Intelligente Grenzen und inter-operable Datenbanken für die innere Sicherheit der EU
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SWP-Studie
Raphael Bossong
Intelligente Grenzen und inter-
operable Datenbanken für die
innere Sicherheit der EU
Umsetzungsrisiken und rechtsstaatliche Anforderungen
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für
Internationale Politik und Sicherheit
SWP-Studie 4
April 2018Die Studie untersucht die Bestrebungen der EU, sogenannte intelligente Grenzen zu schaffen und Datenbanken auszubauen, die der Strafverfolgung und der Migrationskontrolle dienen. Intelligente Grenzkontrollen werden durch die USA schon seit den frühen 2000er Jahren global vorangetrieben. Auf Seiten der EU sorgt die langfristige Entwicklung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts dafür, dass die Ansprüche an das innereuro- päische Informationsmanagement wachsen. Zudem folgt die EU seit 2017 dem übergeordneten Ziel, eine Interoperabilität von Datenbanken zur inneren Sicherheit herzustellen. Die Bemühungen, die komplexen Reformvorhaben zu verwirklichen, haben sich zuletzt beschleunigt. Dieser Prozess ist mit drei Risiken verbun- den. Erstens kann sich die Einführung intelligenter Grenzen über Jahre hin- ziehen; dabei gibt es in vielen EU-Mitgliedstaaten bereits heute erhebliche Umsetzungsdefizite beim polizeilichen Informationsmanagement. Zweitens drohen überzogene Erwartungen, was die Effektivität intelligenter Grenzen im Kampf gegen Terrorismus und irreguläre Migration betrifft. Drittens besteht kein klarer Zusammenhang zwischen neuer Sicherheitstechnik und den Chancen darauf, die Personenfreizügigkeit aufrechtzuerhalten oder das Vertrauen der Bürger in die EU zu bewahren. Die Mitgliedstaaten sollten deshalb mit Umsicht agieren, wenn inter- operable Datenbanken und digitale Grenzkontrollen geschaffen werden. Vorrang sollten verlässliche rechtsstaatliche Rahmenbedingungen haben. Drei Arbeitsfelder sind dabei vordringlich. Erstens vertiefen neuere Urteile des Europäischen Gerichtshofs die Zweifel, ob es verhältnismäßig ist, die Daten von Reisenden pauschal und anlasslos zu speichern. Zweitens muss das EU-Datenschutzrecht weiter konsolidiert werden. Drittens sind die Ver- fahren und Rechtswege zu stärken, mit denen sich Einreiseverweigerungen für die EU anfechten lassen.
SWP-Studie
Raphael Bossong
Intelligente Grenzen und
interoperable Datenbanken für
die innere Sicherheit der EU
Umsetzungsrisiken und rechtsstaatliche Anforderungen
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für
Internationale Politik und Sicherheit
SWP-Studie 4
April 2018Alle Rechte vorbehalten. Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten der Stiftung Wissenschaft und Politik ist auch in Aus- zügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet. SWP-Studien unterliegen einem Begutachtungsverfah- ren durch Fachkolleginnen und -kollegen und durch die Institutsleitung (peer review). Sie geben die Auffassung der Autoren und Autorinnen wieder. © Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, 2018 SWP Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Fax +49 30 880 07-200 www.swp-berlin.org swp@swp-berlin.org ISSN 1611-6372
Inhalt
5 Problemstellung und Empfehlungen
7 Die Entwicklung intelligenter Grenzen und des
polizeilichen Informationsmanagements in der EU
8 Grundsatzdebatte über intelligente Grenzen und
EU-Sicherheitspolitik
10 Polizeiliches Informationsmanagement
11 Intelligente Grenzen
13 Interoperabilität von Datenbanken
17 Risiken der verdichteten EU-Sicherheitsagenda
17 Umsetzung in den Mitgliedstaaten
19 Effekte auf Terrorismusbekämpfung und irreguläre
Migration
21 Sicherheitstechnik und öffentliches Vertrauen
25 Herausforderungen bei Datenschutz und
rechtsstaatlicher Aufsicht
25 Die Verhältnismäßigkeit der anlasslosen
Datenspeicherung
27 Konsolidierung des europäischen Datenschutzregimes
29 Gestärkte Aufsichts- und Korrekturmechanismen
32 Schlussfolgerungen und Ausblick
34 AbkürzungenDr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU/Europa
Problemstellung und Empfehlungen
Intelligente Grenzen und interoperable
Datenbanken für die innere Sicherheit
der EU.
Umsetzungsrisiken und rechtsstaatliche
Anforderungen
Wie der Grenzschutz und die innere Sicherheit ge-
stärkt werden können, ist eine der zentralen politi-
schen Fragen der EU. Zwei bekannte Ansätze sind die
Stärkung gemeinsamer Institutionen, wie der Euro-
päischen Grenz- und Küstenwache, und die Verlage-
rung von Kontrollen in die europäische Nachbar-
schaft. Der dritte und weniger bekannte Ansatz zielt
darauf, sogenannte intelligente Grenzen und Infra-
strukturen für den grenzüberschreitenden Daten-
austausch auszubauen.
Derzeit verfolgen die Europäische Kommission und
die EU-Mitgliedstaaten gleich mehrere Maßnahmen-
stränge für diesen technischen Ansatz: 1. die Erwei-
terung der Funktionen bestehender EU-Datenbanken
zur Migrationskontrolle und polizeilichen Zusam-
menarbeit, wie des Schengener Informationssystems;
2. die Schaffung neuer Grenzkontrollsysteme, wie
einer elektronischen Einreiseerlaubnis und eines bio-
metrischen Ein- und Ausreiseregisters; 3. die syste-
matische Verbindung aller EU-Datenbanken unter
dem Schlagwort der »Interoperabilität«, womit auch
die EU-Agenturen zur inneren Sicherheit gestärkt
werden.
Mit diesem Sicherheitspaket würde sich die EU
den Kontrollpraktiken der USA annähern. So sollen
alle einreisenden Drittstaatsangehörigen vorab einer
Risikobewertung unterzogen und beim Grenzüber-
tritt lückenlos mit biometrischen Daten erfasst
werden. Eine integrierte Abfrage von interoperablen
Datenbanken könnte Sicherheitsbehörden dabei
helfen, gesuchte Personen an der Einreise zu hindern
oder innerhalb der EU der Strafverfolgung zuzufüh-
ren. Schließlich sollen falsche Dateneinträge oder
Fälle von Identitätsmissbrauch durch den stetigen
Abgleich von biometrischen Informationen deutlich
seltener werden.
