PROGRAMMZEITUNG UNABHÄNGIG & VIELSEITIG SEIT 1987 KULTUR IMRAUMBASEL
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Cover: Filmstill aus: ‹A Dragon Arrives› Agenda-Partner von Mani Haghighi, Filmfest Bildrausch u S. 10 des Monats Kultur im Raum Basel Mai 2016 | Nr. 317 CHF 8.40 | EUR 8.00 ProgrammZeitung unabhängig & vielseitig seit 1987
Baukunst im Gespräch dagm a r bru n n e r Editorial. Was ist das: silbergrau, gross und kunstvoll? Die Frage wird künftig jedes Kind beantworten können. Unübersehbar, kompakt und von zurückhaltender Eleganz, steht er nun da, der neue Anbau des Kunstmuseums, ein Mix aus «barockem Stadtpalais und Kunstcontainer», wie Architekt Emanuel Christ sein mit Christoph Gantenbein erstelltes Werk definierte. Wie fast immer bei Neubauten wird viel gelobt, aber auch gern gejammert, etwa über das blendende Kunstlicht, den tristen Wandverputz, die heiklen Böden und vor allem über die Metalltüren und -fensterläden. Auch die Kunstpräsentation und die Kosten (100 Mio.) stossen nicht überall auf Verständnis. Mir selbst gefällt dieser kühn-geknickte, kühle Klotz, der archaisch und modern zugleich wirkt und nicht nur Skulp- tur beherbergt, sondern selber eine ist. Der raffinierte Leuchtfries zaubert subtile Schriftbilder an die Backstein- fassade, die Innenräume mit Marmor, Eiche, Beton und Stahl verknüpfen Vergangenheit und Gegenwart, und die Kunstwerke kommen neu zur Geltung. Das industriell und provisorisch Anmutende tut dem Bau gut, der nun erst ein- Unterkünfte mal belebt und erprobt sein will. Mit ‹temporären Räumen› befasst sich eine Veranstaltungs- für Millionen Weitere aktuelle Baukunst lässt sich an den ‹SIA-Tagen der reihe von Blaser Architekten. Unter dem Titel ‹Flüchtiges während des Festes zeitgenössischen Architektur und Ingenieurbaukunst› erle- Zuhause› thematisieren eine Ausstellung und elf interdis- Kumbh Mela ben. Eine Website, eine Broschüre und eine App geben Aus- ziplinäre Referate die Unterkünfte von Nomaden, Vertrie- in Indien, kunft über die Gebäude, die z.T. schwer zugänglich sind benen und Flüchtlingen. Dabei kommen unterschiedliche Foto: Archiv schauraum-b und mit Fachleuten besichtigt werden können. Diese stellen Bauformen und Alternativen zur Sprache, und es sollen ihre Bauten und die damit verbundenen Herausforderun- Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie die Situation von gen vor und geben so Einblick in Planung und Gestaltung. raumbedürftigen Menschen, u.a. auch in unserer Region, Fast 300 Bauten sind landesweit offen, vom Einfamilien- verbessert werden kann. bis zum Geschäftshaus, von Hotel, Heim und Kloster bis zu 9. SIA-Tage Architektur: Fr 20. bis So 22.5. und Fr 27. bis So 29.5., div. Orte, Schule, Klinik und Zoorestaurant. In den Basler Kantonen www.sia-tage.ch kann man über 20 neue Gebäude und Umnutzungen in ver- ‹Flüchtiges Zuhause›: bis Mi 29.6., Schauraum B, Blaser Architekten, schiedenen Quartieren kennenlernen, etwa am Bahnhof Austr. 24, www.blaserarchitekten.ch Liestal, im Freilager am Dreispitz, im Hirzbrunnen oder im Ausserdem: 15. Architekturbiennale: Sa 28.5. bis So 27.11., Venedig, Gundeli. Der SIA–Berufsverband für Fachkräfte der Berei- www.labiennale.org che Bau, Technik und Umwelt bietet die erfolgreichen Füh- rungen heuer erstmals an zwei Wochenenden an. Hauskultur zu Sparmassnahmen (u.a. Stellenabbau) zwingt. Die Generalversammlung der SRG Region Basel Inhalt db. Schon seit mehr als 40 Jahren führt Annema- findet mit Kulturprogramm am 9. Mai im Thea- Redaktion 5 rie Pfister am Petersgraben ihre Buchhandlung ter Basel statt. Am selben Tag jährt sich zum Kulturszene 28 mit Antiquariat – und sie denkt nicht daran, ganz 40. Mal der Tod von Ulrike Meinhof, die eine ver- aufzuhören, tritt allenfalls ein wenig kürzer, sierte Journalistin war, bevor sie zur Terroristin Agenda 49 damit der Garten, Freundschaften, Reisen und wurde. An inhaftierte und tote Medienschaffen- Kultursplitter 65 natürlich das Lesen nicht zu kurz kommen. Ihr de sowie an die Bedeutung der freien Bericht- waches Interesse an Menschen, Büchern, Politik erstattung will auch der Tag der Pressefreiheit Impressum 88 beeindrucken uns schon lange, und so haben wir erinnern (3.5.). Kurse 89 diese engagierte, vielseitige und grosszügige Weitere kulturelle Errungenschaften und Ereig- Kulturvermittlerin als Preisträgerin unseres nisse finden sich auf den folgenden Seiten. Der Ausstellungen & Museen 90–93 9. PriCülTür erkoren. Wir laden alle, die sie schät- 1. Sonntag im Mai ist übrigens der ‹Weltlachtag›, Bars & Restaurants 94–95 zen, herzlich zur Feier ein. Mehr dazu S. 7. und so kann heuer heiter (u.a. für Frauenrechte, Auch die SRG feiert – mit getrübter Freude: sie S. 24) demonstriert werden; durch Zürich mar- wird 90 Jahre alt und hat 2015 mit einem Verlust schiert ausserdem die 10. ‹Lachparade›! von 90 Millionen Franken abgeschlossen, was Mai 2016 | ProgrammZeitung | 3
Redaktion Small is beautiful dagm a r bru n n e r 7 PriCülTür dagm a r bru n n e r 7 Nah am Himmel a l f r e d s c h l i e nge r 8 Das Glück festhalten? a l f r e d s c h l i e nge r 8 Die Botschaft lautet: Es gibt Lösungen! a l f r e d s c h l i e nge r 9 Rare Rosinen ol i v e r lü di 10 Lange Nacht der Kurzfilme dagm a r bru n n e r 10 Klassik, Folklore & Canzone ru e di a n k l i 11 Kuba, Rio, Louisiana s t e fa n f r a nz e n 11 Pikant und rasant dagm a r bru n n e r 12 Tanz à discrétion dagm a r bru n n e r 12 Grenzenlose musikalische Begegnungen be n e di k t l ac h e n m e i e r 13 Jugend musiziert dagm a r bru n n e r 13 Aufbruch mit Körpereinsatz m ic h a e l b a a s 14 Deprimierend? Sicher nicht! j u l i a b ä n n i nge r 15 Wir sind hier! a n si v e rw e y 15 Bücherlese j u l i a b ä n n i nge r 16 Poetische Himmelfahrt m a rt i n z i ng g 17 Sprachakrobatik dagm a r bru n n e r 17 Ausschwärmen und Einwerben n a n a b a de n be rg 18 Life or Style ru d ol f bus sm a n n 19 Instrumentale Soli aus Tusche t hom a s oe h l e r 19 Schöne alte Maschinenwelten n a n a b a de n be rg 20 Traditionspflege dagm a r bru n n e r 20 E wie Erasmus n a n a b a de n be rg 21 Nachtschwärmer i r i s k r e t z s c h m a r 22 Kunstfiguren pe t e r bu r r i 22 Dialog mit Tier und Ort i r i s k r e t z s c h m a r 23 Kunstsinnig dagm a r bru n n e r 23 Frauen & Göttinnen dagm a r bru n n e r 24 Lob der Pille l i n da s t i bl e r 24 Naturbegegnungen dagm a r bru n n e r 25 Kultur & Gastro dagm a r bru n n e r 25 Dreiland-Storys dagm a r bru n n e r 26 Stadtwanderer wa lt e r be u t l e r 26 Stephan Balkenhol, Möbel statt Mehl t i l o r ic h t e r 27 ‹Frau mit weissem Faltenkleid›, 2015, bemaltes Holz (Wawa), Kreativmarkt dagm a r bru n n e r 27 Foto: Peter Cox, Fondation Fernet-Branca u S. 22
