl. [Feist 1998], S. VIII/5 f.).               lagen (vgl. AKkPH Nr. 38, S. 113). Eine hohe Gebäudeeffizi-
                                                                       enz steht somit nicht im Widerspruch zum Einsatz erneuerba-
    Obwohl man dies als eine mehr oder weniger willkürliche „Set-      rer Energiesysteme. Eher scheint zu gelten, dass die geringen
    zung“ interpretieren kann, hat sich der gewählte Grenzwert im      Bedarfswerte entscheidend dazu beitragen, dass auf regene-
    Laufe der weiteren Passivhaus-Entwicklung als durchaus pra-        rative Energien gestützte Versorgungssysteme konzeptionell
    xistauglich und zugleich zukunftsweisend erwiesen:                 und ökonomisch attraktiv werden (vgl. Feist 2013).

    •   Passivhäuser wurden mit einer großen Vielfalt an Versor-       Bis heute ein Alleinstellungsmerkmal von Passivhäusern ist die
        gungssystemen realisiert. Ausgeschlossen wurden nur            konsequente Einbeziehung sämtlicher Stromanwendungen in
        wenige ökonomisch und ökologisch fragwürdige Lösun-            der Primärenergiebilanz. Diese Festlegung ist sinnvoll, weil
        gen, z.B. eine ausschließlich direktelektrische Beheizung      physikalisch korrekt und verursachergerecht bilanziert. Ferner
        und Warmwasserbereitung.                                       ist nur so eine zutreffende Bestimmung der internen Lasten
    •   Sofern die hohen Anforderungen bzw. Empfehlungen im            (Kühlfall) bzw. der internen Gewinne (Heizfall) möglich. Hin-
        Hinblick auf die hohe Effizienz der Nutz- und Endenergie       zu kommt ein Aspekt, der in Zukunft eine immer größere Rol-
        (z.B. Heizwärmebedarf, Warmwasserbereitstellung, Hilfs-        le spielen wird: Der Ausbau der erneuerbaren Energien er-
        strom und sonstiger Strombedarf, Konsequente Begren-           folgt schwerpunktmäßig im Bereich der Stromerzeugung. Für
        zung der Wärmeverteil- und speicherverluste) erfüllt wur-      eine zutreffende Bilanzierung von Gebäuden wird somit eine
        den, war in den meisten Fällen die Einhaltung des Primär-      vollständige Berücksichtigung der Stromanwendungen immer
        energiekriteriums kein Problem mehr.                           wichtiger. Dies auch, weil künftig viele der heute brennstoff-
    •   Trotz dieser großen Spannbreite an Lösungsansätzen er-         gestützten Anwendungen stromgestützt erfolgen werden (z.B.
        füllen Passivhäuser die strengen Anforderungen im Neu-         Wärmepumpen, Warmwasserbereitung, Elektromobilität).

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Spätestens mit der Konferenz von Rio 1990 sind die Themen          gung sogar ohne Netzanschluss funktionieren kann. Die ener-
einer nachhaltigen Entwicklung und des Klimaschutzes auf in-       getische Qualität der konventionellen Komponenten entsprach
ternationaler Ebene etabliert und damit wichtiger Bestandteil      in etwa dem Passivhausstandard, hinzu kamen TWD-Fassa-
einer globalen Bewusstseinsbildung geworden. Für die En-           den und eine spezielle Haustechnik. Das Problem der „Winter-
quete-Kommission des 11. deutschen Bundestages „Vorsorge           lücke“ wurde hier zum bestimmenden Thema: Für die Nutzung
zum Schutz der Erdatmosphäre“ hat das IWU die Studie „Der          der Solarenergie im Winter war ein aufwändiges Speichersys-
künftige Heizwärmebedarf der privaten Haushalte“ (Ebel et al.      tem (Elektrolyse und Wasserstoffspeicher) notwendig.
1996) erarbeitet. Darin wird aufgezeigt, dass mit dem konse-
quenten Einsatz von Niedrigenergiekomponenten im Neubau            Ebenfalls aufbauend auf dem Passivhauskonzept gelang Rolf
und bei der energetischen Modernisierung des Bestandes eine        Disch ab 1994 mit seinen Plusenergiehäusern und -siedlungen
deutliche Absenkung des Energiebedarfs des Wohngebäude-            ein wegweisender und deutlich praktikablerer Schritt in Rich-
parks möglich gewesen wäre. Diese Chance wurde jedoch              tung einer 100%-erneuerbarer Energieversorgung. Die Ge-
nicht genutzt. Erst mit einer Verspätung von 20 Jahren wird mit    bäude weisen einen Netzanschluss und südorientierte Ener-
der Energieeinsparverordnung 2016 nun ein entsprechendes           giedächer auf, die vollständig mit Fotovoltaikmodulen belegt
Niveau gesetzlich gefordert.                                       sind. Damit ist ein bilanzieller Jahres-Überschuss der Stromer-
                                                                   zeugung in Bezug auf den Strombedarf erreichbar, sofern die
Inzwischen ist der Einsatz von Niedrigenergiekomponenten für       Bebauung nicht mehr als drei bis vier Geschosse aufweist.
das Erreichen der Klimaschutzziele bei weitem nicht mehr aus-
reichend. Daraus resultiert das „Dilemma der mittleren Quali-      In Deutschland ist spätestens seit dem Jahr 2000 absehbar,
tät“ (Vallentin 2010): Heute sind hohe Qualitäten in der Güte      dass ein Umbau des Energiesystems weg von den nuklearen
von Passivhaus-Komponenten (oder besser) notwendig, um             und fossilen Risikotechnologien bevorsteht. Konkret kann dies
die seit 1995 deutlich gestiegenen Anforderungen an einen Kli-     an der Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG)
maschutzstandard zu erfüllen. Werden - wie immer noch üb-          und dem Beschluss zum Ausstieg an der Atomenergienutzung
lich - nur die gesetzlich geforderten mittleren Qulitäten einge-   belegt werden. Die Dynamik des Ausbaus der erneuerbaren
setzt, stellt dies aufgrund der langen Standzeiten der Bau- und    Energien ist in den Folgejahren fast durchgängig stärker aus-
Technikkompoenten eine verpasste Chance dar, die so schnell        gefallen, als selbst in den optimistischen Prognosen angenom-
nicht wiederkehrt. Selbst nach Ablauf der Nutzungsdauer kön-       men. (In anderen Ländern verlief diese Entwicklung jedoch we-
nen diese Baukonstruktionen mittlerer Qualität nicht mehr wirt-    niger konsequent, z.T. sogar gegenläufig dazu).
schaftlich auf ein hohes Niveau verbessert werden. Hinter-
grund ist, dass die Energiepreise nicht beliebig ansteigen wer-    Dies hat natürlich direkte Konsequenzen für die Energiever-
den. Der Einsatz mittlerer Qualität steht daher einer wirksamen    sorgung des Gebäudeparks. Am augenscheinlichsten wird
Klimaschutzstrategie substanziell im Wege und ist auch später      dies an der stetigen Absenkung der Primärenergiefaktoren für
kaum mehr korrigierbar (sog. „Lock-in-Effekt“).                    Strom von 3,0 über 2,7 und 2,4 auf künftig 1,8 (2).

