PROGRAMMZEITUNG KULTUR IMRAUMBASEL - MENSCHEN, HÄUSER, ORTE, DATEN
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Menschen, Häuser, Orte, Daten ProgrammZeitung CHF 8.00 | EUR 6.50 Januar 2013 | Nr. 280 Kultur im Raum Basel Monarchinnen, Revolutionäre, Büchereulen
12.1-17.2 2013 Zehn Bands VingT lieUX cenTo conceRTi diagonales.ch Kulturscheune LiestaL Justus Frantz Kasernenstrasse 21a, www.kulturscheune.ch & Philharmonie 25.1.13 20.00 haRMonie gReBeR holUndeRBlÜTen 26.1.13 20.00 gRUMiX RosseT MeYeR geigeR der Nationen Designerin/Designer 25.01.2013 Künstlerin/Künstler OpenHouse 20.00h Freitag,11. Januar 2013 Stadtcasino Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW 12 bis 19 Uhr in allen Instituten Programm unter www.fhnw.ch/hgk Basel Musiksaal Mandla Mathieu K. Reuter Abonnenc Neujahrskonzert 18.01.–10.03.2013 03.02.–01.04.2013 Karten sind erhältlich bei Bider & Tanner, Vernissage: Donnerstag, 17.01.2013, 19h Vernissage: Samstag, 02.02.2013, 19h ihr Kulturhaus mit Musik Wyler Tel.: 061 206 99 96 sowie an allen üblichen Vorverkaufsstellen oder www.biderundtanner.ch STEINENBERG 7 CH-4051 BASEL · T: +41 61 206 99 00 · F: +41 61 206 99 19 info@kunsthallebasel.ch · www.kunsthallebasel.ch · Di/Mi/Fr 11–18 Uhr · Do 11–20.30 Uhr · Sa/So 11–17 Uhr Werke von Rossini, De Falla, Rimsky-Korsakow und Mussorgsky Preise: CHF 85.-/73.-/62.-/45.-/32.- Veranstalter: Philharmonie der Nationen GmbH Mittelweg 20 · 20148 Hamburg
Nichts ist sicher ... dagm a r bru n n e r Editorial. Wer weiss, ob Sie dieses Editorial noch lesen können, schliesslich musste es wegen der Feiertage bzw. des frühen Drucktermins vor dem 21. Dezember geschrie- ben werden, dem (je nach Interpretation) vom Maya-Kalen- der prognostizierten Weltuntergangstag. Falls wir noch- mals davonkommen, ist freilich keineswegs alles in Butter. Im vergangenen Sommer z.B. hat das Parlament das Asyl- gesetz, das seit 30 Jahren permanent revidiert wird, weiter verschärft. Es dient nicht mehr dazu, Menschen in Not zu Filmstill aus: helfen, sondern will möglichst viele Betroffene möglichst Und weil sich der Jahresanfang für existenzielle Fragen be- ‹Briefe eines Toten›, von rasch und billig wieder loswerden. Just Kriegsflüchtlinge sonders eignet, sei noch auf das neue Langzeitprojekt von Konstantin können z.B. keine Asylgesuche mehr bei einer Schweizer Mats Staub verwiesen. Der Theatermann arbeitet nicht auf Lopuschanski, Botschaft im Ausland einreichen, Dienstverweigerung der Bühne, aber im Kontext von Theaterhäusern. Er sam- UdSSR 1986. Zur Reihe ‹All oder Desertion sind keine Asylgründe mehr, sog. ‹schwie- melt Erinnerungen zu bestimmten Themen, die ihm zur Over, Again! – rige› Asylsuchende werden in Spezialzentren gesperrt und Verfügung gestellt werden (etwa über ‹Meine Grosseltern›, Die Endzeit im erhalten nur noch Nothilfe, die Frist zur Niederlassung an- ‹Feiertage› oder ‹5000 Liebesbriefe›) und die er mit ver- Film›, Stadtkino Basel u S. 47 erkannter Flüchtlinge soll verlängert, das Familienasyl und schiedenen Medien künstlerisch verdichtet und präsen- die Rechtsmittel eingeschränkt werden etc. tiert. Auch am neuen Projekt können sich alle Interessier- Aus Wohlstandsängsten, Unwissenheit und Vorurteilen ten beteiligen; gefragt wird nach den ‹Zehn wichtigsten wird Diskriminierung statt Schutz geboten. Flucht ist aber Ereignissen meines Lebens›. Ausgewählte Lebensläufe von kein Verbrechen und darf nicht bestraft werden. Migration Theaterschaffenden und -publikum werden an bedeuten- ist ein Menschenrecht. Verschiedene Organisationen haben den Orten des freien Theaters ausgestellt, u.a. in Basel und deshalb das Referendum ergriffen, dessen Frist am 17.1. Birsfelden. abläuft. 50’000 Unterschriften können dazu beitragen, eine Fakten und Zahlen zum Asylgesetz: www.jetzt-ist-genug.ch weitere Verschlimmerung der eh schon beschämenden «Das hier ... ist mein ganzes Leben.» 13 Porträts von abgewiesenen Situation zu verhindern. Wie der Alltag abgewiesener Asyl- Asylsuchenden mit Nothilfe in der Schweiz. 13 Porträts und Gespräche. suchender mit Nothilfe in der Schweiz aussieht, kann man Hrsg. Solidaritätsnetz Ostschweiz u.a., Limmat Verlag, Zürich, 2012. 239 S., gb., CHF 34 im Porträt- und Gesprächsband ‹Das hier ... ist mein ganzes Leben› nachlesen. Die Lektüre gibt Einblick in berührende Ausserdem: Informationsveranstaltung zur Asylunterkunft an der Mittleren Str. 37: Di 15.1., 18.30, Bernoullianum Lebensgeschichten und in dunkle Seiten unserer Gesell- Bärentag: Sa 12.1., ab 14 h, Matthäuskirche, Bärenmähli/Fest: ab 18 h, schaft. Kaserne Basel u S. 35, Infos: www.baerengesellschaft.ch Mehr über das Leben von MigrantInnen in Basel lässt sich Mats Staub, ‹Zehn wichtigste Ereignisse meines Lebens›: Mi 9.1., 18 h, u.a. am ‹Bärentag› erfahren, der mit einem Umzug durchs Kaserne Basel und Theater Roxy, Birsfelden u S. 36 Kleinbasel, gekrönt von einer Tischrede der ‹obersten www.zehn-wichtigste-ereignisse-meines-lebens.net Schweizerin›, Nationalratspräsidentin Maya Graf, sowie mit musikalischen und kulinarischen Kostproben aus aller Welt auf die Fasnacht einstimmt. Hauskultur Grosszügigkeit für das Projekt, das die Programm- Zeitung fit für die Zukunft machen wird!* ischen Förderpreis Kultur in Empfang nehmen. Das Engagement dieser höchst kreativen jungen db. «Ich erhalte jeden Tag per Mail die ProZ- Unabhängig von diesen Plänen haben wir einen Designszene ist beeindruckend und auch für uns Tagesagenda und schneugge dann ein paar Se- Teil unserer Abopreise leicht erhöht, um diverse eine Bereicherung! kunden darin rum, dabei finde ich öfters etwas, Kostenzunahmen abzufedern. Das Jahresabon- Erfolgreich sind auch unsere Schreibenden. was ich gerne sehen/hören möchte. Das ist mir nement kostet ab 2013 CHF 78 (bisher 75), das Etwa Marco Franke, der sich Ende Oktober von pro Woche einen Stutz wert, gibt pro Jahr CHF Schnupperabo CHF 14 (statt 12), das Förderabo der Basel Sinfonietta verabschiedete und nun als 50 gerundet. Gibt für die nächsten zehn Jahre CHF 178 (statt 175). Unverändert bleiben ver- Marketingleiter an der Alten Oper Frankfurt CHF 500, und das habe ich heute als Spende günstigte Abos, die wir Menschen mit wenig wirkt. Seine stets kompetenten Artikel für uns überwiesen in der Hoffnung, dass (künftig) das Einkommen anbieten. Die aktuellen Angebote seien hier ebenso herzlich verdankt wie die ge- Angebot noch etwas grösser und aktueller wird.» finden Sie auf unserer Website. Immerhin haben meinsame kulturpolitische Seite ‹Kunstpause/ Dies schrieb uns ein langjähriger Abonnent auf wir keine dramatischen Werbeeinbrüche wie Pausenzeichen› von Guy Krneta und Nicolas unsere Spendenanfrage zum Online-Ausbau. Wir viele andere Medien zu verzeichnen. d’Aujourd’hui, die mit unserem Jubiläumsjahr finden seine Argumentation bestechend und Dass unsere vielseitigen Mitarbeitenden auch beendet wurde. Last but not least empfehlen wir empfehlen sie gerne zur Nachahmung. Gleich- anderswo geschätzt und sogar prämiert werden, Ihnen gerne den ersten, köstlichen Krimi unse- zeitig danken wir den 74 Menschen und Institu- freut uns immer wieder. Anfang Dezember etwa res Autors Raphael Zehnder u S. 13 (Randspalte). tionen, die bisher zusammen 52’399 Franken konnte unser jüngster Kollege Moritz Walther als *Spendenkonto: PostFinance, 45-149924-3, gespendet haben. Und freuen uns über weitere Mitglied von Depot Basel den ersten baselstädt- IBAN CH60 0900 0000 4514 9924 3 Januar 2013 | ProgrammZeitung | 3