Small is beautiful dagm a r bru n n e r Buchzeichen: Selma Weber, Annemarie Pfister erhält den 9. Kulturpreis der ProgrammZeitung. PriCülTür Foto: Nils Fisch Sie hatte bereits den Vertrag für einen Job bei Foyles in London in der dagm a r bru n n e r Tasche, als sie sich 1970 aus Liebesgründen für den Verbleib in Basel ent- Kulturpreis der ProgrammZeitung. schied. Annemarie Pfister, ein aufgewecktes Landei – immerhin aus dem Am 20. Geburtstag der ProgrammZeitung 2007 literarisch durch E.Y. Meyers Roman bekannt gewordenen Trubschachen – wurde der PriCülTür lanciert, mit dem Men- zögerte nicht lange und eröffnete im August 1974 am Petersgraben ihre schen ausgezeichnet werden, die mit Herzblut eigene Buchhandlung mit Antiquariat. Nach der Lehrzeit als Buchhänd- kulturvermittelnd tätig sind. Der Preis besteht lerin in Bern hatte sie zunächst das Weite gesucht, war mit Autostopp süd- aus einer Skulptur, die individuell und exklusiv wärts gereist und hatte in Florenz, später in Paris gejobbt und ein Fran- vom Basler Künstler Marius Rappo gestaltet und zösischdiplom erworben. Als sie dann mit 26 und ihrem Laden sesshaft im Rahmen einer kleinen Feier der geehrten Per- wurde, verlor sie keineswegs die Lust am Reisen, sondern büxte aus, wann sönlichkeit überreicht wird. immer es ging. Bis heute ist die weltoffene Emmentalerin gerne unterwegs, Zu diesen gehörten bisher Jakob Tschopp (2007), sowohl in literarischen wie in natürlichen Landschaften. Helene Schär (2008), Helmut Bürgel (2009), Annemarie Pfisters Geschäft ist eine Institution, es war der erste linke Suzanne Schweizer und Romy Gysin (2010), Frauenbuchladen der Schweiz, mit Büchern zu Gesellschaft und Politik, Christoph Meury (2011), Sylwia Zytynska (2012), aber auch mit klassischer und moderner Literatur für Gross und Klein so- Christian Schuppli (2013) und Claudia Roth wie mit antiquarischen Titeln aus verschiedenen Gebieten. Am Sortiment (2015). Sie wirk(t)en mit grossem Einsatz in ver- hat sich wenig verändert, es ist gehaltvoll und vielfältig geblieben, aber schiedenen Kultursparten: Kunst, Kinderbücher, thematisch seien heute eher Wandern oder Kochen gefragt als Anarchie, Gesang, Film, Theater/Tanz, Musik mit Kindern, sagt die Buchhändlerin augenzwinkernd. Figurenspiel oder als Gastfreundin. Dialoge statt Events. Dicht stehen und liegen neue und alte Bücher Die Preisträgerin ist in diesem Jahr die Buch- wand- und tischfüllend auf engstem Raum, aber Pfister weiss genau, was händlerin Annemarie Pfister (Porträt nebenan), sie hat, wo und für wen. Und das macht diesen Ort so besonders: die ge- die seit über 40 Jahren ebenso leidenschaftlich pflegte, sorgfältige Auswahl einer leidenschaftlichen Leserin und Netz- wie umsichtig Bücher und Begegnungsmöglich- werkerin. Denn nebst Inhalten von Büchern vermittelt Annemarie Pfister keiten anbietet. Mit dem 9. PriCülTür würdigt ihrer Kundschaft grosszügig Kontakte, bringt die Menschen miteinander die ProgrammZeitung ihren Einsatz für die ins Gespräch, hört zu, regt an, sagt ihre Meinung. Die passt nicht allen, wie Buch- und Lesekultur und ihren Sinn für lust- sie als parteilose Grossrätin während vier Jahren erfahren durfte, aber mit volle Vermittlung. Andersartigkeit kommt sie gut zurecht. Überhaupt findet sie es wichtig, An der Preisverleihung wird der Autor Rudolf wenn möglich jeden Tag etwas Neues zu lernen, bereit zu sein für Über- Bussmann die Laudatio halten und zusammen raschungen und so lebendig zu bleiben. mit dem Basler Ensemble Aubergine für weitere Seit 2012 ist Annemarie Pfister eigentlich pensioniert, und vor zwei Jahren Wort- und Musikbeiträge sorgen. konnte sie den 40. Geburtstag ihrer Buchhandlung feiern. Doch sie liebt 9. PriCülTür an Annemarie Pfister: Di 24.5., 18 h, ihre Arbeit, obwohl es immer ein low-budget-Business war. Aber es sei eben Unternehmen Mitte, Béletage, 1. Stock. auch eine «Herzensangelegenheit», sagt sie, und empfindet es als ein «gros- Laudatio: Rudolf Bussmann, Musik: Ensemble ses Geschenk», wenn sie herausfinden kann, was jemand will. Statt über Aubergine, www.ensemble-aubergine.ch den Wandel im Handel zu klagen, unterstützt sie lieber kreative Ideen wie (siehe auch u S. 12) ‹buy local› und bietet Dialoge statt Events. Ein treuer Kundenkreis weiss das zu schätzen. Buchhandlung Annemarie Pfister, Petersgraben 18, www.annemariepfister.ch, www.buy-local.ch Mai 2016 | ProgrammZeitung | 7
Das Glück festhalten? a l f r e d s c h l i e nge r Nah am Himmel a l f r e d s c h l i e nge r ‹Heavenly Nomadic – Sutac›. Vor bald zwanzig Jahren spielte er als 14-jähriger Junge in ‹Beshkempir› (Der Adoptivsohn) die Hauptrolle im ersten Spielfilm, der aus dem un- abhängigen Kirgistan in unsere Kinos kam. Und jetzt legt dieser gleiche Mirlan Abdykalykow (34) mit ‹Heavenly Nomadic – Sutac› seinen Erstling als Regisseur vor. Der Film nimmt uns mit in ein hohes Tal der kir- gisischen Bergwelt, wo drei Generationen einer Familie in grosser Abgeschiedenheit zusammen in einer nomadischen Jurte leben. Die Mutter mit der siebenjährigen Tochter ist verwitwet. Ihr Mann wurde vor einigen Jahren vom nahen Filmstills aus: Fluss mitgerissen. Der Sohn studiert in der fer- ‹Das Leben Mit der Familien-Doku ‹Das Leben drehen› kommt der Siegerfilm drehen› (oben), nen Stadt Architektur. Gelegentlich kommt in und ‹Heavenly von Solothurn ins Kino. der benachbarten Wetterstation ein Meteorologe Nomadic – Das Konzept fasziniert und beängstigt