Das Magazin 3.18 - Robert Bosch Stiftung

 
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Das Magazin 3.18 - Robert Bosch Stiftung
Das Magazin                      3.18
Lernen
Das Magazin

                            Im eigenen Tempo
                            Eine Schule in Greifswald
                            meistert Inklusion

                            Digital ist besser?
                            Eine Debatte zur Zukunft
                            des Lernens

                            Die Maschine diskriminiert
                            Über den Umgang mit

              Lernen
                            künstlicher Intelligenz
3.18
Das Magazin 3.18 - Robert Bosch Stiftung
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DAS MAGAZIN
3.18
                                                                                     Editorial   3

                     Liebe Leserin, lieber Leser,

              neurobiologisch sind die Vorgänge im Gehirn, die beim Lernen
              ablaufen, recht gut erforscht. Menschen verbinden Sinnes-
              eindrücke miteinander und mit gespeicherten Erfahrungen.
              Dabei entstehen neuronale Verknüpfungen und die bereits vor-
              handenen werden stärker. Wer lernt, baut die Datenwege in
              seinem Gehirn aus, vom Trampelpfad zur Straße oder Auto-
              bahn. Diese Erkenntnis der Biologie bestätigt die Erfahrungen
              von Pädagogen: Eine Information kurz googeln bringt noch
              keinen Lern­effekt. Dafür muss man sich eine Erkenntnis selbst
              erarbeiten und das Erlernte immer wieder anwenden.
                     Als Stiftung wollen wir mit vielen unserer Programme
              solche wirksamen Lernerfahrungen ermöglichen. Einige
              dieser Programme stellen wir Ihnen in diesem Heft vor und
              nehmen Sie mit: nach Kalifornien ins Thomas Mann House,
              das gerade zu einem Ort des Austauschs zu gesellschaftlichen
              Fragen unserer Zeit wird. Oder nach Asien, wo Uni-Absol-
              venten aus dem deutschsprachigen Raum Unterricht geben –
              und dabei mindestens so viel lernen wie ihre Schüler.
                     Einen besonderen Schwerpunkt unserer Arbeit bildet die
              Qualitätsentwicklung von Schule, denn eine gute Schule
              trägt entscheidend dazu bei, dass ein Kind sein Potenzial und
              seine Persönlichkeit entfalten kann. Der von unserer Stiftung
              ins Leben gerufene Deutsche Schulpreis zeigt, dass es viele
              Schulen gibt, die dieser Aufgabe in exzellenter Weise gerecht
              werden. Für den Transfer ihrer guten Konzepte an andere
              Schulen gibt es inzwischen ein breites Angebot. So wollen
              wir dazu beitragen, den Lernprozess im System Schule
              zu befördern – und dabei nachhaltige Spuren hinterlassen.

              Viel Freude beim Lesen!

              Joachim Rogall, Uta-Micaela Dürig, Sandra Breka, Hans-Werner Cieslik
              Geschäftsführung der Robert Bosch Stiftung
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4            Inhalt                                                       Robert Bosch
                                                                              Stiftung

                        10                         12                          24

06                           12                         22
Fakten: So lernen            Lernen für alle:           Infografik: Wie der
Babys, Schulkinder,          In der Martinschule in     Deutsche Schulpreis zur
Erwachsene –                 Greifswald lernt jedes     Entwicklung aller
und Maschinen                Kind in seiner eigenen     Schulen beitragen kann
                             Geschwindigkeit.
08                           Wie ist das zu schaffen?   24
Anfangen: Jonas                                         Debatte: Wie kann die
Budkiewitz erzählt           19                         Digitalisierung in
von seinem herausfor-        Gute Schule: Ein Ge­       den ­Schulen zur Erfolgs­
denden Anfang                spräch mit dem Bildungs­   geschichte werden?
als Deutschlehrer in         forscher Anand Pant über
Südkorea                     unser Bildungssystem,      28
                             die Lehrerausbildung und   Literatur lernen:
10                           die Schule von morgen      Wir begleiten einen
Momentaufnahme:                                         Kinderbuchautor und
Voneinander lernen                                      eine Deutschlehrerin,
in einer berufsüber-                                    die Schüler für
greifenden Aus-                                         literarisches Schreiben
bildungseinheit für                                     begeistern wollen
Pfleger und Ärzte
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3.18
                                                                                                                                               5

                                      34                                             40

32                                              40
Menschenrecht                                   Hinter den Kulissen:                             Der Deutsche
Lernen: Wie mehr                                Was Jutta Allmendinger,                          Schulpreis zeichnet
Bildung die weltweite                           eine der ersten Fellows im                       gute Schulen aus
Armut massiv                                    Thomas Mann House in                             und macht so die Kon-
verringern könnte                               Los Angeles, ­beschäftigt                        zepte und Ideen
                                                                                                 dieser Schulen sicht-
34                                              42                                               bar. Auf den folgenden
Lernende Maschinen:                             Kolumne:                                         Seiten finden Sie
Interview mit KI-Expertin                       10 Fragen an unsere                              die Akteure dazu:
Kate Crawford zu den                            Leserinnen und Leser                             Reportage aus einer Preisträgerschule S. 12

Schattenseiten der                              von Claudia Hach
                                                                                                 Interview mit Anand Pant S. 19
                                                                                                 Infografik zum Deutschen Schulpreis S. 22

künstlichen Intelligenz

38
Kurz notiert: Neuig-
 keiten aus Projekten
 und ­Fördergebieten der
­Robert Bosch Stiftung

Impressum HERAUSGEBER Robert Bosch Stiftung GmbH, Heidehofstraße 31, 70184 Stuttgart, magazin@bosch-stiftung.de, www.bosch-stiftung.de |
GESCHÄFTSFÜHRUNG Prof. Dr. Joachim Rogall, Uta-Micaela Dürig, Sandra Breka, Dr. Hans-Werner Cieslik | VERANTWORTLICH Stefan Schott, Bereichs-
leiter Kommunikation | PROJEKTLEITUNG Regina Mennig | REDAKTIONSLEITUNG Martin Petersen, Nicole Zepter VERLAG TERRITORY Content to Results
GmbH, Bei den Mühren 1, 20457 Hamburg, www.territory.de | GESCHÄFTSFÜHRER Soheil Dastyari, Sandra Harzer-Kux | PUBLISHING MANAGEMENT
Eva Willaschek | ART DIREKTION Maja Nieveler, Anne Stiefel | BILDREDAKTION Vanessa Zeeh | DRUCK Merkur Druck GmbH, Oststraße 49, 22844 Nor-
derstedt, merkur-druck.com ISSN-NR. 1865-0910 | COVERFOTO Jonpaul Douglass
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6                       Fakten

                                                                                                                       Quellen: Oser et. al, 1999: Lernen aus Fehlern. Zur Psychologie des negativen Wissens; Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2001:Das informelle Lernen; Romeo et. Al, 2018: Beyond the 30-Million-Word Gap: Children’s Conversational Exposure Is Associated With Language-Related Brain Fun-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                               ction; Shakirov, 2016: Review of state-of-the-arts in artificial intelligence with application to AI safety problem; UNESCO Weltbildungsbericht 2017/18; Georg-Eckert-Institut (gei.de); Statistisches Bundesamt: Schulen auf einen Blick 2018; Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung
So lernen wir
Acht Facetten des Lernens – in Deutschland
und weltweit.
                                                                                       Menschen lernen aus Fehlern –
                                                                                       auch aus solchen, die sie
                                                                                       nur über Erzählungen oder
                                                                                       Filme nachvollzogen haben.

    Künstliche neuronale Netzwerke
    können bereits 70 % der Aufgaben
    des menschlichen Gehirns ebenso
    gut erledigen – oder besser.
                                            Bei

                                            53 % 753
                                            der Studienanfänger
                                            hat mindestens                             Millionen
                                            ein Elternteil selbst                      Erwachsene weltweit
                                            einen Hochschul-                           können weder
                                                                                       lesen, schreiben noch
    (zum Beispiel Objekte, Bilder und
                                            abschluss.                                 rechnen.
    Handlungen erkennen, Sprache erkennen
    und verstärkendes Lernen)

                                            Der bedeutendste Faktor für die Hirnent-
                                            wicklung eines Kindes sind Dialoge.
                                                                                       In

                                                                                       82%
    Mit dem mBook
    Geschichte ist
    2018 erstmals ein
    Schulbuch des
                                                                                       der nationalen Verfas-
    Jahres prämiert                                                                    sungen ist das Recht auf
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              (DIPF): Bildung in Deutschland 2018

    worden, das                                                                        Bildung festgeschrieben.
                                                                                       In 55 % der Länder
    nicht gedruckt ist.                                                                kann dieses Recht auch
                                                                                       eingeklagt werden.
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70 %
                                                       des menschlichen Lernens findet
                                                       außerhalb von Bildungsinstitutionen statt.
Text und Recherche: Martin Petersen | Fotos: Stocksy
Das Magazin 3.18 - Robert Bosch Stiftung
Jonas Budkiewitz
ist auf der Insel Usedom aufgewachsen,
später ging er zum Lehramtsstudium nach
Münster. Seit September 2017 ist er mit dem
Lektorenprogramm in Busan in Südkorea –
der 28-Jährige hat seinen Aufenthalt verlän-
gert und bleibt noch ein weiteres Jahr dort.
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                                            3.18
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                                            Bitte Fragen stellen
                                            Jonas Budkiewitz arbeitet als Deutschlehrer im südkoreanischen
                                            ­Busan. Dieser Job stellte seine Lehrideale aus Deutschland erst mal
                                             auf eine harte Probe.