Herzliche Einladung zur Vernissage M i t t w o c h , 3 0. J a n u a r 2 0 1 3 , 1 8 . 3 0 U h r A c k e r m a n n s h o f , S t. J o h a n n s - V o r s t a d t 19/ 21, B a s e l Das Stadtbuch ist da ! www.baslerstadtbuch.ch ballett 12 13 DoN QuIChotte graça - Petipa Strasbourg, Oper 8., 9., 11., 12. Januar 20.00 Uhr 13. Januar 15.00 Uhr Colmar, Théâtre 2. Februar 20.00 Uhr 3. Februar 15.00 Uhr Mulhouse, La Filature JANUAR / FEBRUAR 2013 9., 12. Februar 20.00 Uhr 10. Februar 15.00 Uhr saison 2012-2013 - Photo + graPhISMe www.beNoItPelletIer-DIaboluS.Fr - licences n°2-1055775 et 3-1055776 oper DaS SChlaue FÜChSleIN janacek ˇ Strasbourg, Oper 8., 12., 14., 16. Februar 20.00 Uhr Mit deutschen übertiteln 10. Februar 15.00 Uhr liederabend geralD FINley baSS-barItoN www.operanationaldurhin.eu julIuS Drake klaVIer StraSbourg : +33 (0)3 88 75 48 23 Strasbourg, Oper MulhouSe : + 33 (0)3 89 36 28 28 Do. 10 Januar 20.00 Uhr ColMar : +33 (0)3 89 20 29 01
‹Ganz entspannt›. Junger, schläfriger Japanmakake (Japan), Foto: Jasper Doest (NL). Ausstellung ‹Wildlife Photo grapher of the Year› u S. 23, 43 Inhalt 7–25 Redaktion 26–48 Kulturszene 49–74 Agenda 68 Kultursplitter 74 Impressum 75 Kurse 76 Ausstellungen 77 Museen 78 Bars & Cafés 78 Essen & Trinken Cover: ‹Die Alp träumt› (Gina Durler), Vorstadttheater, Grafik: Hauser, Schwarz u S.17, 36
Masterprogramm Kulturmanagement Studiengang 2013 - 2015, Beginn Oktober 2013 Informationsveranstaltung Dienstag, 22. Januar 2013, 18.30 bis 20 Uhr Alte Universität, Rheinsprung 9, Hörsaal 118 www.kulturmanagement.org Orchester Winterkonzert 2013 ng? Buchhaltu der Universität Basel hluss? Franz Schubert Jahresabsc teuer? Mehrwerts Ouvertüre zu «Alfonso und Estrella» Luciano Berio rung? Rendering Steuererklä NOFIBA AG Maurice Ravel www.nofiba.ch Beim Goldenen Löwen 11 4052 Basel ejauch@nofiba.ch Le Tombeau de Couperin Freitag, 20 Uhr 079 687 30 46 11. Januar 2013 Martinskirche Basel Sonntag, 17 Uhr 13. Januar 2013 Ref. Kirche Arlesheim u avl ov aP c hon Ma Olga L e it u ng: 10. November 2012 bis 27. Januar 2013 Schlossplatz 4, Aarau www.forumschlossplatz.ch Vorverkauf ars musica, Hauptstrasse 17, Arlesheim Amman Journal Das Narrenschiff, Steinentorstr. 11, Basel coub.unibas.ch public/space/art WIR TAUCHEN EIN IN SCHWEBENDE AKKORDEONKLÄNGE UND GESCHICHTEN VOLLER SEHNSUCHT UND POESIE! ORGANISATION: RISTO KANTANEN IN ZUSAMMENARBEIT MIT DEM SVFF
Drei nackte Hintern und kein Halleluja a l f r e d s c h l i e nge r ‹Dead Fucking Last› ist der erste Velokurier-Western. schichte unterzujubeln. Dazu muss die Girlie-Chefin Nina Das beginnt ja ganz temporeich mit einem wilden Ritt auf (Oriana Schrage) mit ihrem Offroader gleich zweimal den Stahlrössern, quer durch den industriell-urbanen den ‹Genossenschafts›-Frontmann Tom auf seinem Bike Dschungel, in dem sich unsere drei Helden hoffnungslos versehentlich über den Haufen fahren, auf der Soli-Disco verfahren und im Wettrennen der Velokuriere prompt den versehentlich mit ihm im Getränkekeller eingeschlossen ‹Dead Fucking Last›-Preis für die Hinterallerletzten holen. werden, ihm beim nächtlichen Downhill-Ride die Schul- Die Rennparty hält für die Geschlagenen aber noch einen ter wieder einrenken. Das Einzige, was knistert, bleibt das weiteren Trost bereit: Als Velo-Pioniere der ‹Genossen- Papier, auf dem das entworfen wurde. schaft› werden sie für das 25-jährige Bestehen ihrer kulti- Aber um gerecht zu sein: Es gibt in ‹Dead Fucking Last› gen Kurierfirma geehrt. durchaus ein paar flotte Sprüche – und eine beste Szene. Das alternative Trio, das sind Tom (Michael Neuenschwan- Als bei den technologisch avancierten ‹Girls.Messengers› der), der cholerische Coolio, immer das Zündhölzchen so der Computer ausfällt, lotst Tom die Konkurrenz-Fahrerin bissig wie schnippisch zwischen den Zähnen jonglierend, per Funk und mit seinem irren Orientierungssinn traum- der allzu nett-naive Andi mit Familienpflichten (Mike wandlerisch sicher durchs Stadtgewühl, und gerne teilt Müller) und schliesslich der WG-Revoluzzer ‹Venceremos!›- man sein sichtliches Vergnügen dabei. Michael Neuen- Ritzel (Markus Merz), zuständig für die antikapitalisti- schwander zuzuschauen, macht generell Spass, und im schen Guerilla-Slogans. Das Renndesaster bleibt nicht die Gegensatz zu den übrigen Chargen verleiht er seiner Figur einzige Niederlage der liebenswerten Loser, denn dieser Profil. Schliesslich findet der Film auch zu einem charman- Velokurier-Western funktioniert etwas absehbar nach dem ten Ende, und dennoch bleibt man bei dieser Velo-Komödie Gesetz von Murphy: Was schief gehen kann, geht schief. (Regie: Walter Feistle, Drehbuch: Uwe Lützen), die mit Der brutale Einbruch im Geschäftlichen kommt, als mit einem Budget von 1,6 Millionen Franken nicht wirklich als ‹Girls.Messengers› plötzlich eine Konkurrentin auf dem Low-Budget-Produktion bezeichnet werden kann, bleiern Markt auftaucht, jung, clever, sexy – und von Kopf bis Fuss im Kinosessel hängen. Es fehlt an echten Überraschungen. weiblich. Das trifft die alten Kämpen bis ins Mark. Die Der alternative Szene-Groove wirkt plakativ. Die einzelnen Girlisierung der Velokurier-Szene droht, und als auch der Episoden erinnern in ihrer schlichten Dramaturgie oft mehr Karrierist und ehemalige Mit-Genossenschafter Fat Frank an Werbespots als an Kino. Hingegen glaubt man der Crew (wunderbar ölig: Roeland Wiesnekker) zur attraktiven gerne aufs Wort (vor allem bei der wilden Spritzorgie im Konkurrenz mit der smarten Werbung überläuft, herrscht Showdown), dass alle mit Enthusiasmus dabei waren und Panik. Was tun? Solidaritäts-Disco? Eigene Werbeoffen der Dreh unglaublich Spass gemacht haben muss. Wie Filmstill aus sive? Neues Outfit? Nacktschwimmen in der Limmat? Alles schade, dass man vom Zuschauen im Kinosessel nicht das- ‹Dead Fucking gerät zum buchstäblichen Schlag ins Wasser. selbe behaupten kann. Last› (v.l.n.r. Schlichter Spass. Je länger der Film dauert, desto mehr Der Film läuft derzeit in einem der Kultkinos. Mike Müller, hört man das Drehbuch rascheln. Am lautesten beim Ver- Michael Neuen- such, der bewegten Männerkomödie noch eine Liebesge- schwander, Markus Merz) Januar 2013 | ProgrammZeitung | 7
