PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL

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PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL
Cover: Filmstill aus: ‹A Dragon Arrives›         Agenda-Partner
von Mani Haghighi, Filmfest Bildrausch u S. 10   des Monats

                                                                  Kultur
                                                                  im Raum Basel
                                                                       Mai 2016 | Nr. 317
                                                                                            CHF 8.40 | EUR 8.00

                                                                  ProgrammZeitung
                                                                                                                  unabhängig & vielseitig seit 1987
PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL
PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL
Baukunst im Gespräch
dagm a r bru n n e r

   Editorial. Was ist das: silbergrau, gross und kunstvoll?
Die Frage wird künftig jedes Kind beantworten können.
Unübersehbar, kompakt und von zurückhaltender Eleganz,
steht er nun da, der neue Anbau des Kunstmuseums, ein
Mix aus «barockem Stadtpalais und Kunstcontainer», wie
Architekt Emanuel Christ sein mit Christoph Gantenbein
erstelltes Werk definierte. Wie fast immer bei Neubauten
wird viel gelobt, aber auch gern gejammert, etwa über
das blendende Kunstlicht, den tristen Wandverputz, die
heiklen Böden und vor allem über die Metalltüren und
-fensterläden. Auch die Kunstpräsentation und die Kosten
(100 Mio.) stossen nicht überall auf Verständnis.
Mir selbst gefällt dieser kühn-geknickte, kühle Klotz, der
archaisch und modern zugleich wirkt und nicht nur Skulp-
tur beherbergt, sondern selber eine ist. Der raffinierte
Leuchtfries zaubert subtile Schriftbilder an die Backstein-
fassade, die Innenräume mit Marmor, Eiche, Beton und
Stahl verknüpfen Vergangenheit und Gegenwart, und die
Kunstwerke kommen neu zur Geltung. Das industriell und
provisorisch Anmutende tut dem Bau gut, der nun erst ein-                                                                                                         Unterkünfte
mal belebt und erprobt sein will.                                        Mit ‹temporären Räumen› befasst sich eine Veranstaltungs-                                für Millionen
Weitere aktuelle Baukunst lässt sich an den ‹SIA-Tagen der               reihe von Blaser Architekten. Unter dem Titel ‹Flüchtiges                                während des
                                                                                                                                                                  Festes
zeitgenössischen Architektur und Ingenieurbaukunst› erle-                Zuhause› thematisieren eine Ausstellung und elf interdis-                                Kumbh Mela
ben. Eine Website, eine Broschüre und eine App geben Aus-                ziplinäre Referate die Unterkünfte von Nomaden, Vertrie-                                 in Indien,
kunft über die Gebäude, die z.T. schwer zugänglich sind                  benen und Flüchtlingen. Dabei kommen unterschiedliche                                    Foto: Archiv
                                                                                                                                                                  schauraum-b
und mit Fachleuten besichtigt werden können. Diese stellen               Bauformen und Alternativen zur Sprache, und es sollen
ihre Bauten und die damit verbundenen Herausforderun-                    Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie die Situation von
gen vor und geben so Einblick in Planung und Gestaltung.                 raumbedürftigen Menschen, u.a. auch in unserer Region,
Fast 300 Bauten sind landesweit offen, vom Einfamilien-                  verbessert werden kann.
bis zum Geschäftshaus, von Hotel, Heim und Kloster bis zu                9. SIA-Tage Architektur: Fr 20. bis So 22.5. und Fr 27. bis So 29.5., div. Orte,
Schule, Klinik und Zoorestaurant. In den Basler Kantonen                 www.sia-tage.ch
kann man über 20 neue Gebäude und Umnutzungen in ver-                    ‹Flüchtiges Zuhause›: bis Mi 29.6., Schauraum B, Blaser Architekten,
schiedenen Quartieren kennenlernen, etwa am Bahnhof                      Austr. 24, www.blaserarchitekten.ch

Liestal, im Freilager am Dreispitz, im Hirzbrunnen oder im               Ausserdem: 15. Architekturbiennale: Sa 28.5. bis So 27.11., Venedig,
Gundeli. Der SIA–Berufsverband für Fachkräfte der Berei-                 www.labiennale.org

che Bau, Technik und Umwelt bietet die erfolgreichen Füh-
rungen heuer erstmals an zwei Wochenenden an.

             Hauskultur                                zu Sparmassnahmen (u.a. Stellenabbau) zwingt.
                                                       Die Generalversammlung der SRG Region Basel
                                                                                                                    Inhalt
db. Schon seit mehr als 40 Jahren führt Annema-        findet mit Kulturprogramm am 9. Mai im Thea-                 Redaktion                                                     5
rie Pfister am Petersgraben ihre Buchhandlung          ter Basel statt. Am selben Tag jährt sich zum
                                                                                                                    Kulturszene                                               28
mit Antiquariat – und sie denkt nicht daran, ganz      40. Mal der Tod von Ulrike Meinhof, die eine ver-
aufzuhören, tritt allenfalls ein wenig kürzer,         sierte Journalistin war, bevor sie zur Terroristin           Agenda                                                    49
damit der Garten, Freundschaften, Reisen und           wurde. An inhaftierte und tote Medienschaffen-
                                                                                                                    Kultursplitter                                            65
natürlich das Lesen nicht zu kurz kommen. Ihr          de sowie an die Bedeutung der freien Bericht-
waches Interesse an Menschen, Büchern, Politik         erstattung will auch der Tag der Pressefreiheit              Impressum                                                 88
beeindrucken uns schon lange, und so haben wir         erinnern (3.5.).
                                                                                                                    Kurse                                                     89
diese engagierte, vielseitige und grosszügige          Weitere kulturelle Errungenschaften und Ereig-
Kulturvermittlerin als Preisträgerin unseres           nisse finden sich auf den folgenden Seiten. Der              Ausstellungen & Museen                              90–93
9. PriCülTür erkoren. Wir laden alle, die sie schät-   1. Sonntag im Mai ist übrigens der ‹Weltlachtag›,
                                                                                                                    Bars & Restaurants                                  94–95
zen, herzlich zur Feier ein. Mehr dazu S. 7.           und so kann heuer heiter (u.a. für Frauenrechte,
Auch die SRG feiert – mit getrübter Freude: sie        S. 24) demonstriert werden; durch Zürich mar-
wird 90 Jahre alt und hat 2015 mit einem Verlust       schiert ausserdem die 10. ‹Lachparade›!
von 90 Millionen Franken abgeschlossen, was
                                                                                                                                                  Mai 2016 |   ProgrammZeitung | 3
PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL
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Redaktion
Small is beautiful dagm a r bru n n e r                  7
PriCülTür dagm a r bru n n e r                           7
Nah am Himmel a l f r e d s c h l i e nge r              8
Das Glück festhalten? a l f r e d s c h l i e nge r      8
Die Botschaft lautet: Es gibt Lösungen!
a l f r e d s c h l i e nge r                            9
Rare Rosinen ol i v e r lü di                           10
Lange Nacht der Kurzfilme dagm a r bru n n e r          10
Klassik, Folklore & Canzone ru e di a n k l i           11
Kuba, Rio, Louisiana s t e fa n f r a nz e n            11
Pikant und rasant dagm a r bru n n e r                  12
Tanz à discrétion dagm a r bru n n e r                  12
Grenzenlose musikalische Begegnungen
be n e di k t l ac h e n m e i e r                      13
Jugend musiziert dagm a r bru n n e r                   13
Aufbruch mit Körpereinsatz m ic h a e l b a a s         14
Deprimierend? Sicher nicht! j u l i a b ä n n i nge r   15
Wir sind hier! a n si v e rw e y                        15
Bücherlese j u l i a b ä n n i nge r                    16
Poetische Himmelfahrt m a rt i n z i ng g               17
Sprachakrobatik dagm a r bru n n e r                    17
Ausschwärmen und Einwerben n a n a b a de n be rg       18
Life or Style ru d ol f bus sm a n n                    19
Instrumentale Soli aus Tusche t hom a s oe h l e r      19
Schöne alte Maschinenwelten n a n a b a de n be rg      20
Traditionspflege dagm a r bru n n e r                   20
E wie Erasmus n a n a b a de n be rg                    21
Nachtschwärmer i r i s k r e t z s c h m a r            22
Kunstfiguren pe t e r bu r r i                          22
Dialog mit Tier und Ort i r i s k r e t z s c h m a r   23
Kunstsinnig dagm a r bru n n e r                        23
Frauen & Göttinnen dagm a r bru n n e r                 24
Lob der Pille l i n da s t i bl e r                     24
Naturbegegnungen dagm a r bru n n e r                   25
Kultur & Gastro dagm a r bru n n e r                    25
Dreiland-Storys dagm a r bru n n e r                    26
Stadtwanderer wa lt e r be u t l e r                    26
                                                             Stephan Balkenhol,
Möbel statt Mehl t i l o r ic h t e r                   27   ‹Frau mit weissem Faltenkleid›,
                                                             2015, bemaltes Holz (Wawa),
Kreativmarkt dagm a r bru n n e r                       27   Foto: Peter Cox, Fondation Fernet-Branca u S. 22
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Small
                            is beautiful
                            dagm a r bru n n e r