Diese technischen Maßnahmen sollen zugleich
eine Antwort auf die Vertrauenskrise sein, in welche
die deutsche und europäische Politik seit 2015 durch
den Anstieg irregulärer Migration und durch schwere
Terroranschläge geraten ist. Der Europäische Rat von
SWP Berlin
Intelligente Grenzen und interoperable Datenbanken für die innere Sicherheit der EU
April 2018
5Problemstellung und Empfehlungen
Bratislava unterstrich im Herbst 2016, dass elektro- mit einem Wendepunkt gerechnet werden. Drittens
nisch vernetzte Personenkontrollen als Bestandteil besteht kein klarer Zusammenhang zwischen neuer
eines größeren Maßnahmenpakets für die innere Sicherheitstechnik und dem öffentlichen Bild oder
Sicherheit zu priorisieren seien. Darüber hinaus der Legitimität der EU. Bürger nehmen die Lage der
präsentiert die EU-Kommission interoperable Daten- inneren Sicherheit Europas nur mittelbar wahr. Die
banken und intelligente Grenzen als zentrale Bau- globale Entwicklung der Biometrie und der automa-
steine für eine europäische »Sicherheitsunion«, die tisierten Datenanalyse kann aber gesellschaftliche
sich in einer wachsenden operativen Zusammen- Sorgen vor einer zunehmenden Überwachung ver-
arbeit von Sicherheitsbehörden niederschlägt. Vor stärken.
diesem Hintergrund beschloss die EU bereits Ende Somit ist der Ausbau von intelligenten Grenzen
2017, ein biometrisches Ein- und Ausreisesystem und interoperablen Datenbanken ein langfristiger wie
zu schaffen, während 2018 neun weitere Gesetzes- anspruchsvoller Prozess, der vor allem die reguläre
vorschläge aus diesem Themenfeld verhandelt grenzüberschreitende Polizeiarbeit und die Verwal-
werden. tung legaler Migration betrifft. Die EU-Mitgliedstaaten
Die vorliegende Studie fragt danach, welche Risi- sollten sich aus einer kurzfristigen Entscheidungs-
ken und Herausforderungen damit einhergehen, dass dynamik hin zu mehr Sicherheitstechnik lösen und
intelligente Grenzen sowie Datenbanken für Straf- drei spezifische Herausforderungen bearbeiten, um
verfolgung und Migrationskontrolle beschleunigt einen verlässlichen rechtsstaatlichen Rahmen für
ausgebaut werden. Wenn Außengrenzen und innere intensivierte Grenzkontrollen und Datenverarbei-
Sicherheit der EU nachhaltig gestärkt werden sollen, tungsprozesse der Sicherheitsbehörden zu gewähr-
bedarf es einer differenzierten Betrachtung der stark leisten.
verdichteten und technisch komplexen Reformagenda. Erstens verschärfen neuere Urteile des Europäi-
So lassen sich die aktuellen EU-Gesetzesvorhaben nur schen Gerichtshofs die Frage, inwiefern eine anlass-
zum Teil als Antwort auf die Migrationskrise und lose Datenspeicherung verhältnismäßig ist. Die be-
die Terroranschläge seit 2015 verstehen. Zum einen reits beschlossene EU-Richtlinie zur Auswertung von
wurden intelligente Grenzen schon seit den frühen Fluggastdaten (PNR), die als Bestandteil intelligenter
2000er Jahren durch Anforderungen der USA voran- Grenzen gilt, sollte deshalb überdacht werden. Zwei-
getrieben. Zum anderen erzeugte die innereuropäi- tens ist es eine dringende Aufgabe, das EU-Daten-
sche Entwicklung des Raums der Freiheit, der Sicher- schutzrecht zu konsolidieren. Beachtet werden sollten
heit und des Rechts wachsende Ansprüche, ein kohä- dabei vor allem die Umsetzung der Datenschutzricht-
rentes Informationsmanagement der Strafverfol- linie für Strafverfolgungsbehörden und die laufenden
gungsbehörden zu verwirklichen. Erst 2016 verknüpf- Verhandlungen über eine Neufassung der Daten-
te die Kommission diese zwei Diskussionen und pro- schutzverordnung für EU-Organe. Technische Lösun-
klamierte das übergeordnete Ziel der Interoperabilität gen zur Datensparsamkeit sind im Rahmen der Inter-
von Datenbanken für Grenzsicherheit und Straf- operabilität nicht ausreichend. Drittens sollten die
verfolgung. Verfahren und Rechtswege gestärkt werden, mit
Aus der Komplexität und der krisengetriebenen denen sich Einreiseverweigerungen für die EU anfech-
Beschleunigung des Maßnahmenpakets ergeben sich ten lassen. Anlass dazu geben neue Mechanismen der
drei Risiken. Erstens kann sich die Einführung intel- Risikobewertung, die stärkere Nutzung der Biometrie
ligenter Grenzen über Jahre hinziehen, während in sowie die steigende Zahl an betroffenen Drittstaats-
vielen EU-Mitgliedstaaten erhebliche Umsetzungs- angehörigen. Darüber hinaus werden künftig im Rah-
defizite beim polizeilichen Informationsmanagement men einer neuen elektronischen Einreiseerlaubnis
bestehen. Es droht die Glaubwürdigkeit der EU-Sicher- für die Schengen-Zone (ETIAS) nachrichtendienstliche
heitspolitik zu belasten, wenn ohne klare Priorisie- Informationen genutzt, um eine europäische Warn-
rung eine Vielzahl von Reformvorhaben angehäuft liste zu Terroristen und Schwerverbrechern zu er-
wird. Zweitens gibt es das Risiko überzogener Erwar- stellen. Deshalb sollte auch die politische Aufsicht
tungen, was die Effektivität intelligenter Grenzen im über Europol, das die Warnliste mitgestalten soll, ver-
Kampf gegen Terrorismus und irreguläre Migration tieft werden.
betrifft. Angesichts der begrenzten Wirkung, die
solche Kontrollsysteme in den USA hatten, sowie der
gegenwärtigen Bedrohungslage für die EU kann nicht
SWP Berlin
Intelligente Grenzen und interoperable Datenbanken für die innere Sicherheit der EU
April 2018
6Die Entwicklung intelligenter Grenzen und des polizeilichen Informationsmanagements in der EU
Die Entwicklung intelligenter
Grenzen und des polizeilichen
Informationsmanagements
in der EU
Seit 2015 hat sich eine intensive Debatte entwickelt, Externalisierung kann bereits seit Mitte der 2000er
wie die EU ihre Außengrenzen besser sichern kann. Jahre als eine explizite Strategie der EU gelten; 3 sie
Grundsätzlich lassen sich dabei drei Ansätze erken- schlug sich seither in zahlreichen Partnerschafts-
nen. Erstens besteht die Option, den europäischen abkommen und Finanzierungsinstrumenten nieder.
Grenzschutz zu vergemeinschaften. Eigenständige Ins Zentrum der Debatte rückte sie aber erst ab 2016
EU-Kräfte zur Sicherung der Grenzen wurden von durch das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei und
führenden Politikern wiederholt als langfristig not- durch politische Anstrengungen für vergleichbare
wendiges Integrationsziel genannt. 1 Die im Sommer Regelungen mit Nordafrika. 4
2016 verabschiedete Reform der EU-Grenzschutz- Diese Studie widmet sich dem dritten und öffent-
behörde Frontex, die zur Europäischen Agentur für lich eher wenig diskutierten Ansatz, um Grenzsiche-
die Grenz- und Küstenwache umbenannt wurde, rung und innere Sicherheit der EU zu stärken. Er
blieb noch ein deutliches Stück dahinter zurück. 2 besteht in der technischen Modernisierung und Ver-
Der zweite Ansatz ist die sogenannte Externalisierung netzung von Grenz- und Personenkontrollen sowie
der europäischen Grenzsicherung in Drittstaaten. Die einem erleichterten Datenzugriff für Strafverfol-
gungsbehörden. Um die Freizügigkeit zu erhalten
und eine verbesserte Terrorismusbekämpfung zu
1 Die vielbeachtete Grundsatzrede, die Frankreichs Präsi- gewährleisten, 5 soll die EU – so die Bratislava-
dent Emmanuel Macron im September 2017 zum Thema
Erklärung – lückenlos alle Ein- und Ausreisen von
Europa hielt, nahm Bezug auf diese Vision. Siehe »Sorbonne
Drittstaatsangehörigen biometrisch erfassen und
Speech of Emmanuel Macron – Full text/English version«,
eine elektronische Einreiseerlaubnis für visabefreite
26.9.2017,
(Zugriff am 4.12.2017). Auch im Zuge der Verhandlungen Grenzschutzbehörden besser auf Informationen aus
über den nächsten Finanzrahmen der EU wird eine solche unterschiedlichen EU-Datenbanken zugreifen kön-
Option debattiert. Siehe Europäische Kommission, EU Budget
for the Future, 14.2.2018, (Zugriff am 26.2.2018). Market Studies, 43 (2005) 4, S. 787–806.
