Das Magazin 3.18 - Robert Bosch Stiftung
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Das Magazin 3.18 Lernen Das Magazin Im eigenen Tempo Eine Schule in Greifswald meistert Inklusion Digital ist besser? Eine Debatte zur Zukunft des Lernens Die Maschine diskriminiert Über den Umgang mit Lernen künstlicher Intelligenz 3.18
DAS MAGAZIN 3.18 Editorial 3 Liebe Leserin, lieber Leser, neurobiologisch sind die Vorgänge im Gehirn, die beim Lernen ablaufen, recht gut erforscht. Menschen verbinden Sinnes- eindrücke miteinander und mit gespeicherten Erfahrungen. Dabei entstehen neuronale Verknüpfungen und die bereits vor- handenen werden stärker. Wer lernt, baut die Datenwege in seinem Gehirn aus, vom Trampelpfad zur Straße oder Auto- bahn. Diese Erkenntnis der Biologie bestätigt die Erfahrungen von Pädagogen: Eine Information kurz googeln bringt noch keinen Lerneffekt. Dafür muss man sich eine Erkenntnis selbst erarbeiten und das Erlernte immer wieder anwenden. Als Stiftung wollen wir mit vielen unserer Programme solche wirksamen Lernerfahrungen ermöglichen. Einige dieser Programme stellen wir Ihnen in diesem Heft vor und nehmen Sie mit: nach Kalifornien ins Thomas Mann House, das gerade zu einem Ort des Austauschs zu gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit wird. Oder nach Asien, wo Uni-Absol- venten aus dem deutschsprachigen Raum Unterricht geben – und dabei mindestens so viel lernen wie ihre Schüler. Einen besonderen Schwerpunkt unserer Arbeit bildet die Qualitätsentwicklung von Schule, denn eine gute Schule trägt entscheidend dazu bei, dass ein Kind sein Potenzial und seine Persönlichkeit entfalten kann. Der von unserer Stiftung ins Leben gerufene Deutsche Schulpreis zeigt, dass es viele Schulen gibt, die dieser Aufgabe in exzellenter Weise gerecht werden. Für den Transfer ihrer guten Konzepte an andere Schulen gibt es inzwischen ein breites Angebot. So wollen wir dazu beitragen, den Lernprozess im System Schule zu befördern – und dabei nachhaltige Spuren hinterlassen. Viel Freude beim Lesen! Joachim Rogall, Uta-Micaela Dürig, Sandra Breka, Hans-Werner Cieslik Geschäftsführung der Robert Bosch Stiftung
4 Inhalt Robert Bosch Stiftung 10 12 24 06 12 22 Fakten: So lernen Lernen für alle: Infografik: Wie der Babys, Schulkinder, In der Martinschule in Deutsche Schulpreis zur Erwachsene – Greifswald lernt jedes Entwicklung aller und Maschinen Kind in seiner eigenen Schulen beitragen kann Geschwindigkeit. 08 Wie ist das zu schaffen? 24 Anfangen: Jonas Debatte: Wie kann die Budkiewitz erzählt 19 Digitalisierung in von seinem herausfor- Gute Schule: Ein Ge den Schulen zur Erfolgs denden Anfang spräch mit dem Bildungs geschichte werden? als Deutschlehrer in forscher Anand Pant über Südkorea unser Bildungssystem, 28 die Lehrerausbildung und Literatur lernen: 10 die Schule von morgen Wir begleiten einen Momentaufnahme: Kinderbuchautor und Voneinander lernen eine Deutschlehrerin, in einer berufsüber- die Schüler für greifenden Aus- literarisches Schreiben bildungseinheit für begeistern wollen Pfleger und Ärzte
DAS MAGAZIN 3.18 5 34 40 32 40 Menschenrecht Hinter den Kulissen: Der Deutsche Lernen: Wie mehr Was Jutta Allmendinger, Schulpreis zeichnet Bildung die weltweite eine der ersten Fellows im gute Schulen aus Armut massiv Thomas Mann House in und macht so die Kon- verringern könnte Los Angeles, beschäftigt zepte und Ideen dieser Schulen sicht- 34 42 bar. Auf den folgenden Lernende Maschinen: Kolumne: Seiten finden Sie Interview mit KI-Expertin 10 Fragen an unsere die Akteure dazu: Kate Crawford zu den Leserinnen und Leser Reportage aus einer Preisträgerschule S. 12 Schattenseiten der von Claudia Hach Interview mit Anand Pant S. 19 Infografik zum Deutschen Schulpreis S. 22 künstlichen Intelligenz 38 Kurz notiert: Neuig- keiten aus Projekten und Fördergebieten der Robert Bosch Stiftung Impressum HERAUSGEBER Robert Bosch Stiftung GmbH, Heidehofstraße 31, 70184 Stuttgart, magazin@bosch-stiftung.de, www.bosch-stiftung.de | GESCHÄFTSFÜHRUNG Prof. Dr. Joachim Rogall, Uta-Micaela Dürig, Sandra Breka, Dr. Hans-Werner Cieslik | VERANTWORTLICH Stefan Schott, Bereichs- leiter Kommunikation | PROJEKTLEITUNG Regina Mennig | REDAKTIONSLEITUNG Martin Petersen, Nicole Zepter VERLAG TERRITORY Content to Results GmbH, Bei den Mühren 1, 20457 Hamburg, www.territory.de | GESCHÄFTSFÜHRER Soheil Dastyari, Sandra Harzer-Kux | PUBLISHING MANAGEMENT Eva Willaschek | ART DIREKTION Maja Nieveler, Anne Stiefel | BILDREDAKTION Vanessa Zeeh | DRUCK Merkur Druck GmbH, Oststraße 49, 22844 Nor- derstedt, merkur-druck.com ISSN-NR. 1865-0910 | COVERFOTO Jonpaul Douglass
6 Fakten Quellen: Oser et. al, 1999: Lernen aus Fehlern. Zur Psychologie des negativen Wissens; Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2001:Das informelle Lernen; Romeo et. Al, 2018: Beyond the 30-Million-Word Gap: Children’s Conversational Exposure Is Associated With Language-Related Brain Fun- ction; Shakirov, 2016: Review of state-of-the-arts in artificial intelligence with application to AI safety problem; UNESCO Weltbildungsbericht 2017/18; Georg-Eckert-Institut (gei.de); Statistisches Bundesamt: Schulen auf einen Blick 2018; Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung So lernen wir Acht Facetten des Lernens – in Deutschland und weltweit. Menschen lernen aus Fehlern – auch aus solchen, die sie nur über Erzählungen oder Filme nachvollzogen haben. Künstliche neuronale Netzwerke können bereits 70 % der Aufgaben des menschlichen Gehirns ebenso gut erledigen – oder besser. Bei 53 % 753 der Studienanfänger hat mindestens Millionen ein Elternteil selbst Erwachsene weltweit einen Hochschul- können weder lesen, schreiben noch (zum Beispiel Objekte, Bilder und abschluss. rechnen. Handlungen erkennen, Sprache erkennen und verstärkendes Lernen) Der bedeutendste Faktor für die Hirnent- wicklung eines Kindes sind Dialoge. In 82% Mit dem mBook Geschichte ist 2018 erstmals ein Schulbuch des der nationalen Verfas- Jahres prämiert sungen ist das Recht auf (DIPF): Bildung in Deutschland 2018 worden, das Bildung festgeschrieben. In 55 % der Länder nicht gedruckt ist. kann dieses Recht auch eingeklagt werden.
70 % des menschlichen Lernens findet außerhalb von Bildungsinstitutionen statt. Text und Recherche: Martin Petersen | Fotos: Stocksy
Jonas Budkiewitz ist auf der Insel Usedom aufgewachsen, später ging er zum Lehramtsstudium nach Münster. Seit September 2017 ist er mit dem Lektorenprogramm in Busan in Südkorea – der 28-Jährige hat seinen Aufenthalt verlän- gert und bleibt noch ein weiteres Jahr dort.
