Problematischer Medikamen-tenkonsum in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

 
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Problematischer Medikamen-tenkonsum in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
SUCHT-PERSPEKTIVEN

                     Problematischer Medikamen-
                     tenkonsum in der Kinder- und
                     Jugendpsychiatrie
2020-6               Die Einnahme von Medikamenten ohne ärztliche Verschreibung unter Jugend-
Jg. 46               lichen in der Schweiz ist eine Herausforderung für die Fachwelt. Der Miss-
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                     brauch von Schlaf- und Beruhigungsmitteln sowie von Schmerzmitteln im
                     Jugendalter ist fast immer im Kontext komplexer Störungsbilder anzutreffen.
                     Die Früherkennung eines häufig komorbiden Konsums ist äusserst wichtig,
                     um Vorphasen einer Abhängigkeitserkrankung erkennen und entsprechend
                     handeln zu können. Welche Konsumtrends sind aktuell in der Kinder- und
                     Jugendpsychiatrie zu beobachten? Ein Erfahrungsbericht aus Zürich und
                     Luzern.

                     ELVIRA TINI
                     Oberärztin, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich,
                     Neumünsterallee 3, CH-8032 Zürich, elvira.tini@pukzh.ch
                     OLIVER BILKE-HENTSCH
                     Dr. med., MBA, LL.M. Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst, Luzerner Psychiatrie, Areal
                     Kantonsspital 13, CH-6000 Luzern 16, oliver.bilke@lups.ch

Einleitung                                    Ängsten, konsumiert.                              allem durch die klinisch beobachteten
Der Missbrauch psychoaktiver Medika-              Die Einnahme von NMGVM ohne                   steigenden Fallzahlen zunehmend auf
mente wird bei Kindern und Jugendli-          ärztliche Verschreibung scheint unter             das Thema aufmerksam.
chen wenig untersucht. Die vorhandenen        Jugendlichen verbreitet zu sein. Einzelne
Daten sowie Berichte aus den Medien           Erfahrungen mit niedrig dosierten Ben-            Definitionen
weisen darauf hin, dass die Medikamente       zodiazepinen oder benzodiazepin-ähnli-                 Ein psychoaktives Medikament be-
nicht nur sinnvoll und medizinisch in-        chen Substanzen sind bei nicht vulnera-           steht aus einem oder mehreren Wirk-
diziert eingenommen werden. Laut der          blen Minderjährigen als wenig gefährlich          stoffen, welche die menschliche Psyche
Studie Health Behaviour in School-aged        einzuschätzen, aber die Wiederholung              beeinflussen. Psychoaktive Medikamente
Children (HBSC) haben im Jahr 2018            solcher Einnahmen kann schnell zu                 mit Abhängigkeitspotenzial umfassen
4,5 % der 15-jährigen Jungen und 4,1 %        einem regelmässigen Gebrauch führen.              insbesondere opioidhaltige Schmerz-
der gleichaltrigen Mädchen mind. ein-         Im Vergleich zu anderen psychoaktiven             und Hustenmittel, Beruhigungs- und
mal im Leben bereits Medikamente ein-         Substanzen nehmen – ärztlich verord-              Schlafmittel (u. a. Benzodiazepine),
genommen, um psychoaktive Effekte zu          nete oder frei verkäufliche (sog. OTC-            Stimulanzien und Narkosemittel. Häu-
erleben, was bei den Jungen eine klare        Produkte) - Schlaf- und Beruhigungsmit-           fig findet der Missbrauch von Medika-
Steigerung im Vergleich zum Jahr 2006         tel eine besondere Stellung ein, die für          menten im Rahmen eines multiplen
bedeutet (Delgrande Jordan et al. 2019).      Heranwachsende möglicherweise nicht               Substanzkonsums statt. Wenn zwei
Die Medien berichteten in den letzten         klar einzuordnen ist.                             Substanzen bei einer Gelegenheit gleich-
Monaten wiederholt von Jugendlichen,              NMGVM wird zudem positiv mit                  zeitig eingenommen werden, wird von
die an einem «Medikamentencocktail»           einer ärztlichen Verschreibung kon-               einem simultanen Gebrauch gesprochen.