                                                     Buchzeichen:
                                                     Selma Weber,           Annemarie Pfister erhält den 9. Kulturpreis der ProgrammZeitung.
                 PriCülTür                           Foto: Nils Fisch
                                                                        Sie hatte bereits den Vertrag für einen Job bei Foyles in London in der
            dagm a r bru n n e r                                        Tasche, als sie sich 1970 aus Liebesgründen für den Verbleib in Basel ent-
      Kulturpreis der ProgrammZeitung.                                  schied. Annemarie Pfister, ein aufgewecktes Landei – immerhin aus dem
Am 20. Geburtstag der ProgrammZeitung 2007                              literarisch durch E.Y. Meyers Roman bekannt gewordenen Trubschachen –
wurde der PriCülTür lanciert, mit dem Men-                              zögerte nicht lange und eröffnete im August 1974 am Petersgraben ihre
schen ausgezeichnet werden, die mit Herzblut                            eigene Buchhandlung mit Antiquariat. Nach der Lehrzeit als Buchhänd-
kulturvermittelnd tätig sind. Der Preis besteht                         lerin in Bern hatte sie zunächst das Weite gesucht, war mit Autostopp süd-
aus einer Skulptur, die individuell und exklusiv                        wärts gereist und hatte in Florenz, später in Paris gejobbt und ein Fran-
vom Basler Künstler Marius Rappo gestaltet und                          zösischdiplom erworben. Als sie dann mit 26 und ihrem Laden sesshaft
im Rahmen einer kleinen Feier der geehrten Per-                         wurde, verlor sie keineswegs die Lust am Reisen, sondern büxte aus, wann
sönlichkeit überreicht wird.                                            immer es ging. Bis heute ist die weltoffene Emmentalerin gerne unterwegs,
Zu diesen gehörten bisher Jakob Tschopp (2007),                         sowohl in literarischen wie in natürlichen Landschaften.
Helene Schär (2008), Helmut Bürgel (2009),                              Annemarie Pfisters Geschäft ist eine Institution, es war der erste linke
Suzanne Schweizer und Romy Gysin (2010),                                Frauenbuchladen der Schweiz, mit Büchern zu Gesellschaft und Politik,
Christoph Meury (2011), Sylwia Zytynska (2012),                         aber auch mit klassischer und moderner Literatur für Gross und Klein so-
Christian Schuppli (2013) und Claudia Roth                              wie mit antiquarischen Titeln aus verschiedenen Gebieten. Am Sortiment
(2015). Sie wirk(t)en mit grossem Einsatz in ver-                       hat sich wenig verändert, es ist gehaltvoll und vielfältig geblieben, aber
schiedenen Kultursparten: Kunst, Kinderbücher,                          thematisch seien heute eher Wandern oder Kochen gefragt als Anarchie,
Gesang, Film, Theater/Tanz, Musik mit Kindern,                          sagt die Buchhändlerin augenzwinkernd.
Figurenspiel oder als Gastfreundin.                                         Dialoge statt Events. Dicht stehen und liegen neue und alte Bücher
Die Preisträgerin ist in diesem Jahr die Buch-                          wand- und tischfüllend auf engstem Raum, aber Pfister weiss genau, was
händlerin Annemarie Pfister (Porträt nebenan),                          sie hat, wo und für wen. Und das macht diesen Ort so besonders: die ge-
die seit über 40 Jahren ebenso leidenschaftlich                         pflegte, sorgfältige Auswahl einer leidenschaftlichen Leserin und Netz-
wie umsichtig Bücher und Begegnungsmöglich-                             werkerin. Denn nebst Inhalten von Büchern vermittelt Annemarie Pfister
keiten anbietet. Mit dem 9. PriCülTür würdigt                           ihrer Kundschaft grosszügig Kontakte, bringt die Menschen miteinander
die ProgrammZeitung ihren Einsatz für die                               ins Gespräch, hört zu, regt an, sagt ihre Meinung. Die passt nicht allen, wie
Buch- und Lesekultur und ihren Sinn für lust-                           sie als parteilose Grossrätin während vier Jahren erfahren durfte, aber mit
volle Vermittlung.                                                      Andersartigkeit kommt sie gut zurecht. Überhaupt findet sie es wichtig,
An der Preisverleihung wird der Autor Rudolf                            wenn möglich jeden Tag etwas Neues zu lernen, bereit zu sein für Über-
Bussmann die Laudatio halten und zusammen                               raschungen und so lebendig zu bleiben.
mit dem Basler Ensemble Aubergine für weitere                           Seit 2012 ist Annemarie Pfister eigentlich pensioniert, und vor zwei Jahren
Wort- und Musikbeiträge sorgen.                                         konnte sie den 40. Geburtstag ihrer Buchhandlung feiern. Doch sie liebt
9. PriCülTür an Annemarie Pfister: Di 24.5., 18 h,                      ihre Arbeit, obwohl es immer ein low-budget-Business war. Aber es sei eben
Unternehmen Mitte, Béletage, 1. Stock.                                  auch eine «Herzensangelegenheit», sagt sie, und empfindet es als ein «gros-
Laudatio: Rudolf Bussmann, Musik: Ensemble                              ses Geschenk», wenn sie herausfinden kann, was jemand will. Statt über
Aubergine, www.ensemble-aubergine.ch
                                                                        den Wandel im Handel zu klagen, unterstützt sie lieber kreative Ideen wie
(siehe auch u S. 12)
                                                                        ‹buy local› und bietet Dialoge statt Events. Ein treuer Kundenkreis weiss das
                                                                        zu schätzen.
                                                                        Buchhandlung Annemarie Pfister, Petersgraben 18, www.annemariepfister.ch,
                                                                        www.buy-local.ch

                                                                                                                                        Mai 2016 |   ProgrammZeitung | 7
PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL
Das Glück festhalten?
                                                      a l f r e d s c h l i e nge r

        Nah am Himmel
              a l f r e d s c h l i e nge r
          ‹Heavenly Nomadic – Sutac›.
Vor bald zwanzig Jahren spielte er als 14-jähriger
Junge in ‹Beshkempir› (Der Adoptivsohn) die
Hauptrolle im ersten Spielfilm, der aus dem un-
abhängigen Kirgistan in unsere Kinos kam. Und
jetzt legt dieser gleiche Mirlan Abdykalykow (34)
mit ‹Heavenly Nomadic – Sutac› seinen Erstling
als Regisseur vor.
Der Film nimmt uns mit in ein hohes Tal der kir-
gisischen Bergwelt, wo drei Generationen einer
Familie in grosser Abgeschiedenheit zusammen
in einer nomadischen Jurte leben. Die Mutter
mit der siebenjährigen Tochter ist verwitwet. Ihr
Mann wurde vor einigen Jahren vom nahen               Filmstills aus:
Fluss mitgerissen. Der Sohn studiert in der fer-      ‹Das Leben            Mit der Familien-Doku ‹Das Leben drehen› kommt der Siegerfilm
                                                      drehen› (oben),
nen Stadt Architektur. Gelegentlich kommt in          und ‹Heavenly
                                                                            von Solothurn ins Kino.
der benachbarten Wetterstation ein Meteorologe        Nomadic –          Das Konzept fasziniert und beängstigt zugleich. Da filmt ein Vater obsessiv
vorbei, der ein Auge auf die Witwe geworfen hat.      Sutac›             das Leben seiner Familie – und nervt alle damit, Mutter, Sohn, Tochter. Zur
Die Schwiegereltern sehen das nur ungern, weil                           Volljährigkeit schenkt er der jungen Frau einen Zusammenschnitt ihres bis-
sie befürchten, die Frau könnte das Tal verlassen                        herigen Lebens von frühester Kindheit an. Für die Tochter ein Geschenk
und mit dem neuen Mann in die Stadt ziehen.                              wie eine Ohrfeige. Sie wird den Film nie anschauen. Nach dem Tod des
Dieses Setting entwickelt sich, eingebettet in                           Vaters übernimmt sie das ganze Archivmaterial und merkt bald: Ich muss
eine grandiose Berglandschaft, in gelassener Ge-                         daraus einen eigenen Film machen; über diese Familie, über diesen Vater
mächlichkeit. Die Menschen sind hier noch tief                           und über sich selber – und vor allem über das, was sich hinter den Bildern
verbunden mit Ritualen, Naturmythen und Legen-                           versteckt.
den, in denen die Toten als Adler und Käuzchen                           Die gebürtige Baslerin Eva Vitija (43) geht das Projekt mit viel Witz und
weiterleben. Doch mit den Gerüchten um den                               Leichtigkeit an. Aber die Selbstironie ist offensichtlich auch ein Selbst-
Bau einer Eisenbahnlinie klingt auch der Zusam-                          schutz. Denn der Blick ins ganz und gar Private offenbart einige Risse, bei
menprall von Tradition und Moderne an.                                   denen ich als Zuschauer nicht immer sicher bin, ob ich das unbedingt wis-
Das erinnert, nicht zuletzt in der Zartheit der                          sen und sehen will. Als die Regisseurin 1973 geboren wird, hat der Vater
Liebesgeschichte und ihrer Verknüpfung mit ge-                           bereits eine erste gescheiterte Ehe mit zwei Söhnen hinter sich. Der eine
sellschaftlichen Veränderungen, an den grossen                           wird sich später umbringen, der andere, um den sich der Vater kaum ge-
kirgisischen Dichter Tschingis Aitmatow. Der                             kümmert hat, lebt als Randständiger im Jura. All dies und mehr recher-
Regisseur fängt dies alles mit Poesie, ohne Pa-                          chiert die Filmerin quasi aus den Lücken ihres eigenen Familienfilms und
thos, aber auch mit einer klaren Haltung ein:                            macht so deutlich: Im Zweitversuch wollte ihr Vater offenbar fast zwang-
Diese Welt darf nicht untergehen. Dank der Stif-                         haft das Glück festhalten.
tung Trigon-Film jedenfalls können wir sie fil-                             Ungeschminkte Analyse. Dieser Vater ist kein Unbekannter. Joseph Schei-
misch besuchen.                                                          degger (1929–2012) hat als Schauspieler in über hundert Filmen mitgewirkt,
Der Film läuft ab Do 12.5. in den Kultkinos u S. 48                      von ‹Polizischt Wäckerli› über ‹Reise der Hoffnung› bis zu Fredi Murers
                                                                         ‹Vollmond›. Bald war er auch als Dramaturg, Drehbuchautor und Regis-
                                                                         seur tätig. Er wurde Leiter der Hörspielabteilung im Radiostudio Basel, wo
                                                                         er viele Autorinnen und Autoren fürs Radio entdeckte und auch das erste
                                                                         Hörspiel in Stereo realisierte. In späteren Jahren wandte er sich dem Fern-
                                                                         seh- und Dokumentarfilm zu. Beruflich eine beeindruckend kreative Vita.
                                                                         Ob er jetzt sein privates Leben aufgrund von Filmaufnahmen, die er selber
                                                                         wohl kaum für die Öffentlichkeit bestimmt sah, auch gerne so ausgestellt
                                                                         sähe?
                                                                         Eva Vitijas Mutter ist Psychotherapeutin, ihr Bruder Kinder- und Jugend-
                                                                         psychiater. In welcher Ungeschminktheit sie den toten Abwesenden inter-
                                                                         pretieren und analysieren, kann schon auch irritieren. Zweifellos gelingt
                                                                         der Regisseurin aber das Generationenporträt einer 68er-Familie mit all
                                                                         ihren Höhenflügen und Abstürzen. Der Solothurner Jury war dieser Erst-
                                                                         lingsfilm der diesjährige ‹Prix de Soleure› wert.
                                                                         Der Film läuft ab Do 5.5. in den Kultkinos u S. 48