Flanieren geht über Studieren a l f r e d s c h l i e nge r ‹Oh Boy› folgt einem subtilen Beobachter des Alltags. lichen aus der Reserve zu locken. Wie Schilling mit sei- Es ist ein erstaunliches Debüt, das Jan Ole Gerster (Regie ner dosierten Spielweise diesen Balanceakt meistert, ist und Drehbuch) hier vorlegt, und sicher einer der entspann- schlicht grossartig. testen und zugleich stilsichersten Filme, die in den letzten Selbst die Nebenrollen, nicht gerade selbstverständlich für Jahren aus Deutschland in unsere Kinos gekommen sind. einen Erstling, sind mit Michael Gwisdek als Bartheken- Wir erleben einen Tag und eine Nacht mit dem Endzwanzi- Bekanntschaft Friedrich, Marc Hosemann als Freund ger Niko Fischer (Tom Schilling), der sich durch ein Berlin Matze und Friederike Kempter als ehemalige Schulkollegin jenseits der Sehenswürdigkeiten treiben lässt. Vor zwei Julika hervorragend besetzt. Was den Film auch in seiner Jahren schon hat er sein Studium geschmissen, und als sein Struktur auszeichnet, ist seine ‹gefüllte› Beiläufigkeit. Das Vater (herrlich arrogant: Ulrich Noethen) dahinterkommt wirkt bei allem Witz ganz ohne pseudodokumentarischen und ihn zu seinem Tun befragt, antwortet er: «Ich habe Touch wie selbst erlebt. In diesem dem Zufall huldigenden nachgedacht.» – «Worüber?» – «Über mich.» Und weil er Film ist natürlich nichts zufällig. So steht dem aufgepluster- damit, zum Glück, noch nicht fertig ist, tauchen wir ein in ten Nazi-Film-Set eine echte Kristallnacht-Episode ohne einen urbanen Zufallsstrom, so kurios wie berührend. In jegliches Bild gegenüber, bei der gar kein entsprechender stilvollem Schwarzweiss gedreht, ist ‹Oh Boy› ein unauf- Begriff fallen muss. Und nicht zuletzt ist dieser Film mit dringliches Generationenporträt, in dem Melancholie, Humor einem jazzigen Soundtrack unterlegt, der den Strom der und Poesie eine wunderbare Mischung eingehen. exquisiten Bilder mal leichtfüssig kontrastiert, mal mit Frühmorgens stiehlt sich Niko aus dem Bett der (Noch-) wehmütig tropfenden Klavierklängen überhöht. Freundin, verpasst um ein Haar die Vorladung beim Ver- ‹Oh Boy› lässt sich klug Zeit für die Entfaltung eines Lebens- kehrspsychologen, der ihn in einem irrwitzigen Verhör als gefühls der reflektierenden Orientierungslosigkeit. Jedes «emotional unausgeglichen» abstempelt, wird vom Einsam- Bild, jede Pause, jeder stumme, befremdliche Blick erzählt keitskoller eines Nachbarn traktiert, von einem Freund auf etwas. Wie Niko das alte Bild mit sich und der Freundin ein Filmset geschleppt, wo gerade ein schwülstiges Nazi- anschaut, wie er sich die Zigarette am Toaster anzündet, Drama abgespult wird – aber nirgends kommt der Antriebs- wie er unter der Dusche das Wasser an sich runterrinnen schwache zu dem Schluck Kaffee, nach dem er sich einen lässt. Von der ersten bis zur letzten Minute schaut man gerne langen Tag und eine noch längere Nacht so sehnt. Das Epi- zu, auch wenn nichts Weltbewegendes passiert. Eine liebe- sodische passt zum Befinden des Protagonisten, und dass volle Schrägheit, die nicht aufgesetzt wirkt, durchzieht den dies alles nicht zusammenhangslos auseinanderdriftet, hat ganzen Film. Selbst der Running Gag des verhinderten Kaffee mehrere Gründe. trinkers ist so variantenreich und stimmig eingesetzt, dass Reflektierende Orientierungslosigkeit. Tom Schilling ist er weit mehr ist als ein Gag, schon eher eine Metapher für eine Idealbesetzung für dieses sympathische Treibgut Niko. eine Befindlichkeit, von der man nach diesem Film gar Sein erstaunter, zurückhaltend beobachtender Blick wird nicht möchte, dass sie allzu schnell verschwindet. von der schweifenden Kamera aufgenommen. Dieser ziel- Der Film läuft ab Do 10.1. in einem der Kultkinos u S. 46 lose Flaneur lässt sich zwar treiben, aber er ist keineswegs Filmstill aus teilnahmslos. Es braucht einfach viel, um den Nachdenk- ‹Oh Boy› 8 | ProgrammZeitung | Januar 2013
Parabel existenzieller Einsamkeit a l f r e d s c h l i e nge r Mit ‹Die Wand› kommt Marlen Haushofers Kultbuch, das als unverfilmbar galt, ins Kino. Das Buch, dessen Verfilmung hier vom Österreicher Julian Pölsler versucht wird, ist bereits vor 50 Jahren erschienen. Aber zu Lebzeiten der Autorin (1920–1970) wurde es wenig beachtet. Erst seit den 80er-Jahren, im Zuge der Frauen- und Friedensbewegung, entwickelte es sich zu einem Kult- buch und Weltbestseller, der inzwischen in 19 Sprachen übersetzt ist. «Wenn mich jemand nach den zehn wichtigs- ten Büchern in meinem Leben fragen würde», meinte Elke Heidenreich, «dann gehörte dieses auf jeden Fall dazu.» Ein gutes Omen für eine cineastische Umsetzung? Eine Frau mittleren Alters (Martina Gedeck) fährt mit einem befreundeten Ehepaar für ein Wochenende in eine Berghütte. Das Paar will noch ins nahe Dorf, kommt aber am Abend und auch am nächsten Morgen nicht zurück. Beunruhigt erkundet die Frau mit Luchs, dem Hund der Freunde, die nähere Umgebung und stösst dabei auf eine unsichtbare, wie gläserne Wand, die sie von der gesamten übrigen Welt ausschliesst. Was ist geschehen? Bald stellt sie fest, dass jenseits der Wand alles tot ist. Eine Katastrophe? Filmstill aus Ein Gift, ein Gas, eine Bombe, die alles Leben abtötet, wehr. Demgegenüber verfallen die Bilder des Films manch- ‹Die Wand› Gebäude und Infrastruktur aber bestehen lässt? mal dem Hang zu ungebrochener Naturschönheit und be- Sowohl das Buch als auch der Film sind alles andere als dienen damit im Kreislauf der Jahreszeiten da und dort ein auf äusserliche Effekte zielende Katastrophenberichte. ‹Die unpassendes Postkartenidyll. Wand› ist vielmehr eine eindringliche Parabel über tiefste Mit seinem Generalton aber trifft der Film durchaus den innere Einsamkeit, eine Metapher für den ganz und gar auf Nerv des Romans und entwickelt einen Sog, dem man sich sich selbst zurückgeworfenen Menschen. Geht diese totale schwer entziehen kann – falls man sich auch auf die Ab- Isolation vielleicht vorüber? Soll die namenlose, von allem gründe einlassen will, die dieses Existenzdrama bereithält. abgeschnittene Frau sich umbringen, statt das drohende Gleich zu Beginn ihres Berichts vermerkt die isolierte Frau: Ende einfach abzuwarten? Oder soll die elegante Städterin «Ich schreibe nicht aus Freude am Schreiben; es hat sich versuchen, sich in der für sie völlig ungewohnten Umge- eben so für mich ergeben, dass ich schreiben muss, wenn bung zurechtzufinden? ich nicht den Verstand verlieren will. Es ist ja keiner da, der Auseinandersetzung mit Abgründen. Die Frau entschei- für mich denken und sorgen könnte. Ich bin ganz allein, det sich für das Dritte und beginnt einen Überlebens- und ich muss versuchen, die langen dunklen Wintermonate kampf – fast wie ein weiblicher Robinson, aber ohne jede zu überstehen.» Ulrich Greiner meinte zu diesem Film in menschliche Begleitung oder exotische Romantisierung. der ‹Zeit› etwas schnöde patriarchalisch: «Das hält kein Sie pflanzt Kartoffeln an, lernt mit dem Gewehr umge- Mann aus.» Das Gegenteil lässt sich leicht beweisen. Mit hen, geht, trotz innerer Widerstände, auf die Jagd. Eine Gewinn. Kuh läuft ihr zu, später auch eine Katze, und es entsteht Der