gestorben sind.1 Der nicht-medizinische       notiert. Der Beschaffungsweg kann als             Ein paralleler Gebrauch liegt vor, wenn
Gebrauch von verschreibungspflichti-          legale Medikamentenabgabe interpre-               innerhalb eines bestimmten Zeitraums
gen Medikamenten (NMGVM) hat nach             tiert werden (Nagel 2018). In der Klinik          (z. B. in den letzten 6 Monaten) zwei
Cannabis und Alkohol die zweithöchste         für Kinder- und Jugendpsychiatrie und             Substanzen konsumiert worden sind. Die
Prävalenz im Drogengebrauch bei Ju-           Psychotherapie in Zürich ebenso wie in            Unterscheidung zwischen simultanem
gendlichen. Medikamente werden in             der Kinder- und Jugendpsychiatrie der             und parallelem Konsum sollte in Prä-
der Freizeit zum Erzeugen von Rausch-         Luzerner Psychiatrie wurden wir durch             vention und Behandlung berücksichtigt
zuständen sowie als sogenannte Selbst-        Nachfragen von Schulen und Beratungs-             werden (Nagel 2018).
medikation, z. B. bei Depressionen und        stellen, teilweise den Medien, aber vor

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    Die WHO unterscheidet im ICD-102        gonnen wurde meistens mit der Suche          Hier erhalten Sie Hilfe und Informa-
zwischen Substanz-Missbrauch und            nach einem Umgang mit diesen Sympto-         tionen
Abhängigkeit. Die Abhängigkeit wird         men, z.B. im Wunsch nach einer Betäu-
gemäss ICD-10 als eine Gruppe körper-       bung als Linderung oder aus Neugier. Je      Suchtfachstellen für Betroffene und
licher, verhaltens- und kognitiver Pro-     länger ein solcher Experimentierkonsum       Angehörige
bleme definiert, bei denen der Konsum       dauert, desto schwieriger wird es, diesen    www.suchtindex.ch
einer Substanz oder einer Substanz-         kontrollieren zu können und es kommt         Anonyme Online-Beratung und
klasse für die betroffene Person Vorrang    zu einem Kontrollverlust, der zu einer       Selbsttests
hat gegenüber anderen Verhaltenswei-        Abhängigkeit führen kann. Dies hat dann      www.safezone.ch
sen, die von ihr früher höher bewertet      häufig zur Folge, dass auch zu leicht ver-
wurden. Entscheidende Merkmale der          fügbaren «härteren» Drogen gegriffen         Informationsplattformen für
Abhängigkeit sind Toleranzentwicklung       wird, wie z. B. Kokain.                      Jugendliche
(Wirkverlust) bzw. Dosissteigerung,         Risikofaktoren und Prädiktoren für die       https://www.feel-ok.ch
Entzugssymptomatik sowie verminderte        Prognose der Suchterkrankung sind ein        https://www.ciao.ch
Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns,    früher Einstieg im Lebensalter sowie ein     Informationsmaterialien, Prävention
der Menge und/oder der Beendigung der       rasch intensivierter Konsum.                 www.suchtschweiz.ch
Einnahme.                                       Bei unseren PatientInnen werden
    Ein schädlicher Gebrauch wird dia-      vielfach Vorstufen des problematischen       Combi Checker
gnostiziert, wenn der Substanzkonsum        Konsums nicht frühzeitig erkannt. Was        Checke die Auswirkungen vom
zu nachweisbaren körperlichen oder          für eine Früherkennung in den Kliniken       Kombinieren zweier Drogen
psychischen Schädigungen geführt hat,       wichtig ist, sind                            https://combi-checker.ch