                                             A
                                                                                      Auch meine allerersten Projekte außer-             Zeit zur See gefahren. Zum Schüleraus-
                                                                                      halb der Deutschkurse sind eher ins                tausch war ich in Paris, Rumänien
                                                                                      Leere gelaufen. Einmal wollte ich                  und Israel, später im Auslandssemes-
                                                                                      eine Studentenzeitung gründen, ein                 ter in Island und Krakau. Hier in
                                                                                      anderes Mal einen Workshop zum                     Südkorea war der Neustart am schwie-
                                                                                      Zusammentreffen unterschiedlicher                  rigsten. Ich war nicht automatisch
                                                                                      Kulturen machen. Korea ist eine                    eingebettet in ein Netzwerk von Aus-
                                                                                      sehr homogene Gesellschaft, sie hat                tauschstudenten, ich musste mir
                                                                                      nicht viel Erfahrung mit Andersar-                 selbst eins aufbauen. Ich habe ange-
                                                                                      tigkeit. Auf dem Campus bleiben die                fangen, in Kletterstudios zu gehen,
                                                                                      einzelnen Gruppen unter sich, die                  die hier oft in die höheren Stockwerke
                                                                                      Studenten aus Korea, aus China – das               von Bürogebäuden hineingezimmert
                                                                                      wollte ich thematisieren. Doch es                  sind. Ich habe Lokale gefunden,
                                                                                      meldete sich kaum jemand an, das war               wo ich vegetarisch essen kann, ohne
                                                                                      natürlich erst mal enttäuschend.                   lange erklären zu müssen, warum.
                                                                                      Ich frage mich seither, wie ich Interes-           Mit meinen Studenten spiele ich auch
                                                                                      se für Projekte wecken kann, bei                   Fußball.
                                            n der Universität in Busan bin ich der    denen nicht berufliche Qualifikation                       Ich hoffe, dass ich in meinen
                                            erste Bosch-Lektor für Deutschunter-      im Vordergrund steht, sondern                      Studenten Neugier wecken kann,
                                            richt, und der Anfang fühlte sich an      persönliche Erfahrung. Ich habe noch               dann hat meine Zeit hier etwas
                                            wie ein Sprung ins kalte Wasser. Nicht    nicht das Gefühl, alles durchblickt                bewirkt. Es gibt an der Uni Projekte,
                                            nur für mich, sicher auch für meine       zu haben – das macht es hier so span-              für die Studenten nach Deutsch-
                                            Studenten. Da gibt es ein Beispiel aus    nend. Jetzt gründe ich gerade mit                  land reisen. Ich habe ihnen bei der
                                            einer Gruppenarbeitsstunde. Die           mehreren Professorinnen ein Zent-                  Vorbereitung und mit Kontakten
                                            Studenten sollten zuerst zu zweit ar-     rum für deutsch-koreanische Kultur-                weitergeholfen. Sie waren dann in
                                            beiten, das ging gut. Als ich dann        arbeit, vor Kurzem gab es schon                    Hamburg und haben bei meinen
                                            mit allen zusammen die Ergebnisse         einen Austausch von Künstlern zwi-                 Eltern und ihren Nachbarn gewohnt.
                                            besprechen wollte, regte sich nie-        schen Hamburg und Busan.                           Diese Kulturkontakte, auch dass
                                            mand. In meiner deutschen Art habe                Ich mag andere Kulturen ein-               meine Eltern die Leute aus meinem
                                            ich direkt nachgefragt: Wo ist das        fach – vielleicht habe ich das von                 Umfeld in Korea kennengelernt
                                            Problem, braucht ihr noch Hilfe? Ich      meinem Vater, er ist während der DDR-              haben, finde ich schön.
                                            hakte mehrmals nach, aber über
                                            Minuten kam nur Schweigen, alle Bli-
                                            cke gingen zum Boden. Man merkt
                                            hier große Kulturunterschiede. Die            25 Jahre Lektorenprogramm
                                            Studenten würden mir gegenüber
Text: Regina Mennig | Foto: Michael Kohls

                                                                                          Mit dem Lektorenprogramm fördert die Robert Bosch Stiftung Uni-Absolventen aus
                                            nicht sagen, wenn sie etwas nicht ver-        Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie Hochschulmitarbeiter aus China,
                                            standen haben, und sie würden mir             Indonesien, Südkorea, Thailand und Vietnam, die in Asien Deutsch als Fremdsprache
                                            schon gar nicht widersprechen. Es ist         unterrichten und Bildungsprojekte umsetzen. Das Lektorenprogramm wird in Ko-
                                            für sie ein Umbruch, dass da vorne            operation mit MitOst e.V. durchgeführt. MitOst wurde 1996 von ehemaligen Lektoren
                                            jemand steht, der will, dass sie Fragen       als Plattform für die weitere Vernetzung gegründet und ist heute Träger für zahlreiche
                                                                                          Projekte und das Engagement von Mitgliedern und Alumni aus über 40 Ländern.
                                            stellen. Da stand ich mit meinem
                                                                                          Das Lektorenprogramm feiert 2018/19 sein 25-jähriges Jubiläum.
                                            dialogischen Lehransatz aus Deutsch-
                                            land und kam erst mal nicht weiter.
Das Magazin 3.18 - Robert Bosch Stiftung
Text: Alexandra Wolters | Fotos: Lena Giovanazzi
DAS MAGAZIN
3.18
                                                                                                 Momentaufnahme                         11

Seite an Seite
Sebastian Friedrich lernte während seines Medizinstudiums
gemeinsam mit Pflegeauszubildenden.

Es war einer meiner ersten Tage als                  zusammen auf Visite gegangen, aber              viele Aufgaben an die Pflege, zum
Medizinstudent im Praktischen Jahr                   nicht als Pflegeschülerin und Medizin-          Beispiel das Inhalieren oder die
auf der Kinderstation „Schatzinsel“                  student, sondern als Team. Gemein-              Kontrolle von Verbänden. Dabei ist
im Freiburger St. Josefskrankenhaus.                 sam haben wir die Kinder und deren              es wichtig, mehr über die Hinter-
Der Urinbeutel wollte einfach nicht                  Eltern nach Problemen und Bedürf-               gründe zu wissen. Warum ordnet der
halten. Immer wieder lösten sich                                                                     Mediziner etwas an, wieso geht die
die Klebestreifen, sobald das zweijäh-
rige Mädchen durch das Kranken-
                                                    „Warum ordnet der                                Pflege so vor? Im Programm war jeden
                                                                                                     Tag eine halbe Stunde zur Reflexion
zimmer lief. So habe ich am eigenen                  Mediziner etwas                                 reserviert. Für mich eine ganz wichtige
Leib erfahren, wie aufwendig und                                                                     Erfahrung. Da kamen alle Teilnehmer
zeitintensiv das Einsammeln einer                    an, wieso geht die                              und Betreuer zusammen. Gemeinsam
Urinprobe sein kann. Geholfen                                                                        haben wir geschaut, was in den ver-
hat mir dabei Carmen, eine Pflege-                   Pflege so vor?“                                 gangenen 24 Stunden gut lief und was
schülerin. Carmen und ich waren                                                                      nicht. IPAPÄD war für mich wie ein
Teil der IPAPÄD, der „Interprofessio-                nissen gefragt. Die Untersuchungen              vorgezogener Berufsstart – mit Netz
nellen Ausbildungsstation in der                     und Behandlungen haben wir eben-                und doppeltem Boden. Ich konnte
Pädiatrie“. An diesem Projekt des                    falls zusammen durchgeführt. Dabei              Verantwortung übernehmen, durfte in
Zentrums für Kinder- und Jugendme-                   habe ich unheimlich viel gelernt,               einem geschützten Raum arbeiten,
dizin am Universitätsklinikum                        vor allem über die alltäglichen                 etwas ausprobieren – und auch Fehler
Freiburg können Medizinstudier-                      praktischen Abläufe auf einer Kran-             machen, ohne dass ein Patient zu
ende und Pflegeschülerinnen                          kenstation. Darüber wissen die                  Schaden gekommen wäre. Denn natür-
und -schüler zwei Wochen lang teil-                  Pflegekräfte viel mehr als wir Medi-            lich wurden wir die ganze Zeit von
nehmen. Carmen und ich hatten                        zinstudierenden – trotz jahrelangen             unseren pflegerischen und ärztlichen
dabei die gemeinsame Verantwortung                   Studiums. Weil ich mir auf der                  Betreuern genau beobachtet. Und
über vier kleine Patientinnen und                    IPAPÄD viele Tätigkeiten der Pflege-            konnten sie jederzeit um Rat und Hilfe
Patienten.                                           kräfte anschauen und selber aus-                bitten. Seit Anfang August arbeite
       Jeden Morgen schnappten                       probieren konnte, weiß ich heute,               ich nun im St. Josefskrankenhaus auf
wir uns die Akten, studierten gemein-                welche Konsequenzen meine Anord-                einer anderen Kinderstation als
sam die Laborwerte. Dann sind wir                    nungen haben. Ärzte delegieren                  Assistenzarzt. Dank IPAPÄD habe ich
                                                                                                     mich hier gleich als Mitglied eines
                                                                                                     Teams und nicht als Einzelkämpfer ver-
                                                                                                     standen. Ich versuche weiterhin,
                                                                                                     Rückmeldungen an die Pflege zu geben
       Operation Team                                                                                und einzuholen. Was macht ihr
                                                                                                     gerade, was braucht ihr vielleicht an
       Die „Interprofessionelle Ausbildungsstation in der Pädiatrie“ (IPAPÄD) an der Universi-
       tätsklinik Freiburg ist eines von derzeit 24 Projekten des Förderprogramms Operation
                                                                                                     Zeit und Unterstützung? Kann mir
       Team – Interprofessionelles Lernen in den Gesundheitsberufen. Die Robert Bosch Stiftung       vielleicht einer mal dieses und jenes
       unterstützt damit die Entwicklung und Umsetzung von interprofessionellen Lernein-             erklären? Ich habe das Gefühl,
       heiten für verschiedene Gesundheitsberufe. Bereits in ihrer Ausbildung werden hier            das kommt nicht nur bei den Kollegen
       zukünftige Fachkräfte an die Kooperation in berufsübergreifenden Teams herangeführt           super an. Wenn Ärzte und Pfleger
       und können miteinander, von- und übereinander lernen, um gemeinsam die Patienten-
                                                                                                     gut zusammenarbeiten, ist das auch
       versorgung zu verbessern.
                                                                                                     gut für die kleinen Patienten und
                                                                                                     deren ­Eltern.
Jeder
          TEXT
  Eva Wolfangel