8 | ProgrammZeitung | Mai 2016
PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL
Die Botschaft lautet: Es gibt Lösungen!
a l f r e d s c h l i e nge r

    Der preisgekrönte Dokumentarfilm ‹Demain –                 kratie-Projekt im indischen Bundesstaat Tamil Nadu, das
    Tomorrow› macht Mut zu Alternativen.                       sich die Durchmischung der verschiedenen Kasten zum Ziel
Am Anfang steht – einmal mehr – die wissenschaftlich ge-       gesetzt hat – und dabei überraschend erfolgreich ist. Das
stützte Katastrophenmeldung eines renommierten multi-          Filmteam reist auch nach Basel und spricht hier mit dem
disziplinären US-Forschungs-Teams: Unsere Zivilisation         Leiter der WIR-Bank-Genossenschaft, die alternative Geld-
wird sich zwischen 2040 und 2100 selbst zerstören, wenn        flüsse und Finanzierungssysteme entwickelt hat.
wir so weiterwursteln wie bisher. Wir hätten bei diesem        Am besten bleibt haften, wenn es dem Film gelingt, seine
Befund allen Grund, sofort in tiefster Depression und Hilf-    Datenmenge in kleine Geschichten und Anekdoten zu ver-
losigkeit zu versinken. Und dennoch verlässt man das Kino      packen. Die Problematik des Wachstumszwangs fasst ein
nach zwei dicht gefüllten Stunden überraschend optimis-        afrikanischer Experte in ein treffendes Bild: Der Mensch
tisch.                                                         plündert durch ungebremste Anhäufung, ganz im Gegen-
Das liegt daran, dass sich die beiden französischen Film-      satz zu einem Löwen, dem es nie in den Sinn käme, eine
schaffenden Cyril Dion und Mélanie Laurent nicht mit dem       Antilope auf Vorrat zu reissen, wenn er gesättigt ist.
cineastischen Suhlen in der Hiobsbotschaft begnügen, son-         Infotempo und Zahlenfülle. Etwas widersprüchlich wirkt
dern den Artikel im Wissenschaftsmagazin ‹Nature› zum          der Film, wenn er das finnische Bildungssystem einer-
Anlass nehmen, weltweit nach konkreten Lösungsansätzen         seits wegen seiner glänzenden Resultate in den PISA-Tests
zu suchen, wie diesem globalen Knockout begegnet werden        heraushebt, und anderseits betont, dass es bei den Finnen
könnte – besser: wie ihm in grösseren und kleineren Kon-       keinerlei standardisierte Tests, keine Klassenarbeiten und
texten bereits aktiv entgegengewirkt wird. Es ist wohl die-    keine Zeugnisse gebe bis zum Abitur. Interessant aber der
ser optimistische Ansatz, der in Frankreich über eine Milli-   Hinweis eines Schulrektors, der den Erfolg der finnischen
on Menschen in diesen Film gelockt hat, und auch in der        Schule auf die folgenden Hauptelemente zurückführt: We-
Westschweiz, wo die Doku seit Weihnachten läuft, hat sie       nig Bürokratie und viel Vertrauen – sowie die Tatsache,
die Rekordmarke von 100’000 Kinogästen schon überschrit-       dass sich die Bildungspolitik nicht ändert, wenn die Regie-
ten. Eben wurde ‹Demain – Tomorrow› auch mit dem César         rung wechselt.
für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet.                   Trotz aller spannenden Ansätze, ‹Demain – Tomorrow› kann
    Umdenken und Praxis. Der Umweltaktivist Cyril Dion         auch gehörig nerven. Vor allem mit einer filmischen Ästhe-
(38) und die Schauspielerin Mélanie Laurent (33) zeigen        tik, die manchmal mehr an den Werbespot eines Telekom-
Alternativen zum Anfassen. Sie reisen in zehn Länder, von      munikations-Anbieters erinnert. Auch die musikalische
Island bis Indien, von Finnland bis in die USA, und tref-      Untermalung huldigt öfters einer Euphorie, die etwas gar
fen Menschen, die das Umdenken in zentralen Lebensbe-          naiv wirkt. Und stören kann man sich auch an einigen Ten-
reichen bereits verwirklichen. Die Materialfülle ist etwas     denzen zur Selbstdarstellung der beiden Filmschaffenden.
didaktisch, aber durchaus sinnvoll verknüpft in fünf Ka-       Hauptmangel des Films ist aber sein horrendes Informa-
pitel gegliedert: Landwirtschaft, Energie, Geldwirtschaft,     tionstempo. Die Zahlenfülle hat mit der Zeit etwas Erschla-
Demokratie und Bildung. Wir erleben Urban Gardening            gendes. Dennoch: Hingehen – und gut aufpassen! Denn der
ausgerechnet in der verfallenden Stadt Detroit; wir sehen,     Botschaft würde auch Erich Kästner freudig zustimmen:
wie Kopenhagen mit einer Verkehrspolitik vorwärts macht,       ‹Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es.›
                                                                                                                                          Filmstill aus:
die in Basel noch auf publizistisch bewirtschafteten Wider-    Der Film läuft ab wann Do 26.5. in den Kultkinos u S. 48
                                                                                                                                          ‹Demain –
stand stösst; und wir begleiten ein partizipatives Demo-                                                                                  Tomorrow›

                                                                                                                          Mai 2016 |   ProgrammZeitung | 9
PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL
Rare Rosinen
ol i v e r lü di

