Pfr. Dr. Martin Hirzel, Predigt vom Sonntag, 25. 7. 2021 über Matthäus 11, 16-19

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Pfr. Dr. Martin Hirzel, Predigt vom Sonntag, 25. 7. 2021 über Matthäus 11, 16-19

Mit wem aber soll ich dieses Geschlecht vergleichen? Kindern ist es gleich, die auf dem Markt-
platz sitzen und den andern zurufen:
Wir haben euch aufgespielt,
und ihr habt nicht getanzt,
wir haben Klagelieder gesungen,
und ihr habt nicht geklagt.
Denn Johannes kam, ass nicht und trank nicht, und sie sagen: Er hat einen Dämon! Der Men-
schensohn kam, ass und trank, und sie sagen: Seht, ein Fresser und Säufer, ein Freund von
Zöllnern und Sündern!
Und doch wurde der Weisheit Recht gegeben durch das, was sie getan hat.

Liebe Gemeinde

Man sollte es zwar nicht tun, aber trotzdem: Jetzt schon ans Ende der Sommerferien
denken. Dann ist am Morgen das Tram in die Stadt wieder voll, und an der Kasse im
Grossverteiler gibt’s wieder Schlangen. Dann ist wieder Alltag. – Im Alltag oder mehr
noch im «Alltäglichen» gibt’s nicht mehr soviel Abwechslung und Erholung wie in den
Ferien, da geht’s gewöhnlich, durchschnittlich zu. Sie merken: das Wort «Alltag» löst
bei mir einen Abwehrreflex aus, auch wenn ich weiss, dass nicht alle Tage Sonntag
ist, wie es in einem alten Schlager heisst. Alltäglichkeit meint Gleichförmigkeit. Dem
Alltag laufen wir hinterher und tun brav unsere Pflichten. Und wir wissen nicht: sollen
wir uns freuen oder klagen? Im Alltag kann’s leicht passieren, dass man sich selber
nicht mehr spürt.
       Doch noch ist Ferienzeit und dazu Sonntag. Noch ist die eine oder der andere
unter uns erfüllt von Eindrücken, Tönen und anderen Lebensrhythmen. Und vielleicht
spüren wir in uns den Wunsch, davon etwas hinüberretten zu können in diesen soge-
nannten «Alltag». Zuhause habe ich im Schrank eine Tasse mit der Aufschrift stehen
«Gott sei Dank, es ist Sonntag». Sonntag steht für dieses Andere zum Werktag, zum
Alltag. Diese Unterscheidung ist jedoch keineswegs mehr für alle Mitmenschen nach-
vollziehbar und bedeutungsvoll. Immer wieder gibt es, vor allem aus Wirtschaftskrei-
sen, politische Vorstösse, um die Geschäfte auch am Sonntag offen halten zu können.
Verschiedene Organisationen der Zivilgesellschaft und auch die Kirchen kämpfen da-
gegen. Siegten die Befürworter der liberalen Öffnungszeiten, so würde der Alltag auch
noch den Sonntag schlucken. Die Menschen bekämen noch weniger Anstoss, den
Trott des Alltags zu unterbrechen und sich zu fragen: Halt, was tute ich eigentlich, wie
geht es mir, was will ich? Ist mir ums Weinen oder Lachen, ums Klagen oder Freuen
zumute?

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Für seine Zeitgenossen, die wie wir vom Alltag bedroht waren, hat der Evangelist Mat-
thäus folgenden Rat: «Kehrt um, denn nahe gekommen ist das Himmelreich!» - . Dies
ist für Matthäus gleichsam die Zusammenfassung der Botschaft von Johannes und
Jesus. «Kehrt um!» - dieser Ruf mag in unseren Ohren sehr nach frommer Kopfhän-
gerei, nach mahnendem Zeigefinger oder Weltflucht tönen. Doch da liegen wir – meine
ich – falsch.
       Das Reich Gottes, wie Jesus es verkündigt hat, durch seine Worte und sein
Leben, führt nicht vom Leben Welt weg, vielmehr in diese Welt hinein. Dahin will Gott
jede und jeden von uns führen. Sein Reich ist nicht nur etwas für ganz Fromme oder
Moralisten und liegt auch nicht in ferner Zukunft, nach der Klimakatastrophe oder sons-
tigen Weltuntergangsszenarien. Wo Gott und das Evangelium von Jesus Christus sind,
ist das Reich Gottes schon gegenwärtig.