2 Die personellen wie materiellen Kapazitäten der Agentur 4 Anne Koch/Annette Weber/Isabelle Werenfels (Hg.),
wurden ausgeweitet. Zudem erhielt sie den Auftrag, nach Migrationsprofiteure? Autoritäre Staaten in Afrika und das euro-
»Schwachstellen« an den europäischen Außengrenzen zu päische Migrationsmanagement, Berlin: Stiftung Wissenschaft
suchen. Keine hinreichende Zustimmung fand indes der Vor- und Politik, April 2018 (SWP-Studie 3/2018).
schlag, dass es Frontex möglich sein solle, Grenzsicherungs- 5 Europäischer Rat, Erklärung von Bratislava, 16.9.2016, S. 3f,
maßnahmen auch gegen den Willen eines betroffenen Mit- (Zugriff am 4.12.2017).
SWP Berlin
Intelligente Grenzen und interoperable Datenbanken für die innere Sicherheit der EU
April 2018
7Die Entwicklung intelligenter Grenzen und des polizeilichen Informationsmanagements in der EU
nen, um Identitätsmissbrauch zu verhindern und gehende Reisefreiheit, die durch punktgenaue Risiko-
Ermittlungen zu beschleunigen. analysen und globale Warnlisten zu Terroristen und
Im Folgenden werden die politischen Konflikte und Schwerverbrechern flankiert wird. Selbst für ärmere
Entwicklungslinien aufgeschlüsselt, die im Zusam- Staaten könnte somit der Weg für eine Visaliberali-
menhang mit dieser vermeintlich technischen Agen- sierung bereitet werden. Anstelle der traditionellen
da bestehen. Zum einen befinden sich staatliche Einstufung nach Risikoländern tritt zunehmend
Grenzen in einem strukturellen Veränderungs- eine individuelle Bewertung von Reisenden auf Basis
prozess, weil die internationale Mobilität beständig automatisierter Datenanalysen. 8
wächst. Zum anderen ergeben sich kritische Fragen, Kritiker dagegen bemerken, dass der versprochene
was Effektivität und normative Auswirkungen von Mehrwert intelligenter Grenzen zweifelhaft sei. Dies
sogenannten intelligenten Grenzen angeht. Die EU ist gelte insbesondere für die Abwehr des internationa-
dabei nicht nur ein besonderes Anwendungsfeld für len Terrorismus. Abgesehen vom Ausnahmeereignis
die transnationale Vernetzung von Sicherheitsbehör- des 11. September 2001 seien Drittstaatsangehörige,
den und Infrastrukturen. Historisch betrachtet wur- die sich an Außengrenzen kontrollieren lassen, keine
den über polizeiliches Informationsmanagement und zentrale Gefahrenquelle. 9 Tatsächlich wurden die
intelligente Grenzen lange zwei verschiedene Diskus- allermeisten Anschläge in Europa und den USA von
sionen geführt. Erst ab 2016, unter dem Eindruck der langfristig ansässigen Personen oder eigenen Staats-
Sicherheits- und Migrationskrise, wurde das Ziel von bürgern verübt. 10 Darüber hinaus kosten intelligente
Interoperabilität als übergreifende Klammer für diese Grenzsysteme oft weit mehr als veranschlagt, 11
zwei Reformstränge postuliert. während zusätzliche Nachteile oder nichtmonetäre
Kosten für individuelle Reisende entstehen. So schafft
die individuelle Risikobewertung neue Formen der
Grundsatzdebatte über intelligente Diskriminierung zwischen hochmobilen Eliten –
Grenzen und EU-Sicherheitspolitik sogenannten Trusted Travellers 12 – und allen ande-
Während der vergangenen zwei Jahrzehnte hat sich
www2.deloitte.com/content/dam/Deloitte/global/Documents/
die Bedeutung von Grenzen in allen Industriegesell- Public-Sector/dttl-ps-GMBM-Border-Point-Booklet.pdf>
schaften fundamental gewandelt. Kontrollen, die (Zugriff am 4.12.2017).
traditionell an physischen Grenzen durchgeführt 8 Paul De Hert/Rocco Bellanova, Transatlantic Cooperation on
wurden, virtualisieren sich und erfolgen zunehmend Travelers’ Data Processing: From Sorting Countries to Sorting Indivi-
innerhalb und außerhalb des staatlichen Territo- duals, Washington, D.C.: Migration Policy Institute, März
riums. 6 Hoheitliche Aufgaben zur Wahrung der 2011 (Migration Policy Institute Paper),
informationstechnischen Netzwerk von mehrfachen (Zugriff am 4.12.2017).
Vor- und Nachkontrollen, die neben Polizei und 9 National Consortium for the Study of Terrorism and
Responses to Terrorism, Border Crossings and Terrorist Attacks in
Grenzschutzbehörden auch private Firmen (Flug-
the United States: Lessons for Protecting against Dangerous Entrants,
gesellschaften, Sicherheitsdienstleister etc.) und
College Park, MD: November 2012, (Zugriff am 19.3.2018).
aus resultieren, sollen nicht als direkter Ersatz für 10 Manni Crone/Martin Harrow, »Homegrown Terrorism
physische Barrieren dienen und den Nationalstaat in the West«, in: Terrorism and Political Violence, 23 (2011) 4,
abschotten. Erreichen will man vielmehr, dass sich S. 521–536; Peter Bergen/Albert Ford/Alyssa Sims/David
internationale Mobilität gezielt steuern und flexibel Sterman, Terrorism in America after 9/11. New America Project
absichern lässt. 7 Als Ideal gilt eine möglichst weit- Report, Washington, D.C. 2017, (Zugriff am 5.2.2018).
11 United States Government Accountability Office,
6 Peter Shields, »Borders as Information Flows and Trans- Testimony Before the Subcommittee on Immigration and the National
national Networks«, in: Global Media and Communication, Interest, U.S. Senate, Juli 2016, (Zugriff am 4.12.2017).