Film läuft ab Do 3.1. in einem der Kultkinos u S. 46 eine brüchige, höchst spannend reflektierte Innigkeit im Buch: Marlen Haushofer, ‹Die Wand›, Ullstein TB, 285 S., CHF 13.40 Umgang mit Tier- und Pflanzenwelt. Aus dieser Reflexion (und nicht aus der äusseren Handlung) schöpfen Buch und Film (der kein Wort verwendet, das nicht auch im Buch vor- kommt) die innere Kraft und Intensität. Solothurner Filmtage Die Verfilmung geht aber auch ein grosses Wagnis ein. Der db. Die Werkschau des Schweizer Filmschaffens unter der Lei- ganze Bericht, auf dem der Film beruht, ist im Wesent tung von Seraina Rohrer wird mit Marcel Gislers neuem Spielfilm lichen eine Rückblende, ohne jeglichen Dialog, mit einer ‹Rosie› eröffnet. Rund 180 neue Filme verschiedener Gattungen einzigen Hauptdarstellerin, die alles aus dem Off erzählt. und Längen sind zu sehen, darunter ein Dutzend Basler Produk Die Genialität von Marlen Haushofers Schreiben liegt nicht tionen – u.a. Dokus von Hannes Hug, Frank Matter und Thomas zuletzt in der schmerzhaften Nüchternheit, mit der sie exis- Isler, aber auch Werke von Jungtalenten wie Morris Samuel oder tenzielle Zustände schildert. Da ist kein Platz für falsches dem Lovebugs-Drummer Simon Ramseier – sowie viele Reprisen. Pathos oder Selbstmitleid. Es ist ein Schreiben aus Not- Sonderprogramme würdigen den Tessiner Regisseur Silvio Soldi- ni und das ‹Radikale Kino heute›. Es werden über 50’000 cinéphile Gäste erwartet. 48. Solothurner Filmtage: Do 24. bis Do 31.1., www.solothurnerfilmtage.ch Januar 2013 | ProgrammZeitung | 9
Ferne nahe wilde Zeit r a ph a e l z e h n de r 1998 fielen in Zürich Polizeistunde und Bedürfnisklausel. Jetzt konnte ein Lokal eröffnen, wer wollte. Das war auch eine Nachwirkung von illegalen Bars und Raves in leer- stehenden Fabrikhallen. Zwischen Aufbruch und Absturz. Es ist ein grosses Ver- dienst von ‹heute und danach›, diese Entwicklungen nach- zuzeichnen, aus nächster Nähe mittels der Erinnerungen Beteiligter und auch mit etwas Distanz aus reflektieren- der Warte. Dass dieses Buch zweisprachig (D/F) ist, ent- spricht der kulturellen Praxis jener Jahre: Plötzlich traten Bands aus der Romandie in der Deutschschweiz auf und umgekehrt. Und auch die Schatten dieser kreativen Zeit werden nicht ausgeblendet; Michael Herzig etwa schreibt über Sucht und Drogen. Ein wichtiges Thema, denn damals stürzten viele ab, war es z.T. sehr kalt in den Schweizer Städten. Erst mit der subkulturellen Technoszene ab Mitte der Achtziger brach wieder Lebenslust aus, nach- dem der Individualismus zuvor zu oft darin bestanden hatte, dass sich alle gleich kleideten und niemand tanzte. 1480 Tonträger verzeichnet die sorgfältige Diskografie, die einen Viertel des Buches einnimmt. Sie erzählen davon, dass sich der Aufbruch in fast allen Regionen zutrug. ‹Heute und danach› wird dieser geografischen Dimension gerecht. Neben Porträts von und Gesprächen mit Musik- und Kunstschaffenden (u.a. Stephan Eicher, Vera Kaa, Kuno Lauener, Muda Mathis, Thomas Ott, Stefan Pörtner und Suzanne Zahnd) stehen regionale Übersichten über die ‹Provinz› und die grösseren Städte. Dynamische Basler Szene. Der Beitrag zu Basel stammt von Tageswoche-Kulturredaktor Marc Krebs. «Basel nach den Dynamites und vor den Lovebugs – war da was?», fragt er. Um zu antworten: «Doch, im Grunde sogar sehr viel.» Buchcover Dokumentation zur Schweizer Untergrund-Musikszene. Nur habe man das «in der Restschweiz nicht immer» mit- von ‹heute ‹Heute und danach› heisst der chronologische und logische bekommen, «vielleicht, weil man am Rheinknie oft mit sich und danach›, Nachfolger von ‹Hot Love›, dem grossformatigen Buch über selbst beschäftigt war». Krebs zeichnet das Bild einer hete- Illustration: Pierre-Alain Punk in der Schweiz. Mit den 1980er-Jahren sei für sie das rogenen Basler Musikszene, von der Lazy Poker Blues Band Bertola Heute angebrochen, erklären die Herausgeber Lurker Grand über die Bo Katzman Gang bis zu Touch El Arab, von den und André P. Tschan den Titel ihres Werks. Denn damals Arhoolies bis zu Les Reines Prochaines. Die Raumnöte – die zerbröckelte die zuvor ziemlich hermetische Mauer des kul- 1988 geräumte Alte Stadtgärtnerei, die Zwischennutzun- turellen Ancien Régime. Die Jugendlichen, die es satt hat- gen in der Stücki, im Schlotterbeck, in Bell und Warteck ten, dass spätestens um Mitternacht alle Lokale zusperrten – thematisiert er mit. Dort seien die Kunst- und die Musik und dass das politische und kulturelle Establishment ihre szene näher zusammengerückt. Genau das ist in allen Zen- Ausdrucksformen abkanzelte, erkämpften sich Freiräume. tren der Schweiz seit den Achtzigerjahren geschehen. Die einen vorübergehend, andere blieben erhalten. Kurz: Wer jene Zeit miterlebte, wird in diesem Buch ihre Seit den Achtzigern hat sich die Lage landesweit gewandelt. angenehmen wie zwiespältigen Momente wiederfinden. Nicht-gewinnorientierte Freiräume sind zwar immer noch Wer jünger ist, wird besser verstehen, wie die Kulturszene rar, doch die Formen und Inhalte jener Kultur, die einst als und die Subkulturen der Gegenwart funktionierten. ‹Heute ‹Rock-›, ‹Jugend-› oder ‹Alternativkultur› benannt und seit- und danach› ist ein grossartiges ethnografisches Werk. her als ‹Popkultur› auch zum Mainstream wurden, sind Lurker Grand / André P. Tschan (Hg.), ‹heute und danach – The Swiss wie wilde Ranken und schöne Blumen über den bildungs- Underground Music Scene of The 80’s›. Mit Texten von Wolfgang Bortlik, bürgerlichen Kanon gewuchert. Vor 30 Jahren schien das Alain Croubalian, Michael Lütscher, Sam Mumenthaler u.a. Edition Patrick Frey, Zürich, 2012. 672 S., über 2000 Abb., kt., D/F CHF 78 unvorstellbar. Da war das alles ‹Underground› und die In 2. Auflage erhältlich: Lurker Grand / André Tschan, ‹Hot Love – ‹Kreativwirtschaft› ein utopischer Raum, ein Traum. «Die Swiss Punk & Wave 1976–1980› (D/F), Edition Patrick Frey, Zürich, 2006. Popmusik hatte in den Achtzigerjahren in der Schweiz sehr 25 x 35 cm, 324 S., 250 Abb., kt., D/E CHF 68, D/F CHF 150, realpolitische Folgen», schreibt der Journalist Michael www.editionpatrickfrey.com Lütscher und resümiert damit die veränderten Ausgeh- Bedingungen, einen der Grundpfeiler des Kulturlebens: 10 | ProgrammZeitung | Januar 2013