Der heutige Predigttext führt dies anhand des rätselhaften Gleichnisses von Kindern
auf den Marktplätzen vor Augen. Diese beklagen sich gegenseitig beklagen, dass die
andern nicht mitgemacht haben beim Hochzeit- oder Beerdigung-Spielen. Zwar wird
das Reich Gottes nicht direkt mit den spielenden Kindern verglichen, sondern die Zeit-
genossen von Jesus, die ihm und seiner Botschaft nicht gefolgt sind, werden mit den
spielenden Kindern verglichen. Aber im Bild des Spiels scheint etwas vom Reich Got-
tes auf. Denn beim Spielen lässt sich die Erfahrung machen, über das hinausgeführt
zu werden, was man aus eigenem Antrieb machen kann. Ich werde vom Zurückge-
worfen-Sein auf den eigenen Willen befreit (Hans Weder) und bekomme neue Mög-
lichkeiten zugespielt, die über das hinausgehen, was ich meine wollen oder tun zu
müssen. Auch wer kein passionierter Jasser ist oder nur widerwillig dem Drängen der
Enkelkinder nachgibt, weiss: beim Spielen mit andern kann man sich glücklich selber
vergessen, unerwartete Freude, Lebenslust und Gemeinschaft erleben; im Grunde
ohne Sinn und Zweck, einfach so. Eine sonntägliche Ruhe liegt über dem Bild der
spielenden Kinder und vom Aufspielen der Musik. Sicher: das Leben ist kein Spiel,
aber im Unverfügbaren des Spiels blitzt etwas vom wahren Leben auf. Und so verhält
es sich mit dem Reich Gottes.
       Das meint umkehren, weil Gottes Reich gekommen ist: Sich im Hier und Jetzt
begeistern lassen vom Lebendigen, das erkennen, wofür zu leben es sich lohnt. Um-
kehren heisst, über den eigenen begrenzten Horizont hinaus den Blick auf Gott zu
richten und ihm, dem phantasievollen Schöpfer dieser Welt zutrauen, dass er immer

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noch Möglichkeiten hat, seine gute Macht in dieser Welt wirksam werden zu lassen
und einst vom allem, was ihr entgegensteht zu befreien, um uns und alle seine Krea-
turen zu erlösen. Eine Vision davon bieten die Worte des Propheten Sacharja in der
Lesung (8, 1-9), die in unserem Predigttext anklingen: da ist vom friedlichen Beieinan-
der von Alt und Jung die Rede, und das gelingende Spielen auf den Plätzen der Stadt
Jerusalem beschreibt das endzeitliche Heil.

Diesem Aufbruch im Alltag, dieser Umkehr zum Leben und zum ewigen Heil, steht
jedoch die Realität von uns Menschen im Wege, wie sie sich auch im Gleichnis zeigt:
Die Kinder auf den Marktplätzen können nichts miteinander anfangen und bringen gar
kein gemeinsames Spiel fertig. Begegnung kommt nicht zustande, keiner sieht die
Freude oder Trauer des andern. Und wo Begegnungslosigkeit herrscht, hat es auch
der Ruf Gottes schwer. Jedes der Kinder lebt mit seinen Gedanken in seiner eigenen
Realität, vielleicht gehen diese in die Vergangenheit, vielleicht in die Zukunft, jedenfalls
beschäftigen sie sich nicht mit dem Augenblick. So gelingt Leben nicht.

Doch was braucht es, um den Ruf Gottes ins Leben hören und folgen zu können, sei-
nem kommenden Reich zu trauen und zur Musik zu tanzen, die gespielt wird? Johan-
nes und Jesus haben vorgelebt, wie der Weg der Umkehr aussehen, wie Erneuerung
geschehen kann. Erstaunlich dabei ist, dass Matthäus die beiden Boten Gottes, Jo-
hannes und Jesus, zusammen sieht: den Asketen wie den dem Leben-Zugewandten.
Gott hat also ganz verschiedene Wege, um uns zu gewinnen: Der Weg der Umkehr,
den Johannes, der Täufer gewiesen hat, war der Weg in die Wüste. Und er rief die
Menschen aus der Verstrickung mit den Dingen dieser Welt hinaus an den Jordan,
damit ihnen in der Taufe alles, was sie belastete und unfrei machte, abgewaschen
würde. Das kann vielleicht auch der Ausbruch aus dem Alltag bedeuten: Sich zu tren-
nen von Dingen, die wir zu brauchen meinen oder von Gewohnheiten, die sich über
Jahre eingespielt haben. Jede und jeder von uns weiss am besten, was dies bei ihr
oder ihm ist: Es muss ja nicht gerade wie bei Johannes der Verzicht auf Essen sein.
Bei vielen steht der ein Leben ohne Stress im Vordergrund.
       Und da ist der Weg der Umkehr, den Jesus uns durch sein Leben und sein
Reden von Gott gezeigt hat; in der Bergpredigt, in den Gleichnissen; nämlich von un-
serem begrenzten Ich und seinen Sorgen um die Zukunft weg- und auf Gott zu