Mit dem energieautarken Solarhaus (1992 - 1996) des ISE            Eine einfache Antwort - wie vom Autor 2008 vorgeschlagen -
Freiburg wurde anhand eines Experimentalbaus der Nachweis          wäre gewesen, den Primärenergiekennwert von Passivhäu-
erbracht, dass eine ausschließlich erneuerbare Energieversor-      sern ab 2010 auf 100 kWh/m2a zu reduzieren und danach in

                                                                                                                                     5
regelmäßigen Zeitabständen (z.B. alle 5 oder 10 Jahre) weiter     •   Möchte man die erneuerbaren Anteile in die Bewertung mit
    abzusenken (Vallentin 2008).                                          einbeziehen ist unklar, mit welcher Methode sie kalkuliert
                                                                          werden sollen. In Deutschland kam bis 1994 die Substituti-
    Damit kann man jedoch nicht die grundlegenden Mängel der              onsmethode zum Einsatz. Dabei wird Strom aus Kernkraft
    Bewertung auf der Basis der nicht-erneuerbaren Primärener-            und aus regenerativen Quellen (keine Brennstoffe) der
    gie in der bisherigen Form einer „Momentaufnahme“ behe-               durchschnittliche Primärenergieaufwand von Strom aus
    ben:                                                                  fossilen Kraftwerken angerechnet.
                                                                      •   Bei der heute üblichen Wirkungsgradmethode wird für
    •   Aktuelle Primärenergiefaktoren (z.B. bezogen auf das              Kernkraft ein definitorischer Wirkungsgrad von 33% ver-
        Baujahr) sind nicht in der Lage die Dynamik des Energie-          wendet. Ins Netz eingespeister Strom aus Wind- und
        systems abzubilden. Das gilt insbesondere für die Bereit-         Wasserkraft sowie Fotovoltaik wird mit einem definitori-
        stellung von Netzstrom und könnte künftig auch für den Be-        schen Wirkungsgrad von 100% belegt. Bei einer Bewer-
        zug von Netzgas gelten, wenn hier höhere Anteile regene-          tung der gesamten Primärenergie mit dieser Methode wird
        rativ erzeugten Wasserstoffs oder Methans (Biogasanla-            somit der Anteil erneuerbar erzeugten Stroms systema-
        gen, „power-to-gas“-Anlagen) eingespeist werden.                  tisch unterbewertet.
    •   Aufgrund der Komplexität des Energiesystms ist eine Ein-      •   Sobald der Anteil regenerativ erzeugten Stroms auf über
        schätzung der künftigen Entwicklung auf szenariengestütz-         50 ... 80 % ansteigt, wird es unvermeidlich, Überschuss-
        te Modelle angewiesen. Aufgrund der langen Lebens-                strom aus Windkraft und Fotovoltaik saisonal zu spei-
        dauern der Bau- und Technikkomponenten sind hier Zeit-            chern, um das Erzeugungsdefizit im Winter auszugleichen.
        horizonte von 30 - 80 Jahren zu betrachten. Es ist klar,          Dies könnte in Deutschland ab etwa 2030 der Fall sein.
        dass die in den Szenarien getroffenen Aussagen vor allem      •   Ab diesem Zeitpunkt ist der Aufwand für die Speicherung
        von darin getroffenen Prämissen und Annahmen abhängig             in der primärenergetischen Bewertung zu berücksichtigen,
        sind. Die tatsächliche Entwicklung wird daher immer mehr          weil mit hohem energetischen und finanziellen Auf-
        oder weniger von den Szenarienbildungen abweichen.                wand verbunden. Zu erfassen ist neben den eigentlichen
    •   Als Ausweg bleibt dann nur, mehrere Szenarien neben-              Speichertechnologien auch der notwendige Aufbau zusätz-
        einander zu entwickeln, die verschiedene potenzielle Zu-          licher Erzeugungskapazitäten.
        kunftsentwicklungen abbilden. Auf dieser Basis kann dann      •   Offen ist ferner, in welcher Art und Weise direkt am Gebäu-
        eine Risikobewertung anhand eines Szenarienvergleichs             de bzw. auf dem Bau- bzw. Siedlungsgrundstück erzeugte
        vorgenommen werden.                                               regenerative Wärme oder Strom in der Primärenergibilanz
    •   Eine Nichtberücksichtigung der erneuerbaren Anteile der           berücksichtigt werden sollen. Hier stimmen der zeitliche
        Primärenergie hat u.U. zur Folge, dass mangelnde Effizi-          Verlauf von Bedarf und Erzeugung noch weniger überein
        enz durch den Mehreinsatz von erneuerbaren Energie-               als in den netzgestützten Systemen. Daher ist zu ent-
        trägern ausgeglichen wird. Besonders fatal ist dies bei den       scheiden, ob und auf welcher methodischen Grundlage
        Biomasseheizungen, weil dann ein wertvoller, speicher-            eine (teilweise) Verrechnung gerechtfertigt ist, oder ob es
        fähiger Energieträger in ineffizienten Systemen gebunden          angemessener ist, Bedarf und Erzeugung ohne Wertung
        wird und für sinnvollere und strategisch wichtige Anwen-          und Verrechnung nebeneinander zu stellen.
        dungen nicht mehr zur Verfügung steht.

6
Die genannten Punkte führen dazu, dass die Primärenergie-         •   Ein Szenario kann durchaus ohne Realitätsbezug ent-
bewertung von Gebäuden früher oder später grundlegend zu              wickelt werden, um einen künftigen Zielzustand abzu-
überarbeiten ist.                                                     bilden. In der Folge können Handlungsoptionen dahinge-
                                                                      hend beurteilt werden, ob sie in Übereinstimmung mit
Hierzu hat das Passivhaus-Institut ein neues Bewertungssys-           diesem Endzustand stehen oder nicht.
tem in Form des PER-Modells und den neuen Passivhaus-             •   Theoretisch ist es möglich diesen Zielzustand vorerst ohne
Klassen entwickelt (vgl. Feist 2014; Grove-Smith/Feist 2015;          ein normativ begründetes Motiv zu definieren.
Krick 2015). Es ist seit 2015 in das Passivhaus-Projektierungs-   •   Dann (und nur dann) dient das Szenario als Erklärungs-
Paket, d.h. ab Version 9, als neues Nachweisverfahren einge-          modell einem Erkenntnisinteresse und steht im Sinne wis-
führt. Der neue Ansatz ist radikal und stellt einen grundlegen-       senschaftlicher Autonomie für sich.
den Systemwechsel dar.                                            •   An dieser Stelle kommt die „Sein-Sollen-Scheidung“ (3) ins
                                                                      Spiel: Es ist nicht möglich direkt aus einem wertfreien Er-
Der Grundgedanke besteht darin, Passivhäuser in einem Ener-           klärungsmodell Anforderungen für ein wünschenswertes
giesystem zu bewerten, in dem die Wärme- und Stromerzeu-              oder moralisch richtiges Handeln abzuleiten. Hierzu sind
gung vollständig erneuerbar erfolgt. Damit kommt ein fiktiona-        weitere Begründungen notwendig, die auf einer ethischen
les Element ins Spiel. Einerseits resultieren daraus substan-         Positionierung aufbauen (z.B. in Bezug auf eine Gerechtig-
zielle strategische Vorteile, andererseits wirft dieser Aspekt        keitskonzeption von Nachhaltigkeit, vgl. Ott/Döring 2011).
auch erste kritikwürdige Probleme auf:                            •   Die Bestimmung von Anforderungsprofilen (z.B. Grenz-
• Das PER-Modell kann ohne spekulative Annahmen die                   und Zielwerte, Klassenbildungen) erfordert schlüssige Ar-
    Bedingungen abbilden, die bei einer 100%-erneuerbaren             gumente mit engem Bezug auf diese Positionierung. Sie
    Energieversorgung herrschen. Dadurch wird eine Unab-              können (nur) auf dieser Basis einer Kritik unterzogen wer-
    hängigkeit gegenüber den in immer kürzeren Zeitschritten          den.
    notwendigen Anpassungen und Änderungen der üblichen           •   Auffällig ist, dass immer dann, wenn Ressoucengerechtig-
    Bewertungssyteme gewonnen.                                        keit eine Rolle spielt, ein abrupter Wechsel von der natur-
• Für den Klimaschutz ist es entscheidend, die existierenden          zur geisteswissenschaftlichen Sphäre stattfindet.
    Energiesysteme mit dem Ziel einer nachhaltigen Dekarbo-       •   Einen objektiven Maßstab zur Prüfung (wie in den Natur-
    nisierung nach und nach umzubauen. Dies erfolgt am                wissenschaften mit gewissen Einschränkungen möglich)
    besten im Rahmen anstehender Instandsetzungs- und Er-             wird man hier vergeblich suchen: Man begibt sich auf das
    neuerungszyklen. Die Besonderheiten der Ausgangssitua-            offene Feld der praktischen Philosophie und muss es aus-
    tion (Erzeugungsstruktur, Pfadabhängigkeiten) spielen             halten, dass eine Beschäftigung mit ihren Fragen nicht im-
    eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der entspre-          mer zu eindeutigen Lösungen führt.
    chenden Transformationspfade.                                 •   Dies hat letztlich zur Konsequenz, dass in einem solchen
                                                                      Prozess die (Selbst-)Kritik einen hohen Rang einnimmt,
Zusätzlich ist zwischen dem PER-Modell im engeren Sinne               sofern man eine irrationale Herangehensweise ablehnt.
(das z.B. als finales Szenario interpretiert werden kann) und         Bei aufrichtiger Betrachtung steht uns ohnehin kein ande-
seiner Verwendung als Bewertungsinstrument im Kontext der             rer Weg zur Verfügung, um Antworten für die sich uns stel-
neuen Passivhaus-Klassen zu unterscheiden:                            lenden Fragen und Herausforderungen zu finden (4).