zugleich. Da filmt ein Vater obsessiv vorbei, der ein Auge auf die Witwe geworfen hat. Sutac› das Leben seiner Familie – und nervt alle damit, Mutter, Sohn, Tochter. Zur Die Schwiegereltern sehen das nur ungern, weil Volljährigkeit schenkt er der jungen Frau einen Zusammenschnitt ihres bis- sie befürchten, die Frau könnte das Tal verlassen herigen Lebens von frühester Kindheit an. Für die Tochter ein Geschenk und mit dem neuen Mann in die Stadt ziehen. wie eine Ohrfeige. Sie wird den Film nie anschauen. Nach dem Tod des Dieses Setting entwickelt sich, eingebettet in Vaters übernimmt sie das ganze Archivmaterial und merkt bald: Ich muss eine grandiose Berglandschaft, in gelassener Ge- daraus einen eigenen Film machen; über diese Familie, über diesen Vater mächlichkeit. Die Menschen sind hier noch tief und über sich selber – und vor allem über das, was sich hinter den Bildern verbunden mit Ritualen, Naturmythen und Legen- versteckt. den, in denen die Toten als Adler und Käuzchen Die gebürtige Baslerin Eva Vitija (43) geht das Projekt mit viel Witz und weiterleben. Doch mit den Gerüchten um den Leichtigkeit an. Aber die Selbstironie ist offensichtlich auch ein Selbst- Bau einer Eisenbahnlinie klingt auch der Zusam- schutz. Denn der Blick ins ganz und gar Private offenbart einige Risse, bei menprall von Tradition und Moderne an. denen ich als Zuschauer nicht immer sicher bin, ob ich das unbedingt wis- Das erinnert, nicht zuletzt in der Zartheit der sen und sehen will. Als die Regisseurin 1973 geboren wird, hat der Vater Liebesgeschichte und ihrer Verknüpfung mit ge- bereits eine erste gescheiterte Ehe mit zwei Söhnen hinter sich. Der eine sellschaftlichen Veränderungen, an den grossen wird sich später umbringen, der andere, um den sich der Vater kaum ge- kirgisischen Dichter Tschingis Aitmatow. Der kümmert hat, lebt als Randständiger im Jura. All dies und mehr recher- Regisseur fängt dies alles mit Poesie, ohne Pa- chiert die Filmerin quasi aus den Lücken ihres eigenen Familienfilms und thos, aber auch mit einer klaren Haltung ein: macht so deutlich: Im Zweitversuch wollte ihr Vater offenbar fast zwang- Diese Welt darf nicht untergehen. Dank der Stif- haft das Glück festhalten. tung Trigon-Film jedenfalls können wir sie fil- Ungeschminkte Analyse. Dieser Vater ist kein Unbekannter. Joseph Schei- misch besuchen. degger (1929–2012) hat als Schauspieler in über hundert Filmen mitgewirkt, Der Film läuft ab Do 12.5. in den Kultkinos u S. 48 von ‹Polizischt Wäckerli› über ‹Reise der Hoffnung› bis zu Fredi Murers ‹Vollmond›. Bald war er auch als Dramaturg, Drehbuchautor und Regis- seur tätig. Er wurde Leiter der Hörspielabteilung im Radiostudio Basel, wo er viele Autorinnen und Autoren fürs Radio entdeckte und auch das erste Hörspiel in Stereo realisierte. In späteren Jahren wandte er sich dem Fern- seh- und Dokumentarfilm zu. Beruflich eine beeindruckend kreative Vita. Ob er jetzt sein privates Leben aufgrund von Filmaufnahmen, die er selber wohl kaum für die Öffentlichkeit bestimmt sah, auch gerne so ausgestellt sähe? Eva Vitijas Mutter ist Psychotherapeutin, ihr Bruder Kinder- und Jugend- psychiater. In welcher Ungeschminktheit sie den toten Abwesenden inter- pretieren und analysieren, kann schon auch irritieren. Zweifellos gelingt der Regisseurin aber das Generationenporträt einer 68er-Familie mit all ihren Höhenflügen und Abstürzen. Der Solothurner Jury war dieser Erst- lingsfilm der diesjährige ‹Prix de Soleure› wert. Der Film läuft ab Do 5.5. in den Kultkinos u S. 48 8 | ProgrammZeitung | Mai 2016
Die Botschaft lautet: Es gibt Lösungen! a l f r e d s c h l i e nge r Der preisgekrönte Dokumentarfilm ‹Demain – kratie-Projekt im indischen Bundesstaat Tamil Nadu, das Tomorrow› macht Mut zu Alternativen. sich die Durchmischung der verschiedenen Kasten zum Ziel Am Anfang steht – einmal mehr – die wissenschaftlich ge- gesetzt hat – und dabei überraschend erfolgreich ist. Das stützte Katastrophenmeldung eines renommierten multi- Filmteam reist auch nach Basel und spricht hier mit dem disziplinären US-Forschungs-Teams: Unsere Zivilisation Leiter der WIR-Bank-Genossenschaft, die alternative Geld- wird sich zwischen 2040 und 2100 selbst zerstören, wenn flüsse und Finanzierungssysteme entwickelt hat. wir so weiterwursteln wie bisher. Wir hätten bei diesem Am besten bleibt haften, wenn es dem Film gelingt, seine Befund allen Grund, sofort in tiefster Depression und Hilf- Datenmenge in kleine Geschichten und Anekdoten zu ver- losigkeit zu versinken. Und dennoch verlässt man das Kino packen. Die Problematik des Wachstumszwangs fasst ein nach zwei dicht gefüllten Stunden überraschend optimis- afrikanischer Experte in ein treffendes Bild: Der Mensch tisch. plündert durch ungebremste Anhäufung, ganz im Gegen- Das liegt daran, dass sich die beiden französischen Film- satz zu einem Löwen, dem es nie in den Sinn käme, eine schaffenden Cyril Dion und Mélanie Laurent nicht mit dem Antilope auf Vorrat zu reissen, wenn er gesättigt ist. cineastischen Suhlen in der Hiobsbotschaft begnügen, son- Infotempo und Zahlenfülle. Etwas widersprüchlich wirkt dern den Artikel im Wissenschaftsmagazin ‹Nature› zum der Film, wenn er das finnische Bildungssystem einer- Anlass nehmen, weltweit nach konkreten Lösungsansätzen seits wegen seiner glänzenden Resultate in den PISA-Tests zu suchen, wie diesem globalen Knockout begegnet werden heraushebt, und anderseits betont, dass es bei den Finnen könnte – besser: wie ihm in grösseren und kleineren Kon- keinerlei standardisierte Tests, keine Klassenarbeiten und texten bereits aktiv entgegengewirkt wird. Es ist wohl die- keine Zeugnisse gebe bis zum Abitur. Interessant aber der ser optimistische Ansatz, der in Frankreich über eine Milli- Hinweis eines Schulrektors, der den Erfolg der finnischen on Menschen in diesen Film gelockt hat, und auch in der Schule auf die folgenden Hauptelemente zurückführt: We- Westschweiz, wo die Doku seit Weihnachten läuft, hat sie nig Bürokratie und viel Vertrauen – sowie die Tatsache, die Rekordmarke von 100’000 Kinogästen schon