jedoch kein Abhängigkeitssyndrom vor-       – klinische Beobachtungen über einen         «Medikamente als Drogen»
liegt (Dilling et al. 2015).                   längeren Zeitraum,                        Factsheet November 2020: Für Jugend-
    Das Vollbild einer Polytoxikomanie      – mehrfache Befragungen,                     liche und ihre Eltern
im Sinne eines multiplen Substanzge-        – der Einbezug verschiedener Bezugs-         https://tinyurl.com/y6tyknsd
brauchs über mehr als sechs Monate ent-        personen oder
wickelt sich bei Jugendlichen nur selten.   – objektive Masse (Laborwerte).              ist oder ob die Bereitschaft darüber zu
Biologische, psychologische und soziale                                                  sprechen sowie die Suche nach Hilfe und
Faktoren spielen bei der Entwicklung        Die Eltern sind über den Konsum ihrer        Beratung seitens der Bezugspersonen
der verschiedenen Stadien und Ausprä-       Kinder oft wenig informiert und die Be-      zugenommen hat. Auch in einschlägi-
gungen einer Abhängigkeit eine wichtige     ziehungsmuster innerhalb belasteter          gen modernen Fachlehrbüchern zum
Rolle (Bilke-Hentsch 2019).                 Familien teilweise bereits dysfunktional.    Thema (z. B. Arnaud & Thomasius 2019;
    Die Diagnose einer Medikamentenab-      Der Konsum wird versteckt. Vielfach          Bilke-Hentsch & Lemenager 2019) er-
hängigkeit ist nicht einfach: Entzugser-    findet ein Wechsel in eine andere Peer-      scheint das Phänomen des missbräuch-
scheinungen beim Absetzen des Medika-       gruppe statt, in welcher der Konsum          lichen Medikamentenkonsums nur am
mentes werden oft als Wiederauftreten       ein fester Bestandteil ist. Mehrere Subs-    Rande. Da das Problem kaum bekannt
der Ausgangsbeschwerden gedeutet. Ver-      tanzen werden wahllos konsumiert. Die        ist, muss von einer hohen Dunkelziffer
gesslichkeit, verminderter Antrieb und      Beobachtungen der LehrerInnen, Freun-        des Gebrauchs ausgegangen werden. Die
geringe Anteilnahme am sozialen Umfeld      dInnen, HausärztInnen, TrainerInnen          heutige Verfügbarkeit und die relativ
sind häufige Begleiterscheinungen der       etc. sind für die Einschätzung der Ge-       risikolose Beschaffung per Kurier oder
Medikamenteneinnahme, die nicht als         fährdung sehr wichtig. Für die Zukunft       mit einem separat angemieteten Brief-
Abhängigkeit wahrgenommen werden.           ist es notwendig, Früherkennungskri-         kasten verschärft die Problematik durch
                                            terien zu entwickeln und das erweitere       erleichterten Zugang. Die Mischung aus
Abhängigkeitsentwicklung bei                Umfeld einzubeziehen, damit der Risiko-      leistungs- und vergnügungssteigernden
Jugendlichen                                konsum noch vor einer Suchterkrankung        Substanzen auf der einen und sedieren-
Das Jugendalter ist eine besonders kri-     erkannt werden kann.                         den, entspannenden Substanzen auf der
tische Lebensphase für die Entwicklung                                                   anderen Seite muss gerade bei jungen
von Suchterkrankungen (vgl. Bilke-          Verändertes Konsumverhalten                  Leuten diagnostisch klar erfragt und be-
Hentsch & Reis 2019), während der sich      Zurzeit existiert keine Statistik zum Al-    wertet werden.