                                                                                    ‹Homo Sapiens›, einem streng komponierten Dokumentar-
                                                                                    film von Nikolaus Geyrhalter, an Sciencefiction-Dystopien
                                                                                    denken; nur dass es um reale, von Menschen gebaute, in-
                                                                                    zwischen verlassene Orte geht.
                                                                                        Reines Glück. Und ist es nicht mysterymässig, was im
                                                                                    neusten Film von Apichatpong Weerasethakul vor sich geht
                                                                                    (2010 Palm d’Or-Gewinner mit ‹Uncle Boonmee erinnert
                                                                                    sich an seine frühere Leben›), ‹Cemetery of Splendor›, in
                                                                                    dem Soldaten an einer rätselhaften Schlafkrankheit lei-
                                                                                    den, ein Medium deren Träume sehen kann und Göttinnen
                                                                                    mit einer Gläubigen ihre Leckereien teilen? Aber dieser
                                                                                    erstaunliche Regisseur aus Thailand habe, so Nicole Rein-
                                                                                    hard, sowieso längst sein eigenes Genre geschaffen, in dem
                                                                                    das Dies- und Jenseitige ganz natürlich aufeinandertref-
                                                                                    fen. Hier in einem grossartigen Spielfilm, der eine Ruhe,
                                                                                    Wärme und Menschlichkeit ausstrahlt, die ihresgleichen
                                                                                    suchen. «Am Ende», so Beat Schneider, «ist man einfach
                                                                                    glücklich.»
                                                                                    Ganz wie bei ‹Le Fils de Joseph› des in mancher Hinsicht
                                                                                    ungewöhnlichen Regisseurs Eugène Green, der eine Vater-
                                                                                    suche zeigt, dabei wie selbstverständlich biblische Motive
                                                                                    zitiert, sich über den Literaturbetrieb lustig macht und sei-
                                                                                    ne Protagonisten (im Paris von heute!) konsequent im Stil
                                                                                    des französischen Barocktheaters ihren Text aufsagen lässt.
                                                                                    Wodurch Green eine ganz eigentümliche Wirkung erzeugt
                                                                                    und das Personal seines neuen Spielfilms (samt einem Esel)
                                                                                    zum schönsten, rührendsten und irgendwie auch lustigsten
                                                                                    Showdown der Filmgeschichte versammelt.
                                                                                    Das komplette Programm findet sich auf der ‹Bildrausch›-
                                                                                    Website, auch nähere Angaben zu ‹Springtime in Munich›,
                                                                                    einer Filmreihe neben dem Wettbewerb (in der einige ‹guns
                                                                                    und girls-Filme› der so genannten Neuen Münchner Gruppe
                                                                                    aus den 70ern zu sehen sind), zu Specials, einem Filmkara-
                                                                                    oke, einem Salon Erotique usw. – kurzum zu einem neuer-
                                                                                    lich starken Jahrgang, auf den wir uns freuen dürfen.
Filmstills aus:          Das Filmfest ‹Bildrausch› präsentiert eine                 6. Filmfest ‹Bildrausch›: Mi 25. bis So 29.5., Stadtkino und Kultkino Atelier,
‹A Dragon Arri-
ves› von Mani            vielversprechende Festivalauslese.                         www.bildrausch-basel.ch
Haghighi              Nicole Reinhard und Beat Schneider, die Verantwortlichen
(oben) und            für Basels schönsten und längsten Rausch, sind nach Vene-
‹Baden Baden›
von Rachel            dig, Wien, Rotterdam und Berlin gefahren, haben dort hun-                           Lange Nacht der Kurzfilme
Lang                  derte Filme gesehen und ihre Wahl getroffen.                   db. Anfang April startete die 14. Tour der ‹Kurzfilmnacht› in
                      An ihrem aktuellen Programm fällt eine gewisse Nähe zum        Zürich und kommt nun auch nach Basel. In vier Programmen
                      Genre-Kino auf. Exemplarisch vielleicht bei Mani Haghi-        werden 28 Filme gezeigt, und in jeder Stadt gibt es eine lokale
                      ghi, dem diesjährigen, mit insgesamt fünf Filmen vertrete-     Premiere. Die ‹Swiss Shorts› mit neuen heimischen Produktionen
                      nen Ehrengast, der in seinem neuen Werk, ‹A Dragon Arri-       eröffnen den Anlass, sodann sind unter dem Titel ‹Back To The
                      ves›, erklärtermassen ein schönes Durcheinander anrichten      Past› Publikumslieblinge aus 20 Jahren Kurzfilmtage Winterthur
                      und die Genres (irgendwo zwischen X-Files, Chandler und        zu sehen, das Thema ‹Happy Aging› gibt Einblick in Wünsche und
                      Indiana Jones) mixen wollte. Aber wie er das tut! Wir dür-     Sehnsüchte des Alters, und eine ‹Fantastic Nocturne› mit Grusel-
                      fen uns auf einen wahrlich bildgewaltigen Film freuen, in      geschichten, die das Neuchâtel Fantastic Film Festival beigesteu-
                      dem alleine der Chevrolet Impala der Ermittler schon den       ert hat, rundet den Abend ab.
                      Eintritt wert wäre; ganz zu schweigen von einem Schiffs-       14. ‹Kurzfilmnacht›: Fr 13.5., Kultkino Atelier, www.kurzfilmnacht.ch
                      wrack in der Wüste, in dem Absonderliches geschieht.           Weitere Filme und Festivals:
                      Wer will, kann zudem in ‹11 Minutes› von Altmeister Jerzy      ‹Mythisch, märchenhaft, morbid›: Do/Fr im Mai, Neues Kino Basel
                      Skolimowski Thriller-Elemente entdecken, in ‹Childhood of      12. ‹One Minute Film Festival›: Fr 6. bis So 8.5., Aarau, www.oneminute.ch
                                                                                     ‹Videoex›, Intern. Experimentalfilm und Video Festival:
                      a Leader›, dem vielversprechenden Erstling von Brady Cor-
                                                                                     Di 24. bis So 29.5., Zürich www.videoex.ch
                      bet, Horror-Zitate, den verstörend brutalen ‹Interrogation›    26. Lesbenfilmtage: Mi 4. bis So 8.5., Freiburg (D),
                      des Inders Vetri Maraan als Politthriller sehen oder bei       www.freiburger-lesbenfilmtage.de
10 | ProgrammZeitung | Mai 2016
Klassik, Folklore & Canzone
ru e di a n k l i

                       Am Offbeat-Jazzfestival gibt es einen Italien-Schwerpunkt
                       auf hohem Niveau.
                                                                                                                     Kuba, Rio, Louisiana
                    Neapel ist seit Jahrhunderten die musikalische Hauptstadt Italiens, wenn                                     s t e fa n f r a nz e n
                    es um Opern, Kammermusik, Canzone oder Folklore geht. Wie steht es mit                                  Black Music am Jazzfestival.
                    dem Jazz? Eine Antwort erwarten wir von der neapolitanischen Sängerin                         In der Schlusskurve des Basler Jazzfestivals tre-
                    Maria Pia de Vito, neben der Pianistin Rita Marcotulli Italiens international                 ten oft die weltmusikalischen Facetten zutage.
                    profilierteste Jazzmusikerin. Gemeinsam mit Marcotulli schaffte sie 1995                      Die diesjährige Ausgabe führt in die Karibik, an
                    den Durchbruch, als sie auf ‹Nauplia› (Egea) neapolitanische und mediter-                     den Zuckerhut und nach New Orleans.
                    rane Traditionen mit dem Jazz verschmelzen liess.                                             Die grösste Eminenz der kubanischen Musik ist
                    Nun hat sich die ehrgeizige Neapolitanerin mit drei Gleichgesinnten der                       in unseren Tagen zweifellos der Tastengigant
                    europäischen Avantgarde dem Komponisten Giovanni Battista Draghi, ge-                         Chucho Valdès. 75 wird der Grandseigneur von
                    nannt Pergolesi (1710–1736), zugewandt. Auf der CD ‹Il Pergolese› (ECM)                       der Zigarreninsel nun, und zur Feier hat er ein
                    schafft sich ihr Quartett viel Raum für Improvisation durch originelle Ar-                    junges Sextett um sich geschart, das seiner ers-
                    rangements und Neu-Kreationen auf der Basis der reichen Hinterlassen-                         ten Band Irakere noch einmal eine Hommage
                    schaft Pergolesis. Pianist Couturier etwa hat sich fruchtbar vom berühmten                    erweist, an ihre pionierhafte Verbindung von
                    ‹Stabat Mater› für neue Kompositionen inspirieren lassen.                                     Jazzimprovisation und karibischer Polymetrik
                       Weite Horizonte. Von Neapel führt der Weg über das Mittelmeer nach                         erinnert. Dafür greifen die Musiker immer
                    Sardinien, der Heimat des Trompeters Paolo Fresu. Die altrömische Be-                         wieder auf die spirituelle Sphäre der Santeria-
                    zeichnung für das Mittelmeer ist ‹Mare Nostrum›, musikalisch aber verste-                     Religion zurück, Valdes’ Tastenkunst wird be-
                    hen es Fresu, der südfranzösische Akkordeonist Richard Galliano und der                       feuert von Gesang, Perkussion und der glänzend
                    schwedische Pianist Jan Lundgren als ihr eigenes ‹Spielmeer› und bringen                      aufgestellten Bläserriege.
                    die jeweiligen Traditionen ihrer Herkunftsländer in einen Dialog. Das Trio                    Eines der momentanen brasilianischen Schwer-
                    öffnet den Blick nach sieben Jahren Pause erneut und stilistisch unwider-                     gewichte in jeder Hinsicht ist Ed Motta. Der
                    stehlich auf weite Horizonte, in einem Gleichgewicht zwischen ästhetischer                    Weltbürger, der Berlin zu seiner neuen Wahlhei-
                    Verzauberung und individueller Raumgestaltung: alles wunderschöne                             mat erkoren hat, ist mit einem Bein tief in der
                    Eigenkompositionen, paritätisch aufgeteilt.                                                   schwarzen Musik Nordamerikas verankert, mit
                    Canzoni und Jazz sind heuer das Thema von zwei Tastenvirtuosen: Stefano                       dem anderen in den Jazz- und Funktraditionen
                    Bollani präsentiert in seinem aktuellen Soloprogramm ‹Arrivano gli alieni›                    seiner eigenen Heimat. Mit seinem warmen und
                    (Decca) eigene Autorenlieder – er singt sie auch! – sowie Standards, für                      voluminösen Bariton erinnert er an den Soul-
                    Piano und Keyboards geschrieben oder arrangiert. Das Duo des Pianisten                        man Donny Hathaway, in den komplexen Har-
                    Dado Moroni mit dem Tessiner Trompeter Franco Ambrosetti konzentriert                         monien und Arrangements seiner Songs an Stee-
                    sich mit den auf der CD ‹Quando m’innamoro› erschienenen Interpretatio-                       ly Dan. Der Bonvivant, der auch gerne über feine
                    nen auf das Songbook des Komponisten Roberto Livraghi, den es nördlich                        Weine, Käse oder seine Lieblingsfilme schwadro-
                    der Alpen noch zu entdecken gilt. In der zweiten Festivalhälfte ist das Kla-                  niert, baut aus seinem weltumspannenden Soul
                    vier zudem in den Solokonzerten von Colin Vallon oder Vijay Iyer präsent.                     mit Anteilen von Postbop und Sunshine-Pop ein
                    26. Offbeat Jazzfestival Basel: bis Do 12.5., div. Orte, www.offbeat-concert.ch               eigenes Universum – in diesem toben sich skur-
                    Ausserdem neu: Autorisierte Biografie zum 75. Geburtstag der Jazzpianistin Irène Schweizer,   rile Gangster oder Anti-Hipster aus, geht es mal
                    ‹Dieses unbändige Gefühl der Freiheit – Jazz, Avantgarde, Politik›, Hg. Hochschule Luzern/    augenzwinkernd-funkig und mal herzzereis-
Maria Pia           Christian Broecking, Broeckingverlag, 480 S., www.hslu.ch
de Vito,
                                                                                                                  send-balladesk zu.
Foto: zVg                                                                                                         Schliesslich gibt sich auch die Ausnahmediva
                                                                                                                  Dee Dee Bridgewater einmal mehr in Basel die
                                                                                                                  Ehre. War sie vor zehn Jahren mit ihrem Mali-
                                                                                                                  Programm zu hören, reist sie nun mit einem New
                                                                                                                  Orleans-Special und der jungen Bigband von Ir-
                                                                                                                  vin Mayfield an. Ihre Show ist eine Verbeugung
                                                                                                                  vor den Jazztraditionen der Crescent City, vom
                                                                                                                  Dixieland über die Marching Bands und den
                                                                                                                  Mardi Gras bis zum Südstaatenjazz von heute –
                                                                                                                  ein Repertoire ganz im Zeichen der Überwin-
                                                                                                                  dung der Hurricane-Katrina-Katastrophe von
                                                                                                                  2005, in der Mayfields Vater umgekommen war.
                                                                                                                  Konzerte: Chucho Valdès (6.5.), Ed Motta (8.5.),
                                                                                                                  Dee Dee Bridgewater (10.5.), www.offbeat-concert.ch
                                                                                                                  Ausserdem: Jazz live bei ‹Piano di Primo al Primo
                                                                                                                  Piano›: jeweils Sa 14.5., 4.6., 18.6., 10.9.,
                                                                                                                  Untere Kirchgasse 4, Allschwil, www.piano-di-primo.ch
                                                                                                                  Jazz und indische Musik, Bird's Eye u S. 38