         FOTOS
                   in seinem
                   Tempo
   Ériver Hijano

An der Martinschule in Greifswald lernen alle gemeinsam:
Hochbegabte und Kinder mit geistiger Behinderung.
Dazwischen gibt es viele Facetten. Wie kann das funktio-
nieren, lernen für alle?
DAS MAGAZIN
3.18
              Reportage   13
14                   Reportage                                                                                   Robert Bosch
                                                                                                                     Stiftung

P
iet würde so gerne seinen Ring am
Finger behalten. Er hat ihn an seinen
kleinen Finger gesteckt und schaut
ihn verträumt an. Aber er weiß:
Die Gruppenkonferenz hat beschlos-
sen, dass er ihn in die Tasche stecken
soll. Er hat ihn vor zwei Wochen
bei einem Schulausflug gefunden und
wollte ihn am liebsten behalten.
Die anderen Sechstklässler haben ihm
erklärt, dass er erst herausfinden
muss, ob ihn nicht jemand sucht. Sie
haben gemeinsam Plakate gemalt,
in der Schule und am Fundort aufge-
hängt, und Piet musste zwei Wochen
warten, bevor er heute seinen
Ring endlich im Sekretariat abholen
konnte. „Piet, was hatten wir aus-                                                     „ich mache Deutsch, Lesezeit
gemacht?“, fragt seine Lehrerin Ines                                                  und Geometrie“, sagt Paul. Ein Kind
Morszeck im Morgenkreis, zehn                                                         protokolliert. Am Nachbartisch
Sechstklässler, die gemeinsam lernen.                                                 bereitet derweil ein Mädchen einen
„Brauchst du Hilfe?“ Sie weiß, wie                                                    Vortrag über ihr Lieblingsbuch vor.
schwer es dem geistig behinderten                                                             Es ist ein besonderer Weg,
Jungen fällt, den glänzenden Ring                                                     den diese Schule gegangen ist, die
loszulassen. Doch schließlich steckt                                                  vor ­25 Jahren als Förderschule
Piet ihn ein.                                                                         gestartet ist und sich geöffnet hat für
        Dann planen die Kinder an der                                                 alle: 570 Schüler und Schülerinnen
Greifswalder Martinschule ihren                                                       der Klassen 1 bis 12 profitieren davon,
Tag. „Was machst du heute?“, fragen                                                   darunter 246 mit sonderpädagogi-
sie sich gegenseitig. Drei Lernzeiten                                                 schem Förderbedarf. 2018 wurde die
gibt es für diesen Tag – drei Mal je                                                  inklusive Grundschule und integrierte
eine Schulstunde arbeitet jeder an                              Aufmerksam            Gesamtschule mit gymnasialer
seinen Zielen, unterstützt von Lehrern                          (Bild rechte Seite)   Oberstufe mit dem Deutschen Schul-
                                         Kreativ                Demokratiestunden
und einem Mitglied des pädagogi-                                                      preis ausgezeichnet, den die Robert
                                         Die Schüler lernen     und Rückszugs-
schen Fachpersonals: Erzieher, Heil-                                                  Bosch Stiftung gemeinsam mit der
                                         Mathematik in          momente wie diese
erzieher, Integrationshelfer. „Ich       keinen Gruppen,        Runde sind            Heidehof Stiftung sowie der ARD und
mache Deutsch“, sagt Piet, „ich mache    Perlenketten und       fester Bestandteil    der ZEIT Verlagsgruppe vergibt.
Geometrie und Division“, sagt Lilly,     Würfel helfen dabei.   des Konzepts.         Das bedeutet neben der Anerkennung
DAS MAGAZIN
3.18
                                                                Reportage                            15

für gute Schulpraxis 100.000 Euro
Preisgeld, für fünf weitere Schu-           Die Sehnsucht     Blick und Tonfall. „Können Sie uns
                                                              bitte den Mathetest zum Bruchrech-

                                            der Eltern
len 25.000 Euro sowie für alle nomi-                          nen ausdrucken?“ Namid ist erst
nierten Schulen 5000 Euro.                                    seit der vierten Klasse an der Martin-
        Hier an der Martinschule ist                          schule, er hat davor die Waldorf-
vieles außergewöhnlich. So zum
Beispiel das über die Jahre gewachse-
                                            scheint groß zu   schule und davor eine Regelschule
                                                              besucht. „Langweilig“, sagt er,
ne Repertoire an Lehrmethoden,
das sich die Schule aus verschieden-
                                            sein nach         „es ging zu langsam voran.“ Hier
                                                              kann er so schnell lernen, wie er will.
sten Zusammenhängen abge-
schaut und für sich weiterentwickelt        einer Schulzeit   Es gibt keine Hausaufgaben, keine
                                                              Noten, und sogar ein Test macht Spaß.

                                            mit indivi-
hat. Aber eigentlich kommt es nur                                     „Oft werden Eltern nervös, wenn
auf eines an, sagt Schulleiter Benjamin                       ihr Kind nach ein paar Jahren immer
Skladny: „Jedes Kind lernt anders.                            noch gerne in die Schule geht“, sagt
Jedes hat sein eigenes Tempo.“ So
kommt es, dass in einer Klassenstufe
                                            duellem Lernen    Skladny und grinst. Es ist zu tief in ihnen
                                                               verankert, dass Lernen mühsam
manche noch mit dem Lesen kämpfen,
während sich andere mit Zahlen-
                                            für ihr Kind.     sein muss. Lernt mein Kind überhaupt
                                                              etwas?, fragen sie ihn dann. Doch
potenzen beschäftigen, so wie in Piets                        die Zahlen sprechen für sich: „Die Ab-
Lerngruppe.                                                   schlüsse der Schüler, vom Haupt-
        Begonnen hat hier alles vor 2­ 5                      schulabschluss bis zum Abitur, sind im
Jahren mit einer Schule für geistig                           Durchschnitt besser als der Durch-
Behinderte, die Skladny in Greifswald                         schnitt in Mecklenburg-Vorpommern“,
nach der Wende aufbaute. „In der                              sagt der Schulleiter. „Irgendwie
Sonderpädagogik ist es klar: Wenn                             scheinen wir es also hinzubekommen.“
man nicht auf das einzelne Kind                               Skladny kämpft an zwei Fronten:
schaut, geht man unter“, sagt er, „und                        Immer wieder erklärt er sich und das
bei den anderen ist es auch so, nur                           Schulkonzept den Eltern. Und auch
merkt man es da nicht so.“ Wie sehr                           im Kollegium ist es nicht immer
von dieser Herangehensweise                                   einfach, für das Konzept zu begeistern –
alle Kinder profitieren und dass das                          einige Lehrer tun sich schwer damit.
bisweilen eine Herausforderung                                Herkömmlicher Unterricht kann
für die Lehrer ist, zeigt ein Besuch an                       auch bequem sein. Doch trotz aller
der Schule: In der Grundschule                                Widerstände: Die Sehnsucht der
gibt es drei Parallelklassen, bis zu vier                     Eltern scheint groß zu sein nach einer
Schüler pro Klasse haben einen                                Schulzeit mit individuellem Lernen
sonderpädagogischen Förderbedarf.                             für ihr Kind. Das zeigt die Informati-
In der integrierten Gesamtschule                              onsveranstaltung für Eltern künftiger
ab Klasse fünf werden die Schüler in                          Grundschüler am Abend. Die kleine
Lerngruppen aufgeteilt: Es gibt
einen Matheraum, einen Deutschraum,
einen für Englisch. 60 Lehrer und
Lehrerinnen arbeiten im Haus,
23 pädagogische Unterrichtshilfen
wie Heilerzieher und 60 Integrations-
helfer ergänzen das Kollegium.
Finanziert wird die Schule über das
Land, die Kommune und die privaten
Zahlungen der Eltern. Jeweils etwa
zwölf Kinder haben einen gemeinsa-
men Bezugslehrer. Mit diesem planen
sie ihren Tag, stecken sich selbst
Ziele für die nächsten Monate und
überprüfen gemeinsam, ob sie
diese erreicht haben.
        Können wir das jetzt?
Das wollen Namid und Anselm heute
wissen. Die beiden Siebtklässler
stehen vor dem Computer am Lehrer-
pult wie Kinder vor der Eisdiele –
mit diesem sehnsüchtig-bettelnden
16                    Reportage                                                                                  Robert Bosch
                                                                                                                     Stiftung