überschrit- dass sich die Bildungspolitik nicht ändert, wenn die Regie- ten. Eben wurde ‹Demain – Tomorrow› auch mit dem César rung wechselt. für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet. Trotz aller spannenden Ansätze, ‹Demain – Tomorrow› kann Umdenken und Praxis. Der Umweltaktivist Cyril Dion auch gehörig nerven. Vor allem mit einer filmischen Ästhe- (38) und die Schauspielerin Mélanie Laurent (33) zeigen tik, die manchmal mehr an den Werbespot eines Telekom- Alternativen zum Anfassen. Sie reisen in zehn Länder, von munikations-Anbieters erinnert. Auch die musikalische Island bis Indien, von Finnland bis in die USA, und tref- Untermalung huldigt öfters einer Euphorie, die etwas gar fen Menschen, die das Umdenken in zentralen Lebensbe- naiv wirkt. Und stören kann man sich auch an einigen Ten- reichen bereits verwirklichen. Die Materialfülle ist etwas denzen zur Selbstdarstellung der beiden Filmschaffenden. didaktisch, aber durchaus sinnvoll verknüpft in fünf Ka- Hauptmangel des Films ist aber sein horrendes Informa- pitel gegliedert: Landwirtschaft, Energie, Geldwirtschaft, tionstempo. Die Zahlenfülle hat mit der Zeit etwas Erschla- Demokratie und Bildung. Wir erleben Urban Gardening gendes. Dennoch: Hingehen – und gut aufpassen! Denn der ausgerechnet in der verfallenden Stadt Detroit; wir sehen, Botschaft würde auch Erich Kästner freudig zustimmen: wie Kopenhagen mit einer Verkehrspolitik vorwärts macht, ‹Es gibt nichts Gutes, ausser man tut es.› Filmstill aus: die in Basel noch auf publizistisch bewirtschafteten Wider- Der Film läuft ab wann Do 26.5. in den Kultkinos u S. 48 ‹Demain – stand stösst; und wir begleiten ein partizipatives Demo- Tomorrow› Mai 2016 | ProgrammZeitung | 9
Rare Rosinen ol i v e r lü di ‹Homo Sapiens›, einem streng komponierten Dokumentar- film von Nikolaus Geyrhalter, an Sciencefiction-Dystopien denken; nur dass es um reale, von Menschen gebaute, in- zwischen verlassene Orte geht. Reines Glück. Und ist es nicht mysterymässig, was im neusten Film von Apichatpong Weerasethakul vor sich geht (2010 Palm d’Or-Gewinner mit ‹Uncle Boonmee erinnert sich an seine frühere Leben›), ‹Cemetery of Splendor›, in dem Soldaten an einer rätselhaften Schlafkrankheit lei- den, ein Medium deren Träume sehen kann und Göttinnen mit einer Gläubigen ihre Leckereien teilen? Aber dieser erstaunliche Regisseur aus Thailand habe, so Nicole Rein- hard, sowieso längst sein eigenes Genre geschaffen, in dem das Dies- und Jenseitige ganz natürlich aufeinandertref- fen. Hier in einem grossartigen Spielfilm, der eine Ruhe, Wärme und Menschlichkeit ausstrahlt, die ihresgleichen suchen. «Am Ende», so Beat Schneider, «ist man einfach glücklich.» Ganz wie bei ‹Le Fils de Joseph› des in mancher Hinsicht ungewöhnlichen Regisseurs Eugène Green, der eine Vater- suche zeigt, dabei wie selbstverständlich biblische Motive zitiert, sich über den Literaturbetrieb lustig macht und sei- ne Protagonisten (im Paris von heute!) konsequent im Stil des französischen Barocktheaters ihren Text aufsagen lässt. Wodurch Green eine ganz eigentümliche Wirkung erzeugt und das Personal seines neuen Spielfilms (samt einem Esel) zum schönsten, rührendsten und irgendwie auch lustigsten Showdown der Filmgeschichte versammelt. Das komplette Programm findet sich auf der ‹Bildrausch›- Website, auch nähere Angaben zu ‹Springtime in Munich›, einer Filmreihe neben dem Wettbewerb (in der einige ‹guns und girls-Filme› der so genannten Neuen Münchner Gruppe aus den 70ern zu sehen sind), zu Specials, einem Filmkara- oke, einem Salon Erotique usw. – kurzum zu einem neuer- lich starken Jahrgang, auf den wir uns freuen dürfen. Filmstills aus: Das Filmfest ‹Bildrausch› präsentiert eine 6. Filmfest ‹Bildrausch›: Mi 25. bis So 29.5., Stadtkino und Kultkino Atelier, ‹A Dragon Arri- ves› von Mani vielversprechende Festivalauslese. www.bildrausch-basel.ch Haghighi Nicole Reinhard und Beat Schneider, die Verantwortlichen (oben) und für Basels schönsten und längsten Rausch, sind nach Vene- ‹Baden Baden› von Rachel dig, Wien, Rotterdam und Berlin gefahren, haben dort hun- Lange Nacht der Kurzfilme Lang derte Filme gesehen und ihre Wahl getroffen. db. Anfang April startete die 14. Tour der ‹Kurzfilmnacht› in An ihrem aktuellen Programm fällt eine gewisse Nähe zum Zürich und kommt nun auch nach Basel. In vier Programmen Genre-Kino auf. Exemplarisch vielleicht bei Mani Haghi- werden 28 Filme gezeigt, und in jeder Stadt gibt es eine lokale ghi, dem diesjährigen, mit insgesamt fünf Filmen vertrete- Premiere. Die ‹Swiss Shorts› mit neuen heimischen Produktionen nen Ehrengast, der in seinem neuen Werk, ‹A Dragon Arri- eröffnen den Anlass, sodann sind unter dem Titel ‹Back To The ves›, erklärtermassen ein schönes Durcheinander anrichten Past› Publikumslieblinge aus 20 Jahren Kurzfilmtage Winterthur und die Genres (irgendwo zwischen X-Files, Chandler und zu sehen, das Thema ‹Happy Aging› gibt Einblick in Wünsche und Indiana Jones) mixen wollte. Aber wie er das tut! Wir dür- Sehnsüchte des Alters, und eine ‹Fantastic Nocturne› mit Grusel- fen uns auf einen wahrlich bildgewaltigen Film freuen, in geschichten, die das Neuchâtel Fantastic Film Festival beigesteu- dem alleine der Chevrolet Impala der Ermittler schon den ert hat, rundet den Abend ab. Eintritt wert wäre; ganz zu schweigen von einem Schiffs- 14. ‹Kurzfilmnacht›: Fr 13.5., Kultkino Atelier, www.kurzfilmnacht.ch wrack in der Wüste, in dem Absonderliches geschieht. Weitere Filme und Festivals: Wer will, kann zudem in ‹11 Minutes› von Altmeister Jerzy ‹Mythisch, märchenhaft, morbid›: Do/Fr im Mai, Neues Kino Basel Skolimowski Thriller-Elemente entdecken, in ‹Childhood of 12. ‹One Minute Film Festival›: Fr 6. bis So 8.5., Aarau, www.oneminute.ch ‹Videoex›, Intern. Experimentalfilm und Video Festival: a Leader›, dem vielversprechenden Erstling von Brady Cor- Di 24. bis So 29.5., Zürich www.videoex.ch bet, Horror-Zitate, den verstörend brutalen ‹Interrogation› 26. Lesbenfilmtage: Mi 4. bis So 8.5., Freiburg (D), des Inders Vetri Maraan als Politthriller sehen oder bei www.freiburger-lesbenfilmtage.de 10 | ProgrammZeitung | Mai 2016
