POLIZEILICHE FEHLERKULTUR - PROGRESSIVITÄT IM STRAFRECHTLICHEN KORSETT? - KRIPOZ 4
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238 KriPoZ 4 | 2021 DOI:10.20375/0000-000E-6324-A Polizeiliche Fehlerkultur – Progressivität im strafrechtlichen Korsett? von Wiss. Mit. Daniel Zühlke* Abstract Eine rechtsstaatliche Polizei bedarf eines konstruktiven I. Einführung Umgangs mit dem eigenen Fehlverhalten. Der vorlie- gende Beitrag untersucht strafrechtliche Mechanismen, Polizeiliches (Fehl-)Verhalten nimmt in der öffentlichen die einer Fehlerkultur nach rechtsfehlerhafter Zwangsan- Diskussion unserer Zeit einen festen Platz ein. Insbeson- wendung im Wege stehen können, und wirbt für eine Dif- dere unter dem Begriff der „Polizeigewalt“ wird polizeili- ferenzierung zwischen Individualversagen einzelner Be- ches Verhalten kritisiert, das innerhalb der Polizeibehör- amt*innen und Institutionsversagen der Behörde Polizei. den „Anwendung von unmittelbarem Zwang“ heißt.1 Ste- Eine solche strafrechtlich dringend gebotene Abgrenzung tig tauchen neue Videos und Artikel auf; es wird hier von ist im Rahmen der Körperverletzung im Amt gem. § 340 bedauerlichen Einzelfällen und dort von systemischen StGB nach geltender Rechtslage jedoch nicht möglich. Problemen innerhalb der Institution Polizei gesprochen. Dies steht einer wirksamen Fehlerkultur im Wege, da der Über Strafverfahren gegen Polizeibeamt*innen wegen des zumeist ergebnislose strafrechtliche Bearbeitungsauto- Vorwurfs der Körperverletzung im Amt gem. § 340 StGB matismus jede Möglichkeit echter Aufarbeitung von Fehl- wird berichtet; die Einstellungszahlen sind ungewöhnlich verhalten innerhalb der Polizei als Behörde im Straf- hoch – nur in knapp 2 % enden Verfahren mit einer Ver- rechtskorsett erstickt. urteilung.2 Ursächlich hierfür ist mitunter3 die schwierige Beweissituation und die „Mauer des Schweigens“4 auf Police authorities operating within the limits of their con- Seiten der Polizei, die eine vollständige Aufarbeitung ein- stitutional powers need to assess mistakes made when ap- zelner Sachverhalte erschwert oder verhindert. Die Polizei plying force to citizens. To reduce illegal police violence, scheint nicht willens oder fähig, Fehlverhalten vollständig a culture of error that enables improvement, needs to be und konstruktiv aufzuarbeiten. Dass dies jedoch neben established. This paper shows how the German Criminal verschiedenen problematischen innerpolizeilichen Struk- Code can inhibit real learning opportunities by not distin- turen5 auch maßgeblich im geltenden (Straf) Recht be- guishing between mistakes made by the police authorities gründet liegt, das einen konstruktiven Umgang mit poli- and individual officers. This often leads to criminal zeilichen Fehlern erheblich erschwert, soll der vorlie- charges without any consequences for the officers and gende Beitrag aufzeigen. hinders the critical analysis and improvement of police work. 2 * Der Verfasser ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Zur Schwierigkeit der Ermittlung präziser Zahlen aufgrund ver- Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht schiedener Statistiken und deren Aussagekraft bereits bei Gör- und Rechtstheorie von Prof. Dr. Matthias Jahn an der Goethe-Uni- gen/Hunold, in: Kugelmann (Hrsg.), Polizei und Menschenrechte, versität Frankfurt. 2019, S. 121 (122 ff.); zur Erledigungspraxis der Staatsanwaltschaft 1 Juristisch stellt der Begriff „Polizeigewalt“ zunächst eine rein de- (95 % Einstellungsquote): Singelnstein, NK 2013, 15 (18). 3 skriptive Zusammenfügung der Begriffe Polizei und Gewalt dar, Ermittlungen beim Vorwurf der Körperverletzung im Amt leiden wobei körperliche Gewalt jede unmittelbare körperliche Einwir- unter der Voraussetzung, dass Polizei und Staatsanwaltschaft gegen kung auf Personen oder Sachen darstellt, § 2 Abs. 2 UZwG. Unmit- Polizeibeamt*innen ermitteln; die Ermittlungen also durch Behör- telbarer Zwang ist die Einwirkung auf Personen oder Sachen durch den durchgeführt werden, die im „Tagesgeschäft“ miteinander ar- körperliche Gewalt, ihre Hilfsmittel und durch Waffen, § 2 Abs. 1 beiten und aufeinander angewiesen sind. Vgl. zu einer besonderen UZwG). Der Begriff der „Gewalt“ wird jedoch im allgemeinen Ermittlungspraxis bereits Singelnstein, NK 2013, 15 (21); vgl. zu Sprachgebrauch mit illegalem Handeln in Verbindung gebracht und den Besonderheiten im (gerichtlichen) Umgang mit Polizeizeugen ist innerhalb der Institution Polizei zumeist dem illegalen Handeln Theune, StV 2020, 321 passim; sowie Abdul-Rahman/Espín der Bürger*innen vorbehalten, vgl. Ohlemacher/Werner, in: dies. Grau/Singelnstein, Betrifft Justiz 141 (2020), 221 (222 f.). 4 (Hrsg.), Empirische Polizeiforschung XIV: Polizei und Gewalt – In- Zur „Mauer des Schweigens“ von Polizeibeamt*innen, die sich sel- terdisziplinäre Analysen zu Gewalt gegen und durch Polizeibeamte, ten aufklärungsförderlich einlassen, vgl. Singelnstein, NK 2013, 15 2012, S. 7 (9) und ausf. Behr, in demselben Band, S. 177 passim zur (21) sowie Ullenboom, NJW 2019, 3108 (3111) im Kontext von Vi- „Gewalt der Anderen“ sowie mit einer Vermutung, dass sich Füh- deoaufzeichnungen von Polizeieinsätzen. Vgl. zur Strafbarkeit von rungspersonal „sprachlich von der Faktizität der Gewaltausübung Polizeivollzugsbeamt*innen bei bewusst rechtswidrigen Filmverbo- ihrer Mitarbeiter dadurch distanziert, dass es sie juristisch verklau- ten: Zühlke, NK 3/2021 (im Erscheinen). 5 suliert“, ders., in: Hunold/Ruch (Hrsg.), Polizeiarbeit zwischen Pra- Ausf. Erörterung dieser Strukturen (männlich dominierte Cop-Cul- xishandeln und Rechtsordnung, 2020, S. 185 f., zur Unterscheidung ture, psychosoziale Überforderung, Drucksituationen, politischer von legitimer Gewalt („potestas“) und illegitimer Gewalt („violen- Druck) bei Seidensticker, SIAK-Journal 2019, 78 passim. tia“), S. 204.