bei vulnerablen Personen häufig ein         ter der PatientInnen in der Kinder- und
missbräuchliches bzw. abhängiges Kon-       Jugendpsychiatrie, die über NMGVM            Komorbide Störungen
summuster etabliert, das sich bis hin zu    berichten. Aktuell beobachten wir eine       Die Diagnostik der psychischen Ko-
einer chronischen psychischen Störung       Zunahme von 13- bis 15-Jährigen, die be-     morbiditäten ist für die Beurteilung des
mit hohem Rückfallpotenzial entwickeln      reits Alprazolam (Xanax®), ein anderes       Drogenkonsums im Jugendalter absolut
kann. Die Jugendlichen berichten oft-       Benzodiazepin oder Codein ausprobiert        relevant. Unsere Erfahrungen zeigen,
mals über den Wunsch, stressbelastete       haben. Dabei bleibt unklar, ob die Anzahl    dass Jugendliche häufig die Zusammen-
Symptome damit lindern zu wollen. Be-       der jüngeren Konsumierenden gestiegen        hänge zwischen psychischen Erkran-

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kungen und Suchtmittelkonsum nicht           dieser Substanzen birgt die verstärkte      Prävention von Medikamentenmiss-
oder nur unzureichend erkennen. Trau-        Gefahr von Vergiftungen. Die letale         brauch bei Jugendlichen
mafolgestörungen, Bindungsstörungen          Wirkung durch den Mischkonsum ist in        Seit einigen Jahren ist der Medikamen-
aller Art sowie ADHS gehen oftmals mit       den Todesfällen der Jugendlichen in den     tenmissbrauch unter Jugendlichen im
Suchtmittelkonsum einher (vgl. hierzu        letzten Jahren nach pathologisch-foren-     Zusammenhang mit codeinhaltigen Hus-
ausführlich Fischer/Möller 2020). Die        sischen Untersuchungen bestätig wor-        tenmittel vermehrt Thema. Ungefähr seit
betroffenen Jugendlichen versuchen Alb-      den. Die Folgen können Atemsillstand        2019 kamen Benzodiazepine wie Xanax
träume, emotionale Erinnerungen sowie        sowie Herz-Kreislaufprobleme sein.          und Opioide wie Fentanyl und Oxycodon
das Schmerzgedächtnis zu unterdrücken.       Häufig ergänzen sich diese Substanzen       dazu. Aus Präventionssicht gilt es im Mo-
Sie experimentieren zuerst mit Cannabis      und werden von KonsumentInnen ge-           ment vor allem über die Gefahren dieser
und/oder Alkohol, um sich «entspannen        nutzt, um Nebenwirkungen der primär         Medikamente aufzuklären und dabei be-
zu können». Dieser Konsum wird im            eingenommenen Substanz zu lindern.          sonders die Risiken des Mischkonsums
Laufe der Zeit ergänzt mit der Einnahme      Z. B. werden Benzodiazepine gebraucht,      hervorzuheben. An die Gruppe der be-
von Tabletten (u. a. Xanax®). Der Kon-       um das «Herunterkommen» nach einem          reits Konsumierenden müssen gezielte,
sum hat anfänglich die Funktion einer        «Drogentrip» abzufedern. Die Kombina-       schadensmindernde Hilfestellungen ver-
symptomreduzierenden Selbstmedika-           tion von verschiedenen Benzodiazepi-        mittelt werden, die aus professionellen
tion, wird aber später oft selbst zum Pro-   nen miteinander oder mit Alkohol und        Fachkreisen stammen. Dazu sollten ver-
blem. So dient er als «Bindemittel» im       Codein/Opiat-haltigem Hustensaft ist        mehrt auch aktuelle Social-Media-Kanäle
sozialen Kontext, führt dort zu scheinbar    eine gefährliche sedierende Mischung.       verwendet werden, wie beispielsweise
guten Gefühlen, wo auf Grund fehlender       Die Jugendlichen experimentieren und        YouTube oder Instagram. Damit allein
Bindungssicherheit keine soziale Ver-        beginnen, die unterschiedlichen Drogen      ist es aber noch nicht getan. Den Fach-
stärkung (Lob, Anerkennung, Fürsorge,        zu verschiedenen Zwecken zu benut-          personen fehlen zurzeit fundamentale
Liebe, Freundschaft) mehr stattfinden        zen. Eine weitere Problematik dabei ist,    Daten zur Zielgruppe. Diese sind not-
kann. PatientInnen, die traumatisiert        dass sie oft «Cocktails» verschiedener      wendig, um die Präventionsmassnahmen
und suchterkrankt sind, haben häufig         Substanzen konsumieren. Dabei ist nicht     möglichst differenziert und zielgruppen-
Ungenauigkeiten und bruchstückhafte          klar, welche Substanzen in welcher Kon-     adäquat entwickeln und dann vermitteln
Erinnerungssequenzen.                        zentration sich in diesen «Cocktails»       zu können. Aus diesem Grund werden
    Besonders bei zurückhaltenden und        befinden.                                   dringend mehr Informationen über
subdepressiven Mädchen wird der Miss-                                                    die Gruppe der Konsumierenden be-
brauch von Medikamenten häufig nicht         Diagnostik                                  nötigt: Wer konsumiert und wieso? Wie
erkannt. Jungen sind teilweise expansiv      Das diagnostische Prozedere entspricht      bekannt und bewusst sind die Risiken?