Klassik, Folklore & Canzone ru e di a n k l i Am Offbeat-Jazzfestival gibt es einen Italien-Schwerpunkt auf hohem Niveau. Kuba, Rio, Louisiana Neapel ist seit Jahrhunderten die musikalische Hauptstadt Italiens, wenn s t e fa n f r a nz e n es um Opern, Kammermusik, Canzone oder Folklore geht. Wie steht es mit Black Music am Jazzfestival. dem Jazz? Eine Antwort erwarten wir von der neapolitanischen Sängerin In der Schlusskurve des Basler Jazzfestivals tre- Maria Pia de Vito, neben der Pianistin Rita Marcotulli Italiens international ten oft die weltmusikalischen Facetten zutage. profilierteste Jazzmusikerin. Gemeinsam mit Marcotulli schaffte sie 1995 Die diesjährige Ausgabe führt in die Karibik, an den Durchbruch, als sie auf ‹Nauplia› (Egea) neapolitanische und mediter- den Zuckerhut und nach New Orleans. rane Traditionen mit dem Jazz verschmelzen liess. Die grösste Eminenz der kubanischen Musik ist Nun hat sich die ehrgeizige Neapolitanerin mit drei Gleichgesinnten der in unseren Tagen zweifellos der Tastengigant europäischen Avantgarde dem Komponisten Giovanni Battista Draghi, ge- Chucho Valdès. 75 wird der Grandseigneur von nannt Pergolesi (1710–1736), zugewandt. Auf der CD ‹Il Pergolese› (ECM) der Zigarreninsel nun, und zur Feier hat er ein schafft sich ihr Quartett viel Raum für Improvisation durch originelle Ar- junges Sextett um sich geschart, das seiner ers- rangements und Neu-Kreationen auf der Basis der reichen Hinterlassen- ten Band Irakere noch einmal eine Hommage schaft Pergolesis. Pianist Couturier etwa hat sich fruchtbar vom berühmten erweist, an ihre pionierhafte Verbindung von ‹Stabat Mater› für neue Kompositionen inspirieren lassen. Jazzimprovisation und karibischer Polymetrik Weite Horizonte. Von Neapel führt der Weg über das Mittelmeer nach erinnert. Dafür greifen die Musiker immer Sardinien, der Heimat des Trompeters Paolo Fresu. Die altrömische Be- wieder auf die spirituelle Sphäre der Santeria- zeichnung für das Mittelmeer ist ‹Mare Nostrum›, musikalisch aber verste- Religion zurück, Valdes’ Tastenkunst wird be- hen es Fresu, der südfranzösische Akkordeonist Richard Galliano und der feuert von Gesang, Perkussion und der glänzend schwedische Pianist Jan Lundgren als ihr eigenes ‹Spielmeer› und bringen aufgestellten Bläserriege. die jeweiligen Traditionen ihrer Herkunftsländer in einen Dialog. Das Trio Eines der momentanen brasilianischen Schwer- öffnet den Blick nach sieben Jahren Pause erneut und stilistisch unwider- gewichte in jeder Hinsicht ist Ed Motta. Der stehlich auf weite Horizonte, in einem Gleichgewicht zwischen ästhetischer Weltbürger, der Berlin zu seiner neuen Wahlhei- Verzauberung und individueller Raumgestaltung: alles wunderschöne mat erkoren hat, ist mit einem Bein tief in der Eigenkompositionen, paritätisch aufgeteilt. schwarzen Musik Nordamerikas verankert, mit Canzoni und Jazz sind heuer das Thema von zwei Tastenvirtuosen: Stefano dem anderen in den Jazz- und Funktraditionen Bollani präsentiert in seinem aktuellen Soloprogramm ‹Arrivano gli alieni› seiner eigenen Heimat. Mit seinem warmen und (Decca) eigene Autorenlieder – er singt sie auch! – sowie Standards, für voluminösen Bariton erinnert er an den Soul- Piano und Keyboards geschrieben oder arrangiert. Das Duo des Pianisten man Donny Hathaway, in den komplexen Har- Dado Moroni mit dem Tessiner Trompeter Franco Ambrosetti konzentriert monien und Arrangements seiner Songs an Stee- sich mit den auf der CD ‹Quando m’innamoro› erschienenen Interpretatio- ly Dan. Der Bonvivant, der auch gerne über feine nen auf das Songbook des Komponisten Roberto Livraghi, den es nördlich Weine, Käse oder seine Lieblingsfilme schwadro- der Alpen noch zu entdecken gilt. In der zweiten Festivalhälfte ist das Kla- niert, baut aus seinem weltumspannenden Soul vier zudem in den Solokonzerten von Colin Vallon oder Vijay Iyer präsent. mit Anteilen von Postbop und Sunshine-Pop ein 26. Offbeat Jazzfestival Basel: bis Do 12.5., div. Orte, www.offbeat-concert.ch eigenes Universum – in diesem toben sich skur- Ausserdem neu: Autorisierte Biografie zum 75. Geburtstag der Jazzpianistin Irène Schweizer, rile Gangster oder Anti-Hipster aus, geht es mal ‹Dieses unbändige Gefühl der Freiheit – Jazz, Avantgarde, Politik›, Hg. Hochschule Luzern/ augenzwinkernd-funkig und mal herzzereis- Maria Pia Christian Broecking, Broeckingverlag, 480 S., www.hslu.ch de Vito, send-balladesk zu. Foto: zVg Schliesslich gibt sich auch die Ausnahmediva Dee Dee Bridgewater einmal mehr in Basel die Ehre. War sie vor zehn Jahren mit ihrem Mali- Programm zu hören, reist sie nun mit einem New Orleans-Special und der jungen Bigband von Ir- vin Mayfield an. Ihre Show ist eine Verbeugung vor den Jazztraditionen der Crescent City, vom Dixieland über die Marching Bands und den Mardi Gras bis zum Südstaatenjazz von heute – ein Repertoire ganz im Zeichen der Überwin- dung der Hurricane-Katrina-Katastrophe von 2005, in der Mayfields Vater umgekommen war. Konzerte: Chucho Valdès (6.5.), Ed Motta (8.5.), Dee Dee Bridgewater (10.5.), www.offbeat-concert.ch Ausserdem: Jazz live bei ‹Piano di Primo al Primo Piano›: jeweils Sa 14.5., 4.6., 18.6., 10.9., Untere Kirchgasse 4, Allschwil, www.piano-di-primo.ch Jazz und indische Musik, Bird's Eye u S. 38 Mai 2016 | ProgrammZeitung | 11