DAS MAGAZIN 3.18 Anfangen 9 Bitte Fragen stellen Jonas Budkiewitz arbeitet als Deutschlehrer im südkoreanischen Busan. Dieser Job stellte seine Lehrideale aus Deutschland erst mal auf eine harte Probe. A Auch meine allerersten Projekte außer- Zeit zur See gefahren. Zum Schüleraus- halb der Deutschkurse sind eher ins tausch war ich in Paris, Rumänien Leere gelaufen. Einmal wollte ich und Israel, später im Auslandssemes- eine Studentenzeitung gründen, ein ter in Island und Krakau. Hier in anderes Mal einen Workshop zum Südkorea war der Neustart am schwie- Zusammentreffen unterschiedlicher rigsten. Ich war nicht automatisch Kulturen machen. Korea ist eine eingebettet in ein Netzwerk von Aus- sehr homogene Gesellschaft, sie hat tauschstudenten, ich musste mir nicht viel Erfahrung mit Andersar- selbst eins aufbauen. Ich habe ange- tigkeit. Auf dem Campus bleiben die fangen, in Kletterstudios zu gehen, einzelnen Gruppen unter sich, die die hier oft in die höheren Stockwerke Studenten aus Korea, aus China – das von Bürogebäuden hineingezimmert wollte ich thematisieren. Doch es sind. Ich habe Lokale gefunden, meldete sich kaum jemand an, das war wo ich vegetarisch essen kann, ohne natürlich erst mal enttäuschend. lange erklären zu müssen, warum. Ich frage mich seither, wie ich Interes- Mit meinen Studenten spiele ich auch se für Projekte wecken kann, bei Fußball. n der Universität in Busan bin ich der denen nicht berufliche Qualifikation Ich hoffe, dass ich in meinen erste Bosch-Lektor für Deutschunter- im Vordergrund steht, sondern Studenten Neugier wecken kann, richt, und der Anfang fühlte sich an persönliche Erfahrung. Ich habe noch dann hat meine Zeit hier etwas wie ein Sprung ins kalte Wasser. Nicht nicht das Gefühl, alles durchblickt bewirkt. Es gibt an der Uni Projekte, nur für mich, sicher auch für meine zu haben – das macht es hier so span- für die Studenten nach Deutsch- Studenten. Da gibt es ein Beispiel aus nend. Jetzt gründe ich gerade mit land reisen. Ich habe ihnen bei der einer Gruppenarbeitsstunde. Die mehreren Professorinnen ein Zent- Vorbereitung und mit Kontakten Studenten sollten zuerst zu zweit ar- rum für deutsch-koreanische Kultur- weitergeholfen. Sie waren dann in beiten, das ging gut. Als ich dann arbeit, vor Kurzem gab es schon Hamburg und haben bei meinen mit allen zusammen die Ergebnisse einen Austausch von Künstlern zwi- Eltern und ihren Nachbarn gewohnt. besprechen wollte, regte sich nie- schen Hamburg und Busan. Diese Kulturkontakte, auch dass mand. In meiner deutschen Art habe Ich mag andere Kulturen ein- meine Eltern die Leute aus meinem ich direkt nachgefragt: Wo ist das fach – vielleicht habe ich das von Umfeld in Korea kennengelernt Problem, braucht ihr noch Hilfe? Ich meinem Vater, er ist während der DDR- haben, finde ich schön. hakte mehrmals nach, aber über Minuten kam nur Schweigen, alle Bli- cke gingen zum Boden. Man merkt hier große Kulturunterschiede. Die 25 Jahre Lektorenprogramm Studenten würden mir gegenüber Text: Regina Mennig | Foto: Michael Kohls Mit dem Lektorenprogramm fördert die Robert Bosch Stiftung Uni-Absolventen aus nicht sagen, wenn sie etwas nicht ver- Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie Hochschulmitarbeiter aus China, standen haben, und sie würden mir Indonesien, Südkorea, Thailand und Vietnam, die in Asien Deutsch als Fremdsprache schon gar nicht widersprechen. Es ist unterrichten und Bildungsprojekte umsetzen. Das Lektorenprogramm wird in Ko- für sie ein Umbruch, dass da vorne operation mit MitOst e.V. durchgeführt. MitOst wurde 1996 von ehemaligen Lektoren jemand steht, der will, dass sie Fragen als Plattform für die weitere Vernetzung gegründet und ist heute Träger für zahlreiche Projekte und das Engagement von Mitgliedern und Alumni aus über 40 Ländern. stellen. Da stand ich mit meinem Das Lektorenprogramm feiert 2018/19 sein 25-jähriges Jubiläum. dialogischen Lehransatz aus Deutsch- land und kam erst mal nicht weiter.
DAS MAGAZIN 3.18 Momentaufnahme 11 Seite an Seite Sebastian Friedrich lernte während seines Medizinstudiums gemeinsam mit Pflegeauszubildenden. Es war einer meiner ersten Tage als zusammen auf Visite gegangen, aber viele Aufgaben an die Pflege, zum Medizinstudent im Praktischen Jahr nicht als Pflegeschülerin und Medizin- Beispiel das Inhalieren oder die auf der Kinderstation „Schatzinsel“ student, sondern als Team. Gemein- Kontrolle von Verbänden. Dabei ist im Freiburger St. Josefskrankenhaus. sam haben wir die Kinder und deren es wichtig, mehr über die Hinter- Der Urinbeutel wollte einfach nicht Eltern nach Problemen und Bedürf- gründe zu wissen. Warum ordnet der halten. Immer wieder lösten sich Mediziner etwas an, wieso geht die die Klebestreifen, sobald das zweijäh- rige Mädchen durch das Kranken- „Warum ordnet der Pflege so vor? Im Programm war jeden Tag eine halbe Stunde zur Reflexion zimmer lief. So habe ich am eigenen Mediziner etwas reserviert. Für mich eine ganz wichtige Leib erfahren, wie aufwendig und Erfahrung. Da kamen alle Teilnehmer zeitintensiv das Einsammeln einer an, wieso geht die und Betreuer zusammen. Gemeinsam Urinprobe sein kann. Geholfen haben wir geschaut, was in den ver- hat mir dabei Carmen, eine Pflege- Pflege so vor?“ gangenen 24 Stunden gut lief und was schülerin. Carmen und ich waren nicht. IPAPÄD war für mich wie ein Teil der IPAPÄD, der „Interprofessio- nissen gefragt. Die Untersuchungen vorgezogener Berufsstart – mit Netz nellen Ausbildungsstation in der und Behandlungen haben wir eben- und doppeltem Boden. Ich konnte Pädiatrie“. An diesem Projekt des falls zusammen durchgeführt. Dabei Verantwortung übernehmen, durfte in Zentrums für Kinder- und Jugendme- habe ich unheimlich viel gelernt, einem geschützten Raum arbeiten, dizin am Universitätsklinikum vor allem über die alltäglichen etwas ausprobieren – und auch Fehler Freiburg können Medizinstudier- praktischen Abläufe auf einer Kran- machen, ohne dass ein Patient zu ende und Pflegeschülerinnen kenstation. Darüber wissen die Schaden gekommen wäre. Denn natür- und -schüler zwei Wochen lang teil- Pflegekräfte viel mehr als wir Medi- lich wurden wir die ganze Zeit von nehmen. Carmen und ich hatten zinstudierenden – trotz jahrelangen unseren pflegerischen und ärztlichen dabei die gemeinsame Verantwortung Studiums. Weil ich mir auf der Betreuern genau beobachtet. Und über vier kleine Patientinnen und IPAPÄD viele Tätigkeiten der Pflege- konnten sie jederzeit um Rat und Hilfe Patienten. kräfte anschauen und selber aus- bitten. Seit Anfang August arbeite Jeden Morgen schnappten probieren konnte, weiß ich heute, ich nun im St. Josefskrankenhaus auf wir uns die Akten, studierten gemein- welche Konsequenzen meine Anord- einer anderen Kinderstation als sam die Laborwerte. Dann sind wir nungen haben. Ärzte delegieren Assistenzarzt. Dank IPAPÄD habe ich mich hier gleich als Mitglied eines Teams und nicht als Einzelkämpfer ver- standen. Ich versuche weiterhin, Rückmeldungen an die Pflege zu geben Operation Team und einzuholen. Was macht ihr gerade, was braucht ihr vielleicht an Die „Interprofessionelle Ausbildungsstation in der Pädiatrie“ (IPAPÄD) an der Universi- tätsklinik Freiburg ist eines von derzeit 24 Projekten des Förderprogramms Operation Zeit und Unterstützung? Kann mir Team – Interprofessionelles Lernen in den Gesundheitsberufen. Die Robert Bosch Stiftung vielleicht einer mal dieses und jenes unterstützt damit die Entwicklung und Umsetzung von interprofessionellen Lernein- erklären? Ich habe das Gefühl, heiten für verschiedene Gesundheitsberufe. Bereits in ihrer Ausbildung werden hier das kommt nicht nur bei den Kollegen zukünftige Fachkräfte an die Kooperation in berufsübergreifenden Teams herangeführt super an. Wenn Ärzte und Pfleger und können miteinander, von- und übereinander lernen, um gemeinsam die Patienten- gut zusammenarbeiten, ist das auch versorgung zu verbessern. gut für die kleinen Patienten und deren Eltern.