                                                                                                                                    7
1 Einführung und grundlegende Fragen

    1.1 Ausgangslage                                                 gegen die ihrer Meinung nach „aufoktroyierten Superdämmun-
                                                                     gen“ und gegen die damals neue energetische Berücksichti-
    Die Diskussion über angemessene Energiestandards wird der-       gung von Lüftungsanlagen mit Wärmerückgewinnung im öf-
    zeit mit neuer Heftigkeit geführt – zumeist in Form einer Ge-    fentlich-rechtlichen Nachweisverfahren.
    genüberstellung: Erneuerbare versus Effizienz. Hintergrund ist
    die EU-Gebäude-Effizienzrichtlinie (EPBD), die unterschiedli-    Im Zuge dieser Auseinandersetzung ist das gut begründete
    che nationale Interpretationen und Ausrichtungen ausdrück-       Passivhauskonzept in die Defensive geraten und sieht sich im-
    lich zulässt. Alle Neubauten sollen ab 2020 als „Nearly-Zero-    mer neuen Angriffen ausgesetzt. Als Antwort auf die Heraus-
    Energy-Buildings“ ausgeführt werden, für öffentliche Gebäude     forderungen der Energiewende hat nun das Passivhaus-Insti-
    wird dies bereits ab 2018 gefordert. Die genaue Festlegung       tut seinerseits einen neuen Ansatz zur Bewertung des Primär-
    der neuen nationalen Standards soll auf Grundlage von Kos-       energieaufwandes entwickelt. Dabei wird versucht eine Ant-
    tenoptimalitätsstudien erfolgen.                                 wort auf zwei Herausforderungen zu geben:

    Wenig verwunderlich, dass nun ein Streit um die Deutungs-        •   Die sich auch für Passivhäuser neu stellenden Fragen der
    hoheit ausgebrochen ist. Neben den unter Architekten und             Energiewende, speziell die Bedeutung der Effizienz in ei-
    der Wohnungswirtschaft verbreiteten Meinungen, die bereits           ner erneuerbaren Energieversorgung.
    die existierenden gesetzlichen Anforderungen für ökonomisch      •   Konkurrierende Konzepte, die behaupten, einen „Fort-
    und ökologisch fragwürdig einschätzen, existiert ein anderer         schritt“ gegenüber dem bisherigen Passivhauskonzept
    Ansatz, der über eine ganzheitliche Herangehensweise die             darzustellen (z.B. Aktivhaus, Sonnenhaus, DGNB).
    „Engführung“ der Energiefrage im Konzept der Nachhaltigkeit
    „überwinden“ und (zu) hohe energetische Anforderungen an         1.2 Gedankenexperiment
    die Energieeffizienz relativieren möchte.
                                                                     Die PER-Bewertung hat den Charakter eines Gedankenexpe-
    Leider findet diese Auseinandersetzung häufig nicht in der       riments (vgl. [Bertram 2012]). Es wird eine mehr oder weniger
    Form einer rationalen Kritik über Argumente und nachvollzieh-    künstliche Situation geschaffen, in der ein bestimmter interes-
    bare Untersuchungen statt, sondern eher emotional, z.B. in       sierender Aspekt besonders hervortritt oder eine zunächst un-
    diskriminierender öffentlicher Abwertung konkurrierender Kon-    lösbar erscheinende Frage so gestellt wird, dass sie einer Ent-
    zepte. Speziell zu den Themen Wärmedämmung - Gebäude-            scheidung zugeführt werden kann. Ein besonders prägnantes
    hülle - Lüftung – (regenerative) Energieversorgung führen Ar-    Beispiel ist John Rawls „Schleier des Nichtwissens“ in seiner
    chitekten und Fachplaner eine Debatte, die den Eindruck er-      Theorie der Gerechtigkeit (vgl. [Rawls 1979], S. 159 ff.).
    weckt, als wären hier grundsätzliche Fragen nicht geklärt. Die
    Diskussion erinnert an diejenige im Vorfeld der Wärmeschutz-     Im Falle der PER-Bewertung geht es um das Durchdenken der
    verordnung 1995. Damals stellten sich Architekturprofessoren     Konsequenzen einer vollständig erneuerbaren Energieversor-

8
gung im Hinblick auf die künftigen energetischen Anforderun-       •   Es wird ein Grundverständnis geweckt, welche Wechselwir
gen an Gebäude. Es handelt sich um ein finales Szenario, in            kungen zwischen Gebäude(-park) und erneuerbarer Ener-
dem das künftig Wünschenswerte vorweg genommen wird, um                gieversorgung bestehen, z.B. die „Winterlücke“ und die
dann Maßstab einer neuen Bewertung zu werden.                          Notwendigkeit einer saisonalen Energiespeicherung. Die
                                                                       überragende Rolle der Energieeffizienz tritt klar hervor, so-
Das PER-System basiert einerseits auf einem kontrafaktischen           fern eine erneuerbare Versorgung kulturverträglich und
Szenario, weil die Realität der heutigen „Energiewelt“ immer            mit vertretbarem wirtschaftlichem Aufwand aufgebaut wer-
noch dominant auf fossilen Energieträgern und Kernkraft ge-            den soll.
stützt ist. Es ist derzeit nicht absehbar bis wann die Transfor-   •   Der Beitrag der erneuerbaren Energieerzeugung am Ge-
mation hin zu einer überwiegend erneuerbaren Energieversor-            bäude wird wichtiger Teil der Bewertung und auf die ei-
gung Wirklichkeit werden könnte (frühestens wohl 2050 – 70).           gentlich knappe Ressource der bebauten Fläche bezogen.
Andererseits kann das PER-Modell als Zielszenario interpre-        •   Bioenergie wird als besonders wertvolle und zugleich
tiert werden, weil die eingeleitete Energiewende und die jüngs-        knappe Ressource behandelt.
ten Klimaschutzvereinbarungen in Paris zumindest einen in-         •   Die strategische Rolle stromgestützter Wärmeversorgun-
ternationalen Willen aufzeigen, langfristig eine Energieversor-        gen wird herausgearbeitet.
gung ohne fossile Energieträger anzustreben. Allerdings ist es     •   In den Passivhaus-Klassen erfolgt eine kombinierte Be-
ein Szenario im Endzustand oder besser: ein Szenario ohne              trachtung von Energiebedarf und Energieerzeugung am
Weg: Der steinige Weg der Transformation der Energiesyste-             Gebäude, die dem Anspruch einer ganzheitlichen Bewer-
me wird darin konsequent ausgeblendet.                                 tung im Sinne von „energetischer Nachhaltigkeit“ entgegen
                                                                       kommt.
Der Vorteil dieses Gedankenexperiments besteht darin, dass
spekulativen Annahmen (z.B. zur Entwicklung der Heiz- und
Stromerzeugungsstruktur, der Nutzflächen, der Bevölkerung          1.3 Klimaschutz als Prüfstein
und der Wirtschaft), die bei den üblichen Transformations-Sze-
narien unvermeidlich zu treffen sind, keine substanzielle Rol-     Aus der Perspektive künftiger Energiestandards sind der Kli-
le mehr spielen. Es ist nun möglich, sich auf das Wesentliche      maschutz sowie die Frage der Energiegerechtigkeit und Über-
zu konzentrieren:                                                  windung der Armut die gravierendsten und drängendsten
                                                                   Nachhaltigkeitsprobleme, nicht jedoch die Begrenztheit nukle-
•   Wie kann eine 100%-erneuerbare Energieversorgung               arer oder fossiler Energieträger:
    funktionieren?
•   Welche speziellen Randbedingungen herrschen dort?              •   Wenn man die Wahrscheinlichkeit das international verein-
•   Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Gebäude,               barte 2-Grad-Ziel zu überschreiten unter 25 % halten
    Siedlungen sowie Stadtquartier und deren Versorgungs-              möchte, dürfen die globalen CO2-Emissionen im Zeitraum
    systeme?                                                           2000 - 2050 nicht höher als 1.000 Gt liegen (vgl. Meins-
                                                                       hausen et al. 2009).
Das PER-Modell erweist sich insbesondere im Hinblick auf fol-      •   Die CO2-Emissionen bei energetischer Nutzung der bis
gende Aspekte als ein aussagekräftiges Erklärungsmodell:               2050 sicher förderbaren fossilen Energieträger liegen hin-