Pikant und rasant dagm a r bru n n e r Freche Lieder und innovative Volksmusik. Den Namen eines eleganten subtropischen Nachtschattengewächses hat Tanz à discrétion sich ein gesangsfreudiges Ensemble zugelegt: Aubergine. Das Quintett dagm a r bru n n e r (Richard Erig, Kathrin Fehr, Christoph Grau Kaufmann, Nicolas Savoy und Schauen und Ausprobieren. Daniel Zellweger) besteht seit 2000 und verfügt über ein breites Lieder- Die Barockzeit spricht heute viele an. Und Repertoire von Pop bis Barock in frisch-frechen Arrangements (von Erig) schliesslich verfügt Basel mit der Schola Canto- – u.a. einer ‹türkischen› Version von ‹z’Basel an mym Rhy›. Allesamt musi- rum über eine weltweit renommierte Einrich- kalisch ausgebildet, treten die Mitwirkenden in Kulturräumen, bei Ge- tung, an der die Musik bzw. Kultur jener Epoche schäfts- und Privatanlässen auf und experimentieren auch gerne. Etwa mit besonders gepflegt (unterrichtet, wiederent- dem Autor Rudolf Bussmann und seinem Gedichtband ‹Popcorn – Texte für deckt, eingespielt) wird. In diesem Umfeld ist den kleinen Hunger›, den sie vokal und instrumental ergänzen. Das Pro- auch der Verein für historisches Tanztheater gramm mit pikanter Poesiekost macht der Aubergine alle Ehre. Basel (HisTaB) entstanden, der ein breites Pu- Zigeuner- und Volksmusik. Seit rund zwei Jahrzehnten unermüdlich blikum, auch ohne Vorkenntnisse in Tanz oder unterwegs und vielfältig aktiv ist das Trio Musique Simili. Die aus Süd- Alter Musik, ansprechen will. Er fördert die Er- frankreich stammende Line Loddo (Gesang, Kontrabass), Juliette Pasquier forschung der historischen Aufführungspraxis, aus dem Bordelais (Geige) und der Berner Marc Hänsenberger (Akkorde- organisiert und unterstützt Produktionen, aktu- on) spielen lüpfige ‹Zigeunermusik› aus verschiedenen Weltgegenden und ell etwa ‹Dornröschen› nach Charles Perrault mit auf ihre eigene Art. In ihrem Kleinverlag geben sie zudem selbst gestaltete dem Ensemble Ad Fontes, den Basler Barocktän- Musikalien heraus: CDs, Noten, Kalender und Bücher. Das jüngste Werk zern und dem Erzähler Sebastian Mattmüller. ist das Bilderbuch ‹Sordina im Quintenzirkus› für Gross und Klein, das mit Sie wollen ein sinnliches Fest auf die Bühne brin- Crowdfunding finanziert wurde. Es erzählt eine träumerische Geschichte gen und schildern Dornröschens Weg in eine von Zirkuszauber und Musikfreuden, die man mit integrierten Noten und veränderte Welt mit Musik, Ballett und Kostü- einer CD geniessen und nachspielen kann. – men, mit Theater- und Deklamationskunst. – Der Verein Bühnete in Arlesheim organisiert über Pfingsten die ersten Zum Tanzfest, veranstaltet vom Schweizer Tanz- ‹Volksmusiktage›, die sich als Plattform für zeitgemässe, innovative Tanz- netzwerk Reso, treffen sich auch in diesem Jahr und Hausmusik etablieren will und mit hochkarätigen Ensembles zu einem Bewegungsfreudige jeden Alters in 28 Gemein- Volksfest mit Trachten, Tanz und Tönen einlädt. den und Städten des Landes zu Workshops und Ensemble Aubergine: Fr 27. und Sa 28.5., 20 h, Kaisersaal, Spalenberg 12, www.fauteuil.ch, Performances aller Art. Der Basler Ableger lan- www.ensemble-aubergine.ch, www.rudolfbussmann.ch cierte erstmals im Vorfeld erfolgreich einen re- Aubergine spielt auch am PriCülTür der ProgrammZeitung u S. 7 gionalen Projektaufruf und präsentiert u.a. die Rudolf Bussmanns Kolumne ‹Life or Style› u S. 19 vier ausgewählten Stücke. In Kooperation mit Musique Simili, Buchvernissage ‹Sordina im Quintenzirkus›: Mo 2.5., 19.30, Bider & Tanner; verschiedenen Kulturhäusern hat Ursula Haas, Konzert mit Liederzyklus ‹Brahms Tzigane›: Fr 27.5., 20 h, H95, Horburgstr. 95, www.simili.ch Leiterin des Basler Tanzbüros, ein abwechs- 1. Volksmusiktage Arlesheim: Sa 14. und So 15.5., Mehrzweckhalle und Reformierte Kirche lungsreiches Programm zusammengestellt, das Arlesheim, www.vmtarlesheim.ch vielen etwas zu bieten hat. Bespielt werden In- Ausserdem: 20. ‹Multikulti›-Festival der Kulturen: Fr 6. bis So 8.5., Rheinfelden, www.multikultifestival.ch nen- und Aussenräume in allen möglichen Tanz- stilen von Profis und Laien, und willkommen 7. Klangfestival ‹Naturstimmen›: Di 3. bis Mo 16.5., Alt St. Johann, Toggenburg, www.klangwelt.ch sind alle, die sich gerne ausdrücken und gemein- schaftlich verbinden. – Georges Bizets Opernheldin ‹Carmen› ist die ak- tuelle Produktion der Cinevox Junior Company aus Neuhausen gewidmet, die alljährlich auch in Basel gastiert. 25 junge Tanztalente lassen die tragische Geschichte der stolzen Spanierin in vier Choreografien ausdrucksstark aufleben. Ensemble Ad Fontes und Basler Barocktänzer: ‹Dornröschen›. Ein historisches Ballett: Fr 6.5., 19.30, Aula der FMS, Engelgasse 120, Basel; und So 8.5., 16 h, Binzen (D), www.klassikbewegtbinzen.de, http://vereinhistab.wix.com/histab Das Tanzfest Basel: Fr 13. bis So 15.5., div. Orte (national: Do 12. bis Mo 16.5.) u S. 39 Cinevox Junior Company mit ‹Carmen›: Fr 20.5., 20 h, Scala Basel, Freie Str. 89, www.artco.ch Ensemble Aubergine, Foto: Natascha Jansen 12 | ProgrammZeitung | Mai 2016
Grenzenlose musikalische Begegnungen be n e di k t l ac h e n m e i e r Das Europäische Jugendchor Festival feiert seine 10. Ausgabe und den Kulturaustausch. Gemeinsam singen verbindet. Das wusste Peter Michael Loewe bereits 1989. Er hatte damals den ersten Preis für die Idee eines ‹Festivals der Begegnung› gewonnen. Wenig spä- ter wurde das Konzept von der Christoph Merian Stiftung und den in der Knabenkantorei Basel aktiven Musikern Beat Raaflaub und Gerhard Winkler umgesetzt. Die Auf- gabe des Europäischen Jugendchorfestivals ist heute unter der Leitung von Kathrin Renggli dieselbe wie damals: Men- schen über alle Grenzen hinweg zusammenzuführen und gemeinsam neue Horizonte zu entdecken. Das gilt für die Singenden, die Chorleitung und das Publikum. Begegnung findet z.B. statt, wenn brasilianische Kinder an einem gemeinsamen Konzert für einmal Schweizerdeutsch singen. Oder wenn am konzertfreien Abend die Jugendli- chen an einer Party zusammen singen und feiern. Eine wei- tere Ebene der Begegnung ist die der Gastgeberfamilie. Alle Sängerinnen und Sänger wohnen während der Festivaltage bei Basler Familien und erhalten so einen Einblick ins hel- vetische Leben. Im Gegenzug werden hiesige Chöre ins Herkunftsland der Teilnehmenden eingeladen. An der Jubiläumsausgabe singen in und um Basel 18 Kin- der- und Jugendchöre aus 12 Ländern. Vertreten sind so- wohl europäische Nationen als auch junge Talente aus Übersee; dieses Jahr ist der Indonesian Children’s & Youth Choir Cordana aus Jakarta zu Gast. Herausragende Mädchenchöre. Von Anfang an nahmen exzellente Chöre am EJCF teil. Für die Basler Jugendchöre ein Ansporn, sich stets zu steigern, so Mitgründer Gerhard Winkler. Zur Entwicklung des Festivals sagt er: «Gerade die herausragenden ausländischen Mädchenchöre haben viel zur hohen Qualität beigetragen.» Für ein wunderbares Mädchen- Klangerlebnis wird diesmal z.B. der Female Academic Folk Niederlanden verarbeiten ein Schweizer Volkslied zu einer kantorei Basel, Foto: Tina Choir aus Bulgarien sorgen. Dank des hohen akademischen Neukomposition. Der extra für das Festival kreierte Song Barth Niveaus konnte das Ensemble rasch grosse Erfolge feiern ‹Music Is Everywhere›, der jedes Konzert abschliesst, run- und gewann 2008 an der Chorolympiade in Graz die Gold- det das Jubiläum ab. medaille im Bereich Folklore. 