Fesche Monarchie dagm a r bru n n e r Les Reines Prochaines jubilieren mit Film, CD und live. erlaubt schlanke Strukturen, flache Hierarchien, erträgliche Illustration: Iris Beatrice Vielleicht war’s der Dreikönigskuchen, aber bestimmt eine Kosten, bedeutet aber auch mehr Auseinandersetzung. Das Baumann Lust am Subversiven, die Les Reines Prochaines zu ihrem stete Diskutieren, Hinterfragen und Ausprobieren lädt frei- Namen verführten, jedenfalls ist er ein permanentes Ver- lich zur Partizipation ein und verhindert die ohnehin ver- sprechen und ihr Reich ein Kosmos voll wildwüchsiger Ein- hasste Routine. fälle und Bilder. Zu ihren überaus treuen Untertanen zählen Virtuos dilettantisch. Das erste Konzert spielte die Band, ergraute Emanzen jeden Geschlechts ebenso wie kunst die sich zunächst Les Reines des Couteaux nannte, im sinniges Jungvolk. Seit 25 Jahren macht diese angeblich Januar 1987 in der Alten Stadtgärtnerei, beseelt von An- älteste Schweizer Frauenband ihr Ding – experimentelle regungen aus Jugend- und Frauenbewegung, aus Aktions- spartenübergreifende Performances, die sie auf Einladung kunst, Dada, Fluxus, Punk (s. Buchbesprechung nebenan) in Frauen- und Kunsträumen oder auf Festivals im In- und und feministischer Theorie. Zunächst ein Trio, später ein Ausland präsentiert sowie auf Ton- und Bildträger bannt. Quintett, heute ein Quartett, bestehend aus Muda Mathis, Nun erscheinen zum Jubiläum der ‹künftigen Königinnen› Sus Zwick, Fränzi Madörin und Michèle Fuchs, huldigen sie ein Dokumentarfilm von Claudia Willke (Produktion Frei- in einem mal schrillen, mal sanften Musikmix so dilettan- händler, Basel), der u.a. an den Solothurner Filmtagen ge- tisch wie virtuos der Absurdität des Daseins. Für ihr radi zeigt wird, sowie die neue CD ‹Blut› (Unrecords). kal eigenständiges, erfrischend freches und sinnliches, Der Film dokumentiert ein Musik- und Kunstprojekt, das künstlerisch-politisches Wirken haben Muda Mathis und wohl nicht zuletzt dank seiner unangestrengten Kompro- Sus Zwick 2009 denn auch den Prix Meret Oppenheim des misslosigkeit überlebt. Die Band versteht sich als Kollektiv, Bundesamts für Kultur erhalten. in der jede alles macht: Ideen einbringen, texten, vertonen, Der über drei Jahre hinweg entstandene Film zeichnet die singen, spielen. Die Königinnen kommen ohne Machtinsig- Geschichte der Gruppe nach, folgt ihr zu Proben und auf nien aus, es zählt nur die Macht der Fantasie. Sie wirken Tourneen. Die neue CD ‹Blut› (mit Gästen, u.a. Ehemaligen) ‹natürlich› und sind doch Kunstfiguren in auffälligen Out- enthält 21 Tracks, auf denen die ‹Heldinnen des Alltags› mit fits – und mit einer unbändigen, ansteckenden Energie. Sie Verve vokal und instrumental, mit Plattitüden und schön- zeigen, was andere zu kaschieren versuchen, muten uns schräger Poesie den ‹Syrup of Life› besingen. Unerwartetes, Peinliches, Unperfektes zu, setzen auf die Film ‹Les Reines Prochaines – Alleine denken ist kriminell› von Claudia Kraft ihrer Präsenz. Sie lieben die Kunst und nutzen die Willke (77 Min.) an den Solothurner Filmtagen: Di 29.1., 17.30, Konzertsaal Freiheit, die sie ihnen bietet: Sie bestimmen Inhalte, (Premiere); 20 h, Uferbau (Konzert) Ab Do 31.1., 18.30, Kultkino Atelier 3 Medien und Mitwirkende ihrer Vorhaben selbst, und meist So 3.2., 11.55, TV-Fassung auf SRF 1, ‹Sternstunde Kunst› entstammen Letztere dem weitläufigen Freundeskreis. Das DVD des Films ab Februar im Christoph Merian Verlag, CHF 32 Januar 2013 | ProgrammZeitung | 11
Archaik trifft Moderne a l f r e d z i lt e n e r Christian Zehnder und Gregor Hilbe stellen ihr neues Musikprojekt vor. ‹Oloid› nennen der Sänger und Instrumentalist Christian Zehnder (Stimmhorn, Kraah) und der Basler Schlagzeuger Gregor Hilbe ihr gemeinsames Programm, das im Januar auf CD erscheint und auch live zu erleben ist. Beide Musiker sind fasziniert vom ungewöhnlichen geometrischen Körper, dessen runde, glatte Oberfläche in zwei bogenförmige, in unterschiedliche Richtungen verlaufende Kanten mündet, und den sie als archaische Form empfinden. Der Bildhauer Paul Schatz hat ihn 1929 in Dornach entwickelt; heute wird das Oloid wegen seiner besonderen Bewegungen in ver- schiedenen Industriezweigen verwendet. Dieses komplexe ‹Torkeln› findet in ‹Oloid› seine Entsprechung in der Poly- rhythmik. So verbinden sich im Titelstück drei unterschied- liche Rhythmen zu einer Musik mit grosser Sogkraft. Es ist das erste Mal, dass Zehnder und Hilbe zusammen arbeiten, obwohl sie, wie sie übereinstimmend berichten, den Weg des Anderen seit langem beobachtet haben. Wie Zehnder ist auch Hilbe musikalisch ein Kosmopolit, hat in Paris und London gelebt, war Mitglied des Vienna Art Orchestra und von Tango Crash, hat in der Sahara Musik gemacht sowie (zusammen mit Schamanen) in Korea. Atem und Rhythmus. Das Interesse an uralten Elementen und Techniken teilen die beiden Künstler. Ihre repetitive Gregor Hilbe Musik geht im Kern zurück auf die Tradition der Schama- Für dieses Programm hat Zehnder neue spektakuläre Blas- (links) und Christian nen, die ihre Hörerschaft auf Trance-Reisen schicken. Auch instrumente ausgetüftelt, die ‹Organ Mouthpipes›. Das sind Zehnder, Zehnder hat u.a. in Sibirien mit Schamanen gearbeitet zwölf unterschiedlich gestimmte hölzerne Orgelpfeifen mit Foto: Nils Fisch und umschreibt seine Klangforschung mit ‹Urban Schama Mundstück, die von beiden Künstlern gespielt werden. Die nism› oder als ‹Roots Avantgarde›. Die Kooperation mit Choreografin Teresa Rotemberg setzt die theatralischen dem Drummer ist für ihn noch aus einem anderen Grund Momente der Musik in Szene. Der Abend entsteht in Zu- wichtig: «Atem und Rhythmus sind die beiden Grundele- sammenarbeit mit der Basler Paul Schatz-Stiftung, die das mente der Musik. Ich arbeite mit meiner Stimme und mit Werk des Erfinders verwaltet. Von der CD wird eine limi- Blasinstrumenten, also mit dem Atem. Gregor bringt den tierte Edition angeboten, die auch ein Oloid enthält. Rhythmus.» ‹Oloid›: Fr 25./Sa 26.1., 20 h, Kaserne (Konzert Fr/Sa, CD-Taufe Fr) u S. 35 sowie Fr 22.2.,20 h, E-Werk, Freiburg/Br. Jazz-Netzwerk und Terrain jenseits ihres angestammten Bodens erobern. Mit im Boot sind sowohl grössere Insti- blüten mit Akkordeon, Saxofon und Schlagzeug, in die Nachbarschaft der folkigen Gefilde und des s t e fa n f r a nz e n tutionen wie das Moods in Zürich oder das Cully Singer/Songwriter-Fachs geht es mit Harmonie Nachwuchsförderung. Jazz Festival Bern, als auch jede Menge kleinerer Greber. Trionyx aus Genf und Solem aus Grau- Längst hat der Jazz sein Image von verrauchter Clubs. Zu den baselnahen Lokalen dieses Pools bünden sorgen dafür, dass lyrische und melan- Kellerkneipe und Rollkragen-Intellektuellen ab- zählen die Kulturscheune in Liestal und das cholische Facetten zum Tragen kommen. Werbe- gelegt. Mit Selbstverständlichkeit hat sich das Meck-à-Frick in Frick. Was von Mitte Januar fünf wirksame Schützenhilfe bekommen die jungen Genre, belebt durch Pop, Electro und Einflüsse Wochen lang an 24 Spielorten und rund 100 Kon- Bands durch ein prominent besetztes Eröffnungs aus aller Welt, verjüngt, eine neue Generation zerten geboten wird, kann sich hören lassen. konzert in Luzern-Kriens: Hier geben Pierre sitzt im Sattel. Doch diese muss auch gefördert Nach einem festen Verteilschlüssel haben die Favre und Lucas Niggli, das Colin Vallon Trio werden, um überregional Fuss fassen zu können. Mitglieder des Vereins Suisse Diagonales Jazz und Nik Bärtschs Gruppe Ronin den Staffelstab Genau dies hat sich ein Festival auf die Fahnen zehn Bands ermittelt, die meisten von ihnen an den Nachwuchs weiter. geschrieben, an dem ein landesweites Netzwerk spielen in Triobesetzung. 6. Festival Suisse Diagonales Jazz: Sa 12.1. bis So 17.2., von Veranstaltenden von St. Gallen bis Genf, von Mit von der Partie ist etwa die St. Galler Gruppe www.diagonales.ch Liestal bis Lugano mitwirkt. Rosset-Meyer-Geiger, die der klassischen Piano- Fr 25./Sa 26.1., Kulturscheune, Liestal u S. 44 Do 14./Fr 15.2., Meck-à-Frick An der ‹Suisse Diagonales Jazz›, die zweijährlich Bass-Schlagzeug-Besetzung neue Nuancen abge- und 2013 zum sechsten Mal stattfindet, können winnt und schon in Japan für Aufhorchen sorgte. sich bislang unbekannte Formationen erproben Aus der Romandie grüsst das Trio Holunder 12 | ProgrammZeitung | Januar 2013