7 Deloitte Report, Smart Borders – Increasing Security without 12 Siehe zu den praktischen Erleichterungen für diese
Sacrificing Mobility, Deloitte Development LLC 2014,Grundsatzdebatte über intelligente Grenzen und EU-Sicherheitspolitik
ren Personen. 13 Vor allem leidet die Privatsphäre, was sich mit dem Konzept intelligenter Grenzen über-
wenn Daten im Vorfeld von Grenzen erhoben wer- schneidet. 18
den. 14 Schließlich steht die Frage im Raum, ob die Vergleichbar könnte die von der Europäischen
automatisierten Analysen und Entscheidungsprozesse Kommission verfolgte Idee einer Sicherheitsunion 19
intelligenter Grenzen zur Erosion rechtsstaatlicher in Zukunft an Substanz gewinnen, wenn technische
Verantwortlichkeit führen. 15 Infrastrukturen ausgebaut werden. 20 Bereits seit 2015
steigt die Nutzung europäischer Datenbanken für
Für Sicherheitsbehörden könnte die Migrationssteuerung und polizeiliche Zusammen-
grenzüberschreitende Zusammen- arbeit deutlich an. 21 Neue intelligente Grenzen und
arbeit selbstverständlich werden. stärker vernetzte Datenbanken sollen diese Entwick-
lung beschleunigen. Somit könnte auf Ebene der
Vor dem Hintergrund dieser Grundsatzdebatte Sicherheitsbehörden – und jenseits politischer
stellt die EU ein besonderes Anwendungsfeld für Souveränitätsfragen – die grenzüberschreitende
intelligente Grenzen dar. Der gesamte europäische Zusammenarbeit und europäische Informations-
Integrationsprozess ist darauf ausgerichtet, die Mobi- verarbeitung zur Selbstverständlichkeit werden.
lität von Waren, Gütern, Dienstleistungen und Perso- Kritiker wiederum betrachten diese Art der techno-
nen zu befördern. Seit den 1990er Jahren besteht kratischen Integration als illegitim und undemokra-
zusätzlich die Ambition, den Rückbau nationaler tisch. Steigende Investitionen in Sicherheitstechnik
Grenzen im Schengen-Raum durch eine vernetzte korrespondieren im Urteil einiger linksliberaler Beob-
Sicherheitszusammenarbeit zu kompensieren. 16 Für achter mit einer einseitigen wirtschaftspolitischen
diesen Zweck sind technische Infrastrukturen und Ausrichtung der EU. Seit dem 11. September ist ein
polizeiliche Datenbanken von zentraler Bedeutung. globaler Markt der »Homeland Security« entstanden.
Noch vor Übernahme des Schengen-Kodex in EU- Während diese Sicherheitsindustrie in den Vereinig-
Recht legte das Schengener Informationssystem (SIS) ten Staaten seither eine zentrale Rolle erlangt hat, 22
den Grundstein für eine tägliche Zusammenarbeit lässt sich auch eine wachsende Repräsentanz und
von Polizei- und Grenzschutzbehörden. Anstelle einer Vernetzung entsprechender Akteure in EU-Gremien
zentralen europäischen Agentur entstand zunächst nachweisen. 23 Europäische Entscheidungsträger
ein horizontaler Informations- und Verwaltungs-
verbund 17 zwischen nationalen Sicherheitsbehörden, 18 Magdalena König, »The Borders, They Are A-Changin’!
The Emergence of Socio-digital Borders in the EU«, in:
Internet Policy Review, 5 (2016) 1, S. 1–14.
ment of Homeland Security, »Trusted Traveler Programs«, 19 Bei der Sicherheitsunion geht es im Kern darum, die
vertragsrechtlichen Beschränkungen der EU für die innere
(Zugriff am 13.4.2018). Sicherheit – siehe u.a. Artikel 4(2) EUV – soweit wie mög-
13 Louise Amoore, »Biometric Borders. Governing Mobili- lich zu überwinden und eine gemeinschaftliche Verantwort-
ties in the War on Terror«, in: Political Geography, 25 (2006) 3, lichkeit der EU-Mitgliedstaaten auf diesem Politikfeld zu
S. 336–351. befördern.
14 Polly Pallister-Wilkins, »How Walls Do Work: Security 20 Der zuständige EU-Kommissar Julian King veröffentlicht
Barriers as Devices of Interruption and Data Capture«, in: seit Anfang 2017 monatliche Berichte zur Sicherheitsunion.
Security Dialogue, 47 (2016) 2, S. 151–164; Michiel Besters/ Neben der Cybersicherheit gelten intelligente Grenzen und
Frans W.A. Brom, »›Greedy‹ Information Technology. die Vernetzung von EU-Datenbanken als zentrale Vorhaben,
The Digitalization of the European Migration Policy«, in: vgl. Europäische Kommission, Twelfth Progress Report towards
European Journal of Migration and Law, 12 (2010) 4, S. 455–470. an Effective and Genuine Security Union, COM (2017) 779 final,
15 Holger Pötzsch, »The Emergence of iBorder. Bordering 12.12.2017.
Bodies, Networks, and Machines«, in: Environment and Plan- 21 eu-LISA, Consolidated Annual Activity Report 2016,
ning D: Society and Space, 33 (2015) 1, S. 101–118. 21.3.2017, S. 15–18.
16 Morten J. Pedersen, »The Intimate Relationship between 22 Dana Priest/William Arkin, Top Secret America. The Rise of
Security, Effectiveness, and Legitimacy. A New Look at the the New American Security State, New York 2011.
Schengen Compensatory Measures«, in: European Security, 23 Ruben Andersson, »Europe’s Failed ›Fight‹ against
24 (2015) 4, S. 541–559. Irregular Migration: Ethnographic Notes on a Counter-
17 Bettina Schöndorf-Haubold, Europäisches Sicherheits- productive Industry«, in: Journal of Ethnic and Migration Studies,
verwaltungsrecht, Baden-Baden 2010. 42 (2016) 87, S. 1055–1075; Transnational Institute Report,
SWP Berlin
Intelligente Grenzen und interoperable Datenbanken für die innere Sicherheit der EU
April 2018
9Die Entwicklung intelligenter Grenzen und des polizeilichen Informationsmanagements in der EU
tauschen sich verstärkt mit Organisationen der national verfügen. 25 Neben ersten rechtlichen Instru-
Sicherheitsindustrie aus. Dies könnte dazu beitragen, menten für diesen Informationsaustausch 26 wurde
dass der Nutzen neuer Kontrolltechnologien nicht ab Mitte der 2000er Jahre eine neue Generation des
hinreichend kritisch hinterfragt wird. 24 Schengener Informationssystems (SIS II) ins Auge
Zusammengefasst bietet sich das Bild einer stark gefasst. Das SIS II sollte insbesondere die automati-
polarisierten Debatte. Befürworter intelligenter Gren- sierte Speicherung und Abfrage von Fingerabdrücken
zen unterstreichen, dass es notwendig sei, die inter- ermöglichen. 27 Und schon damals trat die Europäi-
nationale Mobilität in technisch moderner Weise zu sche Kommission mit ersten Ideen zur »Interopera-
verwalten. Die Vernetzung von Informationsinfra- bilität« von Datenbanken im RFSR hervor. 28
strukturen, die den Abbau physischer Grenzen kom- Doch diese Vorhaben stagnierten. Gründe waren
pensieren soll, trifft sich dabei mit zentralen Zielen technische Hürden bei der Umsetzung, die Unkennt-
der europäischen Integration. Kritiker betonen hin- nis vieler nationaler Behörden über den recht jungen
gegen, dass intelligente Grenzen mit hohen finanziel- EU-Rahmen sowie die Herausforderung der EU-Ost-
len und normativen Kosten verbunden seien, wäh- erweiterung. Angeführt von Deutschland setzten
rend die EU einseitig von wirtschaftlichen Interessen einige Mitgliedstaaten stattdessen darauf, die polizei-
beeinflusst werden könnte. liche Zusammenarbeit in flexiblen Koalitionen zu
Um die kommenden Herausforderungen für die vertiefen, was sich vor allem im Prümer Vertrag von
EU-Innenpolitik differenziert bewerten zu können, 2005 niederschlug. 29 Dadurch wurde unter anderem
muss man die Vorgeschichte der aktuellen Reform- ein horizontaler Austausch von Kraftfahrzeug-,
agenda genauer betrachten. Dabei zeigt sich, dass es Fingerabdruck- und DNA-Daten zur Strafverfolgung
in den vergangenen zwei Jahrzehnten unterschied- eröffnet. 30 Auf EU-Ebene beschloss man derweil ein
liche Entwicklungspfade für das polizeiliche Infor- horizontales System für den erleichterten Austausch
mationsmanagement und für intelligente Grenzen von Strafregistern unter EU-Mitgliedstaaten (ECRIS). 31
gab. Erst seit 2016 haben sich diese Debatten stark Erst ab 2010 ließ sich auf Grundlage des Lissabon-
beschleunigt und verdichtet, was sich im übergeord- ner Vertrags eine neue Kooperationsstufe angehen.