Jeder TEXT Eva Wolfangel FOTOS in seinem Tempo Ériver Hijano An der Martinschule in Greifswald lernen alle gemeinsam: Hochbegabte und Kinder mit geistiger Behinderung. Dazwischen gibt es viele Facetten. Wie kann das funktio- nieren, lernen für alle?
DAS MAGAZIN 3.18 Reportage 13
14 Reportage Robert Bosch Stiftung P iet würde so gerne seinen Ring am Finger behalten. Er hat ihn an seinen kleinen Finger gesteckt und schaut ihn verträumt an. Aber er weiß: Die Gruppenkonferenz hat beschlos- sen, dass er ihn in die Tasche stecken soll. Er hat ihn vor zwei Wochen bei einem Schulausflug gefunden und wollte ihn am liebsten behalten. Die anderen Sechstklässler haben ihm erklärt, dass er erst herausfinden muss, ob ihn nicht jemand sucht. Sie haben gemeinsam Plakate gemalt, in der Schule und am Fundort aufge- hängt, und Piet musste zwei Wochen warten, bevor er heute seinen Ring endlich im Sekretariat abholen konnte. „Piet, was hatten wir aus- „ich mache Deutsch, Lesezeit gemacht?“, fragt seine Lehrerin Ines und Geometrie“, sagt Paul. Ein Kind Morszeck im Morgenkreis, zehn protokolliert. Am Nachbartisch Sechstklässler, die gemeinsam lernen. bereitet derweil ein Mädchen einen „Brauchst du Hilfe?“ Sie weiß, wie Vortrag über ihr Lieblingsbuch vor. schwer es dem geistig behinderten Es ist ein besonderer Weg, Jungen fällt, den glänzenden Ring den diese Schule gegangen ist, die loszulassen. Doch schließlich steckt vor 25 Jahren als Förderschule Piet ihn ein. gestartet ist und sich geöffnet hat für Dann planen die Kinder an der alle: 570 Schüler und Schülerinnen Greifswalder Martinschule ihren der Klassen 1 bis 12 profitieren davon, Tag. „Was machst du heute?“, fragen darunter 246 mit sonderpädagogi- sie sich gegenseitig. Drei Lernzeiten schem Förderbedarf. 2018 wurde die gibt es für diesen Tag – drei Mal je inklusive Grundschule und integrierte eine Schulstunde arbeitet jeder an Aufmerksam Gesamtschule mit gymnasialer seinen Zielen, unterstützt von Lehrern (Bild rechte Seite) Oberstufe mit dem Deutschen Schul- Kreativ Demokratiestunden und einem Mitglied des pädagogi- preis ausgezeichnet, den die Robert Die Schüler lernen und Rückszugs- schen Fachpersonals: Erzieher, Heil- Bosch Stiftung gemeinsam mit der Mathematik in momente wie diese erzieher, Integrationshelfer. „Ich keinen Gruppen, Runde sind Heidehof Stiftung sowie der ARD und mache Deutsch“, sagt Piet, „ich mache Perlenketten und fester Bestandteil der ZEIT Verlagsgruppe vergibt. Geometrie und Division“, sagt Lilly, Würfel helfen dabei. des Konzepts. Das bedeutet neben der Anerkennung
DAS MAGAZIN 3.18 Reportage 15 für gute Schulpraxis 100.000 Euro Preisgeld, für fünf weitere Schu- Die Sehnsucht Blick und Tonfall. „Können Sie uns bitte den Mathetest zum Bruchrech- der Eltern len 25.000 Euro sowie für alle nomi- nen ausdrucken?“ Namid ist erst nierten Schulen 5000 Euro. seit der vierten Klasse an der Martin- Hier an der Martinschule ist schule, er hat davor die Waldorf- vieles außergewöhnlich. So zum Beispiel das über die Jahre gewachse- scheint groß zu schule und davor eine Regelschule besucht. „Langweilig“, sagt er, ne Repertoire an Lehrmethoden, das sich die Schule aus verschieden- sein nach „es ging zu langsam voran.“ Hier kann er so schnell lernen, wie er will. sten Zusammenhängen abge- schaut und für sich weiterentwickelt einer Schulzeit Es gibt keine Hausaufgaben, keine Noten, und sogar ein Test macht Spaß. mit indivi- hat. Aber eigentlich kommt es nur „Oft werden Eltern nervös, wenn auf eines an, sagt Schulleiter Benjamin ihr Kind nach ein paar Jahren immer Skladny: „Jedes Kind lernt anders. noch gerne in die Schule geht“, sagt Jedes hat sein eigenes Tempo.“ So kommt es, dass in einer Klassenstufe duellem Lernen Skladny und grinst. Es ist zu tief in ihnen verankert, dass Lernen mühsam manche noch mit dem Lesen kämpfen, während sich andere mit Zahlen- für ihr Kind. sein muss. Lernt mein Kind überhaupt etwas?, fragen sie ihn dann. Doch potenzen beschäftigen, so wie in Piets die Zahlen sprechen für sich: „Die Ab- Lerngruppe. schlüsse der Schüler, vom Haupt- Begonnen hat hier alles vor 2 5 schulabschluss bis zum Abitur, sind im Jahren mit einer Schule für geistig Durchschnitt besser als der Durch- Behinderte, die Skladny in Greifswald schnitt in Mecklenburg-Vorpommern“, nach der Wende aufbaute. „In der sagt der Schulleiter. „Irgendwie Sonderpädagogik ist es klar: Wenn scheinen wir es also hinzubekommen.“ man nicht auf das einzelne Kind Skladny kämpft an zwei Fronten: schaut, geht man unter“, sagt er, „und Immer wieder erklärt er sich und das bei den anderen ist es auch so, nur Schulkonzept den Eltern. Und auch merkt man es da nicht so.“ Wie sehr im Kollegium ist es nicht immer von dieser Herangehensweise einfach, für das Konzept zu begeistern – alle Kinder profitieren und dass das einige Lehrer tun sich schwer damit. bisweilen eine Herausforderung Herkömmlicher Unterricht kann für die Lehrer ist, zeigt ein Besuch an auch bequem sein. Doch trotz aller der Schule: In der Grundschule Widerstände: Die Sehnsucht der gibt es drei Parallelklassen, bis zu vier Eltern scheint groß zu sein nach einer Schüler pro Klasse haben einen Schulzeit mit individuellem Lernen sonderpädagogischen Förderbedarf. für ihr Kind. Das zeigt die Informati- In der integrierten Gesamtschule onsveranstaltung für Eltern künftiger ab Klasse fünf werden die Schüler in Grundschüler am Abend. Die kleine Lerngruppen aufgeteilt: Es gibt einen Matheraum, einen Deutschraum, einen für Englisch. 60 Lehrer und Lehrerinnen arbeiten im Haus, 23 pädagogische Unterrichtshilfen wie Heilerzieher und 60 Integrations- helfer ergänzen das Kollegium. Finanziert wird die Schule über das Land, die Kommune und die privaten Zahlungen der Eltern. Jeweils etwa zwölf Kinder haben einen gemeinsa- men Bezugslehrer. Mit diesem planen sie ihren Tag, stecken sich selbst Ziele für die nächsten Monate und überprüfen gemeinsam, ob sie diese erreicht haben. Können wir das jetzt? Das wollen Namid und Anselm heute wissen. Die beiden Siebtklässler stehen vor dem Computer am Lehrer- pult wie Kinder vor der Eisdiele – mit diesem sehnsüchtig-bettelnden