Zühlke – Polizeiliche Fehlerkultur KriPoZ 4 | 2021 239 II. Untersuchungsgegenstand für die Beteiligten ex situatione schwer zu bestimmen sind. Fehler bei dieser Bestimmung schlagen sich in ille- 1. „Fehler“ in der polizeilichen Zwangsanwendung gitimen Verhalten der Institution Polizei gegenüber Bür- ger*innen, die einen staatsrechtlichen Anspruch auf ver- Zu Art und Häufigkeit illegitimer Polizeigewalt liegen hältnismäßige und auf geltendem Recht basierende Maß- kaum belastbare Erkenntnisse vor,6 sodass das Dunkelfeld nahmen haben, nieder. in diesem Bereich groß ist. In einer Befragung von Be- troffenen, die als rechtswidrig empfundene Polizeigewalt 2. Fehlerkultur in der Polizei – status quo erlebt haben, zeigte sich eine geringe Anzeigebereitschaft der Verletzten in solchen Situationen; wohl bedingt durch In einer konstruktiven Fehlerkultur13 müssten solche Situ- den Glauben, eine Anzeige gegen Polizeibeamt*innen ationen der polizeilichen Grenzüberschreitung (ggf. auch führe zu nichts, die handelnden Beamt*innen seien nicht mit den Verletzten) aufgearbeitet werden, um erneute identifizierbar, bestehende Angst vor einer Gegenanzeige Grenzüberschreitungen der Institution Polizei und der wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 handelnden Beamt*innen zu verhindern. Im Folgenden StGB) und die schlechte Beweissituation.7 wird jedoch aufgezeigt werden, dass das Korsett14 straf- rechtlicher Mechanismen, die nach einer fehlerhaften Untersucht werden soll im Folgenden polizeiliches Inter- Zwangsanwendung einsetzen, so eng geschnürt ist, dass aktionsgeschehen, bei dem es zur fehlerhaften Anwen- kein Raum für produktive Lernprozesse in der Behörde dung unmittelbaren Zwangs kommt – der polizeiliche bleibt. An die Stelle konstruktiver Verbesserung systemi- Zwang also die Verhältnismäßigkeitsgrenzen ex situati- scher Probleme tritt die staatliche Suche nach strafrechtli- one unbewusst überschreitet – die Maßnahme daher cher Individualschuld einzelner Beamt*innen. Endet das rechtswidrig ist und hierdurch eine strafbare Körperver- Verfahren – wie in 98 % aller Fälle –15 ohne eine Verur- letzung im Amt (§ 340 StGB) der handelnden Beamt*in- teilung, endet auch die Aufarbeitung des Sachverhalts. nen im Raum steht. Der Begriff des „Fehlers“ wird in die- Die Handelnden sind froh: es wurden keine Fehler ge- sem Zusammenhang verstanden als zum Handlungszeit- macht! Die Betroffenen sind enttäuscht: sie verlieren das punkt von der handelnden Person für richtig gehaltenes Vertrauen in den Rechtsstaat. Verhalten, das retrospektiv und mit Einbezug von Erfah- rungen und Konsequenzen als „falsch“ bezeichnet wird.8 III. Strafrechtliche Rahmenbedingungen Ein falsches – also im Nachgang an das Handeln9 als un- verhältnismäßig bewertetes – Verhalten bei der Anwen- Im Mittelpunkt der strafrechtlichen Rahmenbedingungen, dung unmittelbaren Zwangs kann verschiedene Gründe die diesen status quo begründen, stehen dabei die Straftat- haben, die sich in persönliche und systemische Faktoren bestände der Körperverletzung im Amt gem. § 340 StGB unterteilen lassen. Neben emotionalen Erfahrungen wie und der Strafvereitelung im Amt, § 258a StGB, die im täg- Angst und Wut10 kann gerade in tumultartigen Eskalati- lichen Polizeivollzugsdienst von erheblicher Relevanz onsprozessen ein Gefühl von Hilflosigkeit erlebt werden, sind. das sich in „reflexartigen affektiven Aktionen und Reak- tionen […] an Stelle eines rational abgewogenen Verhal- 1. Die Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB) tens“11 niederschlagen kann. Zudem lässt sich in realitäts- nahen Übungssituationen beobachten, dass sich Polizei- a) Allgemeine Voraussetzungen beamt*innen im Umgang mit konflikt- und gewaltbereiten Täter*innen häufig zunächst sehr defensiv verhalten und Wer als Amtsträger eine Körperverletzung (§§ 223 ff. nach einer Eskalation des Situationsgeschehens das zuvor StGB) begeht oder begehen lässt und dies „während der defensive Verhalten durch „Übersteuerung“ kompensie- Ausübung seines Dienstes“ (§ 340 Abs. 1 Alt. 1 StGB) ren.12 Hinzu kommt, dass es sich bei der „Verhältnismä- oder „in Beziehung auf seinen Dienst“ (Alt. 2) tut, wird ßigkeit“ um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren dessen Grenzen in hochvolatilen Interaktionsprozessen bestraft. Die Körperverletzung im Amt stellt damit einen 6 11 Zur Gewalt durch und gegen Polizeibeamt*innen bei Görgen/Hu- Behrendes, vorgänge 204 (2013), 41 (44). 12 nold, in: Kugelmann (Hrsg.) S. 122 f.; 132. Mit weiteren Gedanken zum Verhältnis von Passivität und Aggres- 7 Vgl. zu diesen empirischen Erkenntnissen des Forschungsprojektes sion im Umgang mit gewaltbereitem polizeilichen Gegenüber: Füll- KViAPol Abdul-Rahman/Espín Grau/Singelnstein, Betrifft Justiz grabe, in: Liebl (Hrsg.), S. 57 (68 f.). 13 141 (2020), 221 f. Von diesem Fehlerbegriff und den hier angestellten Überlegungen 8 Vgl. zu dieser Auffassung des Fehlerbegriffs (im organisations- zu einer polizeilichen Fehlerkultur ausdrücklich nicht umfasst sind theroetischen Zusammenhang der Institution Polizei) Mensching, Sachverhalte, in denen Polizeivollzugsbeamt*innen vorsätzlich in: Liebl (Hrsg.), Empirische Polizeiforschung V: Fehler und Lern- rechtswidrige Gewalt ausüben. 14 kultur in der Polizei, 2004, S. 43 (46 f.). Ebenso die treffende Metapher des Korsetts bemühend: Seidensti- 9 „Im Nachgang an das Handeln“ beschreibt hierbei den Zeitpunkt der cker, SIAK-Journal 2019, 78 (82 f.) sowie Behrendes, vorgänge 204 Beurteilung, nicht jedoch die Beurteilungsperspektive. Diese basiert (2013), 41 (44). 15 im Gefahrenabwehrrecht auf einer Wertung aus Sicht eines objekti- Vgl. erneut Singelnstein, NK 2013, 15 (18) sowie Abdul- ven und fähigen Polizeibeamten zum Handlungszeitpunkt (ex ante). Rahman/Espín Grau/Singelnstein, Betrifft Justiz 141 (2020), 221. 10 Angst und Wut wirken sich stark auf die Handlungsfähigkeit und Beurteilung einer Situation aus. Während diese hier zunächst auf Ursachenbasis gleichrangig nebeneinanderstehen sollen, sei doch auf die rechtliche Wertung des StGB verwiesen, das asthenischen Affekten (z.B. Angst) deutlich mehr Verständnis entgegenbringt als sthenischen Affekten (z.B. Wut), vgl. § 33 StGB.