                                                                                                                                       9
gegen wenigstens um einen Faktor zwei, die der vermute-      Kalkuliert man das Klimaschutzziel auf der Grundlage des o.g.
         ten Ressourcen sogar um einen Faktor 120 darüber (vgl.       Budgets gemäß dem Modell „zukünftige Verantwortung“ des
         WBGU 2011, S. 122).                                          WBGU für Deutschland sind die CO2-Emissionen im Zeitraum
     •   Bei den erneuerbaren Energieträgern - speziell Biomasse      2010 - 2050 auf maximal 9000 Mio t zu begrenzen (vgl. WBGU
         und Wasserkraft - sind aus Nachhaltigkeitssicht deutliche    2009a, S. 28). Dies ergibt umgerechnet für die privaten Haus-
         Grenzen der Verfügbarkeit vorhanden, z.B. bei Nahrungs-      halte Deutschlands (unter der Annahme einer Bevölkerung von
         mittelsicherheit, Nutzungskonkurrenzen, Natur- und Land-     i.M. 75 - 80 Mio und einem konstanten Anteil von 25 % an den
         schaftsschutz (vgl. WBGU 2009).                              Gesamtemissionen) ein CO2-Budget für den Zeitraum 2010 -
                                                                      2050 von ca. 25 -30 t pro Person.
     Die Bestimmung von konkret umsetzbaren Klimaschutzzielen
     für einzelne Länder und weiter aufgegliedert in Sektoren kann    Anhand szenariobasierter Untersuchungen (vgl. Vallentin
     jedoch nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden erfolgen.      2011, S. IV-1 ff.) lässt sich eingrenzen, welche Anforderungen
     An dieser Stelle werden vielmehr Gerechtigkeitsmodelle benö-     sich für die Klimaschutzstandards in Neubau und Bestand er-
     tigt, die eine Zuordnung der zulässigen Treibhausgas-Emissi-     geben. Im Klimaschutzszenario liefern bei konsequenter An-
     onen für einzelne Länder über einen vorgegebenen Zeitraum        wendung des Kopplungsprinzips Effizienzverbesserungen und
     erlauben. Auf dieser Basis können entsprechend differenzierte    der Ausbau erneuerbarer Energien in etwa gleich große Treib-
     Minderungspfade und zeitbezogene Klimaschutzziele ermittelt      hausgas-Reduktionsbeiträge. Hinsichtlich der Gebäudeeffizi-
     werden. Je nach Gerechtigkeitsansatz (z.B. C&C, CDC, WB-         enz entsprechen die Klimaschutzstandards im Neubau in etwa
     GU-Budgetansatz, GDR, Global Triptych, Multistage) fallen die    der Güte des Passivhausstandards und dem EnerPhit-Stan-
     jeweils zeitbezogenen Klimaschutzziele bzw. Minderungsan-        dard für energetische Modernisierungen. Es sind selbstver-
     forderungen und die dadurch mehr oder weniger vorgebenen         ständlich auch andere Konzeptansätze möglich, sofern die Ef-
     Emissionspfade sehr unterschiedlich aus (vgl. Höhne / Molt-      fizienz- und Klimaschutzanforderungen gem. Tab. 4 erfüllt wer-
     mann 2009).                                                      den (z.B. Konzept der 2000-Watt-Gesellschaft).

     Für einen Klimaschutzpfad gemäß dem Gerechtigkeitsmodell         Die Anforderungen an den Klimaschutz sind eine große He-
     „Contraction and Convergence 2050“ (vgl. Meyer 2000) sind        rausforderung, weil das Zeitfenster um den Scheitelpunkt zu
     für eine Einhaltung des o.g. Klimaschutzziels die jährlichen     erreichen, an dem eine Stabilisierung der Klimasgasemissio-
     Pro-Kopf-CO2-Emissionen ausgehend von den heutigen Aus-          nen stattfindet um danach eine wirksame Minderung einzulei-
     gangswerten in allen Ländern bis 2050 auf 1,0-1,5 t abzusen-     ten, mit 10-15 Jahren nicht mehr sehr groß ist. Derzeit steigen
     ken. Derzeit liegen diese in Deutschland bei ca. 10 t.           die Treibhausgasemissionen immer noch stark an (inzwischen
                                                                      über 50 % Mehrausstoß seit 1990). Wird dieser Zeitpunkt wei-
     Betrachtet man anstelle der CO2-Emissionen sämtliche Treib-      ter hinausgezögert, sind die dann notwendigen Minderungs-
     hausgase (z.B. in Form von CO2-Äquivalenten) und bezieht zu-     anforderungen für ein Erreichen des 2-Grad-Ziel in den dar-
     sätzlich den Konsum von im Ausland hergestellten Produkten       auf folgenden Jahrzehnten derart groß, dass sie sowohl tech-
     mit ein, ergeben sich mit ca. 18 t deutlich höhere Werte (vgl.   nisch als auch ökonomisch kaum mehr umsetzbar einzuschät-
     Steiniger et al. 2015).                                          zen sind (vgl. Meishausen et al. 2009).