10. Europäisches Jugendchorfestival (EJCF): Mi 4. bis So 8.5., www.ejcf.ch Seit der Erstausgabe 1992 ist die Mädchenkantorei Basel am Ausserdem: Die Mädchenkantorei Basel sucht für ihre Jubiläums-CD mit Festival präsent. In fünf Chorklassen werden Mädchen ab Pergolesis ‹Stabat Mater› noch Mittel, www.maedchenkantorei.ch vier Jahren und junge Frauen altersgerecht und gezielt ge- Weitere Chorkonzerte u S. 34, 35 fördert. Auch die Knabenkantorei ist seit Beginn des EJCF mit dabei. Inzwischen konfessionell neutral, singt der Chor geistliche und weltliche Chormusik. Die 75 Sänger zwi- Jugend musiziert schen neun und 23 Jahren treten an Gottesdiensten auf db. Die Knaben- und Mädchenmusik Basel (KMB) begeht im Mai oder sind auf der ganzen Welt an Festivals unterwegs. ihren 175. Geburtstag. 1841 gegründet, um die Begeisterung für Ebenfalls ein wichtiger Vertreter aus Basel ist der Jugend- Blasmusik zu wecken, blieb sie bis 1990 Knaben vorbehalten. Frü- chor Vivo der Musikschule. Rund fünfzig Mitglieder geben her galten dort strenge Sitten, so wurde etwa das Schwänzen von a cappella Volkslieder, Popmusik und klassische Werke zum Proben gebüsst. Heute sind rund 20 Lehrkräfte an der KMB tätig, Besten. die neben Blas- auch Schlaginstrumente unterrichten, und es Seine 10. Ausgabe feiert das EJCF mit dem Jubiläumsevent gibt ein Konzert- und ein Nachwuchsorchester; höchst ergfolg- ‹The Power Of Music› auf dem Münsterplatz. Die Chorleite- reich sind z.B. die Tambouren. Seit 2008 steht die Schule unter rin Kathrin Renggli studiert mit dem Publikum vor Ort eine dem Patronat der GGG. Zum Jubiläum hat die KMB Jugendmu- Melodie ein, die anschliessend zusammen mit allen 18 Chö- siken und Musikvereine aus der ganzen Nordwestschweiz einge- ren gesungen wird. Zudem findet mit ‹The Colour Of Cul- laden, die an verschiedenen Orten der Stadt aufspielen werden. ture› im Stadtcasino das Jubiläumskonzert statt. Je drei 175 Jahre KMB: Fr 20. bis So 22.5., div. Orte, www.kmb.ch (Kurse u S. 89) Komponisten aus Norwegen, Bulgarien, der Türkei und den Mai 2016 | ProgrammZeitung | 13
Aufbruch mit Körpereinsatz m ic h a e l b a a s Papier. Als roter Faden liesse sich das Thema ‹Körper› iden- tifizieren; jedenfalls dominieren performativ-choreogra- fische Produktionen. Genregrenzen dagegen werden be- wusst gedehnt, Trennungen zwischen Theater, Choreografie und Performance aufgehoben. Starke belgische Präsenz. Auffällig breit vertreten ist da- bei die belgische Szene mit sieben Produktionen, darunter eine von Anne Teresa De Keersmaeker: Sie präsentiert das auf Arnold Schönbergs gleichnamiger Kammermusik ba- sierende Duo ‹Verklärte Nacht›, eine Recherche zwischen formalem und narrativem Tanz. Jan Lauwers und die Need- company gastieren mit ‹The Blind Poet›, einem Stück, das an den syrischen Lyriker Abu l-’Ala al Ma’arri (973–1057) anknüpft und das die sieben Performenden zu einer Art Wettbewerb um das multikulturellste Ego verdichten. Ebenfalls aus Belgien stammen Ultima Vez, das Kollektiv Laika, Kabinet K, die Performer Randi De Vlieghe und Jef Van gestel sowie das Ensemble Stap & Koen; die letzten bei- den setzen sich dabei jeweils mit Mustern des Dazugehö- rens oder Ausgeschlossenseins auseinander. Diese hohe Dosis ist indes keineswegs Ausdruck eines gezielten Fokus auf Belgien, sondern symbolisiert eher dessen Stellenwert in der freien Tanz- und Theaterszene der Gegenwart. Gefühle und Vorurteile. Doch es gibt auch andere Gravi- tationszentren: London zum Beispiel. Von dort kommt die Company des israelischen Choreografen Hofesh Shechter und stellt die 2015 in Berlin uraufgeführte Arbeit ‹Barba- rians› vor, die von verinnerlichter Barockmusik in explosive Dubstep-Grooves switched. ‹Common Emotions›, das Stück von Yasmeen Godder, übrigens auch aus Israel, fragt nach kollektiven Gefühlen und wird beim Festival uraufgeführt. In der Eröffnungsperformance ‹Not Punk, Pololo› von Mo- nika Gintersdorfer und Knut Klassen kreiert ein deutsch- ivorisches Team mit 18 Mitwirkenden aus Musik, Tanz und Performance einen Kosmos unterschiedlichster Sprachen und Körpersprachen mit ungeahnten Parallelen. Auch Sasha Waltz ist im Programm: Sie hat ‹Travelogue I – Twenty to Eight›, das Stück, das ihr 1993 den Durchbruch brachte, mit jungen Tanzschaffenden neu aufgelegt (be- reits ausverkauft). Das Berliner Kollektiv Rimini Protokoll Needcompany, Foto: Maarten Tanz und Theater, das internationale Festival zeigt mit ‹Evros Walk Water› ein an John Cages ‹Water Vanden Abeele in Freiburg, startet durch. Walk› anknüpfendes Re-Enactment von Flüchtlingsrouten Freiburg bricht als Festivalstadt auf in eine neue Dimen- aus Irak, Afghanistan und Syrien. Mit Vorurteilen spielen sion. Motor dieser Entwicklung ist das internationale Festi- zudem der israelische Tänzer und Performer Hillel Kogan val Tanz und Theater, das vom E-Werk, dem Theater im und sein arabischer Kollege Adi Boutrous in ihrer skurrilen Marienbad und dem Stadttheater in Nachfolge des Inter- Produktion ‹We Love Arabs›, die den Nahost-Konflikt und nationalen Tanz- bzw. Theaterfestivals im Zwei-Jahres- das Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern augen- Intervall gemeinsam organisiert wird, und das Schmier- fällig beleuchtet. mittel ist – wie meist – das Geld. Nach der Premiere 2014 Festival Tanz und Theater: Do 28.4. bis Sa 14.5., div. Orte, Freiburg, erhöhte die Stadt ihren Zuschuss auf gut 180’000 Euro; das www.tanzundtheaterfestival.de ebnete den Weg für eine höhere Förderung des Landes. Ausserdem: Theaterfestival ‹auawirleben›: Mi 11. bis So 22.5., Bern, Zudem gibt’s heuer erstmals rund 60’000 Euro von den www.auawirleben.ch Kulturstiftungen des Bundes. Insgesamt verfügt das Festi- Schweizer Theatertreffen: Do 26. bis So 29.5., Genf, val so über ein Budget von rund 400’000 Euro. www.schweizertheatertreffen.ch Zwar haftet dem spröden Titel nach wie vor etwas Proviso- risches an, programmatisch aber scheint bereits diese zwei- te Ausgabe etabliert und gelungen – zumindest auf dem 14 | ProgrammZeitung | Mai 2016