16 Reportage Robert Bosch Stiftung Grundschule platzt aus allen Nähten, eine – in Zeiten, in denen städtische Väter und Mütter schieben sich Grundschulen in Greifswald schlossen. durch die Gänge, und später ist die Aula Die Martinschule hingegen ist eine bis auf den letzten Platz belegt. Privatschule. Viele Familien sind vom Die Lehrer haben in einigen Schulgeld befreit, ansonsten zahlen Klassenzimmern Unterrichtsmaterial die Eltern rund 170 Euro Schulgeld im und die Werke der Kinder aufgebaut. Monat – und sie rannten und rennen „In der vierten Klasse baut jedes Kind Skladny die Türen ein. einen Hocker“, sagt ein Lehrer im Der Siebtklässler Christian Werkraum. Später zeigt eine Lehrerin, hat sich mit seiner Betreuerin in eine wie die Methode „Lesen lernen durch Ecke gesetzt und schreibt gewissen- Schreiben“ funktioniert, sie erklärt haft in ordentlicher Schreibschrift wortreich, dass die Kinder dabei Engagiert Biografien auf: Alexander Bell, Lehrerin Mangel Motiviert anfangs auch Fehler machen dürfen – (Bild rechte Seite) der Erfinder des Telefons, und Alan animiert die Kinder weshalb die Methode umstritten ist – mit Einmaleins- Die Schüler Turing. Christian schreibt das alles und wie viel Motivation diese Wettkämpfen Namid und Anselm aus dem Kopf auf, und wer ihn fragt, Methode bringt. „Mein Sohn kann und individuellen brüten über bekommt eine spannende und aus- schon lesen, was würden Sie mit ihm Strategien. ihrem Mathetest. führliche Geschichte über den Wett- machen?“, fragt Anja H. „Na, wer schon lesen kann, bekommt eine andere Aufgabe“, sagt die Lehrerin. „Es macht doch keinen Sinn, etwas zu lernen, was man schon kann!“ Die Eltern nicken dankbar, wohl wissend, dass es an den meisten Schulen eben doch so ist, dass die Kinder einer Klasse alle das Gleiche lernen sollen – mit dem Resultat, dass sich Schüler langweilen. Und andere nicht hinter- herkommen, weil sie langsamer lernen und auf der Strecke bleiben. An der nächsten Tür steht „Snoezelenraum“. „Oh, das würde meinem Sohn gefallen“, sagt Anja H., als sie die Tür öffnet. Ein Wasserbett steht darin, ein Sofa und ein Bälle- bad, dazu gedämpftes Licht. „Er ist nicht so für große Gruppen zu haben“, sagt Anja H. Und auch die großzügi- gen Flure gefallen der Mutter, überall gibt es Sitzgelegenheiten, überall können sich Kinder zurückziehen. Es war der Grund, warum Schulleiter Benjamin Skladny genau dieses Gebäude haben wollte, als er 2002 vor der Aufgabe stand, eine inklu- sive Grundschule zu gründen. Die ehemalige Kita mit ihren langen Fluren schien ihm ideal. Individuelles Lernen braucht auch Raum. Kinder mit geistiger Behinderung sollten nicht unter sich bleiben, fand er: „Sie lernen besser, wenn sie integriert sind.“Ab- schottung empfand er als den falschen Weg. Also suchte er andere Grund- schulen für eine Kooperation und fand eine, die im Gegenzug eine Klasse von ihm aufnahm. Die Erfahrungen waren gut, doch es gab nicht genug ko- operationswillige Schulen, also gründete Skladny kurzerhand selbst
DAS MAGAZIN 3.18 Reportage 17 kampf um die Erfindung des Telefons zu hören. Und warum schreibt er es auf? „Na, ich mache Deutsch“, sagt er. Und da schreibt man eben. Einige Räume weiter sitzt Lehrerin Christine Mangel und gibt Mathe-Förderunterricht. Vier Mädchen mit Dyskalkulie, Rechen- schwäche. Mangel weiß, wie sie sie erreicht. Erst spielen sie einen Einmaleins-Wettkampf, zwei gegen zwei. Das macht Spaß, die Mädchen lachen viel. Dann teilt Mangel Ar- beitsblätter aus, schriftliches Dividie- ren. „Könnt ihr das, oder ist das zu schwer?“ Die Mädchen zögern, eine sagt: „Das ist zu schwer.“ Die Pä- dagogin weiß, dass Hannas Stecken- pferd Deutsch ist, sie ist sehr kreativ und schreibt tolle Aufsätze. „Was genau ist denn Dividieren?“, fragt Mangel sie, „worum geht es hier?“ Sie versucht herauszubekommen, wie fünf bis acht, sie, die gelernte Sonder- Hanna denkt, wie ihre Rechenstrategie pädagogin, er, der gelernte Gym- ist. „Was ist teilen? Erzähle es in einer nasiallehrer. „Klar, man braucht einen Geschichte! Wie würdest du es einem Anknüpfungspunkt, irgendeinen kleinen Kind erzählen?“ Schritt für Inhalt, der einem lernenswert er- Schritt kommen sie der Sache näher, scheint“, sagt Otto. Doch lange war das jetzt weiß Mangel, wie Hanna rechnet, gar nicht so klar in seinem Leben: sie kennt ihre Strategie. „Nicht jede In der Ausbildung zum Gymnasialleh- Strategie passt zu jedem Kind, zum rer sei Lernforschung kein Thema Glück gibt es ganz verschiedene gewesen. Erst als er nach dem Studium Rechenwege“, sagt sie. „Darf ich das vor einem Einstellungsstopp stand Blatt ganz fertig machen?“, fragt und schließlich als Bildungsreferent eines der Mädchen am Ende. beim Landessportbund arbeitete, Wo gibt es das, dass Kinder begegnete er Lehrmethoden, bei denen mit Rechenschwäche darum bitten, Motivation und individuelles Lernen ein Mathe-Arbeitsblatt machen eine zentrale Rolle spielten. „Oft heißt zu dürfen? Mangel zuckt mit den es in der Schule: Wenn das Kind Schultern. „Es ist alles eine Frage der etwas nicht weiß, dann hat es nicht auf- Beziehung und der Motivation.“ gepasst“, sagt er. „Dabei müsste die „Man muss der Gesellschaft gerecht Frage doch heißen: Warum hat dich das werden und natürlich auch den nicht interessiert?“ Wieso habe ich Eltern“, sagt Mangel. Das ist nicht als Pädagoge das Kind nicht erreicht? immer einfach. „Die Nachbarskinder Während manche Kollegen klagen lernen schon Bruchrechnen, wieso über die Mühen, die ein Unterricht mit machen Sie das nicht?“ Das ist eine sich bringt, der allen gerecht werden häufige Frage, die sie hört. Oder: „Im soll, kann sich Otto gar nichts anderes Rahmenplan steht, dass die Kinder schon bis 1000 rechnen können sollen – „Ich bringe mehr vorstellen: „Der Beruf ist doch so viel erfüllender, wenn man merkt, nicht bei, wieso rechnet meiner nur bis 100?“ dass man etwas bewegt.“ „Doch was nutzt es einem Kind, wenn Einmal in seiner Gymnasialzeit ich versuche, ihm Bruchrechnen wollte er es wissen und evaluierte beizubringen, wenn ihm die Grundla- gen fehlen?“, fragt Mangel. das Kind bringt seinen Unterricht in Biologie. Er schrieb einen Multiple-Choice-Test über In der Pause sitzt sie gemein- sam mit Wolfram Otto im Rektorat, ein sich etwas den Stoff des Schuljahres. „Es war er- nüchternd, wie wenig hängen ge- drahtiger Mann mit grauen Haaren in Sport-Outfit, und bespricht die bei – und ich blieben ist.“ Und das trotz handlungs- orientierten Unterrichts. Der Haken bin der Helfer.“ nächsten Schritte. Die beiden teilen war aus seiner Sicht, dass alle gleich- sich die Organisation der Klassen zeitig das Gleiche lernen mussten.