10
1.4 Biomasse als begrenzt verfügbare Ressource                      •   Eine stoffliche Nutzung sollte Vorrang vor einem Einsatz
                                                                        als Brennstoff haben. Die Verwendung von Biomasse (z.B.
Die Biomassenutzung hat eine spezielle Stellung in einem er-            Holz, Holzwerkstoffe, Stroh) in Baukonstruktionen kann in
neuerbaren Energiesystem. Die möglichen Anwendungen sind                diesem Zusammenhang als Kohlenstoffspeicherung inter
einerseits besonders vielfältig; andererseits existieren komplex        pretiert werden.
zu bewertende Restriktionen für den weiteren Ausbau, z.B. im        •   Erst dann kann eine energetische Nutzung ins Auge ge-
Hinblick auf Nahrungsmittelsicherheit, Natur- und Landschafts-          fasst werden. Alleinstellungsmerkmal der Biomasse ist,
schutz. Die Bestimmung der energetisch nachhaltig nutzba-               dass sie ein vergleichsweise einfach produzierbarer spei-
ren Potenziale setzt somit immer voraus, sich sowohl mit den            cherfähiger Energieträger ist. Eine Nutzung in KWK-Syste-
Verfügbarkeitsgrenzen als auch den konkurrierenden Anwen-               men ist gegenüber der getrennten Stromerzeugung und
dungsmöglichkeiten auseinander zu setzen (vgl. WBGU 2009)               Verbrennung in Heizsystemen zu bevorzugen, sofern die
und (Vallentin 2012a, S. 67 ff.).                                       Netzverluste der Fern- bzw. Nahwärme gering gehalten
                                                                        werden können.
Trotz der stark unterschiedlichen Angaben in der Literatur zu
den energetischen Biomassepotenzialen, existiert ein Grund-         Erste Abschätzungen des energetisch nutzbaren Biomassepo-
konsens in der (Nachhaltigkeits-)Wissenschaft, der vor allem        tenzials in Deutschland und weltweit ergeben nutzflächenbe-
die Problematik der Nahrungsmittelsicherheit und der Landnut-       zogene Kennwerte von 10 - 25 kWh/m²a und personenbezo-
zungsänderungen betrifft:                                           gene Kennwerte von 500 - 1250 kWh/P a (vgl. Vallentin 2012a,
                                                                    S. 40 + S.70).
•   Erste Priorität hat die Nahrungsmittelsicherheit. Eine inten-
    sive energetische Nutzung von Biomasse kann in Kon-             Eine mögliche Antwort auf diese Problematik besteht darin, ein
    kurrenz zu der Produktion von Lebensmitteln geraten. Fol-       Biomasse-Budget zu definieren, das zum Ziel hat, möglichst
    ge ist ein Anstieg der Preise, der immer besonders die Ar-      wenig Biomasse für energetische Zwecke zu nutzen. Nikolaus
    men in den Entwicklungs- und Schwellenländern trifft. Das       Diefenbach hat 2002 einen einfach umsetzbaren Vorschlag auf
    gilt vor allem dann, wenn dies Grundnahrungsmittel wie          der Basis nicht-erneuerbarer Primärenergie gemacht:
    z.B. Getreide oder Mais betrifft. In diesem Zusammenhang
    ist auch das sog. „landgrabbing“, d.h. die Spekulation mit      „Wenn Biomasse einerseits ein umweltfreundlicher, regenera-
    land- bzw. forstwirtschaftlich nutzbaren Böden kritisch zu      tiver Energieträger und andererseits ein knappes Gut ist, so
    sehen, weil dies häufig auf Kosten der Lebensräume der          kann diesem Umstand Rechnung getragen werden, indem für
    ansässigen Bevölkerung (z.B. indigener Völker) oder einer       den jeweiligen Anwendungsfall ein Biomasse-Budget festge-
    funktionierenden Subsistenzwirtschaft erfolgt.                  legt wird, welches sich an den längerfristigen Verfügbarkeit der
•   An nächster Stelle steht der Natur- und Landschafts-		          Biomasse orientiert. So lange wie dieses Budget noch nicht
    schutz. Problematisch ist vor allem der Anbau auf zuvor         aufgebraucht ist wird Biomasse als regenerativer Energieträ-
    existierenden Feuchtgebieten und Tropenwäldern, weil            ger behandelt (fP ≈ 0,1). Die Anteile des Brennstoffbedarfs, die
    diese bedeutende Kohlenstoffsenken darstellen, deren            das Budget überschreiten, werden dagegen mit dem Primär-
    Zerstörung mit großen Treibhausgasemissionen verbun-            energiebedarf des dann substituierten Brennstoffs zugerech-
    den ist.                                                        net (fP ≈ 1,1)“ (Diefenbach 2002, S. 7).

                                                                                                                                       11
Im PER-Modell wird diese Argumentation aufgenommen und
                                                  Vergleich Primärenergiebewertung   von Heizsystemen
                                                            Vergleich Primärenergiebewertung            (PHPP/ /Biomasse-Budgetansatz)
                                                                                             Heizsystem (PHPP    Biomasse-Budgetansatz)                                                                                                                              in abgewandelter Form in das PER-System integriert. Für den
                                                                             300,0
                                                                                                                                                                                                                                                                     Gebäudebereich wird ein generelles Biomasse-Budget von 20
                                                                                                                                                                                                                                                                     kWh/m²a definiert, das als erneuerbare Primärenergie verträg-
                         Primärenergiebedarf (nicht erneuerbar) in kWh/m2a

                                                                             275,0

                                                                             250,0
                                                                                                                                                                                                                                                                     lich mit den o.g. Nachhaltigkeitsanforderungen eingesetzt wer-
                                                                                                                                                                                                         PHPP
                                                                                                                                                                                                                                                                     den darf. Weil Biomasse sowohl in Heizungen, Kraftwerken
 Primärenergiebedarf in kWh/m²a

                                                                             225,0
                                                                                                                                                                                                         Biomasse-Budgetansatz                                       und KWK-Anlagen genutzt werden kann und zudem ein wert-
                                                                             200,0
                                                                                                                                                                                                                                                                     voller speicherbarer Energieträger ist, wird diese in allen Ver-
                                                                             175,0
                                                                                                                                                                                                                                                                     sorgungsvarianten als „Basisbeitrag“ mit dem besonders nied-
                                                                             150,0
                                                                                                                                                                                                                                                                     rigen PER-Faktor von 1,1 für Biomasse berücksichtigt. Das
                                                                             125,0
                                                                                                                                                                                                                                                                     Biomasse-Budget wird in der Reihenfolge Heizung, Warm-
                                                                             100,0
                                                                                                                                                                                                                                                                     wasser im Winter, Haushaltsstrom solange „abgearbeitet“ bis
                                                                              75,0
                                                                                                                                                                                                                                                                     der PER-Wert von 20 kWh/m²a erreicht ist. Erst danach wer-
                                                                              50,0
                                                                                                                                                                                                                                                                     den die höheren PER-Faktoren der tatsächlich gewählten Ver-
                                                                                                                                                                                                                                                                     sorgungslösung in Ansatz gebracht (vgl. Krick 2015, S. 403).
                                                                              25,0

                                                                               0,0
                                                                                                                                                                                                                                                                     Wird im PER-Model das Gebäude mit Biomasse versorgt, wird
                                                                                                               NEH

                                                                                                                                              PH

                                                                                                                                                                                                         PH-Kompakt
                                                                                               Bestand+Solar

                                                                                                                     NEH+Solar

                                                                                                                                                   PH+Solar

                                                                                                                                                                         PH-WP(Erd)

                                                                                                                                                                                      PH-WP(Erd)+Solar
                                                                                                                                  NEH+WW-WP

                                                                                                                                                              PH+WW-WP

                                                                                                                                                                                                                      PH-Kompakt+Solar

                                                                                                                                                                                                                                                    PH-GasBW+Solar
                                                                                                                                                                                                                                         PH-GasBW
                                                                                     Bestand

                                                                                                                                                                                                                                                                     der Brennstoffbedarf, der über dem Biomasse-Budget liegt, mit
                                                                                                                                                                                                                                                                     dem PER-Faktor für Strom zu Heizzwecken (fPER ≈ 1,8) multipli-
                                                                                                                                                                                                                                                                     ziert, um hier einen Lenkungseffekt hin zu einer effizienter Nut-
                                                                                                                                                                                                                                                                     zung dieses Energieträgers zu erreichen.
                                                                                       Biomasse-Heizsysteme (Bestand/Niedrigenergie/Passivhaus)                          andere Passivhaus-Heizsysteme (zum Vergleich)