Grundschule platzt aus allen Nähten,                                                   eine – in Zeiten, in denen städtische
Väter und Mütter schieben sich                                                         Grundschulen in Greifswald schlossen.
durch die Gänge, und später ist die Aula                                               Die Martinschule hingegen ist eine
bis auf den letzten Platz belegt.                                                      Privatschule. Viele Familien sind vom
        Die Lehrer haben in einigen                                                    Schulgeld befreit, ansonsten zahlen
Klassenzimmern Unterrichtsmaterial                                                     die Eltern rund 170 Euro Schulgeld im
und die Werke der Kinder aufgebaut.                                                    Monat – und sie rannten und rennen
„In der vierten Klasse baut jedes Kind                                                 Skladny die Türen ein.
einen Hocker“, sagt ein Lehrer im                                                              Der Siebtklässler Christian
Werkraum. Später zeigt eine Lehrerin,                                                  hat sich mit seiner Betreuerin in eine
wie die Methode „Lesen lernen durch                                                    Ecke gesetzt und schreibt gewissen-
Schreiben“ funktioniert, sie erklärt                                                   haft in ordentlicher Schreibschrift
wortreich, dass die Kinder dabei           Engagiert                                   Biografien auf: Alexander Bell,
                                           Lehrerin Mangel       Motiviert
anfangs auch Fehler machen dürfen –                              (Bild rechte Seite)
                                                                                       der Erfinder des Telefons, und Alan
                                           animiert die Kinder
weshalb die Methode umstritten ist –       mit Einmaleins-       Die Schüler           Turing. Christian schreibt das alles
und wie viel Motivation diese              Wettkämpfen           Namid und Anselm      aus dem Kopf auf, und wer ihn fragt,
Methode bringt. „Mein Sohn kann            und individuellen     brüten über           bekommt eine spannende und aus-
schon lesen, was würden Sie mit ihm        Strategien.           ihrem Mathetest.      führliche Geschichte über den Wett-
machen?“, fragt Anja H. „Na,
wer schon lesen kann, bekommt eine
andere Aufgabe“, sagt die Lehrerin.
„Es macht doch keinen Sinn, etwas zu
lernen, was man schon kann!“ Die
Eltern nicken dankbar, wohl wissend,
dass es an den meisten Schulen eben
doch so ist, dass die Kinder einer
Klasse alle das Gleiche lernen sollen –
mit dem Resultat, dass sich Schüler
langweilen. Und andere nicht hinter-
herkommen, weil sie langsamer
lernen und auf der Strecke bleiben.
        An der nächsten Tür steht
„Snoezelenraum“. „Oh, das würde
meinem Sohn gefallen“, sagt Anja H.,
als sie die Tür öffnet. Ein Wasserbett
steht darin, ein Sofa und ein Bälle-
bad, dazu gedämpftes Licht. „Er ist
nicht so für große Gruppen zu haben“,
sagt Anja H. Und auch die großzügi-
gen Flure gefallen der Mutter, überall
gibt es Sitzgelegenheiten, überall
können sich Kinder zurückziehen.
        Es war der Grund, warum
Schulleiter Benjamin Skladny genau
dieses Gebäude haben wollte, als er
2002 vor der Aufgabe stand, eine inklu-
sive Grundschule zu gründen. Die
ehemalige Kita mit ihren langen Fluren
schien ihm ideal. Individuelles
Lernen braucht auch Raum. Kinder mit
geistiger Behinderung sollten nicht
unter sich bleiben, fand er: „Sie lernen
besser, wenn sie integriert sind.“Ab-
schottung empfand er als den falschen
Weg. Also suchte er andere Grund-
schulen für eine Kooperation und fand
eine, die im Gegenzug eine Klasse
von ihm aufnahm. Die Erfahrungen
waren gut, doch es gab nicht genug ko-
operationswillige Schulen, also
gründete Skladny kurzerhand selbst
DAS MAGAZIN
3.18
                                                                 Reportage                          17

kampf um die Erfindung des Telefons
zu hören. Und warum schreibt er es
auf? „Na, ich mache Deutsch“, sagt er.
Und da schreibt man eben.
        Einige Räume weiter sitzt
Lehrerin Christine Mangel und
gibt Mathe-Förderunterricht. Vier
Mädchen mit Dyskalkulie, Rechen-
schwäche. Mangel weiß, wie sie
sie erreicht. Erst spielen sie einen
Einmaleins-Wettkampf, zwei gegen
zwei. Das macht Spaß, die Mädchen
lachen viel. Dann teilt Mangel Ar-
beitsblätter aus, schriftliches Dividie-
ren. „Könnt ihr das, oder ist das zu
schwer?“ Die Mädchen zögern, eine
sagt: „Das ist zu schwer.“ Die Pä-
dagogin weiß, dass Hannas Stecken-
pferd Deutsch ist, sie ist sehr kreativ
und schreibt tolle Aufsätze. „Was
genau ist denn Dividieren?“, fragt
Mangel sie, „worum geht es hier?“ Sie
versucht herauszubekommen, wie                                 fünf bis acht, sie, die gelernte Sonder-
Hanna denkt, wie ihre Rechenstrategie                          pädagogin, er, der gelernte Gym-
ist. „Was ist teilen? Erzähle es in einer                      nasiallehrer. „Klar, man braucht einen
Geschichte! Wie würdest du es einem                            Anknüpfungspunkt, irgendeinen
kleinen Kind erzählen?“ Schritt für                            Inhalt, der einem lernenswert er-
Schritt kommen sie der Sache näher,                            scheint“, sagt Otto. Doch lange war das
jetzt weiß Mangel, wie Hanna rechnet,                          gar nicht so klar in seinem Leben:
sie kennt ihre Strategie. „Nicht jede                          In der Ausbildung zum Gymnasialleh-
Strategie passt zu jedem Kind, zum                             rer sei Lernforschung kein Thema
Glück gibt es ganz verschiedene                                gewesen. Erst als er nach dem Studium
Rechenwege“, sagt sie. „Darf ich das                           vor einem Einstellungsstopp stand
Blatt ganz fertig machen?“, fragt                              und schließlich als Bildungsreferent
eines der Mädchen am Ende.                                     beim Landessportbund arbeitete,
        Wo gibt es das, dass Kinder                            begegnete er Lehrmethoden, bei denen
mit Rechenschwäche darum bitten,                               Motivation und individuelles Lernen
ein Mathe-Arbeitsblatt machen                                  eine zentrale Rolle spielten. „Oft heißt
zu dürfen? Mangel zuckt mit den                                es in der Schule: Wenn das Kind
Schultern. „Es ist alles eine Frage der                        etwas nicht weiß, dann hat es nicht auf-
Beziehung und der Motivation.“                                 gepasst“, sagt er. „Dabei müsste die
„Man muss der Gesellschaft gerecht                             Frage doch heißen: Warum hat dich das
werden und natürlich auch den                                  nicht interessiert?“ Wieso habe ich
Eltern“, sagt Mangel. Das ist nicht                            als Pädagoge das Kind nicht erreicht?
immer einfach. „Die Nachbarskinder                             Während manche Kollegen klagen
lernen schon Bruchrechnen, wieso                               über die Mühen, die ein Unterricht mit
machen Sie das nicht?“ Das ist eine                            sich bringt, der allen gerecht werden
häufige Frage, die sie hört. Oder: „Im                         soll, kann sich Otto gar nichts anderes
Rahmenplan steht, dass die Kinder
schon bis 1000 rechnen können sollen –      „Ich bringe        mehr vorstellen: „Der Beruf ist doch
                                                               so viel erfüllender, wenn man merkt,

                                            nicht bei,
wieso rechnet meiner nur bis 100?“                             dass man etwas bewegt.“
„Doch was nutzt es einem Kind, wenn                                    Einmal in seiner Gymnasialzeit
ich versuche, ihm Bruchrechnen                                 wollte er es wissen und evaluierte
beizubringen, wenn ihm die Grundla-
gen fehlen?“, fragt Mangel.
                                            das Kind bringt    seinen Unterricht in Biologie. Er schrieb
                                                                einen Multiple-Choice-Test über
        In der Pause sitzt sie gemein-
sam mit Wolfram Otto im Rektorat, ein
                                            sich etwas         den Stoff des Schuljahres. „Es war er-
                                                               nüchternd, wie wenig hängen ge-
drahtiger Mann mit grauen Haaren
in Sport-Outfit, und bespricht die          bei – und ich      blieben ist.“ Und das trotz handlungs-
                                                               orientierten Unterrichts. Der Haken

                                            bin der Helfer.“
nächsten Schritte. Die beiden teilen                           war aus seiner Sicht, dass alle gleich-
sich die Organisation der Klassen                              zeitig das Gleiche lernen mussten.
18                    Reportage                                                                         Robert Bosch
                                                                                                            Stiftung