und sozial verhaltensauffällig. Eine ge-     den üblichen Vorgehensweisen bei psy-       Werden Schadensminderungsstrategien
naue Anamnese und Befunderhebung             chischen Erkrankungen im Kindes- und        angewendet und wenn ja, welche und
werden in jedem Fall benötigt. Aufmerk-      Jugendalter im Sinne des multiaxialen       von wem? Daneben sind zielgerichtete
samkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung      Klassifikationsschemas MAS (siehe           Interventionsmassnahmen gefragt,
(ADHS), depressive Störungen sowie           eingehend Bilke-Hentsch & Reis 2019;        welche problematisch Konsumierende
Persönlichkeitsstörungen sind vielfach       Remschmidt et al. 2017). Für jede Achse     dort erreichen, wo sie sich aufhalten
komorbid vorhanden.                          sollte der funktionale oder ggf. der kau-   (virtuell und physisch) und die auf ihre
                                             sale Zusammenhang mit einer Sucht-          akuten Bedürfnisse ausgerichtet sind.
Der Mischkonsum                              störung herausgearbeitet werden. Häufig     Gleichzeitig sind MultiplikatorInnen, wie
Die Risikowahrnehmung bei den Ju-            stehen bei suchtkranken Jugendlichen        Lehrpersonen und Jugendarbeitende, zu
gendlichen spielt eine grosse Rolle in       akute soziale, schulische oder medizi-      sensibilisieren. Ihnen sollte das aktuelle
der Intensität des Konsums der psycho-       nische Probleme im Vordergrund, die         Wissen vermittelt werden, damit sie ihre
aktiven Substanzen. Sensation Seeking        bewältigt werden müssen. Komorbide          Funktion im Bereich der Früherkennung
beschreibt ein Persönlichkeitsmerkmal,       Problematiken sind für die Diagnostik       und Frühintervention optimal ausüben
das durch die Verhaltenstendenz charak-      einer Polytoxikomanie, Beurteilung der      können. Bei der Frage, wie verbreitet der
terisiert ist; abwechslungsreiche, neue,     Chronifizierung und Therapierbarkeit        Konsum ist, besteht Unsicherheit. Dies
komplexe und intensive Eindrücke (sen-       sowie für die Rückfallprognose von ho-      macht die Gratwanderung zwischen ei-
sation engl. = «Sinneseindruck, Empfin-      her Bedeutung. Deren Diagnostik erfolgt     ner ungewollten Bewerbung des Phäno-
dung»), Erlebnisse und Erfahrungen zu        systematisch nach den Leitlinien der        mens bei Nicht-Konsumierenden und die
machen und Situationen aufzusuchen           wissenschaftlichen Fachgesellschaften       Erreichung zielgerichteter Botschaften
und hierfür oft Risiken auf sich zu neh-     und sollte nicht durch akuten Hand-         an die Gruppe der KonsumentInnen be-
men. Die Kombination vom «sensation          lungsdruck vernachlässigt werden.           sonders in der Distribution von Präven-
seeking» sowie der Wunsch, Wahrneh-                                                      tionsmassnahmen zur Herausforderung.