240 KriPoZ 4 | 2021 Qualifikationstatbestand zur „einfachen“ Körperverlet- b) „Dichotomie der Polizeigewalt“ – rechtmäßig oder zung dar, der an der Amtsträgereigenschaft anknüpft. Die strafbar? Körperverletzung muss dabei vorsätzlich erfolgen, wobei dolus eventualis ausreichend ist.16 Aus diesen Erkenntnissen ergibt sich, dass eine Dichoto- mie der polizeilichen Anwendung unmittelbaren Zwangs In einer Situation, in der Polizeivollzugsbeamt*innen un- bestehen muss: Es lässt sich klar zwischen rechtmäßiger mittelbaren Zwang gegen eine von einer Maßnahme be- Polizeigewalt zum einen sowie rechtswidriger und damit troffene Person anwenden, um diese Maßnahme durchzu- strafbarer Polizeigewalt zum anderen differenzieren. setzen, handeln sie mit Amtsträgereigenschaft im Rahmen ihrer Dienstausübung. Kommt es bei der Zwangsanwen- Ob diese streng binäre Unterteilung in rechtmäßig und dung zu einer Körperverletzung der betroffenen Person,17 strafbar jedoch sachgerecht ist, muss in einem Diskurs um etwa durch zu-Boden-bringen oder einfache körperliche eine rechtsstaatliche, lernfähige Polizei kritisch hinter- Gewalt, ist der objektive Tatbestand des § 340 Abs. 1 fragt werden.23 Hierzu sind zwingend zwei unterschiedli- StGB erfüllt. In subjektiver Hinsicht handeln die Be- che Perspektiven voneinander abzugrenzen, die aufgrund amt*innen regelmäßig zumindest mit Eventualvorsatz, da der beschriebenen faktischen Verwaltungsrechtsak- sie aufgrund ihrer (allgemeinen Lebens-)Erfahrung und zessorietät der Körperverletzung im Amt durch Vollzugs- Ausbildung mit dem Eintritt von Verletzungen bei der von beamt*innen in der strafrechtlichen Bewertung zusam- der Maßnahme betroffenen Person rechnen, diese Mög- menfallen, aber a priori grundverschieden sind: Die lichkeit jedoch zu Gunsten der durchzuführenden Maß- staatsrechtliche Perspektive im Verhältnis Bürger*in – nahme billigend in Kauf nehmen. Polizei und die strafrechtliche Perspektive im Verhältnis Staat – Polizeibeamt*in. Die durch die Tatbestandsmäßigkeit indizierte Rechtswid- rigkeit entfällt im nächsten Schritt dann regelmäßig auf- Im Verhältnis Bürger*in – Polizei muss die Rechtmäßig- grund der staatlichen Eingriffsbefugnisse aus dem allge- keit einer polizeilichen Maßnahme objektiv feststellbar meinen Gefahrenabwehrrecht sowie – seltener – der sein, und ist an entsprechenden staatsrechtlichen Vorga- StPO.18 Voraussetzung hierfür ist die Einhaltung des in al- ben zu orientieren. Zu Recht wird daher in der Bewertung len Gefahrenabwehrgesetzen der Länder und des Bundes der Rechtmäßigkeit einer Maßnahme auf eine objektive ex ausdrücklich normierten Verhältnismäßigkeitsgebots, das ante Betrachtung abgestellt.24 Dabei steht das Individual- auf das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) in Ver- handeln einer bestimmten Vollzugsperson im Hinter- bindung mit den Grundrechten gestützt wird.19 grund. Abzustellen ist auf das Handeln der Behörde Poli- zei aus Sicht verständiger und besonnener Polizeibe- Im Ergebnis führt dies dazu, dass jede polizeiliche amt*innen gegenüber den betroffenen Bürger*innen. Zwangsmaßnahme, die zur Verletzung der betroffenen Person führt, den Tatbestand des § 340 Abs. 1 StGB er- Dieser objektivierten staatsrechtlichen Prüfung diametral füllt und die Strafbarkeit der beteiligten Beamt*innen gegenüber steht das Strafrecht, das seinen Blick bewusst vollständig von der gefahrenabwehrrechtlichen Rechtfer- individualisiert auf die Schuld einer bestimmten Person tigung abhängig ist. Stellt sich die Maßnahme als unver- richtet. Hier ist zu prüfen, ob ein in die Tatbestände des hältnismäßig und damit rechtswidrig heraus, machen sich Strafrechts gegossener Vorwurf an die handelnden Be- die beteiligten Polizeibeamt*innen nach h.M.20 stets gem. amt*innen gemacht werden kann, der im Sinne des ultima § 340 Abs. 1 StGB einer (gefährlichen)21 Körperverlet- ratio-Grundsatzes25 derart schwer wiegt, dass er aus- zung im Amt schuldig – unabhängig davon, ob ihnen diese schließlich mit einer staatlichen Sanktionierung beant- Rechtswidrigkeit zum Tatzeitpunkt bewusst war.22 wortet werden kann. Es fragt sich, ob die hohen Anforde- rungen an ein individualstrafrechtlich vorwerfbares Ver- 16 21 Ganz herrschende Meinung. Statt aller Heger, in: Lackner/Kühl- Gem. § 340 Abs. 3 StGB sind die allgemeinen Qualifikationen der StGB, 29. Aufl. (2018), § 340 Rn. 3. Körperverletzung anwendbar: nahe liegen die gefährliche Körper- 17 „Körperverletzung“ bezieht sich hierbei auf den Erfolg des § 223 verletzung gem. § 224 Abs. 1 Nr. 2 (Waffe oder gefährliches Werk- StGB mit seinen beiden Erfolgsalternativen. Die körperliche Miss- zeug) und Nr. 4 („mit einem anderen Beteiligten gemeinschaftlich“). 