neten Ziel der Interoperabilität niederschlägt. Das bis dahin gesonderte Regime der strafrechtlichen
Zusammenarbeit wurde von der »dritten Säule« –
mit einigen Ausnahmen – in das allgemeine EU-
Polizeiliches Informationsmanagement Recht überführt. Dieser Integrationsschritt wurde von
einer ersten EU-Strategie für die innere Sicherheit
Das Schengener Informationssystem entstand bereits begleitet. 32 Eine flankierende Fachstrategie zum
im Jahr 1995, um den Wegfall der Binnengrenzkon-
trollen zu kompensieren. 1998 wurde der »Raum der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« (RFSR) zu 25 Weitere Antriebe waren die terroristischen Anschläge
einem expliziten Integrationsziel der EU. Auf dieser am 11. September 2001 in den USA und am 11. März 2004 in
Madrid. Als erstrebenswert galt fortan, sicherheitsrelevante
Grundlage schuf man Konzepte des »gegenseitigen
Informationen weitreichend zu teilen, statt sie auf einen
Vertrauens« und der »Verfügbarkeit« von Informatio-
engen Kreis von Behörden zu beschränken.
nen. Diese Konzepte bedeuten im Kern, dass Straf-
26 Darunter der sogenannte Schwedische Rahmen-
verfolgungsbehörden bei grenzüberschreitenden beschluss.
Verfahren dieselben Ermittlungsmöglichkeiten und 27 Europäische Kommission, COM (2005) 230, 31.5.2005.
Informationszugänge haben sollen, über die sie 28 Europäische Kommission, COM (2005) 597, 24.11.2005.
29 Die ursprünglichen Unterzeichner dieses Vertrags, der
informell ebenfalls als Schengen II bezeichnet wurde, waren
Deutschland, Frankreich, Belgien, Niederlande, Luxemburg,
Market Forces: The Delevopment of the EU Security-Industrial Com- Spanien und Österreich.
plex, 2014, Ägide der deutschen Ratspräsidentschaft in EU-Recht über-
(Zugriff am 4.12.2017). führt, was aber nichts an der dezentralen Informations-
24 Kristrún Gunnarsdóttir/Kjetil Rommetveit, »The Bio- infrastruktur änderte.
metric Imaginary: (Dis)trust in a Policy Vacuum«, in: Public 31 European Criminal Records System.
Understanding of Science, 26 (2017) 2, S. 195–211. 32 Rat der Europäischen Union, 6870/10, 25.2.2010.
SWP Berlin
Intelligente Grenzen und interoperable Datenbanken für die innere Sicherheit der EU
April 2018
10Intelligente Grenzen
Datenbanken EURODAC und VIS, die ansonsten der
Die wichtigsten EU-Datenbanken für
Migrationskontrolle dienen. 35
Grenzkontrolle und innere Sicherheit
Diese internen Entwicklungen der EU-Sicherheits-
EURODAC: Zentral geführte EU-Datenbank zur Erfassung politik fielen von Sommer 2014 an mit dem rasanten
der Fingerabdrücke von Asylbewerbern und irregulären Eroberungsfeldzug des »Islamischen Staates« in Teilen
Einwanderern an EU-Außengrenzen. Primärer Zweck ist Syriens und des Irak zusammen. Spätestens ab dieser
die Feststellung der nationalen Zuständigkeit zur Be- Zeit arbeiteten mehrere EU-Mitgliedstaaten mit Hoch-
arbeitung des Asylverfahrens nach dem sogenannten druck daran, sowohl eigenen Staatsbürgern als auch
Dublin-Verfahren. langjährig ansässigen Drittstaatsangehörigen eine
VIS: Zentral geführte EU-Datenbank mit Visumsanträgen Ausreise in das vom IS kontrollierte Gebiet zu ver-
für die Schengen-Zone, einschließlich der Fingerabdrücke wehren. Im Frühjahr 2015 – unter dem Eindruck
der Antragsteller. Wird in der Regel bei der Bearbeitung des Pariser Anschlags auf die Redaktion von Charlie
eines Visumsantrags und zur Verifikation des Visums bei Hebdo – präsentierte die neue EU-Kommission
Grenzübertritt konsultiert. unter Präsident Jean-Claude Juncker schließlich eine
SIS II: Multifunktionales und weitgehend dezentral »EU-Agenda für Sicherheit«. 36 Zentrale Ziele dieser
geführtes polizeiliches Informationssystem zur Personen- Agenda waren der verbesserte polizeiliche Informa-
und Sachfahndung sowie zur erleichterten Durchsetzung tionsaustausch unter Einbeziehung von Europol und
von aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen in der die stärkere Nutzung des SIS zur Terrorismusbekämp-
Schengen-Zone. fung.
polizeilichen Informationsmanagement 33 sah zahl- Intelligente Grenzen
reiche Maßnahmen vor, die bis heute verfolgt
werden, unter anderem eine Stärkung des SIS, die Unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September
Verbesserung der Datenqualität sowie kohärente 2001 verabschiedeten die USA ein umfassendes Pro-
grenzüberschreitende Abfragemechanismen. gramm zur Modernisierung ihrer Grenzkontrollen.
Parallel dazu wuchs die Rolle von Europol, Frontex Diese »Smart Borders Initiative« beinhaltete neue
und der 2011 geschaffenen »Europäischen Agentur Sicherheitsstandards für Reisedokumente, die syste-
für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen matische Auswertung von erweiterten Fluggastdaten
im Bereich Freiheit, Sicherheit und Recht« (eu-LISA). (PNR) 37 sowie die Einführung einer elektronischen
Diese Agentur sollte primär die – seit Mitte der Einreiseerlaubnis (ESTA) 38 für visabefreite Reisende.
2000er Jahre aufgebauten – EU-Datenbanken für Zudem wurde ein gesondertes Registrierungspro-
Asylbewerber (EURODAC) und kurzzeitige Besucher gramm für Einreisende aus mutmaßlichen muslimi-
(VIS) unterstützen (siehe Kasten). Zusätzlich sollte schen Risikoländern geschaffen. 39 Dieses überführte
eu-LISA die stark verzögerte Inbetriebnahme von man ab 2004 in ein weniger diskriminierendes, aber
SIS II voranbringen, 34 die ab 2013 schließlich gelang flächendeckendes biometrisches Ein- und Ausreise-
– jedoch noch ohne die Möglichkeit, Fingerabdrücke register (EES) 40 für alle Drittstaatsangehörige. Schließ-
automatisiert abzufragen. Allerdings wurde zur Be- lich wurden biometrische Visa verlangt und ein
kämpfung von schwerer Kriminalität und internatio-
nalem Terrorismus eine Ausnahmeregelung beschlos- 35 Diese Art der Abfrage sollte allerdings nur möglich sein,
sen; sie ermöglicht bei entsprechenden Fällen eine wenn keine anderen Daten oder Spuren für die Aufklärung
polizeiliche Abfrage von Fingerabdrücken in den oder Gefahrenabwehr zur Verfügung stehen.