18 Reportage Robert Bosch Stiftung „Aber Lernen funktioniert nur, wenn Kinder zu seinen Füßen hinweg, die dich gerade etwas interessiert, immer kleiner werden. „Hört mir jetzt wenn du es wirklich wissen willst.“ gefälligst zu, sonst lasse ich euch Lehrer müssen aus seiner Sicht ihre Runden laufen!“ Rolle überdenken, wenn sie nachhalti- Die Martinschüler empfinden ges Lernen erreichen wollen: „Ich Laufen offenbar nicht als Strafe. Sie bringe nicht bei, das Kind bringt sich rennen alle zum Aufwärmen Runden etwas bei – und ich bin der Helfer.“ um den Platz, die Schnellen drei, Aber kommen alle Kinder mit die Langsameren zwei. Ganz vorne dieser Freiheit klar, jeden Tag selbst zu läuft ein Junge mit einem Shirt mit entscheiden, was sie gerade interes- der Aufschrift „Landeskader Schwimm- siert? Überfordert das nicht manche? verband“, er überrundet Paul und Kopfüber „Manche können mit der Freiheit Luis, die die ganze Zeit über Fußball Schülerinnen beim nicht, die brauchen Struktur“, sagt Sport. Auch hier quatschen und kurz vor Ende ihrer wollen die Lehrer Christine Mangel. Die kriegen sie dann zweiten Runde ein Kind im Roll- motivieren – auch in der Martinschule. „Aber nur stuhl auf dessen erster Runde ein- mit Spaß und der weil manche Struktur brauchen, muss holen – doch anstatt vorbeizurennen, Freiheit, selbst man doch nicht alle anketten.“ schieben sie ein bisschen an. zu entscheiden. Als Wolfram Otto im Dauerlauf um die Ecke des Sportplatzes biegt, sieht er Piet, den Sechstklässler, der sich morgens nicht von seinem Ring trennen wollte. Er wirkt ein wenig verloren und tritt immer wieder gegen den Zaun des Sportplatzes. Als er Otto sieht, tritt er noch einmal, doch dann läuft er auf den Lehrer zu und wirft ihm die Arme um den Hals. „Wollen wir Fußball spielen?“, fragt Otto. „Jaaaa“, ruft Piet und rennt voraus zum Sportplatz. Dort fällt er gleich noch einem Lehrer um den Hals, doch der stellt den Schüler kurzer- hand wieder auf den Boden, hält ihn am langen Arm von sich fern und schaut irritiert. Nicht jeder Lehrer kommt mit dem körperlichen Einsatz klar, den der Beruf an der Martin- schule mit sich bringt. Und doch ist er Alltag an dieser Schule, die sich auf diesen Umgang mit unbedingter Kooperation unter den Kollegen einge- stellt hat. Das wird kurz darauf klar, als sich zwei Jungs um einen Ball streiten, sie schubsen einander, dann holt einer aus. Eine Inklusionshelferin nimmt ihn in den Arm, erst wirkt es wie ein weiterer Kampf, der Schüler versucht freizukommen, doch die Lehrerin hält ihn mit beiden Armen und all ihrer Kraft fest. Dann beginnt er, in ihren Armen zu weinen, legt den Kopf an ihre Schulter, „aber ich wollte doch den Ball“. Sie tröstet ihn und schlägt vor, dass sich die beiden abwechseln. Auf dem Nachbarplatz schreit sich ein Sportlehrer einer anderen Schule die Lunge aus dem Leib, seine Stimme überschlägt sich, sie rauscht wie ein Tornado über die Köpfe der
DAS MAGAZIN 3.18 Interview 19 INTERVIEW Alexandra Wolters ILLUSTRATION Was ist gute Schule? Stefan Mosebach Ein Gespräch mit Hans Anand Pant, Bildungs- Herr Pant, was hat Sie an dem diesjährigen Schulpreisgewinner, forscher und Geschäftsführer der Deutschen der Martinschule in Greifswald, besonders beeindruckt? Schulakademie, über die Krise des Systems Die Schule geht mit einem beispiel- losen Selbstverständnis mit Menschen mit körperlichen und geistigen und die Impulse des Deutschen Schulpreises. Beeinträchtigungen um. Sie sagt: Ja, diese Schülerinnen und Schüler sind manchmal laut und unkontrol- liert. Aber die Martinschule schafft es, diesen oft schamhaft versteckten Teil der Gesellschaft nicht nur zu integrieren, sondern ihn auch als Bereicherung zu sehen. Wie schafft die Schule das? Das Kollegium hat eine eingespielte Routine und ein sehr feinfühliges Sensorium dafür, ob sich gerade etwas im Unterricht anbahnt, was stören könnte. Beispiel: Wenn ein Kind mit
20 Interview Robert Bosch Stiftung einer geistigen Entwicklungsbeein- trächtigung plötzlich laut wird, ist sofort ein Blickkontakt zwischen Lehrkraft und den entsprechen- den Helferpersonen da, die dann „übernehmen“. Viele der Schulpreis-Schulen hatten eine Krise, die sie in einen nachhaltigen Entwicklungsprozess gebracht hat. Ich bin überzeugt, dass krisenhafte Ausgangsmomente sehr wichtig für eine Weiterentwicklung sind. Und Probleme treffen häufig nicht die Elite-Schulen, sondern ganz besonders die, die ohnehin schon in einer schwierigen Umgebung arbeiten. Am liebsten würde ich es Schulen ermöglichen, dass sie eine Krise quasi simulieren können und dies dann als Entwicklungsimpuls nutzen. Es geht darum, sich syste- matisch gemeinsam auf einen Selbst- vergewisserungsprozess einzu- lassen, und der heißt Bestandsauf- nahme und Reflexion. Wo liegen derzeit die größten Probleme unserer Schulen und unseres Schulsystems? Die Balance zwischen der Autonomie einer Schule und dem, was vorgege- ben wird, fehlt oft. Ich bin kein Sozial- romantiker, der glaubt, wenn wir die Schulen nur machen ließen, werde schon alles gut. Aber wir müssen Aufgaben, die Lehrerinnen und systematisch für co-konstruktive Pro- Lehrer heute haben, ist das eine völlig zesse werben. Alle wichtigen Akteure ineffiziente Arbeitsweise. einer Schule müssen sich immer wieder an einen Tisch setzen, um Es herrscht Mangel an Bildungskräf- gemeinsam nach der besten Lösung ten, Lehrer sollen zudem Kinder für eine Situation, ein Problem aus Zuwandererfamilien integrieren oder eine Veränderung zu suchen. und die Inklusion vorantreiben. Wie überzeugen Sie diese Lehrer, Was hindert Schulen und Länder Hans Anand Pant umzudenken? daran? ist Professor an der Um die Lehrkräfte vom Nutzen der Die Strukturen müssen stärker Humboldt-Univer- Teamarbeit zu überzeugen, müssen überdacht werden. Heute gehen etwa sität Berlin und un- wir auf der Ebene von Haltung und 50 Prozent eines Jahrgangs auf das tersucht die Frage, Mentalität ansetzen und ganz gezielt wie empirische Ver- Gymnasium. Die Zeiten sind vorbei, in Coaching anbieten. Langfristig fahren für Schulen, denen irgendeine Schulart nicht muss die Lehrerausbildung massiv Bildungsverwaltun- mit Vielfalt zu tun hat – Heterogenität gen und Bildungspo- verändert werden. Bislang kommt das ist überall. Wenn man das auch in litik nutzbar gemacht Thema Kooperation dort praktisch der Lehrerbildung anerkennt und es werden können. nicht vor. Wir sollten an den Universi- schafft, dass sich alle mit Integrations- Er verantwortet zu- täten modernste pädagogische dem das Programm und Inklusionsthemen auskennen, und didaktische Methoden lehren. der Deutschen wäre ein großer Schritt getan. Ein Schulakademie und weiteres Problem: Fast jede zweite ist Mitglied der Wie sähe das in der Zukunft aus? Lehrkraft plant ihren Unterricht lieber Jury des Deutschen Meine Vision einer guten Schule ist alleine als im Team. Bei der Vielfalt an Schulpreises. eine Schule, die individualisierte