22 handlung als üble, unangemessene Behandlung, die das körperliche Hierbei ist sich in Einzelfällen ggf. mit der Irrtumsdogmatik ausei- Wohlempfinden nicht nur unerheblich beeinträchtigt, und die Ge- nanderzusetzen, wobei Tatbestandsirrtümer gem. § 16 Abs. 1 StGB sundheitsschädigung, die im Hervorrufen oder Steigern eines vom ausscheiden, sofern Fehlvorstellungen über die Verhältnismäßigkeit Normalzustand der körperlichen und seelischen Funktionen nachtei- und Rechtmäßigkeit des Handelns einschlägig sind. Wenngleich lig abweichenden pathologischen Zustands, unabhängig von dessen diese Sonderfälle von (un)vermeidbaren Verbots- bzw. Erlaub- Dauer, zu sehen ist (insb. auch Hämatome); vgl. Joecks (Hardtung), nis(grenz)irrtümern oder etwaigen Erlaubnistatbestandsirrtümern in in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 223 Rn. 4, 29. Einzelfällen zu einer angemessenen Lösung führen können, helfen 18 Wolters, in: SK-StGB, 9. Aufl. (2016), § 340 Rn. 16. sie doch nicht den strukturellen Problemen in der Systematik des 19 Vgl. Kingreen/Poscher, Polizei und Ordnungsrecht, 10. Aufl. § 340 StGB – insbesondere der Blockade einer konstruktiven Auf- (2018), § 10 Rn. 2. arbeitung polizeilichen Fehlverhaltens innerhalb der Institution Po- 20 Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. (2019), § 340 lizei – ab. 23 Rn. 7 f.; Kuhlen, in: NK-StGB, 5. Aufl. (2017), § 340 Rn. 11 f.; Li- Vgl. Behr, in: Hunold/Ruch (Hrsg.), S. 185 (207), der in der Unfä- lie, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2009), § 340 Rn. 13 f.; Voßen, in: higkeit, ein binäres Muster von gut und böse aufzugeben, die eigent- MüKo-StGB, 3. Aufl. (2019), § 340 Rn. 19 ff.; Wolters, in: SK- liche Problematik im polizeilichen Umgang mit dem Thema Gewalt StGB, § 340 Rn. 16; Fischer, StGB, 68. Aufl. (2021), § 340 Rn. 4; sieht. 24 Vgl. Kingreen/Poscher, § 8 Rn. 41 ff. 25 Zu strafverfassungsrechtlichen Aspekten des Ultima Ratio-Prinzips: Jahn/Brodowski, ZStW 129 (2017), 363 (366-371, 377 ff.).
Zühlke – Polizeiliche Fehlerkultur KriPoZ 4 | 2021 241 halten im Fall von polizeilichen Fehlern in der Anwen- Damit wird deutlich, dass es in der rechtlichen Bewertung dung unmittelbaren Zwangs angemessen ausgefüllt wer- polizeilicher Zwangsanwendung einen Bereich geben den. Dabei muss ebenfalls Beachtung finden, ob eine muss, den die herrschende Dichotomie aus rechtmäßig mögliche Strafbarkeit überhaupt vermieden werden kann, und strafbar nicht erfasst: Gewaltanwendung, die zwar ob- wenn bereits lege artis durchgeführte Maßnahmen stets jektiv aus staatsrechtlicher Perspektive rechtswidrig ist, den Tatbestand des § 340 Abs. 1 StGB erfüllen und die den handelnden Vollzugsbeamt*innen jedoch nicht im Strafbarkeit sodann ausschließlich von der verwaltungs- strafrechtlichen Sinne vorgeworfen werden kann. In ande- rechtlichen Rechtmäßigkeit der Maßnahme abhängt, die ren Worten: wenngleich alle Fehler, die einer besonnenen jedoch von den Handelnden in einer konfusen Konfliktsi- und fähigen Vergleichsperson ex ante nicht unterlaufen tuation stets rechtssicher ermittelt werden muss. wären, rechtswidrig sind, begründet nicht jedes illegitime Verhalten von Polizeibeamt*innen zugleich einen legiti- Diese Ermittlung der konkreten Verhältnismäßigkeits- men Strafanspruch gegen dieselben. grenzen bei polizeilichem Überwältigungshandeln26 kann nicht als abschließbarer Prozess verstanden werden, der Es muss daher im Sinne einer „Trichotomie der Polizeige- dem tatsächlichen Handeln vorgelagert ist. In einer diffu- walt“ zwischen drei Arten polizeilichen Verhaltens unter- sen Überwältigungssituation können sich in einem Hand- schieden werden: rechtmäßigem Handeln, rechtswidri- lungsverlauf einer Person sowohl Elemente legitimen gem Handeln und strafbarem Handeln.33 Handelns („potestas“) als auch illegitimen Handelns („vi- olentia“) finden;27 eine scharfe Trennung ist dabei kaum 2. Strafvereitelung im Amt, § 258a StGB möglich. Leistet die einer Zwangsmaßnahme unterwor- fene Person körperlichen Widerstand, muss dieser Wider- Amtsträger*innen, die mit der Verfolgung von Straftaten stand von den Beamt*innen überwunden werden. Stellt betraut sind und dienstlich von einer Straftat Kenntnis er- die betroffene Person den Widerstand jedoch ein und ist langen, sind gem. §§ 152 Abs. 2, 160, 163 StPO verpflich- dies aus gefahrenabwehrrechtlicher ex ante Sicht erkenn- tet, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die bar, muss auch die Überwältigungsgewalt unmittelbar Strafverfolgung in die Wege zu leiten.34 Ansonsten kön- eingestellt werden, da „ein Schlag zu viel“28 (verwal- nen sie sich der Strafvereitelung im Amt schuldig machen. tungs-)rechtswidrig und als Körperverletzung im Amt Der Anwendungsspielraum der Norm ist bei Polizeibe- strafbar ist, auch wenn die ausführenden Beamt*innen amt*innen besonders weit, da diese bei dienstlicher dies im aufgeladenen „Widerstandsmodus“29 der Maß- Kenntniserlangung ab dem Vorliegen zureichender tat- nahme nicht wahrgenommen haben.30 sächlicher Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Straftat zum Einschreiten verpflichtet sind und sich anderweitig Zu der diffizilen