„Aber Lernen funktioniert nur, wenn         Kinder zu seinen Füßen hinweg, die
dich gerade etwas interessiert,             immer kleiner werden. „Hört mir jetzt
wenn du es wirklich wissen willst.“         gefälligst zu, sonst lasse ich euch
Lehrer müssen aus seiner Sicht ihre         Runden laufen!“
Rolle überdenken, wenn sie nachhalti-               Die Martinschüler empfinden
ges Lernen erreichen wollen: „Ich           Laufen offenbar nicht als Strafe. Sie
bringe nicht bei, das Kind bringt sich      rennen alle zum Aufwärmen Runden
etwas bei – und ich bin der Helfer.“        um den Platz, die Schnellen drei,
         Aber kommen alle Kinder mit        die Langsameren zwei. Ganz vorne
dieser Freiheit klar, jeden Tag selbst zu   läuft ein Junge mit einem Shirt mit
entscheiden, was sie gerade interes-        der Aufschrift „Landeskader Schwimm-
siert? Überfordert das nicht manche?        verband“, er überrundet Paul und        Kopfüber
„Manche können mit der Freiheit             Luis, die die ganze Zeit über Fußball   Schülerinnen beim
nicht, die brauchen Struktur“, sagt                                                 Sport. Auch hier
                                            quatschen und kurz vor Ende ihrer
                                                                                    wollen die Lehrer
Christine Mangel. Die kriegen sie dann      zweiten Runde ein Kind im Roll-
                                                                                    motivieren –
auch in der Martinschule. „Aber nur         stuhl auf dessen erster Runde ein-      mit Spaß und der
weil manche Struktur brauchen, muss         holen – doch anstatt vorbeizurennen,    Freiheit, selbst
man doch nicht alle anketten.“              schieben sie ein bisschen an.           zu entscheiden.
         Als Wolfram Otto im Dauerlauf
um die Ecke des Sportplatzes biegt,
sieht er Piet, den Sechstklässler,
der sich morgens nicht von seinem
Ring trennen wollte. Er wirkt ein
wenig verloren und tritt immer wieder
gegen den Zaun des Sportplatzes.
Als er Otto sieht, tritt er noch einmal,
doch dann läuft er auf den Lehrer
zu und wirft ihm die Arme um den Hals.
„Wollen wir Fußball spielen?“,
fragt Otto. „Jaaaa“, ruft Piet und rennt
voraus zum Sportplatz. Dort fällt er
gleich noch einem Lehrer um den Hals,
doch der stellt den Schüler kurzer-
hand wieder auf den Boden, hält ihn
am langen Arm von sich fern und
schaut irritiert. Nicht jeder Lehrer
kommt mit dem körperlichen Einsatz
klar, den der Beruf an der Martin-
schule mit sich bringt. Und doch ist
er Alltag an dieser Schule, die sich auf
diesen Umgang mit unbedingter
Kooperation unter den Kollegen einge-
stellt hat. Das wird kurz darauf klar,
als sich zwei Jungs um einen Ball
streiten, sie schubsen einander, dann
holt einer aus. Eine Inklusionshelferin
nimmt ihn in den Arm, erst wirkt
es wie ein weiterer Kampf, der Schüler
versucht freizukommen, doch die
Lehrerin hält ihn mit beiden Armen
und all ihrer Kraft fest. Dann beginnt
er, in ihren Armen zu weinen, legt
den Kopf an ihre Schulter, „aber ich
wollte doch den Ball“. Sie tröstet
ihn und schlägt vor, dass sich die beiden
abwechseln.
         Auf dem Nachbarplatz schreit
sich ein Sportlehrer einer anderen
Schule die Lunge aus dem Leib, seine
Stimme überschlägt sich, sie rauscht
wie ein Tornado über die Köpfe der
DAS MAGAZIN
3.18
                                                 Interview                     19

       INTERVIEW
 Alexandra Wolters

     ILLUSTRATION
                     Was ist gute
                     Schule?
   Stefan Mosebach

Ein Gespräch mit Hans Anand Pant, Bildungs-   Herr Pant, was hat Sie an dem
                                              diesjährigen Schulpreisgewinner,

forscher und Geschäftsführer der Deutschen    der Martinschule in Greifswald,
                                              besonders beeindruckt?

Schulakademie, über die Krise des Systems     Die Schule geht mit einem beispiel-
                                              losen Selbstverständnis mit Menschen
                                              mit körperlichen und geistigen
und die Impulse des Deutschen Schulpreises.   Beeinträchtigungen um. Sie sagt: Ja,
                                              diese Schülerinnen und Schüler
                                              sind manchmal laut und unkontrol-
                                              liert. Aber die Martinschule schafft
                                              es, diesen oft schamhaft versteckten
                                              Teil der Gesellschaft nicht nur
                                              zu integrieren, sondern ihn auch als
                                              Bereicherung zu sehen.

                                              Wie schafft die Schule das?
                                              Das Kollegium hat eine eingespielte
                                              Routine und ein sehr feinfühliges
                                              Sensorium dafür, ob sich gerade etwas
                                              im Unterricht anbahnt, was stören
                                              könnte. Beispiel: Wenn ein Kind mit
20                    Interview                                                                 Robert Bosch
                                                                                                    Stiftung

einer geistigen Entwicklungsbeein-
trächtigung plötzlich laut wird,
ist sofort ein Blickkontakt zwischen
Lehrkraft und den entsprechen-
den Helferpersonen da, die dann
„übernehmen“.

Viele der Schulpreis-Schulen
hatten eine Krise, die sie in einen
nachhaltigen Entwicklungsprozess
gebracht hat.
Ich bin überzeugt, dass krisenhafte
Ausgangsmomente sehr wichtig für
eine Weiterentwicklung sind.
Und Probleme treffen häufig nicht
die Elite-Schulen, sondern ganz
besonders die, die ohnehin schon
in einer schwierigen Umgebung
arbeiten. Am liebsten würde ich es
Schulen ermöglichen, dass sie
eine Krise quasi simulieren können
und dies dann als Entwicklungsimpuls
nutzen. Es geht darum, sich syste-
matisch gemeinsam auf einen Selbst-
vergewisserungsprozess einzu-
lassen, und der heißt Bestandsauf-
nahme und Reflexion.

Wo liegen derzeit die größten
Probleme unserer Schulen und
unseres Schulsystems?
Die Balance zwischen der Autonomie
einer Schule und dem, was vorgege-
ben wird, fehlt oft. Ich bin kein Sozial-
romantiker, der glaubt, wenn wir
die Schulen nur machen ließen, werde
schon alles gut. Aber wir müssen                                    Aufgaben, die Lehrerinnen und
systematisch für co-konstruktive Pro-                               Lehrer heute haben, ist das eine völlig
zesse werben. Alle wichtigen Akteure                                ineffiziente Arbeitsweise.


einer Schule müssen sich immer
wieder an einen Tisch setzen, um                                    Es herrscht Mangel an Bildungskräf-
gemeinsam nach der besten Lösung                                    ten, Lehrer sollen zudem Kinder
für eine Situation, ein Problem                                     aus Zuwandererfamilien integrieren
oder eine Veränderung zu suchen.                                    und die Inklusion vorantreiben.