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schauen; uns – trotz allem – jetzt an seiner Schöpfung zu freuen und auf seine Herr-
schaft zu hoffen, die schon begonnen hat.
      Gott hat ganz verschiedene Wege, um uns zu gewinnen. Aber keiner führt am
Hier und Jetzt vorbei, an dem, was mir in meinem Leben zugespielt wird. Keiner führt
mich an mir selber und am Nächsten vorbei und an der Klage oder der Freude. Dies
bedeutet Offenheit für das Andere zu haben, ja sogar das Gegensätzliches zu ertra-
gen, wie Johannes und Jesus, die den Rückzug des einen und die Hinwendung zur
Welt des andern nicht ablehnten. Nur so geschieht wirkliche Begegnung, mit dem
Nächsten, mit Gott.

Die Melodie des Lebens wird vom Augenblick vorgegeben. Gott will uns an jedem Tag
ein Vorgeschmack seines Reiches geben. Schwierig für uns zu akzeptieren ist, dass
dies auf andere Weise geschehen kann, als wir erwarten. «Dieses Geschlecht», das
Matthäus mit Kindern auf dem Marktplatz vergleicht, ärgert sich nämlich sowohl über
Johannes wie über Jesus. Beide entsprechen nicht ihrer Sicht von Religion und Glau-
ben, ihrer Weisheit. So deutet es der rätselhafte Schlussvers an. Da heisst es: «Und
doch wurde der Weisheit Recht gegeben durch das, was sie getan hat.»
      Gottes Weisheit ist nicht unsere Weisheit, die versucht, sich das Leben und die
Welt selber zurechtzulegen, selber eine Ordnung in der Geschichte und der Natur zu
erkennen. Die göttliche Weisheit – so Matthäus – hat sich in Jesus auf eine andere
Weise zu erkennen gegeben als unserer menschlichen. Die göttliche Weisheit folgt
einer anderen Logik, wie es Paulus im 1. Korintherbrief klassisch formuliert: «Denn da
die Welt, umgeben von Gottes Weisheit, auf dem Weg der Weisheit Gott nicht er-
kannte, gefiel es Gott, durch die Torheit der Verkündigung jene zu retten, die glauben
(1,21)». Mit der Torheit der Verkündigung ist das Wort vom Kreuz gemeint. Dass mit
Jesus, dem Gekreuzigten, das Reich Gottes beginnt, das übersteigt unser Verstehen.
Dies stürzt jede weltliche Weisheit in eine Krise. Aber es entspricht der Botschaft des
Evangelisten vom kommenden Reich Gottes, das er in den Gleichnissen etwa mit ei-
nem aufwachsenden Senfkorn vergleicht. Mit Jesus beginnt das Reich Gottes, mit sei-
nem Tod und seiner Auferstehung. Das Reich Gottes ist die überraschende, ja umstür-
zende Alternative zum erwartbaren Gang der Welt. Dies bedeutet für uns, dass im
Tanz des Lebens unsere müden Glieder nur dank der Musik Gottes lebendig werden.

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„Mit wem aber soll ich dieses Geschlecht vergleichen? Kindern ist es gleich, die auf
dem Marktplatz sitzen und den andern zurufen: «Wir haben euch aufgespielt, und ihr
habt nicht getanzt; wir haben das Klagelied angestimmt, und ihr habt nicht geklagt»:
Vergleichen wir uns mit diesen Kindern, so sind wir also aufgerufen zu einem aufmerk-
sameren Leben im Hören auf die jeweilige Musik des Augenblicks; zu einem Hören
auf den andern und auf Gott. Dies schliesst ein, dass ein solches Leben nicht nur lauter
Freude und fröhliche Musik ist. Zu diesem Leben im Glauben gehört auch die Klage
über Unrecht, das wir selber oder andere erleiden. Zu diesem Leben im Glauben ge-
hört auch, mit Taten oder im Gebet bei den Menschen zu sein, die es schwer haben.
«Weinet mit den Weinenden» hat Paulus die Christen aufgefordert und damit den Ge-
danken aus unserem Gleichnis aufgenommen.
      Doch wenn die rechte Zeit dazu ist, dann «freut euch mit den Fröhlichen» hat
Paulus weiter formuliert. An diesem Sommersonntag wollen wir uns dies besonders
zu Herzen nehmen. Amen.

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