Bestimmbarkeit vollständig rechtmäßi- einer Verfolgungsvereitelung schuldig machen.35 gen Einsatzverhaltens tritt hinzu, dass für die handelnden Beamt*innen keine „strafrechtsneutrale“ alternative Für die hier besprochene Problematik fehlerhafter An- Handlungsmöglichkeit besteht. Eine Untätigkeit – etwa wendung unmittelbaren Zwangs bedeutet dies, dass be- aus Sorge, in der unübersichtlichen Situation einer Schlä- obachtende Kolleg*innen einer unverhältnismäßigen gerei nicht streng verhältnismäßig handeln zu können – Maßnahme einer strafrechtlichen Verpflichtung zur Straf- begründet neben einer möglichen Strafvereitelung im Amt anzeige gegen die handelnden Beamt*innen unterliegen. auch Strafbarkeitsrisiken aus unechten Unterlassungsde- Dem stehen selbst Zweifel an der Richtigkeit des Ver- likten; nach h.M.31 besteht eine Beschützergarantenstel- dachts nicht entgegen,36 sodass – nimmt man die darge- lung von Polizeibeamt*innen, die sich aus der Freiheits- legten Schwierigkeiten in der Bestimmung verhältnismä- schutzaufgabe der Polizei ableitet. Das Nichteingreifen ßigen Verhaltens ernst – in nahezu jeder unübersichtli- bei Straftaten erfüllt damit die Voraussetzungen des § 13 chen Situation, die mit Widerstandshandlungen der von Abs. 1 StGB und eröffnet die Anwendung unechter Un- der Maßnahme Betroffenen einhergeht, ein Anfangsver- terlassungsdelikte. Zusätzlich erfasst die zweite Tatalter- dacht einer Körperverletzung im Amt besteht; die Kol- native des § 340 Abs. 1 StGB auch das Begehenlassen ei- leg*innen also nahezu nach jeder Zwangsanwendung ge- ner Körperverletzung; das Nichtstun ist somit auch direkt genseitige Strafanzeigen ausfertigen müssten. im Sinne eines echten Unterlassens als Körperverletzung im Amt strafbar.32 26 31 Zum Begriff bei Behr, in: Hunold/Ruch (Hrsg.), S. 185 passim. Kühl, StGB AT, 8. Aufl. 2017, § 18 Rn. 84 f. m.w.N.; „Ermessens- 27 Behr, in: Hunold/Ruch (Hrsg.), S. 185 (192). reduzierung auf Null“ zumindest bei gravierenden Rechtsgutsverlet- 28 Behrendes, vorgänge 204 (2013), 41 (44). zungen, Rn. 87. 29 32 Zur Problematik dieses sich ständig entwickelnden, fluiden Interak- Vgl. § 340 Abs. 1 Alt. 2 StGB: „Ein Amtsträger, der […] eine Kör- tionsgeschehens: Görgen/Hunold, S. 133; Ohlemacher/Werner, in: perverletzung begeht oder begehen läßt“ (herv. d. Verf.); so auch dies. (Hrsg.), S. 7 (9), Behrendes, vorgänge 204 (2013), 41 (42); Kudlich, in: SSW-StGB, 5. Aufl. (2021), § 340 Rn. 7. 33 Behr, in: Hunold/Ruch (Hrsg.), S. 185 passim. Aus entgegengesetz- Strafbares Handeln wird regelmäßig auch verwaltungsrechtlich ter Perspektive der Widerstandshandlungen durch Bürger*innen im rechtswidrig sein, wenngleich sich Einzelfälle konstruieren lassen, Rahmen des § 113 StGB (komplexe Konfliktsituationen, die auf bei- in denen – z.B. angeschlossen an die Diskussion um den umgekehr- den Seiten mit gewaltsamen Mitteln ausgetragen werden), Singeln- ten Erlaubnistatbestandsirrtum – das subjektive Rechtfertigungsele- stein/Puschke, NJW 2011, 3437 (3476). ment entfallen kann und polizeiliche Zwangsanwendung trotz der 30 Zur Problematik, dass Fehler ex situatione nicht unbedingt von den gefahrenabwehrrechtlichen Rechtmäßigkeit als Körperverletzung Verursachenden wahrgenommen werden: Seidensticker, SIAK- im Amt strafbar ist. 34 Journal 2019, 78 (79). Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, § 258a Rn. 10. 35 Hecker, in: Schönke/Schröder, StGB, § 258a Rn. 10. 36 Walter, in: LK-StGB, § 258a Rn. 11.
242 KriPoZ 4 | 2021 IV. Aufarbeitung von polizeilichem Fehlverhalten Fehlverhalten. Alle Beteiligten sind entweder Beschul- digte oder Zeug*innen in einem Strafverfahren, sodass 1. Folgen der strafrechtlichen „Aufarbeitung“ sich eine Aufarbeitung in der Dienstgruppe verbietet, ins- besondere wenn die polizeilichen Zeug*innen nicht selbst Die Folge des nach herrschender Auslegung weiten Tat- die Strafanzeige erstattet haben und sich ggf. daher mit bestandes der Körperverletzung im Amt und der ebenfalls dem Vorwurf einer (versuchten) Strafvereitelung im Amt weitreichenden Anzeigepflichten, die aus der Strafverei- auseinandersetzen müssen. Vor diesem Hintergrund ver- telung im Amt resultieren, ist die rechtliche Blockierung wundert auch die vielbemühte Symbolik von der „Mauer einer konstruktiven Fehlerkultur, die dem Rechtsstaat des Schweigens41 nicht, auf die in der Ermittlungsarbeit schadet. regelmäßig gestoßen wird. Wer Gefahr läuft, sich durch seine Aussage selbst zu belasten, muss nicht zu seiner ei- Der Graubereich fehlerhafter polizeilicher Gewaltanwen- genen Strafverfolgung beitragen. Der nemo tenetur- dung, der nicht mehr rechtmäßig aber noch nicht strafwür- Grundsatz gilt dabei auch uneingeschränkt für Polizeibe- dig ist, muss dringend polizeiliche und juristische Aner- amt*innen.42 kennung finden. Die binäre Einteilung in rechtmäßig und strafbar wird den hochindividuellen und volatilen Einzel- Ist das laufende Verfahren erst