mungen und Stimmungen zu verändern,          Therapieplanung                             Kontakt:
können zum Konsum von mehreren               Aufgrund der individuellen Risikokon-       Domenic Schnoz, schnoz@zfps.ch
Substanzen führen. Die Interaktion           stellation in der Vorgeschichte, des ak-

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tuellen Konsummusters sowie mit Hilfe       Anstoss zu Veränderungen im Sinne des        dikamentenkonsum von Jugendlichen
der MAS-diagnostizierten Auffälligkeiten    «Motivational Interviewing» ist ange-        bis anhin wenig Beachtung. Langfristige
wird ein individueller Therapieplan her-    zeigt. Die Psychoedukation zur Wirkung       prospektive Projekte zur Datenerhebung
stellt. Häufig handelt es sich zunächst     und Gefahr der ehemals als «Wunder-          hinsichtlich Art des Medikamenten-
um Akutinterventionen. Die Festlegung       tablette» wahrgenommenen Substanzen          konsums und Motivation zur Einnahme
von Zielen sollte wenn möglich parti-       ist wichtig. Die Jugendlichen benötigen      wären wichtig. Neben der adoleszenten
zipativ in enger Abstimmung mit dem         funktionale Bewältigungsstrategien, wel-     Neurobiologie sind hier das Belohnungs-
Patienten bzw. der Patientin, aber auch     che die Selbstwirksamkeit und Selbst-        system, das Motivationssystem, die
anderen betroffenen Personen erfolgen.      regulation fördern. Diese sollen in der      Impuls- und die Emotionssteuerung
Während der diagnostischen Phase be-        Peergruppe geübt werden.                     zu untersuchen, wobei Alters- und Ge-
nötigen PatientInnen Hilfe, um eine                                                      schlechtseffekte einzubeziehen sind.
Hierarchisierung der Behandlungsziele       Prognose
festzulegen. Die PatientInnen sollen        Die Rückfallwahrscheinlichkeit ist in-
Problemeinsicht und die Motivation          nerhalb der ersten drei Monate nach
zu einer weiterführenden Behandlung         stationärer Behandlung besonders gross.      Neue Studie
erlangen. Kritische und ambivalente         Am stärksten rückfallgefährdet sind Ju-      Wodka, Benzos & Co.: Jugendliche
Jugendliche benötigen bei jedem The-        gendliche mit komorbiden psychischen         mit Mischkonsum
rapieschritt Klarheit über die geplan-      Störungen, hoher psychosozialer Belas-       Fachpersonen befürchten eine besorgnis-
ten Schritte, verlässliche Zusagen und      tung, geringem Interesse an Schule bzw.      erregende Zunahme des Mischkonsums
wertschätzende Kommunikation der            Beruf, geringen sozialen Fertigkeiten,       von Alkohol mit anderen psychoaktiven
Hilfeanbietenden. Verhaltensorientierte     wenig aktiver Freizeitgestaltung und         Substanzen (v. a. Medikamenten) bei Ju-
Interventionen sind unverzichtbare          solche, die in einer devianten Freundes-     gendlichen. Allerdings fehlen verlässliche
Komponenten jedes Behandlungspro-           gruppe verbleiben oder bei denen keine       Daten zu diesem potenziell neuen Kon-
gramms.                                     Nachbehandlung erfolgt. Deshalb sollte       sumphänomen. Ebenso sind bisher keine
    Qualifizierte Entzugsbehandlungen       im Rahmen der Behandlung ein konti-          systematisierten Ansätze zur effektiven
sollten idealerweise in spezialisierten     nuierlicher Übergang der Patientin oder      Prävention vorhanden. Im geplanten
KJPP-Kliniken stattfinden. Eine gemein-     des Patienten in eine multimodale auf        Projekt werden diese Kenntnisse erho-
same Behandlung süchtiger Kinder und        Suchtproblematik spezialisierte Nachbe-      ben. Mit betroffenen Jugendlichen sollen
Jugendlicher mit solchen PatientInnen,      handlung sichergestellt werden.              zudem partizipativ Wege zur Risikomin-
die aufgrund anderer psychiatrischer            Derartige ambulante Angebote sind        derung in ihren Netzwerken erarbeitet
Störungsbilder und Problematiken sta-       wohnortnah in Kooperation mit Sucht-         werden. Ergänzend werden Interven-
tionär aufgenommen werden, sollte in        beratungsstellen aufzubauen und kanto-       tionen in verschiedenen Kantonen und
Anbetracht ungünstiger gegenseitiger        nal zu fördern.                              Gemeinden entwickelt und eingeführt.