                                                                                                                                              Mai 2016 |   ProgrammZeitung | 11
Pikant und rasant
dagm a r bru n n e r

    Freche Lieder und innovative Volksmusik.
Den Namen eines eleganten subtropischen Nachtschattengewächses hat
                                                                                                                        Tanz à discrétion
sich ein gesangsfreudiges Ensemble zugelegt: Aubergine. Das Quintett                                                            dagm a r bru n n e r
(Richard Erig, Kathrin Fehr, Christoph Grau Kaufmann, Nicolas Savoy und                                                     Schauen und Ausprobieren.
Daniel Zellweger) besteht seit 2000 und verfügt über ein breites Lieder-                                         Die Barockzeit spricht heute viele an. Und
Repertoire von Pop bis Barock in frisch-frechen Arrangements (von Erig)                                          schliesslich verfügt Basel mit der Schola Canto-
– u.a. einer ‹türkischen› Version von ‹z’Basel an mym Rhy›. Allesamt musi-                                       rum über eine weltweit renommierte Einrich-
kalisch ausgebildet, treten die Mitwirkenden in Kulturräumen, bei Ge-                                            tung, an der die Musik bzw. Kultur jener Epoche
schäfts- und Privatanlässen auf und experimentieren auch gerne. Etwa mit                                         besonders gepflegt (unterrichtet, wiederent-
dem Autor Rudolf Bussmann und seinem Gedichtband ‹Popcorn – Texte für                                            deckt, eingespielt) wird. In diesem Umfeld ist
den kleinen Hunger›, den sie vokal und instrumental ergänzen. Das Pro-                                           auch der Verein für historisches Tanztheater
gramm mit pikanter Poesiekost macht der Aubergine alle Ehre.                                                     Basel (HisTaB) entstanden, der ein breites Pu-
    Zigeuner- und Volksmusik. Seit rund zwei Jahrzehnten unermüdlich                                             blikum, auch ohne Vorkenntnisse in Tanz oder
unterwegs und vielfältig aktiv ist das Trio Musique Simili. Die aus Süd-                                         Alter Musik, ansprechen will. Er fördert die Er-
frankreich stammende Line Loddo (Gesang, Kontrabass), Juliette Pasquier                                          forschung der historischen Aufführungspraxis,
aus dem Bordelais (Geige) und der Berner Marc Hänsenberger (Akkorde-                                             organisiert und unterstützt Produktionen, aktu-
on) spielen lüpfige ‹Zigeunermusik› aus verschiedenen Weltgegenden und                                           ell etwa ‹Dornröschen› nach Charles Perrault mit
auf ihre eigene Art. In ihrem Kleinverlag geben sie zudem selbst gestaltete                                      dem Ensemble Ad Fontes, den Basler Barocktän-
Musikalien heraus: CDs, Noten, Kalender und Bücher. Das jüngste Werk                                             zern und dem Erzähler Sebastian Mattmüller.
ist das Bilderbuch ‹Sordina im Quintenzirkus› für Gross und Klein, das mit                                       Sie wollen ein sinnliches Fest auf die Bühne brin-
Crowdfunding finanziert wurde. Es erzählt eine träumerische Geschichte                                           gen und schildern Dornröschens Weg in eine
von Zirkuszauber und Musikfreuden, die man mit integrierten Noten und                                            veränderte Welt mit Musik, Ballett und Kostü-
einer CD geniessen und nachspielen kann. –                                                                       men, mit Theater- und Deklamationskunst. –
Der Verein Bühnete in Arlesheim organisiert über Pfingsten die ersten                                            Zum Tanzfest, veranstaltet vom Schweizer Tanz-
‹Volksmusiktage›, die sich als Plattform für zeitgemässe, innovative Tanz-                                       netzwerk Reso, treffen sich auch in diesem Jahr
und Hausmusik etablieren will und mit hochkarätigen Ensembles zu einem                                           Bewegungsfreudige jeden Alters in 28 Gemein-
Volksfest mit Trachten, Tanz und Tönen einlädt.                                                                  den und Städten des Landes zu Workshops und
Ensemble Aubergine: Fr 27. und Sa 28.5., 20 h, Kaisersaal, Spalenberg 12, www.fauteuil.ch,                       Performances aller Art. Der Basler Ableger lan-
www.ensemble-aubergine.ch, www.rudolfbussmann.ch                                                                 cierte erstmals im Vorfeld erfolgreich einen re-
Aubergine spielt auch am PriCülTür der ProgrammZeitung u S. 7                                                    gionalen Projektaufruf und präsentiert u.a. die
Rudolf Bussmanns Kolumne ‹Life or Style› u S. 19
                                                                                                                 vier ausgewählten Stücke. In Kooperation mit
Musique Simili, Buchvernissage ‹Sordina im Quintenzirkus›: Mo 2.5., 19.30, Bider & Tanner;
                                                                                                                 verschiedenen Kulturhäusern hat Ursula Haas,
Konzert mit Liederzyklus ‹Brahms Tzigane›: Fr 27.5., 20 h, H95, Horburgstr. 95, www.simili.ch
                                                                                                                 Leiterin des Basler Tanzbüros, ein abwechs-
1. Volksmusiktage Arlesheim: Sa 14. und So 15.5., Mehrzweckhalle und Reformierte Kirche
                                                                                                                 lungsreiches Programm zusammengestellt, das
Arlesheim, www.vmtarlesheim.ch
                                                                                                                 vielen etwas zu bieten hat. Bespielt werden In-
Ausserdem: 20. ‹Multikulti›-Festival der Kulturen: Fr 6. bis So 8.5., Rheinfelden,
www.multikultifestival.ch                                                                                        nen- und Aussenräume in allen möglichen Tanz-
                                                                                                                 stilen von Profis und Laien, und willkommen
7. Klangfestival ‹Naturstimmen›: Di 3. bis Mo 16.5., Alt St. Johann, Toggenburg,
www.klangwelt.ch                                                                                                 sind alle, die sich gerne ausdrücken und gemein-
                                                                                                                 schaftlich verbinden. –
                                                                                                                 Georges Bizets Opernheldin ‹Carmen› ist die ak-
                                                                                                                 tuelle Produktion der Cinevox Junior Company
                                                                                                                 aus Neuhausen gewidmet, die alljährlich auch in
                                                                                                                 Basel gastiert. 25 junge Tanztalente lassen die
                                                                                                                 tragische Geschichte der stolzen Spanierin in
                                                                                                                 vier Choreografien ausdrucksstark aufleben.
                                                                                                                 Ensemble Ad Fontes und Basler Barocktänzer:
                                                                                                                 ‹Dornröschen›. Ein historisches Ballett: Fr 6.5., 19.30,
                                                                                                                 Aula der FMS, Engelgasse 120, Basel; und So 8.5., 16 h,
                                                                                                                 Binzen (D), www.klassikbewegtbinzen.de,
                                                                                                                 http://vereinhistab.wix.com/histab
                                                                                                                 Das Tanzfest Basel: Fr 13. bis So 15.5., div. Orte
                                                                                                                 (national: Do 12. bis Mo 16.5.) u S. 39
                                                                                                                 Cinevox Junior Company mit ‹Carmen›: Fr 20.5., 20 h,
                                                                                                                 Scala Basel, Freie Str. 89, www.artco.ch