                                                                                                                                                                                                                                                                     Erkennbar ist jedoch, dass diese Lenkungswirkung bei der Me-
Abbildung 1:                                                                                                                                                                                                                                                         thode gemäß Vorschlag (Diefenbach 2002) sehr viel größer ist
Bestimmung von Primärenergiefak-                                                                                                                                                                                                                                     (Unterschied Faktor 11), als im PER-Modell (Faktor 1,6).
toren mit und ohne Biomasse-Bud-                                                                                                 In Abbildung 1 wird ein Vergleich zwischen der bislang üblichen
getmethode für nicht-erneuerbare
Primärenergie. Quelle und weitere
                                                                                                                                 Bewertung (z.B. EnEV und PHPP bis Version 8 (mit einem ge-
Erläuterungen: (Vallentin 2012a,                                                                                                 nerellen fP-Faktor von 0,2) und der Biomasse-Budgetmethode                                                                          1.5 Notwendigkeit einer Energiespeicherstruktur
S. 71)                                                                                                                           gemäß dem Vorschlag von (Diefenbach 2002) bei einem Bud-
                                                                                                                                 getansatz von 25 kWh/m²a (15 kWh/m²a für Heizen und 10                                                                              Weil in einer 100% erneuerbaren „Energiewelt“ Strombedarf
                                                                                                                                 kWh/m²a für Stromanwendungen) gegenübergestellt. Es ist er-                                                                         und -erzeugung nicht deckungsgleich erfolgen können, ist im-
                                                                                                                                 kennbar, dass bei Anwendung des Budgetansatzes besonders                                                                            mer davon auszugehen, dass auf verschiedenen Zeitska-
                                                                                                                                 hohe Werte in mit Biomasse versorgten Gebäuden mit hohem                                                                            len ein Ausgleich über eine Zwischenspeicherung stattfinden
                                                                                                                                 Heizwärmebedarf, z.B. unsanierter Bestand oder Niedrigener-                                                                         muss. Hintergrund ist, dass bei der Stromversorgung die Er-
                                                                                                                                 giehäuser (NEH) resultieren. Selbst bei Passivhäusern schnei-                                                                       zeugung zeitgleich dem Bedarf folgen muss:
                                                                                                                                 den nun Biomasseheizungen nicht besser ab, als sonstige ef-
                                                                                                                                 fiziente Versorgungslösungen (siehe Vergleich mit den Refe-                                                                         1 Auf einer extremen Kurzzeitebene (Millisekunden bis Mi-
                                                                                                                                 renzsystemen auf der rechten Hälfte der Abbildung 1).                                                                                 nuten) geht es vor allem um die Netzstabilität und Kurz-

12
schlussfähigkeit. Bei der heutigen fossilen Stromerzeu-       doch technologisch noch ganz am Anfang steht. Derzeit wer-
  gung wird dies durch die Schwungmasse von Generatoren         den hierzu unterschiedliche Systemansätze diskutiert:
  und Turbinen geleistet. Bei einer ausschließlich erneuer-
  baren Erzeugung sind hierfür vermutlich separate Kompo-       3a Die einfachste Lösung bestünde darin, in ausreichenden
  nenten notwendig, z.B. große Schwungradspeicher.                 Maße speicherfähige erneuerbare Energieträger, z.B.
2 Auf einer Zeitebene von mehreren Minuten bis Stunden             Biomasse, vorzuhalten. Aus Nachhaltigkeitsgründen ist die
  sind sog. Kurzzeitspeicher erforderlich, um das Auseinan-        Verfügbarkeit von Biomasse jedoch begrenzt. Zudem ist
  derfallen von Bedarf und Erzeugung im Tagesverlauf aus-          derzeit Biomasse in ineffizienten Systemen (z.B. Holzhei-
  zugleichen. Eine hierfür typische Technologie stellen 		         zungen in Gebäuden mit hohem Heizbedarf, z.T. auch in
  Pumpspeicherkraftwerke dar. Diese weisen Wirkungsgra-            Form von Nahwärmeversorgungen) gebunden. Daher sind
  de zwischen 75 und 83 % auf (vgl. Sterner et al. 2011,           hier immer ergänzend zusätzliche Speichertechnologien
  S. 12). Weitere Speichertechnologien stellen Batterien           erforderlich.
  (Elektomobile, gebäudeintegrierte Batterien in Verbindung     3b Ein weiterer Ansatz basiert auf den vorhandenen Spei-
  mit PV-Anlagen), Druckluftspeicher und die bereits er-           cherseen in Skandinavien – speziell in Norwegen. Deren
  wähnten Schwungradspeicher dar (vgl. Feist 2013,                 Speicherkapazität liegt mit 116 TWh um einen Faktor 10
  S. 619).                                                         höher, als sämtliche Pumpspeicherwerke und Speicher-
3 Auf mittlerer bis saisonaler Zeitebene sind sog. Langzeit-       seen in Deutschland, Österreich und Schweiz zusammen-
  speicher notwendig, die die Aufgabe haben das grundsätz-         genommen (vgl. Ess et al. 2012, S. 1). Aufgrund der lan-
  liche Erzeugungsdefizit erneuerbarer Systeme in Phasen           gen Transportwege liegt der Wirkungsgrad mit 65 % gerin-
  mit geringem Wind- und/oder Solarstromangebot auszu-             ger als in den Pumpspeicherkraftwerken (vgl. Sterner et al.
  gleichen. Derartige Perioden können wetterabhängig im            2011, S. 12). Besonders interessant ist die Verwendung
  ganzen Jahresverlauf stattfinden (sog. „Dunkelflauten“).         der Speicherseen als virtueller Speicher. Dabei wird über-
  Von besonderer Bedeutung ist hier in Nord- und Mittel-           schüssiger Wind- und Solarstrom aus Nordeuropa über
  europa jedoch der Kernwinter (sog. „Winterlücke“), weil          Seekabel nach Norwegen bzw. Schweden geleitet und
  hier regelmäßig ein Erzeugungsdefizit während mehrerer           dort direkt verbraucht. In diesen Zeiten wird in Norwegen
  Wochen auftritt, das vor allem die Solarstromproduktion          weniger bzw. kein Strom aus Wasserkraft erzeugt. Die
  betrifft.                                                        Speicherseen werden geschont und deren Energiepoten-
                                                                   zial kann dann zu einem späteren Zeitraum zur Deckung
Während Punkt 1 bislang kaum Beachtung findet, ist Punkt 2         der Winterlücke außerhalb Skandinaviens zur Verfügung
bereits heute wichtiger Bestandteil der Stromerzeugung. Mit        gestellt werden. Derzeit sind zwei HGÜ-Seekabelverbin-
Zunahme der erneuerbaren Anteile steigen auch die Ansprü-          dungen zwischen Norwegen und Norddeutschland mit
che an die Kurzzeitspeicherung. Ein großes und gut vermasch-       2 x 1,4 GW Kapazität in der Planung (NorGer und Nord-
tes Stromnetz erleichtert die Aufgaben des Lastausgleichs er-      Link). Gleichartige Verbindungen bestehen bereits zu Hol-
heblich. Daher stellt auch der europäische Netzausbau eine         land bzw. sind nach England geplant. Wollte man die sai-
Option dar. Der saisonalen Speicherung (Punkt 3) kommt in ei-      sonale Speicherung bei einer 100%-erneuerbaren Strom
ner 100% erneuerbaren Energieversorgung künftig eine stra-         erzeugung Deutschlands nur über die skandinavischen
tegische Bedeutung zu, die zwar zunehmend erkannt wird, je-        Speicherseen bewältigen, wären Seekabel mit einer Kapa-

                                                                                                                                 13
Abbildung 2:                                              
                                                                                                                 Somit kann ein allmählicher Energieträgerwechsel weg von
Schematische Darstellung der                                                   
                                                                                                                   fossilem Erdgas hin zu erneuerbaren Methan ohne zusätzli-
„Power-to-Gas-Strategie“ im
künftigen Energiesystem. Quelle:                                                                                 che Investitionen in die Speicher- und Verteilstrukturen statt-
(Vallentin 2012), S. 75, abgeändert                            
                                                                    