Einflussnahme vermieden werden. Auf                                                      Folgende Projektelemente sind vorgese-
der anderen Seite kann die gemeinsame       Ausblick                                     hen: (1) Befragung (online) von Jugend-
Behandlung erwachsener Suchtkranker         Absolut entscheidend für die Verbrei-        lichen zu Mischkonsum. (2) Erstkontakt
Kinder und Jugendliche mit einem Subs-      tung des problematischen Tablettenkon-       und beziehungsgeleitete Triagierung be-
tanzmissbrauch ungünstig beeinflussen.      sums ist die Verfügbarkeit bestimmter        troffener Jugendlicher zu geeigneten Be-
Notwendig ist daher ein eigenes Behand-     Substanzen auf dem Markt. Gemeinsam          ratungsangeboten. (3) Erarbeitung eines
lungssetting für suchterkrankte Minder-     sind ÄrztInnen, PharmazeutInnen/Apot-        Konzepts zur Risikominderung durch
jährige, das dem Entwicklungsstand und      hekerInnen und Herstellende, aber auch       die Fachinstitutionen und unter aktiver
den schulischen sowie pädagogischen         die Gesellschaft insgesamt, verpflichtet     Mitarbeit von Peer-Netzwerken betrof-
Entwicklungsanforderungen junger Men-       auf die besonders vulnerablen Risiko-        fener Jugendlicher. (4) Erarbeitung von
schen angepasst ist. Nicht selten finden    gruppen und Altersstufen zu achten.          Empfehlungen für Massnahmen für die
die Entzugsbehandlungen jedoch aus          Ein geduldetes Ausprobierverhalten bei       Gemeinden/Kantone und die Politik. Das
Mangel an altersspezifischen Angeboten      Opiaten, Benzodiazepine usw. hat unter       Projekt wird durch das Schweizer Insti-
in psychiatrischen Einrichtungen für Er-    dem Public-Health-Aspekt volksgesund-        tut für Sucht- und Gesundheitsforschung
wachsene statt. Erst in einem zweiten       heitlich eine völlig andere Konsequenz,      zusammen mit der Zürcher Fachstelle
Schritt kann die jugendpsychiatrische       als dies bspw. beim Cannabis der Fall ist.   zur Prävention des Suchtmittelmiss-
Weiterbehandlung komorbider psychia-            Der Ausbau von Früherkennungssys-        brauchs ZFPS und in enger Absprache
trischer Störungen in der Klinik für Kin-   temen ist relevant und muss gefördert        mit Infodrog durchgeführt.
der- und Jugendpsychiatrie stattfinden.     werden.                                      (Über-)regionale Fachstellen sowie be-
    Im Umgang mit Jugendlichen mit              Ein Ausbau spezifischer kinder- und      troffene Netzwerke der Jugendlichen
einer Suchterkrankung ist Empathie          jugendpsychiatrischer Suchtabteilungen       sind aktiv involviert.
wichtig sowie die Förderung der Selbst-     mit altersspezifischen Behandlungs-          Kontakt: Corina Salis Gross,
wirksamkeit. Eine wohlwollende und ak-      zugängen wäre zu befürworten. In der         corina.salisgross@isgf.uzh.ch
zeptierende Haltung bei gleichzeitigem      Forschung und Literatur findet der Me-       und Domenic Schnoz, schnoz@zfps.ch

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SUCHTMAGAZIN                  06/2020

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Arnaud, N./Thomasius, R. (2019): Substanz-           ICD-10 - Internationale Klassifikation psy-   1
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   missbrauch und Abhängigkeit bei Kindern           chischer Störungen. Göttingen: Hogrefe.         nuten vom 05.09.2020 (https://tinyurl.com/
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                                                                                                     Vgl. Unterscheidung der WHO im ICD-10
   018-0616-x                                        Bahre. Suchtmagazin 44(1): 6-10.                (International Statistical Classification of
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