DAS MAGAZIN 3.18 21 anstreben. Dort gibt es aber auch eine Lehrkräften und Schulleiterinnen ausgeprägte Hierarchiegläubigkeit und -leitern zu sprechen. Für die und strenge Auslese, Schultage mit Studierenden ist das eine tolle Ausbil- 15 Stunden und eine hohe Suizidrate dungssituation. Und für die gestan- unter Schülern. Wollen wir das? denen Lehrkräfte vor Ort eine gute Gelegenheit zur Reflexion. Aber dennoch schneiden andere Länder besser ab, auch in der Sie betonen, dass es keine allge- Kooperation zwischen Lehrern und meingültigen Rezepte für eine gute Schülern. Schule gibt. Haben Sie trotzdem Ich denke schon, dass man sich etwas entdeckt, was gute Schulen mit einem intelligenten Blick für die gemeinsam haben? Rahmenbedingungen im Einzelnen Die guten Schulen, die ich besuchen durchaus ein Modell ansehen und durfte, haben in der Regel ein sehr daraus lernen kann. Aber ich glaube gutes Schulklima, auch im Kollegium – nicht, dass wir einfach das Schul- und sie bemühen sich darum. In system eines anderen Landes über- guten Schulen können Lehrkräfte bei nehmen können. Auch nicht in der Schulentwicklung mitentschei- größeren Teilen. Wir müssen uns den und können so Leitungsqualitäten immer fragen: Wie können wir das bei sich entdecken und einsetzen. in 16 Ländern umsetzen? Die Lehrer fühlen sich in ihrer Profes- sionalität ernst genommen und Sind die föderalen Strukturen ein werden nicht zum Befehlsempfänger Grund, warum sich unser Schulsystem der Schulleitung. Partizipation sehe so langsam entwickelt und Reformen ich als ein Geheimnis, das eine ganze so schwierig umzusetzen sind? Schulorganisation verändern kann. Sicher auch wegen unserer föderalen Die Schulen sind kooperativ in multi- Bildungsstruktur ist unser Schul- professionellen Teamstrukturen und Bildungssystem oft wie ein sehr unterwegs. Und sie arbeiten mit den großer, träger Tanker. Um ihm eine Schülern so individuell wie möglich. andere Richtung zu geben, braucht es viele kleine Lotsenboote. Allerdings Was heißt das genau? sind die Verharrungstendenzen in den Die von uns ausgezeichneten Schulen Strukturen unserer Bildungsverwal- denken bei ihren Schülern in Lebens- tung und der Bildungspolitik nicht zu läufen und nicht nur in einer einzelnen unterschätzen. Die Gründe dafür Etappe. Sie schauen sich genau an, Lehr- und Lernangebote macht. Alle sind oft trivial, denn an jeder Verände- woher die Kinder kommen, was sie mit- sollen sich mit allen Voraussetzungen rung hängen Stellen, und zwar in der bringen. Für diese Schulen endet in allen Bildungsetappen gut auf- Regel die von Beamtinnen und Beam- der Blick auch nicht mit dem Ende der gehoben fühlen, entsprechend ihrer ten. Ständige Impulse von „unten“, also Schullaufbahn. Sie bemühen sich Potenziale gefördert werden und von eigensinnigen Schulen, halte ich darum, dass ihre Schüler später gut in dabei mit viel Spaß lernen. Das würde deshalb für unersetzlich. Der Deutsche berufsbildende oder berufliche An- mir reichen. Zudem sollten wir die Schulpreis und die Deutsche Schulaka- schlüsse kommen. Außerdem sehen Integrationskraft von Schulen für die demie sind mit ihren Beispielen aus diese Schulen sich nicht in einer Blase, Gesellschaft, zum Beispiel durch der Praxis Vorbild und auch Mahnung sondern sind in Netzwerken organi- mehr und bessere Demokratiebildung, für ein träges System. siert, sind in regionalen Bildungsland- nicht aus dem Blick verlieren. Ich schaften aktiv und kennen nahezu sage immer etwas polemisch, es liegt Wie können möglichst viele alle relevanten Angebote im Kiez. nicht am fehlenden guten Mathe- Schulen vom Wissen der Schul- Und wenn ich die Schüler von guten matikunterricht, wenn 14- bis 16-Jäh- preis-Schulen profitieren? Schulen sehe, erkenne ich, dass rige Asylbewerberheime anzünden. Die Deutsche Schulakademie bietet sie Spaß im und am Unterricht haben. zum einen ein Hospitationsprogramm Sie haben das Gefühl, dass sie die Andere Länder schneiden im inter- an, bei dem interessierte Lehrkräfte Ziele, die sie sich selber stecken, auch nationalen Bildungsvergleich die ausgezeichneten Schulen besu- erreichen können. deutlich besser ab. Können wir chen. Zum anderen haben wir mit allen daraus etwas lernen? Preisträgerschulen ein Netzwerk Herr Pant, vielen Dank für das Da bin ich grundsätzlich skeptisch. aufgebaut, das Transferangebote ent- Gespräch. Foto: David Weyand Wenn wir uns nur an den besten wickelt und durchführt. Und mit Ergebnissen der Leistungsstudien unserem Programm Lernreise schi- orientieren würden, müsste man ein cken wir Lehramtsstudierende an die Bildungssystem wie in Shanghai Preisträgerschulen, um dort mit den
22 Infografik Robert Bosch Stiftung So verbreitet sich gute Schulpraxis In Deutschland gibt es ca. 40.000 öffentliche und private Schulen, in Deutschland beizutragen. Jedes Jahr werden herausragende Schulen sie verteilen sich auf verschiedene Schulformen und 16 Bundesländer. prämiert. So ist ein Netzwerk von Preisträgerschulen entstanden, Wie schafft man es da, Praxiskonzepte, die sich an einer Schule das sich stetig erweitert. Die Praxiskonzepte dieser Schulen werden bewährt haben, für alle anderen Schulen sichtbar und wirksam zu unter anderem von der Deutschen Schulakademie untersucht, auf- machen? Das System rund um den Deutschen Schulpreis hat genau das bereitet und schließlich über Fortbildungen, Publikationen und das zum Ziel. Der Deutsche Schulpreis wurde 2006 von der Robert Bosch Deutsche Schulportal wieder allen Schulen verfügbar gemacht. Stiftung und der Heidehof Stiftung gegründet, um zur Schulentwicklung Ein Kreislauf, in dem sich gute Schulpraxis verstärkt und verbreitet. Netzwerk der ausgezeichneten Schulen In den derzeit 73 vom Deutschen Schulpreis ausge- zeichneten Schulen gibt es viele Beispiele guter Schulpraxis, von denen andere Schulen profitieren können. Die sechs Qualitätsbereiche Infografik: Anton Hallmann/Sepia | Text und Recherche: Martin Petersen einer guten Schule • Leistung Preisträger- • Umgang mit Vielfalt schulen • Unterrichtsqualität • Verantwortung • Schulklima und Entwicklungsprogramm Feedback Schulleben • Schule als lernende Organisation Der Deutsche Schulpreis prämiert jedes Jahr sechs exzellente Schulen auf Grundlage von sechs Qualitätsbereichen (siehe Kas- ten links). Für den mit insgesamt 270.000 Euro dotierten Wettbewerb können sich alle Schulen Deutschlands und Deutsche Auslandsschulen bewerben. Alle Bewerber erhalten ein individuelles Feedback und bis zu 20 Nicht-Preisträger werden in ein zweijähriges Entwicklungsprogramm aufgenommen.