einmal beendet, endet auch fällen im polizeilichen Alltag nicht gerecht.37 – sofern überhaupt begonnen – die interne Auseinander- setzung mit dem Sachverhalt. Etwaig vorhandene Unsi- Das Problem liegt jedoch nicht in der falschen deskripti- cherheit bezüglich der durchgeführten Zwangsmaßnahme ven Zuweisung von Begrifflichkeiten, sondern in der kon- weicht dem gerichtlich bestätigten Befund: es wurde alles stitutiven Wirkung, die diese Zuweisung auslöst. Ein ma- richtig gemacht. Ein neuer Tag im Polizeidienst beginnt. teriell weit gefasster Tatbestand stellt bei jeglichem Fehl- verhalten alle Hebel auf „Strafverfahren“. Was klingt, als 2. Ein neuer Tag – „Groundhog-Day“? führte es zu einer optimalen Aufarbeitung und befriedi- genden, rechtstaatlichen Ergebnissen für alle Beteiligten, Selbst in den seltenen Fällen einer Verurteilung ist dem endet im genauen Gegenteil. Die Einstellungsraten sind System „Polizei“ jedoch wenig geholfen, wenn das Fehl- exorbitant hoch;38 Polizeibeamt*innen fühlen sich einem verhalten nicht im Gesamtkontext aufgearbeitet wird. Die erheblichen Strafverfolgungsdruck ausgesetzt39 und von Polizei hat eine schwierige Aufgabe und ist verschiedens- rechtswidriger Polizeigewalt verletzte Betroffene nicht ten Erwartungen unterschiedlicher Absender ausgesetzt.43 ernstgenommen – schlimmer noch: berechtigte Entschä- Dabei agiert Polizei immer dort, wo sich Gewaltkonflikt digungsansprüche lassen sich aufgrund der im Strafver- materialisiert und muss sich „gewaltkompetent“ zeigen.44 fahren ex negativo festgestellten Rechtmäßigkeit des Han- Das – auch und gerade – in der Polizei vorherrschende delns nur noch schwer durchsetzen. Hier zeigt sich die Verständnis, die Polizei mache in solchen Extremsituati- andere Seite der problematischen Vereinheitlichung ver- onen keine Fehler,45 ist in Anbetracht der offensichtlich schiedener Perspektiven im Bemühen um eine „Einheit hoch komplexen Aufgabenstellung weder plausibel noch der Rechtsordnung“40: Es muss jedoch klar zwischen der empirisch haltbar.46 Die Überschreitung der rechtsstaatli- Beziehung Staat – Bürger*in (Verwaltungsrecht) und chen Grenzen ist in der Natur der Zwangsanwendung an- Staat – Polizeibeamt*in (Strafrecht) unterschieden wer- gelegt; die Grenze zwischen Macht und Machtmissbrauch den. verläuft beim Überwältigungshandeln.47 Der Modus „Strafverfahren“ erstickt zudem jegliche in- Dabei entbindet die realistische Einsicht, dass Fehler na- nerbehördliche Auseinandersetzung mit materiellem hezu unvermeidbar sind, jedoch nicht davon, Fehler auf- 37 41 Vgl. hierzu erneut Behr, in: Hunold/Ruch (Hrsg.), S. 185 (207), der Ullenboom, NJW 2019, 3108 (3111); Singelnstein, NK 2013, 15 in der Unfähigkeit, ein binäres Muster von gut und böse aufzugeben, (21); Behrendes, vorgänge 204 (2013), 41 (44): das Strafrecht lie- die eigentliche Problematik im polizeilichen Umgang mit dem fere „Steine für die ‚Mauer des Schweigens‘“; Seidensticker, Die Thema Gewalt sieht. Polizei macht (keine) Fehler, 2016, S. 29. Losgelöst vom Bild der 38 Die von Singelnstein, NK 2013, 15 (18) beobachtete besondere Er- „Mauer“ zur schwierigen Beweissituation: Abdul-Rahman/Espín ledigungspraxis in den Staatsanwaltschaften ließe sich – wenngleich Grau/Singelnstein, Betrifft Justiz 141 (2020), 221 (222 f.). Zuläs- das angeführte Argument einer besonderen Parteilichkeit einleuch- sigkeit des privaten Filmens von Polizeieinsätzen aus Gründen der tet – auch als (möglicherweise unbewusstes) Korrekturverhalten der Beweissicherung, Reuschel, NJW 2021, 17 (21) sowie zur polizeili- Staatsanwaltschaften interpretieren, die nicht strafwürdiges Fehl- chen Überwachung und damit konstruierter Definitionsmacht Ull- verhalten für nicht weiter Strafverfolgungswürdig halten. rich, Technical University Working Papers, TUTS-WP-2-2018, 39 Es herrsche hierbei keine Einstellung „die Staatsanwaltschaft wird S. 10, 17. 42 es schon richten“ sondern Sorge um die berufliche Zukunft vor, Ebenso (aus Polizeisicht) Behrendes, vorgänge 204 (2013), 41 (44). 43 Behrendes, vorgänge 204 (2013), 41 (46). Mensching, Gelebte Hierarchien, 2008, S. 71. 40 44 Kritisch zu dieser allzu häufig bemühten Argumentationsfigur be- Ohlemacher/Werner, in: dies. (Hrsg.), S. 7 (8). 45 reits Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1999, S. 399 ff., sowie kon- Vgl. zu diesem Selbstbild, die Polizei mache keine Fehler: Seidens- kret zu dem Verhältnis von öffentlichem Recht und Strafrecht, S. ticker, Die Polizei macht (keine) Fehler, 2016, S. 26 ff.; ders., 58 ff. SIAK-Journal 2019, 78 (80 f.). Zur Blockade von Forschungsvorha- ben zu polizeilichem Überwältigungshandeln Behr, in: Hu- nold/Ruch (Hrsg.), S. 185 (196). 46 Vgl. zur hohen Fehleraffinität der Polizei Behrendes, vorgänge 204 (2013), 41 (43); „Unvermeidbarkeit von Fehlern“ bei Mensching, in: Liebl (Hrsg.), S. 43 (53); Seidensticker SIAK-Journal 2019, 78 f. 47 Behr, in Hunold/Ruch (Hrsg.), S. 185 (207).