                                                                  Wie überzeugen Sie diese Lehrer,
Was hindert Schulen und Länder              Hans Anand Pant
                                                                    umzudenken?
daran?                                      ist Professor an der    Um die Lehrkräfte vom Nutzen der
Die Strukturen müssen stärker               Humboldt-Univer-        Teamarbeit zu überzeugen, müssen
überdacht werden. Heute gehen etwa          sität Berlin und un-    wir auf der Ebene von Haltung und
50 Prozent eines Jahrgangs auf das          tersucht die Frage,     Mentalität ansetzen und ganz gezielt
                                            wie empirische Ver-
Gymnasium. Die Zeiten sind vorbei, in                               Coaching anbieten. Langfristig
                                            fahren für Schulen,
denen irgendeine Schulart nicht                                     muss die Lehrerausbildung massiv
                                            Bildungsverwaltun-
mit Vielfalt zu tun hat – Heterogenität     gen und Bildungspo-     verändert werden. Bislang kommt das
ist überall. Wenn man das auch in           litik nutzbar gemacht   Thema Kooperation dort praktisch
der Lehrerbildung anerkennt und es          werden können.          nicht vor. Wir sollten an den Universi-
schafft, dass sich alle mit Integrations-   Er verantwortet zu-     täten modernste pädagogische
                                            dem das Programm
und Inklusionsthemen auskennen,                                     und didaktische Methoden lehren.
                                            der Deutschen
wäre ein großer Schritt getan. Ein
                                            Schulakademie und
weiteres Problem: Fast jede zweite          ist Mitglied der        Wie sähe das in der Zukunft aus?
Lehrkraft plant ihren Unterricht lieber     Jury des Deutschen      Meine Vision einer guten Schule ist
alleine als im Team. Bei der Vielfalt an    Schulpreises.           eine Schule, die individualisierte
DAS MAGAZIN
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                                                             anstreben. Dort gibt es aber auch eine     Lehrkräften und Schulleiterinnen
                                                             ausgeprägte Hierarchiegläubigkeit          und -leitern zu sprechen. Für die
                                                             und strenge Auslese, Schultage mit         Studierenden ist das eine tolle Ausbil-
                                                             15 Stunden und eine hohe Suizidrate        dungssituation. Und für die gestan-
                                                             unter Schülern. Wollen wir das?            denen Lehrkräfte vor Ort eine gute
                                                                                                        Gelegenheit zur Reflexion.
                                                             Aber dennoch schneiden andere
                                                             Länder besser ab, auch in der              Sie betonen, dass es keine allge-
                                                             Kooperation zwischen Lehrern und           meingültigen Rezepte für eine gute
                                                             Schülern.                                  Schule gibt. Haben Sie trotzdem
                                                             Ich denke schon, dass man sich             etwas entdeckt, was gute Schulen
                                                             mit einem intelligenten Blick für die      gemeinsam haben?
                                                             Rahmenbedingungen im Einzelnen             Die guten Schulen, die ich besuchen
                                                             durchaus ein Modell ansehen und            durfte, haben in der Regel ein sehr
                                                             daraus lernen kann. Aber ich glaube        gutes Schulklima, auch im Kollegium –
                                                             nicht, dass wir einfach das Schul-         und sie bemühen sich darum. In
                                                             system eines anderen Landes über-          guten Schulen können Lehrkräfte bei
                                                             nehmen können. Auch nicht in               der Schulentwicklung mitentschei-
                                                             größeren Teilen. Wir müssen uns            den und können so Leitungsqualitäten
                                                             immer fragen: Wie können wir das           bei sich entdecken und einsetzen.
                                                             in 16 Ländern umsetzen?                    Die Lehrer fühlen sich in ihrer Profes-
                                                                                                        sionalität ernst genommen und
                                                             Sind die föderalen Strukturen ein          werden nicht zum Befehlsempfänger
                                                             Grund, warum sich unser Schulsystem        der Schulleitung. Partizipation sehe
                                                             so langsam entwickelt und Reformen         ich als ein Geheimnis, das eine ganze
                                                             so schwierig umzusetzen sind?              Schulorganisation verändern kann.
                                                             Sicher auch wegen unserer föderalen        Die Schulen sind kooperativ in multi-
                                                             Bildungsstruktur ist unser Schul-          professionellen Teamstrukturen
                                                             und Bildungssystem oft wie ein sehr        unterwegs. Und sie arbeiten mit den
                                                             großer, träger Tanker. Um ihm eine         Schülern so individuell wie möglich.
                                                             andere Richtung zu geben, braucht es
                                                             viele kleine Lotsenboote. Allerdings       Was heißt das genau?
                                                             sind die Verharrungstendenzen in den       Die von uns ausgezeichneten Schulen
                                                             Strukturen unserer Bildungsverwal-         denken bei ihren Schülern in Lebens-
                                                             tung und der Bildungspolitik nicht zu      läufen und nicht nur in einer einzelnen
                                                             unterschätzen. Die Gründe dafür            Etappe. Sie schauen sich genau an,
                     Lehr- und Lernangebote macht. Alle      sind oft trivial, denn an jeder Verände-   woher die Kinder kommen, was sie mit-
                     sollen sich mit allen Voraussetzungen   rung hängen Stellen, und zwar in der       bringen. Für diese Schulen endet
                     in allen Bildungsetappen gut auf-       Regel die von Beamtinnen und Beam-         der Blick auch nicht mit dem Ende der
                     gehoben fühlen, entsprechend ihrer      ten. Ständige Impulse von „unten“, also    Schullaufbahn. Sie bemühen sich
                     Potenziale gefördert werden und         von eigensinnigen Schulen, halte ich       darum, dass ihre Schüler später gut in
                     dabei mit viel Spaß lernen. Das würde   deshalb für unersetzlich. Der Deutsche     berufsbildende oder berufliche An-
                     mir reichen. Zudem sollten wir die      Schulpreis und die Deutsche Schulaka-      schlüsse kommen. Außerdem sehen
                     Integrationskraft von Schulen für die   demie sind mit ihren Beispielen aus        diese Schulen sich nicht in einer Blase,
                     Gesellschaft, zum Beispiel durch        der Praxis Vorbild und auch Mahnung        sondern sind in Netzwerken organi-
                     mehr und bessere Demokratiebildung,     für ein träges System.                     siert, sind in regionalen Bildungsland-
                     nicht aus dem Blick verlieren. Ich                                                 schaften aktiv und kennen nahezu
                     sage immer etwas polemisch, es liegt    Wie können möglichst viele                 alle relevanten Angebote im Kiez.
                     nicht am fehlenden guten Mathe-         Schulen vom Wissen der Schul-              Und wenn ich die Schüler von guten
                     matikunterricht, wenn 14- bis 16-Jäh-   preis-Schulen profitieren?                 Schulen sehe, erkenne ich, dass
                     rige Asylbewerberheime anzünden.        Die Deutsche Schulakademie bietet          sie Spaß im und am Unterricht haben.
                                                             zum einen ein Hospitationsprogramm         Sie haben das Gefühl, dass sie die
                     Andere Länder schneiden im inter-       an, bei dem interessierte Lehrkräfte       Ziele, die sie sich selber stecken, auch
                     nationalen Bildungsvergleich            die ausgezeichneten Schulen besu-          erreichen können.
                     deutlich besser ab. Können wir          chen. Zum anderen haben wir mit allen
                     daraus etwas lernen?                    Preisträgerschulen ein Netzwerk            Herr Pant, vielen Dank für das
                     Da bin ich grundsätzlich skeptisch.     aufgebaut, das Transferangebote ent-       Gespräch.
Foto: David Weyand

                     Wenn wir uns nur an den besten          wickelt und durchführt. Und mit
                     Ergebnissen der Leistungsstudien        unserem Programm Lernreise schi-
                     orientieren würden, müsste man ein      cken wir Lehramtsstudierende an die
                     Bildungssystem wie in Shanghai          Preisträgerschulen, um dort mit den
22                       Infografik                                                                                               Robert Bosch
                                                                                                                                      Stiftung

So verbreitet sich gute Schulpraxis
In Deutschland gibt es ca. 40.000 öffentliche und private Schulen,        in Deutschland beizutragen. Jedes Jahr werden herausragende Schulen
sie verteilen sich auf verschiedene Schulformen und 16 Bundesländer.      prämiert. So ist ein Netzwerk von Preisträgerschulen entstanden,
Wie schafft man es da, Praxiskonzepte, die sich an einer Schule           das sich stetig erweitert. Die Praxiskonzepte dieser Schulen werden
bewährt haben, für alle anderen Schulen sichtbar und wirksam zu           unter anderem von der Deutschen Schulakademie untersucht, auf-
machen? Das System rund um den Deutschen Schulpreis hat genau das         bereitet und schließlich über Fortbildungen, Publikationen und das
zum Ziel. Der Deutsche Schulpreis wurde 2006 von der Robert Bosch         Deutsche Schulportal wieder allen Schulen verfügbar gemacht.
Stiftung und der Heidehof Stiftung gegründet, um zur Schulentwicklung     Ein Kreislauf, in dem sich gute Schulpraxis verstärkt und verbreitet.

                                                     Netzwerk der ausgezeichneten Schulen
                                                In den derzeit 73 vom Deutschen Schulpreis ausge-
                                           zeichneten Schulen gibt es viele Beispiele guter Schulpraxis,
                                                   von denen andere Schulen profitieren können.

    Die sechs
Qualitätsbereiche

                                                                                                                                                  Infografik: Anton Hallmann/Sepia | Text und Recherche: Martin Petersen
einer guten Schule

 • Leistung
                                                                                  Preisträger-
 • Umgang mit Vielfalt
                                                                                    schulen
 • Unterrichtsqualität
 • Verantwortung
 • Schulklima und                Entwicklungsprogramm                                                                           Feedback
   Schulleben
 • Schule als lernende
   Organisation

                                                                  Der Deutsche Schulpreis
                                                           prämiert jedes Jahr sechs exzellente Schulen auf
                                                        Grundlage von sechs Qualitätsbereichen (siehe Kas-
                                                      ten links). Für den mit insgesamt 270.000 Euro dotierten
                                                        Wettbewerb können sich alle Schulen Deutschlands
                                                      und Deutsche Auslandsschulen bewerben. Alle Bewerber
                                                            erhalten ein individuelles Feedback und bis zu
                                                           20 Nicht-Preisträger werden in ein zweijähriges
                                                                 Entwicklungsprogramm aufgenommen.
DAS MAGAZIN
       3.18
                                                                                                                                                               23

                                                                                                                      Forschungs-
                                                                                                                  programm „Wie geht
                                                                                                                     gute Schule?“
Praxiskonzepte                                                                                             Das Forschungsprogramm untersucht
                                                                                                            die ausgezeichneten Praxiskonzepte.
                                                                                                            Sind sie wirklich so gut? Was sind die
                                                                                                               Bedingungen für ihr Gelingen?
                                                                                                           Wissenschaftler können sich mit eige-
                                                                                                           nen Forschungsvorhaben bewerben.
                                                                                                              Die Ergebnisse werden später
                                                                                                                         publiziert.

                                                                               Die Deutsche
                                                                              Schulakademie
                                                                    Die ausgezeichneten Praxiskonzepte wer-
                                                                      den an der Deutschen Schulakademie
 Praxiskonzepte                                                   von Schulleitern, Lehrern und Wissenschaft-
                                                                    lern aufbereitet und als Fortbildungs-
                                                                 angebote zurück in die Breite der Schul-
                                                                 landschaft getragen.