                                                                                                Ensemble
                                                                                                Aubergine,
                                                                                                Foto: Natascha
                                                                                                Jansen

12 | ProgrammZeitung | Mai 2016
Grenzenlose musikalische Begegnungen
be n e di k t l ac h e n m e i e r

   Das Europäische Jugendchor Festival
   feiert seine 10. Ausgabe und den Kulturaustausch.
Gemeinsam singen verbindet. Das wusste Peter Michael
Loewe bereits 1989. Er hatte damals den ersten Preis für die
Idee eines ‹Festivals der Begegnung› gewonnen. Wenig spä-
ter wurde das Konzept von der Christoph Merian Stiftung
und den in der Knabenkantorei Basel aktiven Musikern
Beat Raaflaub und Gerhard Winkler umgesetzt. Die Auf-
gabe des Europäischen Jugendchorfestivals ist heute unter
der Leitung von Kathrin Renggli dieselbe wie damals: Men-
schen über alle Grenzen hinweg zusammenzuführen und
gemeinsam neue Horizonte zu entdecken. Das gilt für die
Singenden, die Chorleitung und das Publikum.
Begegnung findet z.B. statt, wenn brasilianische Kinder an
einem gemeinsamen Konzert für einmal Schweizerdeutsch
singen. Oder wenn am konzertfreien Abend die Jugendli-
chen an einer Party zusammen singen und feiern. Eine wei-
tere Ebene der Begegnung ist die der Gastgeberfamilie. Alle
Sängerinnen und Sänger wohnen während der Festivaltage
bei Basler Familien und erhalten so einen Einblick ins hel-
vetische Leben. Im Gegenzug werden hiesige Chöre ins
Herkunftsland der Teilnehmenden eingeladen.
An der Jubiläumsausgabe singen in und um Basel 18 Kin-
der- und Jugendchöre aus 12 Ländern. Vertreten sind so-
wohl europäische Nationen als auch junge Talente aus
Übersee; dieses Jahr ist der Indonesian Children’s & Youth
Choir Cordana aus Jakarta zu Gast.
   Herausragende Mädchenchöre. Von Anfang an nahmen
exzellente Chöre am EJCF teil. Für die Basler Jugendchöre
ein Ansporn, sich stets zu steigern, so Mitgründer Gerhard
Winkler. Zur Entwicklung des Festivals sagt er: «Gerade
die herausragenden ausländischen Mädchenchöre haben
viel zur hohen Qualität beigetragen.» Für ein wunderbares                                                                                           Mädchen-
Klangerlebnis wird diesmal z.B. der Female Academic Folk       Niederlanden verarbeiten ein Schweizer Volkslied zu einer                            kantorei Basel,
                                                                                                                                                    Foto: Tina
Choir aus Bulgarien sorgen. Dank des hohen akademischen        Neukomposition. Der extra für das Festival kreierte Song                             Barth
Niveaus konnte das Ensemble rasch grosse Erfolge feiern        ‹Music Is Everywhere›, der jedes Konzert abschliesst, run-
und gewann 2008 an der Chorolympiade in Graz die Gold-         det das Jubiläum ab.
medaille im Bereich Folklore.                                  10. Europäisches Jugendchorfestival (EJCF): Mi 4. bis So 8.5., www.ejcf.ch
Seit der Erstausgabe 1992 ist die Mädchenkantorei Basel am     Ausserdem: Die Mädchenkantorei Basel sucht für ihre Jubiläums-CD mit
Festival präsent. In fünf Chorklassen werden Mädchen ab        Pergolesis ‹Stabat Mater› noch Mittel, www.maedchenkantorei.ch
vier Jahren und junge Frauen altersgerecht und gezielt ge-     Weitere Chorkonzerte u S. 34, 35
fördert. Auch die Knabenkantorei ist seit Beginn des EJCF
mit dabei. Inzwischen konfessionell neutral, singt der Chor
geistliche und weltliche Chormusik. Die 75 Sänger zwi-                                                         Jugend musiziert
schen neun und 23 Jahren treten an Gottesdiensten auf                               db. Die Knaben- und Mädchenmusik Basel (KMB) begeht im Mai
oder sind auf der ganzen Welt an Festivals unterwegs.                               ihren 175. Geburtstag. 1841 gegründet, um die Begeisterung für
Ebenfalls ein wichtiger Vertreter aus Basel ist der Jugend-                         Blasmusik zu wecken, blieb sie bis 1990 Knaben vorbehalten. Frü-
chor Vivo der Musikschule. Rund fünfzig Mitglieder geben                            her galten dort strenge Sitten, so wurde etwa das Schwänzen von
a cappella Volkslieder, Popmusik und klassische Werke zum                           Proben gebüsst. Heute sind rund 20 Lehrkräfte an der KMB tätig,
Besten.                                                                             die neben Blas- auch Schlaginstrumente unterrichten, und es
Seine 10. Ausgabe feiert das EJCF mit dem Jubiläumsevent                            gibt ein Konzert- und ein Nachwuchsorchester; höchst ergfolg-
‹The Power Of Music› auf dem Münsterplatz. Die Chorleite-                           reich sind z.B. die Tambouren. Seit 2008 steht die Schule unter
rin Kathrin Renggli studiert mit dem Publikum vor Ort eine                          dem Patronat der GGG. Zum Jubiläum hat die KMB Jugendmu-
Melodie ein, die anschliessend zusammen mit allen 18 Chö-                           siken und Musikvereine aus der ganzen Nordwestschweiz einge-
ren gesungen wird. Zudem findet mit ‹The Colour Of Cul-                             laden, die an verschiedenen Orten der Stadt aufspielen werden.
ture› im Stadtcasino das Jubiläumskonzert statt. Je drei                            175 Jahre KMB: Fr 20. bis So 22.5., div. Orte, www.kmb.ch (Kurse u S. 89)
Komponisten aus Norwegen, Bulgarien, der Türkei und den
                                                                                                                                   Mai 2016 |   ProgrammZeitung | 13
Aufbruch mit Körpereinsatz
m ic h a e l b a a s