                                                                                                  
                                                                                                   
                                                                                                                         finden. Die Rückverstromung findet vornehmlich im Winter, am
nach (Sterner et al. 2011), S. 19.                                                                                       besten in Heizkraftwerken statt, um über KWK-Prozesse eine
                                                                                                   
                                                                                                                         möglichst hohe Ausnutzung sicher zu stellen. Vorteil ist, dass
                                                                                                              die Speicher- und die Netzstruktur weitgehend vorhanden ist.
                                                                                                                Nachteil sind die aufwändigen Umwandlungsprozesse mit Wir-
                                                                                                                 kungsgraden Strom zu Strom (Gas-Kraftwerke) zwischen 30
                                        
                                                                                                                         und 44 % und bei Strom zu Strom & Wärme (KWK) zwischen
                                                                             
                                                                                                             43 bis 62 % (vgl. [Sterner et al. 2011], S. 18). Der techno-
                                                                                                                     logische und finanzielle Aufwand besteht vor allem darin, die
                                                                      
                                                                             
                                                                                                                       „power to gas“-Technologie (Elektrolyse und Methanisierung
                                                                                                                         nebst Gasreinigung und -einspeisung) an geeigneten Stand-
                                                                              
                                                                                                                         orten aufzubauen. Hier spielt u.a. die Verfügbarkeit von Koh-
                                                   
                                                                                                         lendioxid eine Rolle (geeignet wären z.B. größere Biogasanla-
                                                 
                                                                                                                         gen). Belastbare Aussagen zu künftigen Lernkurven sind der-
                                                                                                                 zeit schwierig zu treffen und hängen u.a. davon ab, ob dieser
                                                          
                                                                                                                         Technologieansatz einen künftigen Forschungsschwerpunkt
                                                                                                                         bilden wird und inwieweit Förderprogramme für deren prakti-
                                         zität von mehr als 100 GW notwendig (vgl. Sterner et al.                        schen Einsatz aufgelegt werden.
                                         2011, S. 12). Als alleiniger Ansatz kommt diese Option da
                                         her nicht in Frage.                                                             Der Aufbau der Speicherkapazitäten müsste bei einer Fortset-
                                      3c Eine Technologie, die derzeit nur in Ansätzen erprobt ist,                      zung der erneuerbaren Stromerzeugung wie bisher in Deutsch-
                                         ist die chemische Speicherung in Form von Wasserstoff                           land spätestens ab 2030/40 erfolgen. Welche Kombination der
                                         und Methan. Sie ist unter den Bezeichnungen „power to                           genannten Lösungsansätze sich hierbei als sinnvoll erweisen
                                         gas“ oder „Windgas“ bzw. „EE-Methan“ bekannt. Hierbei                           wird, ist unsicher. Dies ist vermutlich der am schwierigsten um-
                                         wird Überschussstrom (z.B. Wind, Solar) verwendet, um                           zusetzende Teil der Energiewende, auch weil eine wirtschaftli-
                                         über Elektrolyse Wasserstoff zu erzeugen, der direkt in                         che Tragfähigkeit einer saisonalen Energiespeicherung derzeit
                                         das Erdgasnetz eingespeist wird. Aus technischen Grün-                          nicht absehbar ist. Eine Langzeitspeicherung ist aber ab einem
                                         den kann dies nur in geringem Umfang stattfinden. Daher                         Anteil von ca. 50% regenerativer Stromerzeugung notwendig.
                                         ist es sinnvoll in einem zweiten Schritt unter Hinzufügung                      Es ist vergleichsweise einfach zu erkennen, dass es in jedem
                                         von CO2 Methan zu produzieren, das ohne derartige Ein-                          Fall sinnvoller und deutlich wirtschaftlicher wäre, über eine
                                         schränkungen in das Erdgasnetz und in die bereits vor-                          konsequente Effizienzstrategie den Aufwand für Zwischen-
                                         handenen großen Kavernen eingelagert werden kann. Die                           speicherung zunächst auf das unverzichtbare Maß zu reduzie-
                                         Speicherkapazität von Erdgasnetz und Kavernen in                                ren. Das genau ist der Ansatz des PER-Systems, wie es vom
                                         Deutschland ist mit ca. 220 TWh ausreichend groß.                               Passivhaus-Institut entwickelt wurde.

14
2 Vergleich zwischen alter und neuer Bewertung anhand realisierter Passivhäuser

2.1 Exemplarische PER-Bewertung von drei Passivhäu-                                                                                  Abbildung 3:
                                                                                                                                     Energieautarkes Passivhaus in
sern und Einordnung in die neuen Passivhaus-Klassen
                                                                                                                                     Berg a. Starnberger See.

Im Folgenden wird vorausgesetzt, dass die Konzeption und
Methodik des PER-Modells sowie die Bewertungsansätze der
neuen Passivhaus-Klassen bekannt sind. Eine genaue Dar-
stellung findet sich in (Feist 2014), (Grove-Smith/Feist 2015),
(Krick 2015). Sinnvoll ist ferner, eine aktuelle Version des Pas-
sivhaus-Projketierungs-Paketes (ab Version 9) heranzuziehen.
Im Excel-Arbeitsblatt „PER“ lässt sich durch Öffnen der ver-
steckten Zellen die Berechnungsmethodik direkt nachvollzie-
hen. Das gilt vor allem für die Abwicklung des Biomasse-Bud-
gets. Für eine erste Orientierung findet sich im Anhang 1 + 2
eine Kurzbeschreibung des PER-Modells sowie eine knappe
Darstellung der neuen Passivhaus-Klassen.

Weil das neue Bewertungssystem noch weitgehend unbekannt            Beispiel 1: Einfamilienhaus
ist - das gilt in besonderem für die Feinheiten der Berechnungs-
methodik, die den Passivhaus-Klassen zugrunde liegen - ist es       Das erste Beispiel ist ein energieautarkes Passivhaus in Holz-
zunächst sinnvoll die Unterschiede zwischen alter und neuer         bauweise und wurde auf einem kleinen Restgrundstück im In-
Bewertung an konkreten Beispielen zu erläutern.                     nenbereich einer kleinen Ortschaft errichtet. Neben den Wohn-
                                                                    räumen weist das Haus einen belichteten Keller mit Werkstatt
Im Folgenden werden drei Wohngebäude mit unterschiedli-             auf. Der Bauherr entwickelt Velomobile und Fahrradlampen
chen Versorgungskonzepten, Geometrien und Standorten so-            und baut die Prototypen selber. Ein Teil der Entwurfsaufgabe
wohl gemäß dem alten Verfahren auf der Basis nicht-erneuer-         war, dass sich das Haus so weit möglich selbst mit Energie
barer Primärenergie als auch gemäß dem neuen PER-System             versorgen soll. Anfangs war ein Netzanschluss vorgesehen, je-
und den neuen Passivhaus-Klassen bewertet. Es handelt sich          doch wurde mitten im Bauprozess entschieden, keinen Netz-
um ein Einfamilien-, ein Reihen- und ein Mehrfamilienhaus. Bei      anschluss auszuführen, auch weil der Stromversorger gewis-
dem Vergleich wird deutlich, wie stark sich alte und neue Be-       se Schwierigkeiten bei der Ausführung des Stromanschlusses
wertung voneinander unterscheiden. Zusätzlich werden auch           machte.
die spezifischen Treibhausgasemissionen ermittelt und gegen-
übergestellt, um einen von der Primärenergie unabhängigen           Das Haus besitzt eine große Fotovoltaikanlage mit 10 kWp,
Maßstab zu erhalten (siehe Tabelle 1).                              die als nach Süden geneigtes Energiedach ausgeführt wur-