DAS MAGAZIN 3.18 23 Forschungs- programm „Wie geht gute Schule?“ Praxiskonzepte Das Forschungsprogramm untersucht die ausgezeichneten Praxiskonzepte. Sind sie wirklich so gut? Was sind die Bedingungen für ihr Gelingen? Wissenschaftler können sich mit eige- nen Forschungsvorhaben bewerben. Die Ergebnisse werden später publiziert. Die Deutsche Schulakademie Die ausgezeichneten Praxiskonzepte wer- den an der Deutschen Schulakademie Praxiskonzepte von Schulleitern, Lehrern und Wissenschaft- lern aufbereitet und als Fortbildungs- angebote zurück in die Breite der Schul- landschaft getragen. Publikationen Das Deutsche Schulportal Auf dem Deutschen Schulportal werden die ausgezeichneten Praxiskonzepte Fortbildungen digital aufbereitet der Öffentlichkeit präsentiert: Praxiskonzepte In Film-, Ton- und Textbeiträgen dienen sie dort als Inspiration für alle interessierten Pädagogen. Außerdem finden diese dort aktuelle Nachrichten Inspiration zum Thema Schule und Bildungspolitik. Information Rund 40.000 Schulen in Deutschland und 140 Deutsche Auslandsschulen
Robert Bosch Stiftung Heike Schaumburg ist promovierte Erziehungswissen- schaftlerin und Psychologin. Sie forscht an der Humboldt- Universität Berlin unter anderem über die Integration digitaler Medien in den Schulunter- richt und ist Co-Autorin einer neuen Studie zum personalisierten Lernen mit digitalen Medien, die die Robert Bosch Stiftung heraus- gegeben hat. GESPRÄCH Martin Petersen FOTOS Digital ist besser? Daniel Hofer
DAS MAGAZIN 3.18 Debatte 25 Mit dem Digitalpakt will die Bundesregierung Schulen „fit für das digitale Zeitalter“ machen. Was bedeutet das für die Praxis? Die Lehrer werden nicht von Computern ersetzt, sagt die Erziehungswissen- schaftlerin Heike Schaumburg – doch die Schulleiterin Ulrike Kegler ist sicher, dass sich die Rolle der Lehrer grundlegend verändert. Ulrike Kegler ist Lehrerin, seit 1995 Schulleiterin und hat drei Bücher veröffentlicht, die gute Schule zum Thema haben. Ihre Schule, die Montessori Ober- schule Potsdam, wurde 2007 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet.
26 Debatte Robert Bosch Stiftung „Medienabstinenz ist nicht E-Learning ist in anderen Ländern in einer Weise verbreitet, sodass die der richtige Weg.“ Schüler potenziell gar nicht immer zur Schule gehen müssten. Dass man bestimmte Dinge zu Hause macht und Heike Schaumburg die Schule wäre eher der Ort, an dem man kooperiert und sich austauscht und vielleicht auch persönliches Frau Kegler, sind digitale Medien ein satzes in der Schule stammt und Feedback bekommt. Die alte Lehrer- Segen oder ein Fluch für die Schulen? zurzeit wieder an Aktualität gewinnt, rolle, dass die Lehrer das Wissen Kegler: Ich würde sagen weder noch: ist, Schülern individualisierte Lern- haben, das sie dann vermitteln, ist Es kommt auf den Content an, also wege zu erlauben und individualisier- eigentlich schon seit ein paar Jahren darauf, was man damit macht. Es kann te Rückmeldungen zu ihren Lern- vorbei. Lehrerinnen und Lehrer eine hervorragende Nutzung von prozessen zu geben. Hierbei können könnten zukünftig eher inspirierend digitalen Medien geben. Aber so, wie Computer Lehrkräfte wunderbar und beratend tätig sein und auch ich es im Moment erlebe, sind wir unterstützen, denn eine Lehrkraft einzelne Wissenssegmente wieder in Deutschland noch sehr zurück im wird es nicht schaffen, allen, wenn sie miteinander verbinden oder auch Vergleich zu anderen westeuropä es brauchen, überall gerecht zu wer- auf interessante Querverbindungen ischen oder reichen Ländern. den. Ein Versprechen von damals halte aufmerksam machen. ich aber für falsch: dass Computer die Frau Schaumburg, Computer werden Lehrer vollständig ersetzen könnten. Die reine Wissensvermittlung ja schon länger an Schulen ein- wird in Zukunft immer mehr über gesetzt. Worum geht es denn heute, Beim Thema individualisiertes Programme passieren? wenn wir vom Lernen mit digitalen Lernen mit digitalen Medien haben Kegler: Ja, das können Filme zum Medien sprechen? viele – ich auch – erst einmal das Beispiel großartig: Wenn man sich Schaumburg: Die Kinder haben zwar Bild von einzelnen Schülern im die Französische Revolution im gelernt, im Informatikunterricht Kopf, die mit einem Gerät alleine Spielfilm anguckt, dann hat man ein mit dem Computer umzugehen, aber arbeiten. Ist das falsch? Gefühl für die Zeit. Das reicht sie wussten eigentlich nicht, wozu Kegler: Das habe ich gerade gesehen, alleine zum Verständnis nicht aus, sie dieses Wissen gebrauchen können. in Dänemark, in einer „paperless aber es ist ein Einstieg. Heute hält man es für sinnvoller, school“: Ein Kollege, auch ein Schul- Medienkompetenzen integriert in die leiter, nannte das ein totalitäres Also doch das digitale Klassenzim- Unterrichtsfächer zu vermitteln. System. Es geht alles nur über Technik mer, in dem alle vorm Bildschirm Eine weitere Grundidee, die bereits und es gibt eigentlich keine Begeg- sitzen und gucken? aus den Anfängen des Computerein- nung, bei der nicht Bildschirme Kegler: Nein, im Gegenteil. Mit dem aufgeklappt sind. Wissen, das jetzt allen Menschen zur Verfügung steht, muss der Lehrer Ist das die Schule der Zukunft? umgehen und versuchen, daraus was Kegler: Nein, für mich überhaupt nicht! zu machen. Das dreht die gesamte Für mich ist das Entscheidende in Schule um, das Prinzip des „inverted“ der Schule das Gespräch, das Hören, oder „flipped classroom“: Zu Hause Zuhören und Sprechen. Wir setzen guck ich mir an, was zu lernen ist, und ein digitales Medium immer dann ein, ich gehe in die Schule, um zu üben. wenn es gebraucht wird. Besonders Also genau andersherum, als es heute inspirierend finde ich, wenn man ist. Das kommt in den nächsten gemeinsam Texte schreibt und ver- Jahren. Dann sollte die Schule, wie sie ändert und alle sehen, dass und wie heute ist, nicht mehr denkbar sein. man sich beteiligt. Da gibt es noch Das ist meine These. viele andere Methoden. Auch indivi- Schaumburg: Was man sich bei solchen duelles Feedback: In Finnland habe ich Konzepten grundsätzlich fragen muss, schon nach der ersten Pisa-Studie ist, werden alle Schüler das können? gesehen, dass die Lehrer alle mit ihren Das werden sie nicht ohne Weiteres. Schülern verbunden waren und Nicht jedes Kind kann sich zu Hause ganz genau gucken konnten und sie hinsetzen und sich Lerninhalte einfach für persönliche Beratung nicht immer selbstständig aneignen. Und genau treffen mussten. Dieses ganze das ist die Rolle der Schule: zu gucken,