                                                                                     Papier. Als roter Faden liesse sich das Thema ‹Körper› iden-
                                                                                     tifizieren; jedenfalls dominieren performativ-choreogra-
                                                                                     fische Produktionen. Genregrenzen dagegen werden be-
                                                                                     wusst gedehnt, Trennungen zwischen Theater, Choreografie
                                                                                     und Performance aufgehoben.
                                                                                         Starke belgische Präsenz. Auffällig breit vertreten ist da-
                                                                                     bei die belgische Szene mit sieben Produktionen, darunter
                                                                                     eine von Anne Teresa De Keersmaeker: Sie präsentiert das
                                                                                     auf Arnold Schönbergs gleichnamiger Kammermusik ba-
                                                                                     sierende Duo ‹Verklärte Nacht›, eine Recherche zwischen
                                                                                     formalem und narrativem Tanz. Jan Lauwers und die Need-
                                                                                     company gastieren mit ‹The Blind Poet›, einem Stück, das
                                                                                     an den syrischen Lyriker Abu l-’Ala al Ma’arri (973–1057)
                                                                                     anknüpft und das die sieben Performenden zu einer Art
                                                                                     Wettbewerb um das multikulturellste Ego verdichten.
                                                                                     Ebenfalls aus Belgien stammen Ultima Vez, das Kollektiv
                                                                                     Laika, Kabinet K, die Performer Randi De Vlieghe und Jef
                                                                                     Van gestel sowie das Ensemble Stap & Koen; die letzten bei-
                                                                                     den setzen sich dabei jeweils mit Mustern des Dazugehö-
                                                                                     rens oder Ausgeschlossenseins auseinander. Diese hohe
                                                                                     Dosis ist indes keineswegs Ausdruck eines gezielten Fokus
                                                                                     auf Belgien, sondern symbolisiert eher dessen Stellenwert
                                                                                     in der freien Tanz- und Theaterszene der Gegenwart.
                                                                                         Gefühle und Vorurteile. Doch es gibt auch andere Gravi-
                                                                                     tationszentren: London zum Beispiel. Von dort kommt die
                                                                                     Company des israelischen Choreografen Hofesh Shechter
                                                                                     und stellt die 2015 in Berlin uraufgeführte Arbeit ‹Barba-
                                                                                     rians› vor, die von verinnerlichter Barockmusik in explosive
                                                                                     Dubstep-Grooves switched. ‹Common Emotions›, das Stück
                                                                                     von Yasmeen Godder, übrigens auch aus Israel, fragt nach
                                                                                     kollektiven Gefühlen und wird beim Festival uraufgeführt.
                                                                                     In der Eröffnungsperformance ‹Not Punk, Pololo› von Mo-
                                                                                     nika Gintersdorfer und Knut Klassen kreiert ein deutsch-
                                                                                     ivorisches Team mit 18 Mitwirkenden aus Musik, Tanz und
                                                                                     Performance einen Kosmos unterschiedlichster Sprachen
                                                                                     und Körpersprachen mit ungeahnten Parallelen.
                                                                                     Auch Sasha Waltz ist im Programm: Sie hat ‹Travelogue I –
                                                                                     Twenty to Eight›, das Stück, das ihr 1993 den Durchbruch
                                                                                     brachte, mit jungen Tanzschaffenden neu aufgelegt (be-
                                                                                     reits ausverkauft). Das Berliner Kollektiv Rimini Protokoll
Needcompany,
Foto: Maarten            Tanz und Theater, das internationale Festival               zeigt mit ‹Evros Walk Water› ein an John Cages ‹Water
Vanden Abeele            in Freiburg, startet durch.                                 Walk› anknüpfendes Re-Enactment von Flüchtlingsrouten
                      Freiburg bricht als Festivalstadt auf in eine neue Dimen-      aus Irak, Afghanistan und Syrien. Mit Vorurteilen spielen
                      sion. Motor dieser Entwicklung ist das internationale Festi-   zudem der israelische Tänzer und Performer Hillel Kogan
                      val Tanz und Theater, das vom E-Werk, dem Theater im           und sein arabischer Kollege Adi Boutrous in ihrer skurrilen
                      Marienbad und dem Stadttheater in Nachfolge des Inter-         Produktion ‹We Love Arabs›, die den Nahost-Konflikt und
                      nationalen Tanz- bzw. Theaterfestivals im Zwei-Jahres-         das Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern augen-
                      Intervall gemeinsam organisiert wird, und das Schmier-         fällig beleuchtet.
                      mittel ist – wie meist – das Geld. Nach der Premiere 2014      Festival Tanz und Theater: Do 28.4. bis Sa 14.5., div. Orte, Freiburg,
                      erhöhte die Stadt ihren Zuschuss auf gut 180’000 Euro; das     www.tanzundtheaterfestival.de
                      ebnete den Weg für eine höhere Förderung des Landes.           Ausserdem: Theaterfestival ‹auawirleben›: Mi 11. bis So 22.5., Bern,
                      Zudem gibt’s heuer erstmals rund 60’000 Euro von den           www.auawirleben.ch

                      Kulturstiftungen des Bundes. Insgesamt verfügt das Festi-      Schweizer Theatertreffen: Do 26. bis So 29.5., Genf,
                      val so über ein Budget von rund 400’000 Euro.                  www.schweizertheatertreffen.ch

                      Zwar haftet dem spröden Titel nach wie vor etwas Proviso-
                      risches an, programmatisch aber scheint bereits diese zwei-
                      te Ausgabe etabliert und gelungen – zumindest auf dem
14 | ProgrammZeitung | Mai 2016
Deprimierend? Sicher nicht!
j u l i a b ä n n i nge r

                       ‹Melancholia› ist ein Musik- und Tanztheater mit dem Jungen
                       Theater Basel und dem La Cetra Barockorchester.
                                                                                                                 Wir sind hier!
                   Sie wird mit Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, gar mit Depression in Ver-                           a n si v e rw e y
                   bindung gebracht, doch in der Renaissance bezog sich die ‹Melancholia›                          Kolumne Theater Basel.
                   auf eigenbrötlerische, zurückgezogene und nachdenkliche Menschen. Das               Erste Eindrücke bleiben: Als ich zum ersten Mal
                   Grübeln und Leiden galt auch als Quelle von Kreativität und Genialität.             im Dezember 2015 Basel besuchte, verknallte ich
                   «Künstler waren klassische Melancholiker», sagt Sebastian Nübling, der              mich auf Anhieb in den Tinguely-Brunnen und
                   mit Ives Thuwis zusammen das Stück ‹Melancholia› inszeniert und zur Ur-             wünschte mir, dass mein Vater noch diese Fanta-
                   aufführung bringt. Für die beiden ist es bereits ihre dritte gemeinsame Pro-        siewesen mit mir hätte erleben können. Die her-
                   duktion. «Wir haben zwar nicht dieselbe Ästhetik, aber es gibt viele Schnitt-       umplätschernde Königin ‹Fontääne› rief mir die
                   punkte», erklärt Thuwis. Sie stammen aus unterschiedlichen Bereichen:               Besprühungssysteme am Bauernhof in Südafri-
                   Nübling kommt vom traditionellen Theater und arbeitet viel mit Bühnen-              ka, wo ich meine Kindheit verbracht habe und
                   profis. Thuwis, studierter Tänzer und Choreograf, schätzt die Arbeit mit            meine Liebe für Bach, Brahms und die deutsche
                   Laien, weil er eine unverstellte Körpersprache mag. «Wir ergänzen uns               Kultur entdeckte, klar vor Augen. Das Nachbar-
                   gut», findet Nübling.                                                               wesen ‹Dr Theaterkopf› liess mich die Eisberge
                   Nicht zum ersten Mal arbeitet das Regieteam in Koproduktion mit dem Jun-            auf einer Kreuzfahrt zum Nordpol wieder Revue
                   gen Theater Basel: Knapp 20 Jugendliche zwischen 14 und 24 Jahren wer-              passieren. Apropos Kreuzfahrt: Auf dem Wasser
                   den auf der Bühne stehen. Ebenfalls mit dabei sind das Barockorchester              Schumann, Verdi, Chopin & Co. zum Klingen zu
                   La Cetra und junge Sängerinnen und Sänger aus dem Oper Avenir Studio                bringen, schenkt einem auf Lebenszeit eine
                   des Theater Basel. «Unser Stück ist eigentlich kein Theater, mehr eine              scheuklappenablehnende Grundeinstellung dem
                   Mischform», so Thuwis. Gesprochenen Text gebe es keinen, Ausdruckswei-              Musizieren gegenüber.
                   sen seien Tanz und Gesang.                                                          Bei meinem ersten Besuch in Basel hatte ich
                       Vergänglichkeit erfahren. Das Orchester rekonstruiert Musik aus dem             knappe 45 Minuten Zeit, über den Weihnachts-
                   15. und 16. Jahrhundert – aus jener Zeit, in der eine andere Vorstellung            markt zu bummeln und habe schon damals die
                   des Melancholie-Begriffs herrschte. So wird ein Bogen in die Vergangen-             Offenheit und den Humor der Stadt erkannt, als
                   heit geschlagen: «Die Spannung des Stücks entsteht zwischen den beiden              ich in einem feinen Hutladen beim Zweckent-
                   Definitionen von Melancholie, der damaligen und der aktuellen», erklärt             fremden eines Federschals zum Ohrenwärmer
                   Nübling. Gerade in einer so schnelllebigen und fordernden Zeit wie heute            tatkräftig von Damen, mit einigen Dekaden
                   seien Momente des Innehaltens rar. «Doch solche Augenblicke, in denen               mehr Erfahrung als ich, unterstützt wurde.
                   man sich selbst und seine Aussenwelt wahrnimmt, einfach um zu schauen,              Schon da war mir klar, dass ich in Basel Gleich-
                   was passiert, sind nötig.»                                                          gesinnte gefunden haben könnte.
                   Es geht auch darum, Vergänglichkeit zu erfahren und sich über den eige-             Als Musikerin weiss man, dass die Arbeit nie fer-
                   nen Tod bewusst zu werden. Das Thema scheint in Verbindung mit Jugend-              tig sein wird: Der Moment der Kommunikation
                   lichen befremdlich. Doch auf diese Weise kann das gern verdrängte Thema             mit dem Publikum bleibt vergänglich. Egal wie
                   aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden. «Auch junge Menschen               gut der Moment mit der modernen Technik
                   haben das Recht, über ihre Vergänglichkeit nachzudenken. Man kann                   künstlich festgehalten wird, der suchterzeugen-
                   Sterblichkeit etwa als das erfahren, was das Leben erst möglich macht»,             de Moment bleibt magisch. Bis zum garantierten
‹Melancholia›
mit dem Coun-      sagt Nübling.                                                                       Tod darf man sich also entspannt aufs Üben, Stu-
tertenor Tim       ‹Melancholia›: ab Do 12.5., 19.30 (Premiere), Theater Basel, Grosse Bühne u S. 40   dieren und Verzweifeln freuen. Ohne Verzweif-
Mead, Foto:        Mit Musik von John Dowland, Barbara Strozzi, Claudio Monteverdi u.a.                lung keine klare Definition der Freude! Weshalb
Uwe Heinrich
                                                                                                       sind Opern mit dramatischen Todesfällen sonst
                                                                                                       meistens erfolgreicher?
                                                                                                       An der Universität von Stellenbosch (sehr gute
                                                                                                       Weingegend!), wo ich fünf Jahre Musik studiert
                                                                                                       habe, hörte ich zum ersten Mal die Formel:
                                                                                                       99% Schweiss + 1% Talent = möglicher Erfolg.
                                                                                                       Inzwischen habe ich gelernt, dass die heilige
                                                                                                       Musik nur meine Arbeit ist. So freue ich mich
                                                                                                       in Basel, ob bei meinen Operneinführungen
                                                                                                       ‹Entrée avec Ansi›, ob beim Schwimmen im
                                                                                                       Rhein mit rosafarbenem Fischli, ob am Dirigen-
                                                                                                       tenpult für ‹Jesus Christ Superstar› oder beim
                                                                                                       Schuheinkauf, dass man hier Genuss im Alltag
                                                                                                       ohne Scheuklappen geniesst.
                                                                                                       Ansi Verwey ist seit Beginn der Intendanz von Andreas
                                                                                                       Beck Studienleiterin am Theater Basel.