Gekrönte Frauen a l f r e d z i lt e n e r Fritz Hauser und Joachim Schloemer erarbeiten den sparten- übergreifenden Abend ‹Königinnen›. Zappa & Co. Königinnen, ob reale oder fiktive, regen die kollektive Fantasie an, selbst dagm a r bru n n e r in einem Staat, der so stolz ist auf seine demokratische Tradition wie Rock live und auf Papier. die Schweiz. Ihr Glück scheint irgendwie märchenhafter, ihr Leid tiefer 2013 ist nicht nur ein Gedenkjahr für Wagner als das unserer Nachbarin. Ihr Aufstieg zur Macht und besonders ihr Fall und Verdi, sondern auch für den US-amerikani- finden noch lange ihr Echo in Literatur, Musik und Film. Sieben solche schen Komponisten, Multiinstrumentalisten und Frauen bringen der Schlagzeuger Fritz Hauser und der Choreograf Joachim Sänger Frank Zappa, der im Dezember 1993 an Schloemer in ihrem Projekt ‹Königinnen› nun auf die Theaterbühne, histo- Prostatakrebs starb. Der Abkömmling italieni- rische wie Maria Stuart und erfundene wie die Königin der Nacht aus scher Vorfahren (geb. 1940) hat mit seiner kom- Mozarts ‹Zauberflöte›. Doch die beiden Künstler wollen die Thematik noch plexen Musik, den oft ironisch-schrägen Texten weiter fassen, erklärt Fritz Hauser im Gespräch vor Probenbeginn: «Wir und frechen Auftritten die Rockmusik erheblich alle fühlen uns im Alltag manchmal als König oder Königin, zum Beispiel, beeinflusst und erfreut sich heute noch einer wenn uns etwas sehr gut gelungen ist.» grossen Fangemeinde. In Basel etwa gründete Archaische Dimensionen. Der Drummer und der Choreograf kooperie- der Bassist Pascal Grünenfelder vor zehn Jahren ren eng, legen zusammen die Musik- und Textauswahl fest, inszenieren mit Gleichgesinnten die Band Fido plays Zappa, gemeinsam. Es wird aber keine Komposition von Hauser aufgeführt, allen- die ausgesuchte Perlen des Meisters auf eigen- falls wird er das musikalische Material arrangieren. Und er steht auch nicht ständige Weise interpretiert. Das Zehn-Mann- selbst auf der Bühne, diese ist den Königinnen vorbehalten: zwei Sänge Orchester, das sich augenzwinkernd ‹Rockin’ rinnen, zwei Schauspielerinnen, zwei Pianistinnen und der Tanztheater- Teenage Combo› nennt, hat bereits vier CDs ver- Protagonistin Alice Gartenschläger. In einem Probenprozess mit vielen öffentlicht und feiert nun Zappa und sich selbst Improvisationen und offenem Ende, in dem alle sich gleichermassen ein- mit etlichen Konzerten im In- und Ausland. bringen können, loten sie ihr Thema nach vielen Seiten aus. Das vor fünf Jahren lancierte Kulturbüro Basel Das werde spannend, freut sich Hauser, denn die Künstlerinnen seien an hat zwölf hiesige Bands um einen Beitrag für ganz unterschiedliche Arbeitsweisen gewöhnt; für einige sei ein offenes einen Monats-Wandkalender gebeten. Jede Band Proben gänzlich neu und wecke Unsicherheit. Daher hat das Regie-Duo illustrierte einen Song, der nun als Kalenderblatt vorgängig mit jeder Darstellerin aufgrund von Musik bzw. Texten, die sie für 2013 gedruckt vorliegt. Die musikalischen mitgebracht hat, eine klar umrissene Figur erarbeitet. «Trotzdem ist noch Bilder stammen von Anna Rossinelli, Bitch alles im Fluss», betont Hauser: Rollenwechsel sind möglich, Szenen können Queens, Denner Clan, Dexter Doom and the sich überlappen, Unterschiedliches kann gleichzeitig stattfinden. Fest steht Loveboat Orchestra, Famiglia Rossi, Flimmer, aber, dass mitten in der Bühne ein Loch in die Tiefe führt, ins Unbewusste, Howw?, Les Délicieuses, Lombego Surfers, Love- in unheimliche, archaische Dimensionen. Dort, später auch auf der Bühne, bugs, The Glue und Tre Cani. Die Einnahmen treffen die Königinnen auf sich selbst als Kinder. Das Theater hat dafür kommen dem Kulturbüro zugute. Mädchen engagiert, die den Darstellerinnen möglichst ähnlich sehen. Rockmusik steht auch im Zentrum des ersten ‹Königinnen›: ab Sa 19.1., 20 h, Theater Basel, Kleine Bühne u S. 38 Romans von Raphael Zehnder, einem höchst ver- Ausserdem mit Fritz Hauser: ‹Focus› – Das Leben als Ansichtskarte: So 20.1., 11 h, gnüglich zu lesenden Krimi. Er spielt in Zürich Gare du Nord/Gare des enfants u S. 31 und schildert eine Woche im Leben von Müller Benedikt, der «die Polizei im Blut hat» und ei- gentlich wegen eines Schusswaffentraumas eine Auszeit nimmt. Wie der sympathische Mittvier- ziger mit Herz und Hirn dann in einen Mordfall um eine Rockband hineingezogen wird («denn es ist nicht alles Minne im Reiche Rock’nRoll»), das berichtet uns ein kumpelhafter Erzähler in einer witzig-experimentellen Mischung aus Hoch- und Alltagssprache mit allerlei Abschwei- fungen ins Kulturleben und Zeitgeschehen. Kurz: Zehnders süffiges Debüt mit Lokalkolorit hat einen Sound mit Suchtpotenzial. Ein zweiter Müller-Krimi ist denn auch bereits angekündigt. Fido plays Zappa: Sa 12.1., 21 h, Alter Zoll; Sa 16.3., BScene; Do 21.3., Gare du Nord, www.fidoplayszappa.com Basler Bands-Charity-Kalender ‹Best of 2013›, A3, CHF 25, Kulturbüro Basel, Florastr. 1 ‹Königinnen› (Agata Raphael Zehnder, ‹Müller und die Tote in der Limmat›, Wilewska, rechts), Emons Verlag, Köln, 2012. 208 S., TB, CHF 14.90 Foto: Mathilde Agius Januar 2013 | ProgrammZeitung | 13
Beobachteter Beobachter a l f r e d z i lt e n e r Kulturhotel Corinne Maier bringt eine globale Familiengeschichte auf die Bühne. Sie könnte Stoff für eine TV-Soap bieten, die Familie des Dokumentarfil- t u m a s c h c l a lü n a mers Shaheen Dill-Riaz aus Bangladesh. Da ist der Vater, der nicht mehr Das Guggenheim in Liestal. mit seiner Tochter spricht, seit sie einen Cousin geheiratet hat, den er nicht Den Anstoss gab ein reines Raumproblem: Wo zu Unrecht als Tunichtgut ablehnt. Da ist die Tochter, die mit ihrem Mann sollen die Lernenden, das Tonstudio und der nach Sidney gezogen ist, und da ist die Mutter, die nach Kuala Lumpur Club untergebracht werden, wenn in der Villa fliegt, um ihre Tochter heimlich zu treffen. Da ist Shaheens eigener Sohn, kein Platz mehr ist? Bis dahin hatten Eric Rüt- der in Warschau wohnt, und mittendrin ist der in Berlin lebende Filmer sche und seine Familie mit anderen Musikschaf- selbst – und dieser hält, was seine Angehörigen tun, ihre Konflikte, ihre fenden in einer Jugendstilvilla jenseits der Gleise Suche nach