                                                                                                                                               Publikationen

                                       Das
                               Deutsche Schulportal
                              Auf dem Deutschen Schulportal
                       werden die ausgezeichneten Praxiskonzepte                                                Fortbildungen
                     digital aufbereitet der Öffentlichkeit präsentiert:
Praxiskonzepte       In Film-, Ton- und Textbeiträgen dienen sie dort
                     als Inspiration für alle interessierten Pädagogen.
                     Außerdem finden diese dort aktuelle Nachrichten            Inspiration
                          zum Thema Schule und Bildungspolitik.

                                                                  Information

                                                                            Rund 40.000 Schulen in Deutschland und
                                                                                140 Deutsche Auslandsschulen
Robert Bosch
                                                           Stiftung

                                Heike Schaumburg
                                ist promovierte
                                Erziehungswissen-
                                schaftlerin und
                                Psychologin. Sie
                                forscht an der
                                Humboldt-
                                Universität Berlin
                                unter anderem über
                                die Integration
                                digitaler Medien
                                in den Schulunter-
                                richt und ist
                                Co-Autorin einer
                                neuen Studie zum
                                personalisierten
                                Lernen mit digitalen
                                Medien, die
                                die Robert Bosch
                                Stiftung heraus-
                                gegeben hat.

    GESPRÄCH
Martin Petersen

        FOTOS
                  Digital ist
                  besser?
   Daniel Hofer
DAS MAGAZIN
3.18
                                                         Debatte           25

Mit dem Digitalpakt will die Bundesregierung Schulen „fit für das
digitale Zeitalter“ machen. Was bedeutet das für die Praxis? Die Lehrer
werden nicht von Computern ersetzt, sagt die Erziehungswissen-
schaftlerin Heike Schaumburg – doch die Schulleiterin Ulrike Kegler ist
sicher, dass sich die Rolle der Lehrer grundlegend verändert.

                                                  Ulrike Kegler
                                                  ist Lehrerin, seit
                                                  1995 Schulleiterin
                                                  und hat drei
                                                  Bücher veröffentlicht,
                                                  die gute Schule
                                                  zum Thema haben.
                                                  Ihre Schule, die
                                                  Montessori Ober-
                                                  schule Potsdam,
                                                  wurde 2007 mit dem
                                                  Deutschen Schulpreis
                                                  ausgezeichnet.
26                  Debatte                                                                                   Robert Bosch
                                                                                                                  Stiftung

„Medienabstinenz ist nicht                                                        E-Learning ist in anderen Ländern in
                                                                                  einer Weise verbreitet, sodass die

der richtige Weg.“
                                                                                  Schüler potenziell gar nicht immer zur
                                                                                  Schule gehen müssten. Dass man
                                                                                  bestimmte Dinge zu Hause macht und
Heike Schaumburg                                                                  die Schule wäre eher der Ort, an dem
                                                                                  man kooperiert und sich austauscht
                                                                                  und vielleicht auch persönliches
Frau Kegler, sind digitale Medien ein   satzes in der Schule stammt und           Feedback bekommt. Die alte Lehrer-
Segen oder ein Fluch für die Schulen?   zurzeit wieder an Aktualität gewinnt,     rolle, dass die Lehrer das Wissen
Kegler: Ich würde sagen weder noch:     ist, Schülern individualisierte Lern-     haben, das sie dann vermitteln, ist
Es kommt auf den Content an, also       wege zu erlauben und individualisier-     eigentlich schon seit ein paar Jahren
darauf, was man damit macht. Es kann    te Rückmeldungen zu ihren Lern-           vorbei. Lehrerinnen und Lehrer
eine hervorragende Nutzung von          prozessen zu geben. Hierbei können        könnten zukünftig eher inspirierend
digitalen Medien geben. Aber so, wie    Computer Lehrkräfte wunderbar             und beratend tätig sein und auch
ich es im Moment erlebe, sind wir       unterstützen, denn eine Lehrkraft         einzelne Wissenssegmente wieder
in Deutschland noch sehr zurück im      wird es nicht schaffen, allen, wenn sie   miteinander verbinden oder auch
Vergleich zu anderen westeuropä­        es brauchen, überall gerecht zu wer-      auf interessante Querverbindungen
ischen oder reichen Ländern.            den. Ein Versprechen von damals halte     aufmerksam machen.
                                        ich aber für falsch: dass Computer die
Frau Schaumburg, Computer werden        Lehrer vollständig ersetzen könnten.      Die reine Wissensvermittlung
ja schon länger an Schulen ein-                                                   wird in Zukunft immer mehr über
gesetzt. Worum geht es denn heute,      Beim Thema individualisiertes             Programme passieren?
wenn wir vom Lernen mit digitalen       Lernen mit digitalen Medien haben         Kegler: Ja, das können Filme zum
Medien sprechen?                        viele – ich auch – erst einmal das        Beispiel großartig: Wenn man sich
Schaumburg: Die Kinder haben zwar       Bild von einzelnen Schülern im            die Französische Revolution im
gelernt, im Informatikunterricht        Kopf, die mit einem Gerät alleine         Spielfilm anguckt, dann hat man ein
mit dem Computer umzugehen, aber        arbeiten. Ist das falsch?                 Gefühl für die Zeit. Das reicht
sie wussten eigentlich nicht, wozu      Kegler: Das habe ich gerade gesehen,      alleine zum Verständnis nicht aus,
sie dieses Wissen gebrauchen können.    in Dänemark, in einer „paperless          aber es ist ein Einstieg.
Heute hält man es für sinnvoller,       school“: Ein Kollege, auch ein Schul-
Medienkompetenzen integriert in die     leiter, nannte das ein totalitäres        Also doch das digitale Klassenzim-
Unterrichtsfächer zu vermitteln.        System. Es geht alles nur über Technik    mer, in dem alle vorm Bildschirm
Eine weitere Grundidee, die bereits     und es gibt eigentlich keine Begeg-       sitzen und gucken?
aus den Anfängen des Computerein-       nung, bei der nicht Bildschirme           Kegler: Nein, im Gegenteil. Mit dem
                                        aufgeklappt sind.                         Wissen, das jetzt allen Menschen zur
                                                                                  Verfügung steht, muss der Lehrer
                                        Ist das die Schule der Zukunft?           umgehen und versuchen, daraus was
                                        Kegler: Nein, für mich überhaupt nicht!   zu machen. Das dreht die gesamte
                                        Für mich ist das Entscheidende in         Schule um, das Prinzip des „inverted“
                                        der Schule das Gespräch, das Hören,       oder „flipped classroom“: Zu Hause
                                        Zuhören und Sprechen. Wir setzen          guck ich mir an, was zu lernen ist, und
                                        ein digitales Medium immer dann ein,      ich gehe in die Schule, um zu üben.
                                        wenn es gebraucht wird. Besonders         Also genau andersherum, als es heute
                                        inspirierend finde ich, wenn man          ist. Das kommt in den nächsten
                                        gemeinsam Texte schreibt und ver-         Jahren. Dann sollte die Schule, wie sie
                                        ändert und alle sehen, dass und wie       heute ist, nicht mehr denkbar sein.
                                        man sich beteiligt. Da gibt es noch       Das ist meine These.
                                        viele andere Methoden. Auch indivi-       Schaumburg: Was man sich bei solchen
                                        duelles Feedback: In Finnland habe ich    Konzepten grundsätzlich fragen muss,
                                        schon nach der ersten Pisa-Studie         ist, werden alle Schüler das können?
                                        gesehen, dass die Lehrer alle mit ihren   Das werden sie nicht ohne Weiteres.
                                        Schülern verbunden waren und              Nicht jedes Kind kann sich zu Hause
                                        ganz genau gucken konnten und sie         hinsetzen und sich Lerninhalte einfach
                                        für persönliche Beratung nicht immer      selbstständig aneignen. Und genau
                                        treffen mussten. Dieses ganze             das ist die Rolle der Schule: zu gucken,
DAS MAGAZIN
3.18
                                                                                                                          27