36 Europäische Kommission, COM (2015) 185, 28.4.2015.
37 Passenger Name Records.
33 Rat der Europäischen Union, 16637/09, 25.11.2009. 38 Electronic System for Travel Authorization.
34 Joanna Parkin, The Difficult Road to the Schengen Information 39 United States Department of Justice, »Attorney General
System II: The Legacy of ›Laboratories‹ and the Cost for Fundamental Prepared Remarks on the National Security Extry-Exit Regis-
Rights and the Rule of Law, Brüssel: Centre for European Policy tration System«, 6.6.2002, (Zugriff am 4.2.2018). 40 Entry-Exit System.
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Intelligente Grenzen und interoperable Datenbanken für die innere Sicherheit der EU
April 2018
11Die Entwicklung intelligenter Grenzen und des polizeilichen Informationsmanagements in der EU
Graphik 1
EU-Datenbanken und Vorschläge für intelligente Grenzen 2013
Quelle: eigene Darstellung
umfassendes Screening-System für Terrorismus- Hintergrund versuchte die EU, sich aus einer passiven
verdächtige mit Input aller US-Sicherheitsbehörden Reaktion zu lösen. Ab 2008 wurde das EU-Visainfor-
aufgebaut. 41 mationssystem aufgebaut, das nach amerikanischem
Diese Agenda hatte umfassende internationale Vorbild die biometrischen Daten und Fingerabdrücke
Auswirkungen. Biometrische Reisedokumente und von Antragstellern speichern sollte. 44 Parallel dazu
die Übermittlung von PNR-Daten wurden zur Bedin- präsentierte die Kommission erste Vorschläge für ein
gung, um visafrei in die USA einreisen zu können. 42 europäisches EES und ein eigenes PNR-System. Zu
Die EU beschloss recht zügig entsprechende Anpas- diesem Zeitpunkt gelang es jedoch nicht, dafür sub-
sungen bei der Dokumentensicherheit. Dagegen stantielle Unterstützung unter den Mitgliedstaaten
führte die Anforderung, Fluggastdaten zu übermit- zu mobilisieren. Befürchtet wurden massive Kosten-
teln, zu schwierigen transatlantischen Verhandlun- steigerungen, nachdem es sich in den USA als sehr
gen und einer Serie von rechtlichen Anfechtungen viel schwieriger denn geplant erwiesen hatte, das EES
über die gesamten 2000er Jahre. 43 Auch vor diesem einzurichten. 45 Zugleich galt in Europa zwischen
2008 und 2012 die Bedrohung durch islamistischen
Terrorismus internationaler Herkunft als vergleichs-
41 Homeland Security Directive Nr. 6 und 13 aus dem Jahr
2003, (Zugriff biometrischen Datenerfassung in allen visapflichtigen
am 4.12.2017). Drittstaaten bis 2014.
42 Als Vorreiter verschrieb sich Kanada noch 2001 der 45 C. Richard Neu, Is It Time to Rethink U.S. Entry and Exit
gesamten US-Programmatik. The Standing Senate Committee Processes?, Santa Monica, CA: Rand Corporation, 2009 (Occa-
on Banking, Trade and Commerce, Facilitating the Movement sional Paper), (Zugriff am 4.12.2017). Assessing the Costs and Fundamental Rights Implications of EURO-
43 Christian Kaunert/Sarah Léonard/Alex MacKenzie, SUR and the »Smart Borders« Proposals, Berlin: Heinrich-Böll-
»The Social Construction of an EU Interest in Counter-terror- Stiftung, Juni 2012, S. 41ff, (Zugriff am 19.3.2018).
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Intelligente Grenzen und interoperable Datenbanken für die innere Sicherheit der EU
April 2018
12Interoperabilität von Datenbanken
weise gering. 46 Die Kommission merkte an, die zen- Interoperabilität von Datenbanken
trale Herausforderung im Kampf gegen den Terro-
rismus bestehe darin, dass sich EU-Bürger oder lang- Ende 2015 entwickelte sich eine neue politische
fristig ansässige Drittstaatsangehörige radikalisier- Dynamik. Die schweren Anschläge von Paris im
ten. 47 Alternative ökonomische Begründungen für November des Jahres zeigten, dass die Kontrollen an
die Einführung intelligenter Grenzen – wie etwa EU-Außengrenzen nicht engmaschig genug waren,
die Installation von automatisierten Grenzkontroll- um terroristische Akteure aufzuhalten. Wie die Er-
punkten (ABC Gates) 48 zum schnelleren Passagier- mittlungen erwiesen, waren einige der Attentäter ge-
durchsatz – entfalteten keine politische Dynamik, zielt als Flüchtlinge über Griechenland eingeschleust
nicht zuletzt weil die Eurokrise zunehmend die worden. 53 Der führende Kopf der Zelle pendelte
Agenda beherrschte. nicht nur zwischen Belgien und Frankreich, sondern
2013 legte die Kommission ein angepasstes Vor- konnte seit 2010 mehrfach unbehelligt nach Syrien
schlagspaket zu intelligenten Grenzen vor, wobei die reisen. 54 Deshalb wurde auf Betreiben Frankreichs ins
finanziellen Kosten der Umsetzung niedriger als zu- Auge gefasst, systematische Ausreisekontrollen, bei
vor veranschlagt wurden. 49 Das Europäische Parla- denen das SIS zu etwaigen Einträgen abgefragt wird,
ment verweigerte aber aus Gründen des Daten- auf alle EU-Bürger auszuweiten. 55 Derweil stellte
schutzes und der Verhältnismäßigkeit erneut seine sich im Zuge der Flüchtlingskrise heraus, dass viele
Zustimmung. 50 Im Sommer 2015 unternahm die neue Schutzsuchende und irreguläre Einwanderer nicht
Juncker-Kommission einen weiteren Versuch, die mehr registriert werden konnten. Das neue EU-
anhaltende Kritik 51 an intelligenten Grenzen auszu- Instrument der »Hotspots« half zwar an besonders
räumen; sie stützte sich dabei auf erste EU-Pilot- belasteten Grenzabschnitten in Griechenland und
projekte. 52 Trotz der sich zuspitzenden Flüchtlings- Italien, zu einer systematischen Erfassung der an-
krise schien nach wie vor ein langwieriger Verhand- landenden Personen zurückzukehren. Allerdings gab
lungsprozess bevorzustehen. es auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise auch in
Deutschland große Lücken und zahlreiche Fehler bei
der Registrierung.
Weiter erhöht wurde der Handlungsdruck durch
die Terroranschläge von Brüssel im März 2016. Das
46 Die jihadistisch inspirierten Anschläge von Mohammed Europäische Parlament gab seinen langjährigen
Merah, der im März 2012 in Südfrankreich sieben Menschen Widerstand gegen das Vorhaben auf, ein eigenes PNR-
ermordete, sind im Rückblick als Wendepunkt hin zu der System der EU im Gegenzug für eine Ausweitung des
hohen Gefahrenlage zu werten, die in Europa bis heute gilt.