Harmonie, regelmässig mit der Kamera fest. unterrichtet, musiziert und gewohnt. Doch mehr Nach seinen bisherigen Filmen über das Leben der Menschen in Bangla- Wohnraum liess sich nicht entbehren. Also fing desch, etwa über die ausgebeuteten Arbeiter einer Schiffs-Abwrackwerft, Rütsche an, sich um das alte Bauernhaus des habe der Regisseur beschlossen, einen Film über seine eigene Familie zu Viehhändlers Guggenheim zu bemühen. Direkt drehen, erzählt die Basler Theatermacherin Corinne Maier. Sie hat Dill- am Wasserturmplatz gelegen, schien es der Riaz in Berlin kennengelernt und ihm vorgeschlagen, sein Bildmaterial auf perfekte Ort für ihr Kulturhotel zu sein, nur: die Bühne zu bringen und ihn selbst als Protagonisten erzählen zu lassen. Guggenheim wollte nicht verkaufen. Verstrickungen. Natürlich spielt zwischen den beiden eine gewisse Es dauerte schliesslich über drei Jahre, bis Finan Wahlverwandtschaft, denn auch Maiers Theater ist dokumentarisch. In zierung, Verkauf und Umbau abgeschlossen ihrer ersten Basler Arbeit ‹Selberdenken, Setzen!› beim Festival Treibstoff waren. Seit letztem August ist Liestals erstes 2011 hat sie nach der Motivation politisch aktiver Menschen gefragt und das Kulturhotel nun geöffnet. Im Erdgeschoss des Resultat zu einem szenischen Abend mit Tonband- und Videoausschnitten ehemaligen Wohnhauses befindet sich das Café verarbeitet. Mooi. Es ist täglich geöffnet und hat eine kleine Zunächst war es die Geschichte der über die Welt verstreuten Sippe mit Pasta-Karte abends und über Mittag. Darüber ihrem Zusammenprall von Tradition und Moderne, Patriarchat und weibli- liegt auf zwei Stockwerken das eigentliche cher Selbstbestimmung, die Maier faszinierte. Inzwischen, berichtet sie, Kulturhotel mit individuell eingerichteten Zim- habe sich ihr Fokus verschoben: Denn mindestens genauso interessant fin- mern, die sanft, aber zweckmässig renoviert de sie die Rolle des Filmers selbst, der sich bei dem Versuch, das Bezie- wurden; zum grossen Teil von Rütsches selbst hungsgeflecht, in das er verwickelt ist, zu entwirren, immer tiefer ver- und ihren Bekannten. strickt. Daher stellt sie ihm die Schauspielerin Anne Haug zur Seite. Diese Die Konzerte finden im ersten Stock des ehema- beobachtet den Protagonisten bei dem Versuch, sich selbst und seine Fami- ‹Past is ligen Stalles statt, in Räumlichkeiten, die sich je lie (von aussen) zu beobachten und stellt sein Tun in Frage. Das Filmmate- Present›, nach Bedarf unterteilen oder ganz öffnen lassen. Modell rial ist dabei vor allem Anlass zu Diskussionen, die um Shaheen selbst, aber So können dort tagsüber Tanz- und Musikkurse Bühnenbild wohl auch um grundlegende künstlerische Fragen kreisen werden. und Foto: stattfinden und abends Konzerte. «In einer ‹Past Is Present›: Sa 19. bis Mi 23.1., 20 h (So 19 h), Kaserne Basel u S. 35 Valerie Hess Stunde haben wir alles umgebaut», ist Rütsche sichtlich stolz. Bislang gibt es allerdings vor allem sonntags Anlässe. Der externe Veranstal- ter Spectacular Sunday organisiert Pop-/Rock- Konzerte, für die anderen Sparten engagieren sich weitere Mitwirkende. Einzig einen Infrastrukturbeitrag von Swisslos haben Rütsches beantragt, denn ihr klares Ziel ist es, selbsttragend zu überleben. Die restlichen Gelder stammen von privaten Investoren. Dank moderner Technik und Kommunikation ist das Hotel gut ausgelastet, das Café funktioniert pri- ma, und auch die Konzerte werden rege besucht. Speziell freitags, wenn jeweils eine Band für einen Monat im Café ihr unplugged Set spielt. Die Reihe läuft so gut, dass Rütsche sich über- legt, sie auf den Donnerstag auszudehnen. Kulturhotel Guggenheim, Wasserturmplatz 6 & 7, Liestal, www.guggenheimliestal.ch 14 | ProgrammZeitung | Januar 2013
Flucht ins gelobte Land c h r i s t oph e r z i m m e r Die neue Produktion des Figurentheaters Vagabu ist eine ironische Fabel übers Menschsein. «Dans le cochon tout est bon» (Vom Schwein ist alles fein) – so lautet der Leitsatz der perfekt organisierten Schweine- farm ‹Pork-City›. Hier ist alles optimal: Temperatur, Luft- druck, Hygiene, Kompostierung, Lärmschutz … alles im Dienste einer Top-Qualität. Doch vom Fleisch ist nie die Rede. Der Tod ist nicht zu sehen, zu hören oder zu riechen. Zum Schlachthof geht es ganz diskret nur nachts. Vorher und Nachher existieren in hermetisch abgetrennten Paral- lelwelten. Bis es zu einer Panne kommt und zwei der Schweine einen Blick hinter die Kulissen werfen. Auf den Schock folgt die Flucht ins gelobte Land: in den Mittleren Osten, dort, wo jüdische und muslimische Bevölkerung kein Schweinefleisch essen. Doch der Weg ist weit, die bei- den Protagonisten büssen so manches Schnitzel ein, und am Ende wartet eine bittere Enttäuschung auf sie. Ein düsteres Thema hat das Figurentheater Vagabu ge- wählt, gedacht für ein erwachsenes Publikum. Als grotes- kes Schauspiel bezeichnen es Isabelle Starkier (Regie), Christian Schuppli und Marius Kob (Spiel, Figuren und ‹Kreuzzug der Schweine›, Bühne) wie auch der Musiker Pierre Cleitman, der die zu- welche die Spieler an ein ‹dreidimensionales Bilderbuch› Zeichnung grunde liegende Erzählung ‹Kreuzzug der Schweine› ver- erinnert. Ergänzt werden die visuelle und die spielerische (Probeskizze): fasst hat. Es ist, nach ‹Flaschko›, ‹Die Rückkehr des Mauer- Ebene durch eine akustische, die der junge Komponist Leo Anne Bothuon seglers› und ‹Kratochvil›, die vierte Zusammenarbeit von Hofmann beisteuert. Die Elemente der Tonspur reichen Schuppli und Cleitman. Marius Kob, dessen beeindrucken- von musikalischen Zitaten bis zu einer Geräuschkulisse, de Produktion ‹Ghostcity› 2011 in der Kaserne zu sehen war, die etwa die bedrohliche Maschinerie von Pork-City hörbar gesellte sich als Mitgestalter zum Ensemble. macht. Dreidimensionales Bilderbuch. Auf der Suche nach der Sowohl bittere Farce als auch ironische Fabel ist dieser passenden Form ist das Team auf den Flügelaltar als zentra- ‹Kreuzzug der Schweine›, «ein Gleichnis über den Zustand les Bühnenelement gestossen – inspiriert durch den ‹Garten der Menschheit und ihrer nächsten Verwandtschaft, den der Lüste› von Hieronymus Bosch. Dieses Triptychon mit Schweinen». Altartisch bietet viele Möglichkeiten: Es lässt sich auf- und Figurentheater Vagabu, ‹Kreuzzug der Schweine›: Mi 16. bis So 27.1., H95 zuklappen, hat verschiedene Teile, dazu eine Vorder- und Raum für Kultur, Horburgstr. 