DAS MAGAZIN 3.18 27 entsteht – einige verstehen die entwickelt, dass die Texte dort ge- Zusammenhänge und haben Unter- meinsam geschrieben wurden. stützung, und andere stehen da Schaumburg: Ich frage mich zuneh- und konsumieren passiv YouTube- mend, ob diese Computerskepsis Videos – , das ist das große Problem. im deutschen Bildungssystem nicht Schaumburg: Ehrlich gesagt halte ein Stück weit gar nicht so schlecht ich solche Horrorszenarien für ist. Weil sie uns auch davor bewahrt, reichlich übertrieben und ich glaube leichtfertig auf jeden Digitalzug zu auch nicht, dass Medienabstinenz der springen. Wir müssen dahin kommen, richtige Weg ist. Aber es ist richtig, dass es in der Diskussion stärker um dass in der Schule ein reflektierter und Qualität geht. Ich finde den Ansatz, verantwortungsvoller Umgang mit den Sie gerade nannten, sehr gut, zu Medien vermittelt werden muss. Dazu sagen, man muss den Lehrern auch gehört zum Beispiel auch zu verste- zeigen, wo der Mehrwert liegt. Wer das hen, dass hinter allem, was im Internet verstanden hat, wird es dann in seinem umsonst zu sein scheint, am Ende Unterricht auch einsetzen. Ich glaube Geschäftsmodelle liegen. Bezogen auf schon, dass es in deutschen Schulen die Eliten, von denen Sie gerade teilweise eine große Beharrungsfähig- gesprochen haben, sehe ich die Her- keit und eine geringe Innovations- ausforderung, Bildungsgerechtigkeit bereitschaft gibt. wie können wir die Kinder in die Lage auch unter den Bedingungen der Kegler: Ich habe das Gefühl, dass über- versetzen, dass sie lernen, mit dieser Digitalisierung herzustellen. Und wer haupt andere Methoden in Deutsch- Informationsflut umzugehen. sollte das tun, wenn nicht die Schulen? land unheimlich schwer durchzuset- Kegler: Genau: Deswegen ist die Schule zen sind. Wir haben dieses drei- der Ort, an dem das gefiltert werden Frau Kegler, Sie sind im Austausch gliedrige Schulsystem, andere Länder muss. Medienkompetenz ist vor allem mit anderen Schulleiterinnen haben eine gemeinsame Schule, in erst mal Medienabstinenz. Das heißt, und Schulleitern – wo liegen die der die Kinder lange zusammen sind. ich entscheide, wann ich welches Schwierigkeiten im Einsatz von Dadurch ist auch die Haltung der Medium benutze und wann nicht. digitalen Medien? Lehrer anders. Die müssen inklusiv Das sollte ein bewusster Vorgang sein. Kegler: Eine Schwierigkeit ist, dass arbeiten, mit einer Vielfalt von Wir wissen mittlerweile, dass Hun- mit diesen Geräten noch wie mit Kindern. Dieses gegliederte Schul- derttausende Kinder in Deutschland Fetischen umgegangen wird. Warum system scheint in Deutschland jedoch schon als mediensüchtig gelten. werden die neuen Medien nicht wie in Zement gegossen. Juval Harari hat in seinem Buch „Homo natürlicher in den Unterricht integ- Deus“ eine Zukunftsvision beschrie- riert? Weil die meisten Lehrer nicht in Im Koalitionsvertrag der Bundesre- ben: Die Algorithmen könnten kreativer Weise damit umgehen kön- gierung steht das Vorhaben, fünf unheimlich viel beherrschen und es nen. Das sieht man daran, dass es jetzt Milliarden Euro in die Digitalisierung wird eine Elite von Menschen geben, anstelle der Tafel Smartboards gibt. der Schulen zu investieren. Kann die diese steuern. Ein großer Teil Das heißt, es ist ein bisschen bunter, ein man damit die Ausstattung auf einen der Menschen wird nur „abgefüttert“ bisschen leuchtender, doch alle gucken guten Weg bringen? mit dem, was so im Markt ist. wieder wie in der alten Kirchenord- Schaumburg: Das ist totale Augenwi- Die Ungerechtigkeit, die dadurch nung in eine Richtung. Damit haben wir scherei, dieses Geld reicht nicht noch kein individualisiertes Lernen. ansatzweise, um die Schulen so aus- Da ist noch ganz viel Musik drin, die nur zustatten, dass sie anschlussfähig „Mit diesen annähernd gehört wird. wären an das, was in anderen westeu- ropäischen Ländern los ist. Was immer Geräten Wie motivieren Sie denn Ihre Kolleginnen und Kollegen zum vergessen wird bei solchen Initiativen: Es ist nicht mit einer einmaligen Inves- wird wie mit kreativen Einsatz digitaler Medien? tition getan, sondern man hat lang- Kegler: Ich arbeite sehr daran, zusam- fristige Kosten. Man braucht zum Fetischen men mit den jüngeren Kollegen, Beispiel in einer Schule, genau wie in dass wir auch als Lehrer Freude daran jedem anderen Unternehmen, je- haben, Neues zu lernen. Wir machen manden, der sich um die Hardware umgegangen.“ einige Konferenzen mit kooperativen digitalen Medien und wir haben und um die Software kümmert, und das kann keine Lehrkraft sein, die das Ulrike Kegler unser ganzes Schulcurriculum so in ihren Feierabendstunden macht.
DAS MAGAZIN 3.18 Reportage 29 „Ich schreibe mir eine Welt aus dem Kopf“ Zu Besuch in einer Weltenschreiber-Werkstatt in Esslingen, wo sich ein Schriftsteller und eine Deutschlehrerin zusammentun, um Schüler für literarisches Schreiben zu begeistern. „Die Kinder haben sogar extra gefegt „Hallo zusammen, mein Name ist getingelt, erzählt Elsäßer von seiner, und aufgeräumt“, flüstert die Deutsch- Tobias Elsäßer, ich bin Buchautor und wie er sagt, etwas peinlichen Phase. lehrerin Kathrin Höss ihrem Gast habe erst mit etwa 14 Jahren ange- „Irgendwann hatte ich so viel Stoff, so zu, während sie über den hellen Schul- fangen, Bücher zu lesen.“ Ein leichtes viele Erlebnisse im Kopf. Das musste flur gehen. Kein Papierschnipsel Raunen geht durch den Raum, der raus. Also habe ich mein erstes Buch ge- liegt auf dem blauen Linoleumboden, eine oder andere schüttelt ungläubig schrieben.“ Daniel nickt verständ- als sie den Klassenraum betreten, den Kopf. „Mein Vater hielt nicht nisvoll. „Ich habe mir auch schon viel die Taschen sind akkurat unter den viel vom Lesen. Ich sollte lieber Auf- aus dem Kopf geschrieben“, sagt Tischen verstaut und die Namens- gaben im Haushalt übernehmen. der Junge und kritzelt mit seinem Blei- schilder – extra für den Gast noch ein- Und in Rechtschreibung war ich auch stift ein paar feine Linien auf eine mal hervorgekramt – stehen bereit. ziemlich schlecht.“ leere Heftseite. „Was stellt ihr euch denn Es ist der zweite Dienstag Elsäßer bildet zusammen mit unter Weltenschreibern vor?“, fragt nach den Sommerferien, die große Uhr Höss eines von bundesweit 15 Lehr- der Autor nach seiner Vorstellungs- über der Klassentür zeigt 14:15 Uhr. er-Autoren-Tandems, die im Rahmen runde. In der ersten Reihe meldet In der Schule Innenstadt in Esslingen des Programms Weltenschreiber sich Georg. „Das sind Leute, die sagen: bei Stuttgart beginnen die letzten Kindern und Jugendlichen Literatur Ich schreibe mir eine Welt aus dem beiden Unterrichtsstunden des Tages. vermitteln sollen. Heute geht es los, Kopf“, meint er. Alle Augen sind auf Tobias Elsäßer danach wird er die Schüler das Später werden Daniel und gerichtet, der sich lässig in Jeans, ganze Schuljahr über immer wieder Rebecca noch im Klassenraum sitzen schwarzem Shirt und Turnschuhen ans treffen und mit ihnen arbeiten. und über die erste Begegnung mit Lehrerpult lehnt. Die Schülerinnen Als Erstes packt Elsäßer dem Schriftsteller reden. Wie viele Kin- und Schüler der Lerngruppe 7a haben seine eigene Schulgeschichte aus. der der 7a lesen sie gerne und oft, den 45-Jährigen gespannt erwartet. Er spricht schnell mit kräftiger, deut- Daniel liebt zum Beispiel Fantasy-Seri- licher Stimme, es klingt fast wie en wie Warrior Cats, klaut seinem ein Rap. Still und aufmerksam verfol- älteren Bruder auch schon mal Bücher Glücksbuch gen die Zwölf- bis Vierzehnjährigen aus dem Schrank. Um Rebecca ist In ihre Bücher schreiben den Auftritt des Schriftstellers, der mit es geschehen, wenn in den Büchern die Kinder Gedanken und großen Schritten den Klassenraum Pferde eine Rolle spielen. Beide Text: Alexandra Wolters Gefühle, kleben durchschreitet, beim Reden die Arme schreiben auch gerne, sogar zusam- Fundstücke ein oder hin- und herschwingt, sich dreht men. „Oft spielen wir etwas und zeichnen etwas. „Daraus können spannende und wendet. Nach der Schule sei er mit schreiben danach aus unseren ver- Geschichten entstehen“, seiner Band – oder eher Boygroup – schiedenen Sichten dazu etwas auf“, sagt Autor Elsäßer. ziemlich erfolgreich durch die Lande erzählt Rebecca mit leiser Stimme
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