                                         entsteht – einige verstehen die              entwickelt, dass die Texte dort ge-
                                         Zusammenhänge und haben Unter-               meinsam geschrieben wurden.
                                         stützung, und andere stehen da               Schaumburg: Ich frage mich zuneh-
                                         und konsumieren passiv YouTube-              mend, ob diese Computerskepsis
                                         Videos – , das ist das große Problem.        im deutschen Bildungssystem nicht
                                         Schaumburg: Ehrlich gesagt halte             ein Stück weit gar nicht so schlecht
                                         ich solche Horrorszenarien für               ist. Weil sie uns auch davor bewahrt,
                                         reichlich übertrieben und ich glaube         leichtfertig auf jeden Digitalzug zu
                                         auch nicht, dass Medienabstinenz der         springen. Wir müssen dahin kommen,
                                         richtige Weg ist. Aber es ist richtig,       dass es in der Diskussion stärker um
                                         dass in der Schule ein reflektierter und     Qualität geht. Ich finde den Ansatz,
                                         verantwortungsvoller Umgang mit              den Sie gerade nannten, sehr gut, zu
                                         Medien vermittelt werden muss. Dazu          sagen, man muss den Lehrern auch
                                         gehört zum Beispiel auch zu verste-          zeigen, wo der Mehrwert liegt. Wer das
                                         hen, dass hinter allem, was im Internet      verstanden hat, wird es dann in seinem
                                         umsonst zu sein scheint, am Ende             Unterricht auch einsetzen. Ich glaube
                                         Geschäftsmodelle liegen. Bezogen auf         schon, dass es in deutschen Schulen
                                         die Eliten, von denen Sie gerade             teilweise eine große Beharrungsfähig-
                                         gesprochen haben, sehe ich die Her-          keit und eine geringe Innovations-
                                         ausforderung, Bildungsgerechtigkeit          bereitschaft gibt.
wie können wir die Kinder in die Lage    auch unter den Bedingungen der               Kegler: Ich habe das Gefühl, dass über-
versetzen, dass sie lernen, mit dieser   Digitalisierung herzustellen. Und wer        haupt andere Methoden in Deutsch-
Informationsflut umzugehen.              sollte das tun, wenn nicht die Schulen?      land unheimlich schwer durchzuset-
Kegler: Genau: Deswegen ist die Schule                                                zen sind. Wir haben dieses drei-
der Ort, an dem das gefiltert werden     Frau Kegler, Sie sind im Austausch           gliedrige Schulsystem, andere Länder
muss. Medienkompetenz ist vor allem      mit anderen Schulleiterinnen                 haben eine gemeinsame Schule, in
erst mal Medienabstinenz. Das heißt,     und Schulleitern – wo liegen die             der die Kinder lange zusammen sind.
ich entscheide, wann ich welches         Schwierigkeiten im Einsatz von               Dadurch ist auch die Haltung der
Medium benutze und wann nicht.           digitalen Medien?                            Lehrer anders. Die müssen inklusiv
Das sollte ein bewusster Vorgang sein.   Kegler: Eine Schwierigkeit ist, dass         arbeiten, mit einer Vielfalt von
Wir wissen mittlerweile, dass Hun-       mit diesen Geräten noch wie mit              Kindern. Dieses gegliederte Schul-
derttausende Kinder in Deutschland       Fetischen umgegangen wird. Warum             system scheint in Deutschland jedoch
schon als mediensüchtig gelten.          werden die neuen Medien nicht                wie in Zement gegossen.
Juval Harari hat in seinem Buch „Homo    natürlicher in den Unterricht integ-
Deus“ eine Zukunftsvision beschrie-      riert? Weil die meisten Lehrer nicht in      Im Koalitionsvertrag der Bundesre-
ben: Die Algorithmen könnten             kreativer Weise damit umgehen kön-           gierung steht das Vorhaben, fünf
unheimlich viel beherrschen und es       nen. Das sieht man daran, dass es jetzt      Milliarden Euro in die Digitalisierung
wird eine Elite von Menschen geben,      anstelle der Tafel Smartboards gibt.         der Schulen zu investieren. Kann
die diese steuern. Ein großer Teil       Das heißt, es ist ein bisschen bunter, ein   man damit die Ausstattung auf einen
der Menschen wird nur „abgefüttert“      bisschen leuchtender, doch alle gucken       guten Weg bringen?
mit dem, was so im Markt ist.            wieder wie in der alten Kirchenord-          Schaumburg: Das ist totale Augenwi-
Die Ungerechtigkeit, die dadurch         nung in eine Richtung. Damit haben wir       scherei, dieses Geld reicht nicht
                                         noch kein individualisiertes Lernen.         ansatzweise, um die Schulen so aus-
                                         Da ist noch ganz viel Musik drin, die nur    zustatten, dass sie anschlussfähig

„Mit diesen                              annähernd gehört wird.                       wären an das, was in anderen westeu-
                                                                                      ropäischen Ländern los ist. Was immer

Geräten                                  Wie motivieren Sie denn Ihre
                                         Kolleginnen und Kollegen zum
                                                                                      vergessen wird bei solchen Initiativen:
                                                                                      Es ist nicht mit einer einmaligen Inves-

wird wie mit
                                         kreativen Einsatz digitaler Medien?          tition getan, sondern man hat lang-
                                         Kegler: Ich arbeite sehr daran, zusam-       fristige Kosten. Man braucht zum

Fetischen
                                         men mit den jüngeren Kollegen,               Beispiel in einer Schule, genau wie in
                                         dass wir auch als Lehrer Freude daran        jedem anderen Unternehmen, je-
                                         haben, Neues zu lernen. Wir machen           manden, der sich um die Hardware
 umgegangen.“                            einige Konferenzen mit kooperativen
                                         digitalen Medien und wir haben
                                                                                      und um die Software kümmert, und
                                                                                      das kann keine Lehrkraft sein, die das
Ulrike Kegler                            unser ganzes Schulcurriculum so              in ihren Feierabendstunden macht.
DAS MAGAZIN
                          3.18
                                                                                                                  Reportage                          29

                          „Ich schreibe mir eine
                          Welt aus dem Kopf“
                          Zu Besuch in einer Weltenschreiber-Werkstatt in Esslingen,
                          wo sich ein Schriftsteller und eine Deutschlehrerin zusammentun,
                          um Schüler für literarisches Schreiben zu begeistern.

                          „Die Kinder haben sogar extra gefegt      „Hallo zusammen, mein Name ist              getingelt, erzählt Elsäßer von seiner,
                          und aufgeräumt“, flüstert die Deutsch-    Tobias Elsäßer, ich bin Buchautor und       wie er sagt, etwas peinlichen Phase.
                          lehrerin Kathrin Höss ihrem Gast          habe erst mit etwa 14 Jahren ange-          „Irgendwann hatte ich so viel Stoff, so
                          zu, während sie über den hellen Schul-    fangen, Bücher zu lesen.“ Ein leichtes      viele Erlebnisse im Kopf. Das musste
                          flur gehen. Kein Papierschnipsel          Raunen geht durch den Raum, der             raus. Also habe ich mein erstes Buch ge-
                          liegt auf dem blauen Linoleumboden,       eine oder andere schüttelt ungläubig        schrieben.“ Daniel nickt verständ-
                          als sie den Klassenraum betreten,         den Kopf. „Mein Vater hielt nicht           nisvoll. „Ich habe mir auch schon viel
                          die Taschen sind akkurat unter den        viel vom Lesen. Ich sollte lieber Auf-      aus dem Kopf geschrieben“, sagt
                          Tischen verstaut und die Namens-          gaben im Haushalt übernehmen.               der Junge und kritzelt mit seinem Blei-
                          schilder – extra für den Gast noch ein-   Und in Rechtschreibung war ich auch         stift ein paar feine Linien auf eine
                          mal hervorgekramt – stehen bereit.        ziemlich schlecht.“                         leere Heftseite. „Was stellt ihr euch denn
                                  Es ist der zweite Dienstag               Elsäßer bildet zusammen mit          unter Weltenschreibern vor?“, fragt
                          nach den Sommerferien, die große Uhr      Höss eines von bundesweit 15 Lehr-          der Autor nach seiner Vorstellungs-
                          über der Klassentür zeigt 14:15 Uhr.      er-Autoren-Tandems, die im Rahmen           runde. In der ersten Reihe meldet
                          In der Schule Innenstadt in Esslingen     des Programms Weltenschreiber               sich Georg. „Das sind Leute, die sagen:
                          bei Stuttgart beginnen die letzten        Kindern und Jugendlichen Literatur          Ich schreibe mir eine Welt aus dem
                          beiden Unterrichtsstunden des Tages.      vermitteln sollen. Heute geht es los,       Kopf“, meint er.
                          Alle Augen sind auf Tobias Elsäßer        danach wird er die Schüler das                       Später werden Daniel und
                          gerichtet, der sich lässig in Jeans,      ganze Schuljahr über immer wieder           Rebecca noch im Klassenraum sitzen
                          schwarzem Shirt und Turnschuhen ans       treffen und mit ihnen arbeiten.             und über die erste Begegnung mit
                          Lehrerpult lehnt. Die Schülerinnen               Als Erstes packt Elsäßer             dem Schriftsteller reden. Wie viele Kin-
                          und Schüler der Lerngruppe 7a haben       seine eigene Schulgeschichte aus.           der der 7a lesen sie gerne und oft,
                          den 45-Jährigen gespannt erwartet.        Er spricht schnell mit kräftiger, deut-     Daniel liebt zum Beispiel Fantasy-Seri-
                                                                    licher Stimme, es klingt fast wie           en wie Warrior Cats, klaut seinem
                                                                    ein Rap. Still und aufmerksam verfol-       älteren Bruder auch schon mal Bücher
                          Glücksbuch­                               gen die Zwölf- bis Vierzehnjährigen         aus dem Schrank. Um Rebecca ist
                          In ihre Bücher schreiben                  den Auftritt des Schriftstellers, der mit   es geschehen, wenn in den Büchern
                          die Kinder Gedanken und                   großen Schritten den Klassenraum            Pferde eine Rolle spielen. Beide
Text: Alexandra Wolters

                          Gefühle, kleben                           durchschreitet, beim Reden die Arme         schreiben auch gerne, sogar zusam-
                          Fundstücke ein oder
                                                                    hin- und herschwingt, sich dreht            men. „Oft spielen wir etwas und
                          zeichnen etwas. „Daraus
                          können spannende                          und wendet. Nach der Schule sei er mit      schreiben danach aus unseren ver-
                          Geschichten entstehen“,                   seiner Band – oder eher Boygroup –          schiedenen Sichten dazu etwas auf“,
                          sagt Autor Elsäßer.                       ziemlich erfolgreich durch die Lande        erzählt Rebecca mit leiser Stimme
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