47 Europäische Kommission, SEC (2008) 154, 13.2.2008.
48 Automated Border Control Gates.
49 Europäische Kommission, »›Intelligente Grenzen‹:
Mehr Mobilität und Sicherheit«, Pressemitteilung, Brüssel, 53 Die USA stellten offiziell fest, dass die Flüchtlingskrise
28.2.2013, (Zugriff am 27.3.2018). Dies führte zu neuen Diskussionen mit den meisten EU-
50 Simon Sontowski, »Speed, Timing and Duration: Con- Staaten, was eine anhaltende Visabefreiung betraf. Marco
tested Temporalities, Techno-political Controversies and the Stefan, The Transatlantic Dispute over Visas: The Need for EU Action
Emergence of the EU’s Smart Border«, in: Journal of Ethnic and in the Face of US Non-reciprocity, Moving Targets and the Harvesting
Migration Studies (online first), 21.11.2017, (Zugriff am 13.2.2018). Insights, Nr. 2017-27), (Zugriff
the EDPS on the European Commission Public Consultation on smart am 20.3.2018).
borders, 3.11.2015, Prior to Paris Attack Raise EU Security Questions«, in:
(Zugriff am 4.12.2017). The Guardian, 19.11.2015, (Zugriff am 4.12.2017). 15.12.2015.
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13Die Entwicklung intelligenter Grenzen und des polizeilichen Informationsmanagements in der EU
Graphik 2
Vorschläge für EU-Datenbanken und Interoperabilität 2016
Quelle: eigene Darstellung
EU-Datenschutzregimes zu schaffen. 56 Im April 2016 Der eigentliche Kern der Kommissionsmitteilung
legte die Kommission eine umfassende Mitteilung bestand aber in der Forderung, alle EU-Datenbanken
zur Weiterentwicklung intelligenter Grenzen vor, 57 im Bereich von Strafverfolgung, Grenzsicherung und
die seither als zentraler Bezugspunkt dient. Neben Migrationssteuerung eng miteinander zu verknüpfen.
bestehenden Vorschlägen, wie der Schaffung eines Dafür wurde das Konzept der Interoperabilität aus
biometrischen Ein- und Ausreisesystems, 58 wurde die polizeilichen Expertendiskussionen aufgegriffen und
Idee reaktiviert, eine elektronische Einreiseerlaubnis mit den Vorschlägen zu intelligenten Grenzen ver-
für visabefreite Reisende (ETIAS) 59 nach Vorbild des bunden. So sollen sich unterschiedliche personen-
amerikanischen ESTA-Systems einzurichten. Zusätz- bezogene wie biometrische Daten, die sowohl im poli-
lich sollte das schon existierende ECRIS 60-System – zeilichen als auch im migrationspolitischen Bereich
zum Austausch von Strafakten – zumindest für erhoben werden, systematisch abgleichen lassen, um
Drittstaatsangehörige zu einer zentralen Datenbank Identitätsmissbrauch zu verhindern und die allge-
weiterentwickelt werden. Die neue ECRIS-TCN 61- meine Gefahrenabwehr zu erleichtern.
Datenbank sollte mit der elektronischen Einreise- Ergänzend zu diesen neuen Vorschlägen für intel-
erlaubnis ETIAS verbunden werden. ligente Grenzen und Interoperabilität schlug die
EU-Kommission vor, das EURODAC-System auszu-
56 Shara Monteleone, Completing the Adoption of an EU PNR bauen. 62 Damit soll es möglich werden, mehr biome-
Directive, European Parliament Research Service, 7.4.2016, trische und persönliche Daten über Asylsuchende
(Zugriff am 4.12.2017). Strafverfolgungsbehörden verbesserte Recherche-
57 Europäische Kommission, COM (2016) 205, 6.4.2016. Instrumente zu bieten.
58 Dieser Vorschlag klammerte besonders umstrittene Insbesondere Deutschland unterstützte dieses Maß-
wirtschaftliche Programme für registrierte Reisende aus.
nahmenpaket. Die Idee, Personendaten einmalig zu
Europäische Kommission, COM (2016) 196, 6.4.2016.
59 European Travel Information and Authorisation System.
60 European Criminal Records Information System. 62 Europäische Kommission, COM (2016) 272 final,
61 Third Country Nationals. 4.5.2016.
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14Interoperabilität von Datenbanken
Graphik 3
Schematische Darstellung der Interoperabilität
Quelle: .
erfassen und mehrfach zu nutzen, entsprach den Terrorismusbekämpfung und im Umgang mit irregu-
parallel stattfindenden Reformen in Deutschland zur lärer Migration zu nutzen. 65
Schaffung eines »Kerndatensystems« für Asylsuchen- Darüber hinaus berief die Kommission eine »Hoch-
de und irreguläre Migranten. 63 Um die EU-Reform- rangige Expertengruppe«, um das Ziel der Interopera-
agenda zu konsolidieren, erstellte die niederländische bilität auszugestalten. In ihrem Abschlussbericht
Ratspräsidentschaft einen detaillierten Fahrplan zum von Mai 2017 plädierte diese Expertengruppe für drei
Informationsmanagement. Er umfasste in mehreren Mechanismen: 66 1. Harmonisierung der personen-
Kapiteln und rund 50 Einzelpunkten die gesamte bezogenen Kerndaten durch regelmäßige Abgleiche
Bandbreite der bis dahin erörterten Maßnahmen zwischen EU-Datenbanken (common identity reposi-
zur technischen Grenzsicherung und zum Daten- tory); 2. technische Standardisierung der biometri-
austausch zwischen Strafverfolgungsbehörden. 64 Als schen Eingabe- und Abfragesysteme (common bio-
erster Schritt konnte bis Ende 2016 eine Einigung metric matching service); 3. Einrichtung einer integ-
erreicht werden, wonach alle Reisenden an Schengen- rierten Suchoberfläche (single-search interface) für
Außengrenzen systematisch auf etwaige Einträge die Grenz- und Migrationskontrolle sowie die Straf-
im SIS zu kontrollieren sind. Unmittelbar danach verfolgung. Die letztgenannte Suchoberfläche soll
unterbreitete die Kommission drei weitere Gesetzes- das bisherige Verfahren ersetzen, das nur eine
vorschläge, die darauf zielten, das SIS intensiver zur sequentielle Abfrage von unterschiedlichen EU-
Datenbanken zulässt. Außerdem sollen erleichterte
63 Deutscher Bundestag, Drucksache 18/7203, 6.1.2016.
Im Kerndatensystem sollen Schutzsuchende und irregulär
Eingereiste nur einmal mit persönlichen Daten und relevan- 65 Europäische Kommission, COM (2016) 881, 882, 883
ten biometrischen Merkmalen (Lichtbild, Fingerabdruck) final, 21.12.2016.
erfasst werden. Dieser Kerndatensatz wird Verwaltungs- und 66 High-level Expert Group on Information Systems and
Sicherheitsbehörden für die jeweils eigenen Zwecke zugäng- Interoperability, Final Report, Mai 2017, (Zugriff am 4.12.2017).