Zühlke – Polizeiliche Fehlerkultur KriPoZ 4 | 2021 243 zuarbeiten und alles daran zu setzen, ein erneutes Auftre- Vollzugsbeamt*innen regelmäßig erfüllt und verliert da- ten dieser Fehler zu verhindern. Es braucht hierbei eine mit seine Funktion der Abgrenzung von erwünschtem Perspektivverschiebung vom „bedauerlichen Einzelfall“ (straflosen) und unerwünschtem (strafwürdigen) Verhal- zu einer systemischen Betrachtung der Phänomenologie ten. Insbesondere fehlt es der Körperverletzung im Amt von Überwältigungshandeln im Vollzugsdienst. Es an einer Appellfunktion des Tatbestandes, durch die die braucht Strukturen der polizeiinternen Reflexion (etwa in Normadressat*innen erkennen können, dass sie sich sozi- der Dienstgruppe) und Supervision, in der das eigene alschädlich51 in einer Weise verhalten, die ein Strafgesetz Fehlverhalten aufgearbeitet werden kann, um erneutes verletzt. Abstrahiert man die Frage nach der Rechtswid- Fehlverhalten zu vermeiden. Insbesondere wenig erfah- rigkeit der Maßnahme, ist es nicht mehr möglich zu erken- rene Beamt*innen müssen konsequent und unverzüglich nen, ob sich die Handelnden vollkommen legitim und im korrigiert werden, wenn sie irrtümlich „zu hart“ handeln Sinne rechtmäßigen polizeilichen Eingreifens verhalten oder sich in einer Widerstandssituation „übermotiviert“ oder gerade eine gefährliche Körperverletzung im Amt verhalten. Hierbei kann auch auf Modelle der restorative begehen. Tatbestandlich fehlt es somit an einem Merkmal, justice zurückgegriffen werden, mit denen Abseits eines dessen Überschreitung strafrechtlich vorgeworfen werden Strafverfahrens auch unter Einbezug der Verletzten einer kann. Die Körperverletzung im Amt unterscheidet sich rechtswidrigen Maßnahme (möglicherweise auf beiden damit bei Begehung durch Vollzugsbeamt*innen von an- Seiten) stattgefundenes Fehlverhalten reflektiert werden deren Tatbeständen, da die reine Erfolgsherbeiführung re- kann.48 An die Stelle der Furcht vor Fehlereingeständnis- gelmäßig keine Abkehr vom strafrechtlichen Normensys- sen und verfahrenstaktischer Abwehrhaltung muss Mut tem darstellt, sondern Teil rechtmäßigen, gesetzgeberisch zur Konfrontation mit den eigenen Unzulänglichkeiten intendierten, polizeilichen Handelns ist. Mangels Unwert- treten, ohne dass das eingeräumte Fehlverhalten bestraft urteils52 kann in diesen Fällen keine tatbestandlich indi- wird. zierte Rechtswidrigkeit anzunehmen sein, ohne dass ein strafrechtlicher Vorwurf am Tatbestand anknüpft. Eine solche Fehlerkultur, die in der Polizeiwissenschaft schon lange diskutiert und methodisch fundiert vorberei- Der eigentliche strafrechtliche Vorwurf, als Amtsträger tet worden ist,49 bedarf zudem wissenschaftlicher Beglei- während der Dienstausübung (bewusst oder fahrlässig) tung zur Erforschung von Überwältigungshandeln, damit unerlaubt einen Körperverletzungserfolg herbeigeführt zu sich das aus Fehlern erlernte möglichst zeitnah auch in der haben, findet keine tatbestandliche Entsprechung in § 340 Ausbildung niederschlagen kann und auch polizeikultu- Abs. 1 StGB. relle Gründe50 für Fehlverhalten systematisch bekämpft werden können. Als kriminalpolitischer Ansatz sollte daher erwogen wer- den, die Körperverletzung im Amt zu reformieren und den Nur so lässt sich ausbrechen aus einem „Groundhog Tatbestand um ein einschränkendes Rechtswidrigkeitskri- Day“-Kreislauf, in dem täglich wieder ein neuer Fall feh- terium zu erweitern. § 340 Abs. 1 StGB könnte dann lau- lerhafter Zwangsanwendung verzeichnet werden muss. ten: 3. Fehlerkultur und ihre Grenzen – Regelungsvorschlag: „Ein Amtsträger, der während der Ausübung seines § 340 Abs. 1 StGB de lege ferenda Dienstes oder in Beziehung auf seinen Dienst rechtswid- rig eine Körperverletzung begeht oder begehen lässt, wird Selbstredend muss auch die beste Fehlerkultur, in der die mit Freiheitsstrafe […] bestraft.“ konstruktive Aufarbeitung von Fehlverhalten Vorrang vor nicht erforderlicher strafrechtlicher Sanktionierung hat, Eine solche Gesetzesänderung würde eine rechtssichere ihre Grenzen im Strafrecht finden. Dass die vorsätzlich Abgrenzung von rechtswidrigem Handeln der Behörde rechtswidrige Gewaltanwendung durch Polizeibeamt*in- Polizei und strafbarem Individualhandeln einzelner Be- nen auch weiterhin als Körperverletzung im Amt gem. amt*innen ermöglichen, da sich der Vorsatz neben dem § 340 StGB bestraft werden muss, stellt dieser Beitrag Verletzungserfolg nun auch auf die Rechtswidrigkeit der nicht in Frage. Zudem bleiben Fälle von grob pflichtwid- Maßnahme beziehen müsste. rigem Verhalten, die als fahrlässige Körperverletzung im Amt bestraft werden müssen. In der Folge wäre die bewusst rechtswidrige Zwangsan- wendung weiterhin als Körperverletzung im Amt strafbar. Für eine solche Unterscheidung fehlt es jedoch im gelten- Der Vorwurf, im Rahmen einer Sorgfaltspflichtverletzung den Strafrecht an einem wirksamen Abgrenzungskrite- rechtswidrig gehandelt zu haben, fiele ebenfalls in den rium. Der Tatbestand des § 340 StGB ist wie aufgezeigt Bereich des Strafrechts, würde jedoch folgerichtig aus bereits bei rechtmäßigen Zwangsanwendungen durch dem Vorsatzdelikt in die gem. §§ 340 Abs. 3, 229 StGB 48 50 Hierbei wäre auch Platz für eine Entschuldigung für „punktuelle Eine Sammlung übergriffsfördernder Strukturen innerhalb der Fehleinschätzungen und Überforderung“, die in vielen Fällen für die „Cop-Culture“ findet sich bei Behr, in: Hunold/Ruch (Hrsg.), S. 185 Betroffenen mehr bewirke als eine Sanktionierung der Beamt*in- (203 f.). 51 nen, vgl. Behrendes, vorgänge 204 (2013), 41 (47). So bereits Engisch, ZStW 70 (1958), 566 (572): „wenigstens weiß 49 Seidensticker, SIAK-Journal 2019, 78 m.w.N.; Volkmer, in: Liebl er doch um das Nichtswürdige, Gemeine, Sozialschädliche seines (Hrsg.), S. 81 (88 ff.); Mensching, in: Liebl (Hrsg.), S. 43 (53 f.); Verhaltens, das den Grund dafür abgibt, daß es auch rechtlich ver- Behrendes, vorgänge 204 (2013), 41 (48). boten ist.“ 52 Vgl. Rengier, AT, 12. Aufl. (2020), § 17 Rn. 1.