                                                                                                                                                                     15
Tabelle 1:
Kurzbeschreibungen und energe-                                     Energieautarkes Einfamilienhaus    Stadtreihenhäuser München (RH)        Mehrfamilienhaus München (MFH)
tische Kennwerte zu drei vom Ar-
                                                                   (EFH)
chitekturbüro Vallentin+Reichmann
realisierten Passiv-Wohnhäusern
in Form eines energieautarken        Bezug / Energiebezugsfläche   02/2014; EBF = 145 m²              07/2006; EBF = 1266 m²                03/2016; EBF = 1545 m²
Einfamilienhauses (EFH), einer
Stadtreihenhauszeile (RH) und        Stromversorgung               PV (10 kWp) und Batterie     (20   Netzanschluss; kleine PV (2kWp) mit   Netzanschluss; PV (8kWp) mit
eines Mehrfamilienhauses (MFH).                                    kWh); kein Netzanschluss           Netzeinspeisung                       Netzeinspeisung

                                     Wärmeversorgung               Elektrische Wärmepumpe             Wärmepumpen-Kompakt-aggregate und     Fernwärme (Anschlusszwang!)
                                                                   Direktverdampfer-Technologie,      thermische Solaranlage je Haus
                                                                   (ergänzend: Mini-BHKW)

                                     Stromeffizienz                hoch (ca. 12,0 kWh/m²EBFa)         mittel (ca. 17,6 kWh/m²EBFa)          mittel (ca. 18,4 kWh/m²EBFa)

                                     Heizwärmebedarf               13,2 kWh/(m²EBF a)                 12,8 kWh/(m²EBF a)                    14,9 kWh/(m²EBF a)

                                     Warmwasserbedarf              17,4 kWh/(m²EBF a)                 17,4 kWh/(m²EBF a)                    17,8 kWh/(m²EBF a)

                                     Wärmeverteil- und             3,2 kWh/(m²EBF a)                  3,7 kWh/(m²EBF a)                     14,3 kWh/(m²EBF a)
                                     speicherverluste

                                     Primärenergie (nicht ern.)    52,2 kWh/(m²EBF a)                 81,5 kWh/(m²EBF a)                    64,0 kWh/(m²EBF a)

                                     Treibhausgas-Emissionen       12,9 kg/(m²EBFa)                   20,5 kg/m²a                           20,4 kg/m²a

                                     PER-Bedarf                    24,5 kWh/(m²EBF a)                 39,6 kWh/(m²EBF a)                    77,5 kWh/(m²EBF a)

                                     PER-Erzeugung                 92,3 kWh/(m²Grund a)               34,2 kWh/(m²Grund a)                  19,0 kWh/(m²Grund a)

                                     Passivhaus-Klasse             “Plus”                             “Classic”                             “PHI-Energiesparhaus”

                                    de. Im Keller ist eine Lithium-Ionen-Batterie mit 20 kWh Ka-             zen Leitungslängen zu den Zapfstellen verzichtet. Die Elektro-
                                    pazität aufgestellt. Die Wärmeversorgung erfolgt mit einer Di-           ausstattung ist grundsätzlich sehr effizient (LED-Beleuchtung,
                                    rektverdampfer-Wärmepumpe, die das Erdreich mit einem                    besonders stromsparende Geräte, geringer Hilfsstrombedarf),
                                    Flächenabsorber als Wärmequelle nutzt. Wegen des kleinen                 jedoch werden in der Werkstatt einige stromintensive Geräte
                                    Grundstücks standen hier nur vergleichsweise kleine Flächen              betrieben, z.B. Drehbank, Fräse, Sägen.
                                    zur Verfügung. Für das Warmwasser ist ein gut gedämmter
                                    schlanker Wärmespeicher eingebaut, der eine stabile Wärme-               Ausgehend von den Nutzenergie-Kennwerten (Raumwär-
                                    schichtung aufweist; auf eine Zirkulation wurde wegen der kur-           me, WW, Hilfsstrom, Haushaltsstrom) wird der Endenergie-

16
bedarf berechnet und gemäß ihren jahreszeitlichen Schwer-
punkten sortiert und zugeordnet. Aufgrund des besonders ef-
fizienten Wärmepumpensystems liegen die Endenergiekenn-
werte für Heizen und Warmwasser sehr niedrig. Obwohl die
Stromeffizienz insgesamt hoch ist, dominiert diese Anwendung
in der PER-Bedarfsbilanz. Der PER-Bedarfswert ist gleichwohl
mit 24,5 kWh/m²EBFa sehr gering. Trotz der großen PV-Anla-
ge reicht der Ertrag mit einem PER-Erzeugungswert von 92,3
kWh/m²Grunda nicht aus, um die Passivhaus-Klasse „Premium“                         
zu erreichen. Das Einfamilienhaus wäre demnach in die Pas-
sivhaus-Klasse „Plus“ einzuordnen. Gemäß der bisherigen
Passivhausbewertung ergibt sich ein Kennwert für nicht erneu-
erbare Primärenergie von 52,2 kWh/m²a und ein Treibhaus-
gas-Kennwert von 12,9 kg/m²a CO2-Äquivalenten.

Für die PER-Berechnung wurde zunächst einmal vereinfa-
chend angenommen, dass das Gebäude einen Netzanschluss
besitzt (wie ursprünglich geplant). Andernfalls ist es notwendig,
die PER-Faktoren projektspezifisch zu bestimmen. Die Kriteri-
en hierfür sind allerdings noch zu definieren; man könnte z.B.
streng argumentieren, dass in einem solchen Fall selbst das
Biomasse-Budget nicht greift. Auf jeden Fall liegt dann wegen       zen Strom sofern dieser über eine Batterie zwischengespei-         Abbildung 4:
                                                                                                                                       Energieautarkes Passivhaus in
der nicht genutzten Überschüsse der PER-Bedarfswert im kon-         chert wird oder Energieversorgungen in Arealnetzen.
                                                                                                                                       Berg am Starnberger See
kreten Fall deutlich höher. Anhand eines Vergleichs zwischen                                                                           Lageplan, Grundrisse, Schnitte und
Strombedarf und PV-Erzeugung ergibt sich ein PER-Faktor für         Der bei weitem spannendste Aspekt bei diesem Projekt ist,          Ansichten.
den eigengenutzten Strom von etwa 2,7 und für die Erzeugung         dass das Problem der „Winterlücke“ in einem energieautarken
von 0,37 (5). Berechnet man auf dieser Grundlage die PER-           Haus unmittelbar spürbar wird. Es fehlt ein Außensystem, das
Kennwerte neu, ergibt sich mit 34,7 kWh/m2Grunda ein deut-          auch in den Phasen mit Unterversorgung Energie zur Verfü-
lich geringerer Wert für die PER-Erzeugung. Der PER-Bedarfs-        gung stellt. Diese Phasen treten vor allem im Kernwinter auf.
wert steigt dann auf 54,3 kWh/m2EBFa an, sofern kein Biomas-        Sie sind durch kurze Tage mit niedrigen Außentemperaturen
sebudget angesetzt wird (siehe Abbildung 9). Bei Anrechnung         (Heizbedarf) und zusätzlich eine dicke Wolkendecke gekenn-
des Biomassebudgets würde der PER-Bedarfwert bei ca. 27             zeichnet, die auch die diffuse Solarstrahlung stark abmindert.
kWh/m2EBFa zu liegen kommen. Offen bleibt z.B. auch die Fra-        Diese kritischen Phasen können im Einzelfall auch einmal meh-
ge, wie Überschussstrom, der Nachbarn geschenkt wird, an-           rere Wochen umfassen, bleiben aber in manchen Jahren auch
gerechnet werden soll. Diese Fragen wirken auf den ersten           gänzlich aus. Der Bauherr entwickelt derzeit für diese Zeiten
Blick „akademisch“, sind aber durchaus von Bedeutung für das        ein Mini-BHKW, das einen Modellflugzeugmotor (für Flüge zwi-
PER-Model. Dies bertifft z.B. die Anrechnung von eigengenut-        schen Kontinenten, die besonders effizient konstruiert sind) mit

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