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April 2018
15Die Entwicklung intelligenter Grenzen und des polizeilichen Informationsmanagements in der EU
Abfragemöglichkeiten für Datenbestände bei Europol systems zu beschließen 72 und zwei detaillierte Geset-
und bei Interpol geschaffen werden. 67 zesvorschläge für die Interoperabilität vorzulegen. 73
Nicht unterstützt von der Expertengruppe wurde 2018 soll eine Reihe weiterer Schritte vorangebracht
die Maximaloption, alle EU-Datenbanken vollständig werden: der Ausbau des Schengen-Informations-
zusammenzuführen. Im Sinne eines technisch ver- systems und von EURODAC, die Stärkung der eu-LISA-
ankerten Datenschutzes 68 soll vielmehr auf das vom Agentur sowie die Schaffung der elektronischen Ein-
Prümer Vertrag bekannte »Hit/No Hit«-Verfahren reiseerlaubnis ETIAS und eines zentralen Strafregisters
zurückgegriffen werden. Dabei wird zunächst mit für Drittstaatsangehörige (ECRIS-TCN).74 Insgesamt
Hilfe anonymisierter Treffermeldungen angezeigt, ob betrachtet blieb die verschärfte Bedrohungswahr-
und wo relevante Einträge in unterschiedlichen Mit- nehmung seit 2016 für diese politische Dynamik
gliedstaaten (oder Datenbanken) vorliegen. Erst auf ausschlaggebend, während wirtschaftliche Interessen,
Basis einer solchen Treffermeldung kann die Über- die für intelligente Grenzen sprechen, in den Hinter-
mittlung weiterer Personen- oder Fahndungsdaten grund rückten.
beantragt werden. Diese Verfahrensweise soll sicher-
stellen, dass Strafverfolgungsbehörden nur auf rele-
vante Informationen zugreifen und dass sich im
Einzelfall überprüfen lässt, ob die Datenabfrage
berechtigt ist. 69 Flankierend soll die Datenqualität in
EU-Informationssystemen zur Migrationskontrolle
verbessert werden, indem bei eu-LISA eine übergrei-
fende Verwaltung des »common identity repository«
und des »common biometric matching service« er-
folgt. Für das SIS soll ein gesonderter »Detektor für
Mehrfachidentitäten« entstehen. Er würde einen
Abgleich erlauben zwischen dem konsolidierten EU-
Datenbestand des biometrischen »common identity
repository« und den stärker fragmentierten, tenden-
ziell fehlerhaften alphanumerischen Personen-
angaben, die von nationalen Strafverfolgungsbehör-
den erfasst werden können. Damit die skizzierten
technischen Reformen sich verwirklichen lassen,
sollen Ressourcen und Mandat der eu-LISA-Agentur
deutlich erweitert werden. 70
Der Rat der EU-Innenminister bekräftigte seine
Unterstützung für das umfassende Vorgehen. 71 In
diesem politischen Umfeld gelang es bis Ende 2017,
die Schaffung des biometrischen Ein- und Ausreise-
67 Dies betrifft insbesondere die »Lost and Stolen Travel
Documents Database« bei Interpol.
68 Das »privacy by design«.
69 Als weitere »privacy by design«-Maßnahme sollen Straf-
verfolgungsbehörden nur Zugriff auf die zentralen Personen-
angaben des »common identity repository« erhalten. Bei-
spielsweise würden die Behörden bei einem Personentreffer
im VIS zunächst keine ergänzenden Angaben aus dem 72 Verordnung (EU) 2017/2226.
gespeicherten Visumsantrag bekommen (Visumsdauer, 73 Europäische Kommission, COM (2017) 793, 794 final,
einladende Organisation etc.). 12.12.2017.
70 Europäische Kommission, COM (2017) 352 final. 74 Europäische Kommission, COM (2017) 779 final,
71 Rat der Europäischen Union, 10151/17, 14.6.2017. 12.12.2017.
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April 2018
16Umsetzung in den Mitgliedstaaten
Risiken der verdichteten
EU-Sicherheitsagenda
Auf Ebene der EU-Gesetzgebung brächte dieses Maß- Umsetzung in den Mitgliedstaaten
nahmenpaket für Ausbau und systematische Verbin-
dung von Datenbanken einen großen Integrations- In optimistischen Szenarien der EU-Kommission wird
fortschritt. Die langjährigen Debatten zur verbesser- damit gerechnet, dass ein biometrisches Ein- und Aus-
ten polizeilichen Zusammenarbeit im RFSR und zur reisesystem 2020 in Betrieb geht. Blickt man dagegen
Anpassung an die Kontrollpraktiken der USA könnten auf die bisherige Entwicklung intelligenter Grenzen
vorerst abgeschlossen werden. Ebenso würden die und der europäischen Polizei-Zusammenarbeit, so
Mechanismen der Interoperabilität dazu beitragen, zeigt sich, dass bei vergleichbaren Reformen – etwa
Identitätsmissbrauch einzudämmen und die Abfrage der Schaffung des SIS II – langjährige Verzögerungen
von EU-Datenbanken für verschiedene Zwecke der auftraten. Auch in den Vereinigten Staaten dauerte
Grenzkontrolle und der allgemeinen Strafverfolgung es über ein Jahrzehnt, bis man von der politischen
zu erleichtern. Entscheidung für ein EES zu einer weitgehend funk-
Allerdings ergeben sich auch drei zentrale Risiken tionierenden Kontrollpraxis gelangte. Doch bis heute
für den operativen und politischen Mehrwert dieser lässt sich im Falle der USA nicht garantieren, dass
gebündelten Vorhaben. Erstens drohen starke Ver- lückenlos alle legalen Ein- und Ausreisen biometrisch
zögerungen, wenn neue Grenzkontrollsysteme und erfasst werden. 76
bereits beschlossene Reformen zum polizeilichen Die EU kann zwar im Vergleich zu den 2000er
Informationsmanagement umgesetzt werden. Zwei- Jahren auf eine ausgereiftere Technik und eine Reihe
tens tragen ein biometrisches Ein- und Ausreise- von Pilotprojekten zurückgreifen, um die Einführung
system und eine elektronische Einreiseerlaubnis für eines EES zu beschleunigen. Außerdem will man das
visabefreite Reisende nur wenig dazu bei, die terroris- Mandat der Agentur eu-LISA stärken; dieser Schritt
tische Gefahrenabwehr zu stärken oder die irreguläre soll den Mitgliedstaaten zusätzlich dabei helfen, 77
Migration zu reduzieren. Drittens kann man nicht technische Fragen zu lösen, wie etwa die Standardi-
davon ausgehen, dass die öffentliche Unterstützung sierung von Schnittstellen zwischen IT-Systemen oder
für die EU durch das aktuelle Maßnahmenpaket signi- von verwendeten Kontrollgeräten. Darüber hinaus
fikant gestärkt wird. 75 Unter ungünstigen politischen wird es nach Einschätzung der Kommission möglich
Umständen kann Sicherheitstechnik gesellschaftliche sein, dass die Einführungskosten des EES noch weit-
Ängste vielmehr verstärken. gehend über den laufenden EU-Finanzrahmen bis
2020 gedeckt werden.
Allerdings ergeben sich durch die Größe der
75 Eine solche Verbindung postulierte insbesondere die Schengen-Zone und das erwartete Volumen der
Bratislava-Agenda des Europäischen Rates. Vgl. Europäischer
Rat, Erklärung von Bratislava [wie Fn. 5], S. 4. Die Kommission
sprach seit dieser Erklärung wiederholt von einem Zusam-
menhang zwischen Erwartungen der EU-Bürger und einer
Reform der technischen Infrastruktur für Grenzkontrollen
und innere Sicherheit. Vgl. Europäische Kommission, 76 United States Government Accountability Office, Report
»Security Union: Commission Closes Information Gaps to to the Committee on the Judiciary, U.S. Senate, Februar 2017,
Better Protect EU Citizens«, Press Release IP/17/5202, (Zugriff am 4.12.2017).
21.12.2017. 77 Europäische Kommission, COM (2017) 352 final.
SWP Berlin
Intelligente Grenzen und interoperable Datenbanken für die innere Sicherheit der EU
April 2018
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