95, sowie Sa 2./So 3.2., Saal der Musikschule Rückseite, und es erlaubt ein reliefnahes Spiel mit Fens- Riehen, Rössligasse 51. Infos u S. 39 tern und Nischen sowie rings um diese spezielle Kulisse, Taschengeist Taschengeist allerlei Taschenwühlgeschichten erzählt. Im Laufe des Felucca-Jubiläumsjahres Ebenfalls in Liestal gibt es neu einen Studien- gang Figurentheater. Ende September startete dagm a r bru n n e r kommen weitere Stücke des Repertoires zur im Hanro-Areal die zweijährige berufsbegleiten- Noch mehr Figurentheater. Aufführung. de Weiterbildung, die gemeinsam von der Höhe- Die zweisprachig (dt./fr.) aufgewachsene Figu- Im Basler Marionettentheater (BMT) sind neben ren Fachschule für pädagogisches und therapeu- renspielerin Véronique Winter, die im Werkraum dem Gastspiel von Felucca derzeit die Kinderstü- tisches Figurenspiel (Interlaken) und der Unima Warteck ihr Atelier hat, ist seit 20 Jahren mit cke ‹Peter und der Wolf› und ‹S Urmel us em Yys› Suisse, dem Dachverband der Figuren- und Pup- ihrer Wanderbühne Felucca unterwegs. Schon zu sehen, während im Abendprogramm histori- pentheater getragen wird. Für die künstlerische früh vom Puppentheater fasziniert, wirkte sie sche ‹MordsGeschichten› vom Teufel persönlich Leitung, Organisation und Durchführung zeich- später bei einer französischen Profibühne mit moderiert werden. Ein neues Verkehrserzie- nen die erfahrenen Figurenspiel-Profis Margrit und baute ab 1993 ihr eigenes Theater mit mobi- hungsstück für PrimarschülerInnen ist in Vorbe- Gysin und Michael Huber sowie die Dozentin für ler Infrastruktur auf, mit dem sie im In- und reitung, und im März wird im BMT eine vielver- Gestaltung, Irene Beeli, verantwortlich. Ausland auftritt. Ihre eigenwilligen, verspielten sprechende Erwachsenen-Produktion frei nach Theater Felucca im Marionettentheater u S. 39 Kreationen, die sie z.T. mit KollegInnen anderer einem Monty Python-Film gastieren. sowie Unternehmen Mitte u S. 41 Sparten und ehrenamtlich Engagierten erarbei- Die Tokkel-Bühne, 1978 von Silvia und Christoph Basler Marionettentheater u S. 39 Tokkel-Bühne im Palazzo u S. 40 tet, richten sich an ein breites Publikum. Die Bosshard-Zimmermann als Tourneetheater ge- www.weiterbildung-figurentheater.ch aktuelle handelt von Madame Axée Soir und gründet, zeigt in Liestal ihre Eigendichtung ‹Dr ihrer Taschenboutique, in der ein quirliger Kasper schlooft ii› für Kinder ab vier Jahren. Januar 2013 | ProgrammZeitung | 15
Die Zukunft erfinden i ng o s ta r z Eine theatrale Reise ins postkoloniale Afrika. «Man kann keine fundamentale Veränderung machen, ohne einen gewis- sen Grad von Verrücktheit. In diesem Fall entsteht sie durch Nonkonformis- mus, (…) den Mut, die Zukunft zu erfinden.» Diese Äusserung stammt von Thomas Sankara, der in den Jahren 1983–87 Präsident von Burkina Faso und politischer Hoffnungsträger Afrikas war. Unter seiner kurzen Ägide vollzogen sich grundlegende Reformen: Verteilung des Grund und Bodens durch den Staat an Kleinbauern, Stärkung der Rechte der Frauen, Bau von Schulen und Gesundheitseinrichtungen, Gemeinschaftsarbeit, Absage an den westlichen Imperialismus. Was sich in den vier Jahren von Sankaras Präsidentschaft anbahnte, war revolutionär. Einen derart selbstbewusst und konsequent auftretenden afrikanischen Staatsmann hatte die Welt noch nicht gesehen. Man liess ihn nicht lange gewähren: Mit Duldung westlicher Politik wurde er 1987 von seinem Weggefährten (und Nach folger) Blaise Compaoré ermordet. Afrika ist seit ein paar Jahren im Blickfeld des Schweizer Theatermachers Luzius Heydrich. Am Theater Freiburg entwickelte er das Projekt ‹Heimat doppelt sehen – Ein Schwarzwaldabend mit Frau Ampomah und Herrn Kemajou› mit Darstellenden afrikanischer Herkunft. Für das Festival ‹Afri- cologne› richtete er am Theater im Bauturm Köln eine szenische Lesung von ‹Papa muss essen› von Marie N’Diaye ein. Seine Suche nach visionären politischen Ideen führte ihn zu Thomas Sankara, dessen veröffentlichte Reden und Interviews ihn faszinierten. Er ging nach Burkina Faso, recher- chierte vor Ort und sprach mit Zeitzeugen. Dort lernte er den Schauspieler Hypolitte Kanga kennen, und sie beschlossen, die Geschichte Sankaras theatralisch aufzubereiten. Kampf um neue Werte. Drei Jahrzehnte nach dem vielversprechenden Aufstieg des Politikers bringen Heydrich und Kanga nun unter der Regie von Inda Buschmann ihre Produktion ‹Von einem der auszog die Revolution ‹Von einem der auszog die zu lernen› auf die Bühne. Die beiden Schauspieler stehen dabei für zwei Revolution zu lernen› (Hypolitte Kontinente, zwei Denkweisen und drei Sprachen: französisch, deutsch und Kanga und Luzius Heydrich), Moré. Die Konfrontation der beiden sehr persönlichen Erzählungen zeich- Foto: Frank Scheffka net ein facettenreiches Bild Sankaras, macht den Kampf um neue Werte und die komplexe Situation des Landes anschaulich. Der Präsident, der sich «für das Glück all seiner Landsleute zuständig» fühlte, wird als Visionär erkennbar, der Burkina Faso und Afrika nachhaltig hätte prägen können – wenn er nicht ein Opfer geopolitischer Interessen geworden wäre. ‹Von einem der auszog die Revolution zu lernen; Hommage an Thomas Sankara›: Do 24. bis So 27.1., Das Neue Theater am Bahnhof, Arlesheim u S. 39 Antike Heroen lenten Figur in einer Collage aus Text (u.a. von Heiner Müller), Bild und Musik nach und be- ihm mit wilden Festen huldigen. Darunter auch die Mutter des Pentheus, der mit Gewalt gegen dagm a r bru n n e r spielt dazu verschiedene Räume im Werkraum den Dionysos-Kult vorgehen will, was aber miss- Zwei freie Theaterprojekte. Warteck. Auf seinem Rundgang begegnet das lingt. Von Dionysos überlistet, erliegt Pentheus Sie trägt den Namen eines missgestalteten Anti- Publikum u.a. einer Punkrock-Band mit eigens seinen verborgenen Lüsten und wird schliesslich helden in Homers ‹Ilias›, der sich Odysseus wider konzipierten Songs, Nietzsches Zarathustra, von seiner besessenen Mutter und den anderen setzte, und kreiert gerne Theaterproduktionen sprechenden Müllsäcken und Sozialhelden, einem Bacchantinnen getötet. – Das Stück um Verfüh- nach literarischen Vorlagen: die 2009 gegründete Mythenforscher, Videolandschaften und live rung und Rache, Rationalität und Irrationalität Gruppe Thersites um Luzius Rohner und Angelo gesungenen Auszügen aus Händels Hercules- wird von der Theatergruppe am Gym Oberwil in Nef. Auch ihr neues Stück ‹Herakles burning› Oratorium. der Regie von Kaspar Geiger aufgeführt, es spie- dreht sich um einen antiken Helden bzw. Mythos Von einem andern Zeus-Sohn, Dionysos (lat. len 14 SchülerInnen mit. und fragt nach seiner aktuellen Bedeutung. Um Bacchus), dem Gott des Weines und des Rau- ‹Heracles burning›, eine szenische Installation: Herakles ranken sich viele Sagen, und er ist sches, handelt das Drama ‹Die Bakchen› des grie- Sa 5., So 6. und Sa 12.1., 20 h, Werkraum Warteck, in unserem Sprachgebrauch präsent, wenn von chischen Dichters Euripides. Weil die Bevölke- www.gruppe-thersites.ch ‹Herkulesaufgaben›, dem ‹Ausmisten der Augias- rung von Theben seine Göttlichkeit nicht aner- ‹Die Bakchen›: Do 24. bis Sa 26.1., 20 h, und So 27.1., 19 h, Gymnasium Oberwil, www.gymoberwil.ch Ställe› oder dem ‹Kampf mit der Hydra› die Rede kennt, lässt er alle Frauen in einen religiösen ist. Das Theater Thersites spürt dieser ambiva- Wahn verfallen und führt sie ins Gebirge, wo sie 16 | ProgrammZeitung | Januar 2013
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