244 KriPoZ 4 | 2021 anwendbare fahrlässige Körperverletzung im Amt über- Jede Anwendung von illegitimer Gewalt ist eine zu viel, führt werden. Fehlerhaftes Handeln unterhalb einer straf- jede Verletzung von Grundrechten aufgrund rechtswidri- rechtlich relevanten Pflichtverletzung wäre jedoch nicht ger Polizeimaßnahmen ist dringend zu verhindern. Letzt- mehr vom Anwendungsbereich der Norm umfasst, sodass lich muss jedoch hinterfragt werden, ob es hierbei zweck- dieses außerhalb des Strafrechts angemessen und lösungs- dienlich sein kann, mit punitiven Reflexen auf diejenigen orientiert adressiert werden könnte, um zukünftig ähnli- zu reagieren, die versuchen, sich pflichtgemäß zu verhal- che Fehler bestmöglich zu vermeiden und systemische ten, oder ob der staatliche Strafanspruch nicht in Richtung Probleme zu bekämpfen. vorsätzlicher Polizeigewalttäter*innen besser adressiert ist. Die in der Polizeiwissenschaft schon länger diskutier- Zusätzlich zu einer solchen Änderung sollte jedoch auch ten Probleme und Möglichkeiten polizeilicher Fehlerkul- ein anderer Umgang mit der Strafvereitlung im Amt durch tur müssen endlich auch in Kriminalpolitik und Rechts- Polizeibeamte erwogen werden, der z.B. durch die Etab- wissenschaft Anklang finden; der Rechtsstaat steht sich lierung einer Bedenk- und Beratungszeit53 die psychoso- sonst selbst im Wege. Es ist zu hoffen, dass durch eine ziale Drucksituation vor der Anzeige der eigenen Kol- Reform der Körperverletzung im Amt auch eine neue leg*innen lindern und Aufklärungsschwierigkeiten, die Wahrnehmung des Delikts in der Polizistenkultur entste- aus einem Verfahren wegen Strafvereitelung im Amt ge- hen kann. Hierzu muss die vorsätzlich rechtswidrige Kör- gen die einzigen Zeug*innen eines rechtswidrigen Ge- perverletzung im Amt – statt eines de lege lata latenten waltexzesses resultieren,54 verhindern. Hier verlässliche Alltagsrisikos für gewissenhafte Beamt*innen – als abso- Grenzen zu ziehen, ist eine komplexe Aufgabe, der sich lute Grenzüberschreitung in die Illegalität betrachtet wer- die (Straf-)Rechtswissenschaft jedoch stellen sollte. den, die keine Solidarität aus der Polizeibelegschaft56 ver- dient. V. Fazit All dies macht ein Umdenken dringend erforderlich. Ganz Es drängt sich nahezu auf, dass es einen Bereich geben zuvorderst in der Polizei, die zu oft mit problematischen muss zwischen einwandfreiem, rechtmäßigen Handeln Strukturen und einem „Wir machen keine Fehler“- und so stark fehlerbehaftetem (fahrlässigen) oder vorsätz- Mindset57 agiert. Genauso jedoch auch im Strafrecht, das lich rechtswidrigem Handeln, das individualstrafrechtli- Versuche, fehlerhaftes Verhalten im Umgang mit Bür- che Konsequenzen erfordert. Die geltende Rechtslage ger*innen konstruktiv aufzuarbeiten, de lege lata im lässt hierfür jedoch keinen Raum. Die Folge sind kleine Strafrechtskorsett erstickt und tatbestandlich nicht zwi- Verfehlungen, Unsicherheiten, und Eingriffe contra lege schen vorsätzlichem Gewalthandeln und unbeabsichtigten artis, die für die Betroffenen jedoch von erheblicher Ein- Fehlern in schwierigen Entscheidungssituationen zu dif- griffsvehemenz sind und traumatische Extremsituationen ferenzieren vermag. darstellen können. In einem System, das der Korrektur- möglichkeit eines Fehlers erhebliche Strafbarkeitsrisiken Eine rechtsstaatliche Polizei braucht eine konstruktive gegenüberstellt und Verschwiegenheit und Ignoranz55 be- Fehlerkultur. Die strafrechtlichen Voraussetzungen hier- lohnt, entsteht ein systemisches Polizeiproblem mit einer für zu schaffen, ist erforderlich, um vergangene rechts- Polizei, die ihr Handeln immer mehr an Gewohnheit und staatswidrige Zwangsanwendungen nachhaltig aufzuar- Polizistenkultur ausrichtet und sich zunehmend von Recht beiten und so zukünftige zu verhindern. Die bestmögliche und Gesetz entfernt. Wer keine Fehler diagnostiziert, kann Wahrung der Menschenrechte sollte uns diese Bemühun- auch nichts korrigieren. Wer keine Fehler macht, macht gen wert sein. aber eben nicht keine Fehler, sondern ist nicht in der Lage, Fehler zu erkennen. Fehler kommen in jeder Organisation vor. Der konstruktive Umgang mit ihnen ist, was den Zu- stand der Behörde Polizei und des Rechtsstaats entschei- det. 53 55 Vorgeschlagen u.a. von Seidensticker SIAK-Journal 2019, 78 (88 Vgl. zum „Totschweigen“ von Fehlern, Volkmer, in: Liebl (Hrsg.), m.w.N.); Problematik der Aufklärungserschwerung aufgrund kur- S. 81 (82 ff.). 56 zen Zögerns der später strafanzeigenden Kölner Polizeibeamt*innen Vgl. zum bisherigen Umgang in der Cop-Culture mit Beamt*innen, gegen Kollegen, die eine psychisch erkrankte Person misshandelt die bereit sind, ihre Kolleg*innen wegen des Verdachts einer Kör- hatten, vgl. Behrendes, vorgänge 204 (2013), 41 (44) sowie LG perverletzung im Amt anzuzeigen Behr, in: Hunold/Ruch (Hrsg.), Köln, Urt. v. 25.7.2003 – 111 - 4/03, openJur 2011, 22673. S. 185 (196 f.). 54 57 Hierzu instruktiv Behrendes, vorgänge 204 (2013), 41 (44 f.) zu dem Ausf. dazu Seidensticker, 2016. in Fn. 53 geschilderten Verfahren, bei dem die einzigen Zeug*innen aufgrund eines gegen sie laufenden Verfahrens wegen Strafvereite- lung im Amt wegen der Anzeigeverzögerung um einen Tag zu- nächst nicht zu dem eigentlichen Verfahren wegen Körperverlet- zung im Amt mit Todesfolge aussagen konnten, um sich nicht selbst zu belasten. Vgl. zu diesem Verfahren LG Köln, Urt. v. 25.7.2003 – 111 – 4/03, openJur 2011, 22673.
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