                                                                                                                                 Mai 2016 |   ProgrammZeitung | 15
Bücherlese
j u l i a b ä n n i nge r

          Drei Autorinnen, drei Bücher,                             Aus dem Leben gepflückt.                                    Keine Bettlektüre.
                 drei Schicksale.                        Was machen, wenn die eigene Mutter plötzlich          Obwohl sie schon lange mit ihrer Familie in Eu-
Sandra Hughes, Bettina Spoerri und Irène Speiser         zur Fremden wird? Wenn sie sich immer mehr in         ropa lebt, fühlt sich die namenlose Protagonistin
erzählen von charaktervollen Protagonistinnen            ihrer eigenen Welt verschliesst? Genau diese Er-      der Erzählung ‹Meerespassagen› noch immer mit
und thematisieren eindringlich schwere Krank-            fahrung macht die Protagonistin in Bettina            New York verbunden, wo sie einmal gewohnt
heiten.                                                  Spoerris ‹Herzvirus›. Als sie eines Tages von der     hat. Eine Bar Mizwa von Freunden bietet nach
            Sympathische Antiheldin.                     Schule zurückkommt, ist ihre Mutter abgeholt          Jahren wieder Anlass, den Atlantik zu überque-
Sandra Hughes vierter Roman ‹Fallen› schildert           und in eine psychiatrische Klinik gebracht wor-       ren. Mit ihrem kleinen Sohn besucht sie für eini-
das unerwartete Los eines 15-Jährigen, der einen         den. Ohne ihr Wissen, ohne ihr Einverständnis         ge Tage die Stadt, doch das zunächst freudige
Schlaganfall erleidet. Die Autorin nimmt den             – der herrische Stiefvater hat entschieden. Doch      Wiedersehen wird unerwartet von einer schreck-
Blickwinkel der überfürsorglichen Mutter ein             das ist nur ein kleiner Teil einer viel grösseren     lichen Neuigkeit überschattet: Eine andere gute
und beschreibt eindringlich ihren Schmerz, ihre          Geschichte, die sich um eine ungewöhnliche            Freundin vor Ort ist schwer erkrankt. In dichten,
Wut und Hilflosigkeit. Nach dem Hirnschlag ihres         Frau und ihre schleichende Erkrankung dreht.          stichwortartigen Sätzen beschreibt Irène Speiser
Sohnes fällt Vera in ein Loch, kann nicht mehr zur       Sie wird aus Optik der heranwachsenden Toch-          die inneren Zustände und die äusseren Um-
Arbeit, muss Medikamente nehmen und schottet             ter erzählt, die sich mit feiner Beobachtungsgabe     stände der Protagonistin, lässt diese ineinander
sich völlig von ihrem sozialen Umfeld ab. Sie ist        an das Leben ihrer Mutter – und auch an ihr eige-     fliessen. Manchmal sind die vage angedeuteten
eine Antiheldin, die sich weigert, eine starke Frau      nes – erinnert.                                       Zeitsprünge schwer nachvollziehbar, man folgt
und Mutter zu verkörpern, die allen Schicksals-          Wir erhalten stückweise Ausschnitte aus dem Le-       einem Fluss aus Bildern und Gedanken. Die
schlägen zum Trotz weiterkämpft und das Beste            ben des Kindes, das seine Mutter bewundert,           Hauptfigur ist hin- und hergerissen zwischen
daraus macht. Vera ist weinerlich, selbstmitleidig       und der Jugendlichen, die um sie besorgt ist.         Erinnerungen und einem schmerzhaften Jetzt.
und von ihren Nächsten abhängig. Doch sie ist            Spoerris unaufgeregte Erzählweise verleiht den        Ihr innerer Konflikt ist spürbar: Wie soll sie mit
auch sensibel, gutmütig und eigenwillig. Hughes          teilweise erschütternden Geschichten eine ab-         der Situation umgehen?
zeichnet ein genaues und komplexes Bild der Pro-         surde Selbstverständlichkeit. Die Erinnerungs-        Prägnant und detailliert, manchmal etwas zu
tagonistin und vermag so die Vielschichtigkeit           bilder folgen keiner Erzählordnung, sondern           umständlich, formuliert die Autorin, was schwer
eines Menschen wiederzugeben.                            sind herausgepflückt aus dem realen Leben –           in Worte zu fassen ist: Emotionen, Stimmungen,
Die in Allschwil lebende Autorin liess sich von          einzelne Ereignisse, die ein einheitliches Ganzes     Beziehungen. Manche der nüchternen Erkennt-
einem wahren Ereignis inspirieren: Vor zwei              ergeben. Die Autorin verknüpft Persönliches ge-       nisse gehen unter die Haut – gerade aufgrund
Jahren erlitt ein Jugendlicher in Aesch mitten im        schickt mit Historischem der 1970/80er-Jahre:         ihrer Einfachheit erscheinen sie in Konfrontati-
Dorf einen Schlaganfall – zehn Personen gingen           Demonstrationen gegen Atomkraftwerke, Um-             on mit einer unheilbaren Krankheit besonders
an ihm vorbei, bis nach einer Stunde der elfte           weltkatastrophen, aber auch Literatur, Musik          tragisch: «Man hatte Glück, und man hatte
endlich die Polizei rief. Indem Hughes die Mutter        und Film sind selbstverständlicher Teil ihrer Ge-     Pech.» Die kurzen Sätze, mehr Adjektive als Ver-
ins Zentrum rückt, schafft sie eine neue Dimen-          dächtnisfragmente. Nach ihrem Debüt ‹Konzert          ben, sorgen für Stimmungspunkte, für das Er-
sion, die auch unabhängig vom tragischen                 für die Unerschrockenen› (2013) ist ‹Herzvirus›       spüren der Atmosphäre. Ein reichhaltiges Voka-
Schicksal zum Tragen kommt: Der pubertieren-             der zweite Roman der in Basel aufgewachsenen          bular und überraschende Wortkombinationen
de Junge, der sich abnabeln will und eine un-            Autorin.                                              sind typisch für Speiser, die selbst zehn Jahre in
sichtbare Wand aufbaut. Daneben die besorgte             Bettina Spoerri, ‹Herzvirus›. Braumüller, 2016.       New York verbracht hat und seit 2003 in Basel
Mutter, abhängig vom eigenen Kind, an das sie            288 S., gb., CHF 31.90, Foto: Matthias von Gunten     lebt. Ihr Buch bietet bodenständige Reflexionen
nicht mehr herankommt. Vera lässt ihre Umge-             Die Autorin, geb. 1968, leitet seit Herbst 2013 das   über Leben und Tod, Freundschaft und Verlust.
                                                         Literaturhaus in Lenzburg.
bung kaum atmen – je mehr sie sich ihrem Sohn                                                                  Irène Speiser, ‹Meerespassagen›. Stroemfeld, 2015.
annähert, desto abweisender wird er ihr gegen-                                                                 88 S., gb., CHF 24.90. Foto: Ute Schendel
über. Ein aufwühlendes Buch mit unerwartetem                                                                   Lesung: Mi 22.6., 19.30, Allg. Lesegellschaft Basel,
                                                                                                               Moderation: Michael Guggenheimer
Ende.
                                                                                                               Die Autorin, geb. 1959, ist freiberuflich tätig.
Sandra Hughes, ‹Fallen›. Dörlemann, 2016.
160 S., gb., CHF 27. Foto: Marc Wetli
Die Autorin, geb. 1966, arbeitet in der Kulturabt. BS.

16 | ProgrammZeitung | Mai 2016
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