Deprimierend? Sicher nicht! j u l i a b ä n n i nge r ‹Melancholia› ist ein Musik- und Tanztheater mit dem Jungen Theater Basel und dem La Cetra Barockorchester. Wir sind hier! Sie wird mit Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, gar mit Depression in Ver- a n si v e rw e y bindung gebracht, doch in der Renaissance bezog sich die ‹Melancholia› Kolumne Theater Basel. auf eigenbrötlerische, zurückgezogene und nachdenkliche Menschen. Das Erste Eindrücke bleiben: Als ich zum ersten Mal Grübeln und Leiden galt auch als Quelle von Kreativität und Genialität. im Dezember 2015 Basel besuchte, verknallte ich «Künstler waren klassische Melancholiker», sagt Sebastian Nübling, der mich auf Anhieb in den Tinguely-Brunnen und mit Ives Thuwis zusammen das Stück ‹Melancholia› inszeniert und zur Ur- wünschte mir, dass mein Vater noch diese Fanta- aufführung bringt. Für die beiden ist es bereits ihre dritte gemeinsame Pro- siewesen mit mir hätte erleben können. Die her- duktion. «Wir haben zwar nicht dieselbe Ästhetik, aber es gibt viele Schnitt- umplätschernde Königin ‹Fontääne› rief mir die punkte», erklärt Thuwis. Sie stammen aus unterschiedlichen Bereichen: Besprühungssysteme am Bauernhof in Südafri- Nübling kommt vom traditionellen Theater und arbeitet viel mit Bühnen- ka, wo ich meine Kindheit verbracht habe und profis. Thuwis, studierter Tänzer und Choreograf, schätzt die Arbeit mit meine Liebe für Bach, Brahms und die deutsche Laien, weil er eine unverstellte Körpersprache mag. «Wir ergänzen uns Kultur entdeckte, klar vor Augen. Das Nachbar- gut», findet Nübling. wesen ‹Dr Theaterkopf› liess mich die Eisberge Nicht zum ersten Mal arbeitet das Regieteam in Koproduktion mit dem Jun- auf einer Kreuzfahrt zum Nordpol wieder Revue gen Theater Basel: Knapp 20 Jugendliche zwischen 14 und 24 Jahren wer- passieren. Apropos Kreuzfahrt: Auf dem Wasser den auf der Bühne stehen. Ebenfalls mit dabei sind das Barockorchester Schumann, Verdi, Chopin & Co. zum Klingen zu La Cetra und junge Sängerinnen und Sänger aus dem Oper Avenir Studio bringen, schenkt einem auf Lebenszeit eine des Theater Basel. «Unser Stück ist eigentlich kein Theater, mehr eine scheuklappenablehnende Grundeinstellung dem Mischform», so Thuwis. Gesprochenen Text gebe es keinen, Ausdruckswei- Musizieren gegenüber. sen seien Tanz und Gesang. Bei meinem ersten Besuch in Basel hatte ich Vergänglichkeit erfahren. Das Orchester rekonstruiert Musik aus dem knappe 45 Minuten Zeit, über den Weihnachts- 15. und 16. Jahrhundert – aus jener Zeit, in der eine andere Vorstellung markt zu bummeln und habe schon damals die des Melancholie-Begriffs herrschte. So wird ein Bogen in die Vergangen- Offenheit und den Humor der Stadt erkannt, als heit geschlagen: «Die Spannung des Stücks entsteht zwischen den beiden ich in einem feinen Hutladen beim Zweckent- Definitionen von Melancholie, der damaligen und der aktuellen», erklärt fremden eines Federschals zum Ohrenwärmer Nübling. Gerade in einer so schnelllebigen und fordernden Zeit wie heute tatkräftig von Damen, mit einigen Dekaden seien Momente des Innehaltens rar. «Doch solche Augenblicke, in denen mehr Erfahrung als ich, unterstützt wurde. man sich selbst und seine Aussenwelt wahrnimmt, einfach um zu schauen, Schon da war mir klar, dass ich in Basel Gleich- was passiert, sind nötig.» gesinnte gefunden haben könnte. Es geht auch darum, Vergänglichkeit zu erfahren und sich über den eige- Als Musikerin weiss man, dass die Arbeit nie fer- nen Tod bewusst zu werden. Das Thema scheint in Verbindung mit Jugend- tig sein wird: Der Moment der Kommunikation lichen befremdlich. Doch auf diese Weise kann das gern verdrängte Thema mit dem Publikum bleibt vergänglich. Egal wie aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden. «Auch junge Menschen gut der Moment mit der modernen Technik haben das Recht, über ihre Vergänglichkeit nachzudenken. Man kann künstlich festgehalten wird, der suchterzeugen- Sterblichkeit etwa als das erfahren, was das Leben erst möglich macht», de Moment bleibt magisch. Bis zum garantierten ‹Melancholia› mit dem Coun- sagt Nübling. Tod darf man sich also entspannt aufs Üben, Stu- tertenor Tim ‹Melancholia›: ab Do 12.5., 19.30 (Premiere), Theater Basel, Grosse Bühne u S. 40 dieren und Verzweifeln freuen. Ohne Verzweif- Mead, Foto: Mit Musik von John Dowland, Barbara Strozzi, Claudio Monteverdi u.a. lung keine klare Definition der Freude! Weshalb Uwe Heinrich sind Opern mit dramatischen Todesfällen sonst meistens erfolgreicher? An der Universität von Stellenbosch (sehr gute Weingegend!), wo ich fünf Jahre Musik studiert habe, hörte ich zum ersten Mal die Formel: 99% Schweiss + 1% Talent = möglicher Erfolg. Inzwischen habe ich gelernt, dass die heilige Musik nur meine Arbeit ist. So freue ich mich in Basel, ob bei meinen Operneinführungen ‹Entrée avec Ansi›, ob beim Schwimmen im Rhein mit rosafarbenem Fischli, ob am Dirigen- tenpult für ‹Jesus Christ Superstar› oder beim Schuheinkauf, dass man hier Genuss im Alltag ohne Scheuklappen geniesst. Ansi Verwey ist seit Beginn der Intendanz von Andreas Beck Studienleiterin am Theater Basel. Mai 2016 | ProgrammZeitung | 15
Bücherlese j u l i a b ä n n i nge r Drei Autorinnen, drei Bücher, Aus dem Leben gepflückt. Keine Bettlektüre. drei Schicksale. Was machen, wenn die eigene Mutter plötzlich Obwohl sie schon lange mit ihrer Familie in Eu- Sandra Hughes, Bettina Spoerri und Irène Speiser zur Fremden wird? Wenn sie sich immer mehr in ropa lebt, fühlt sich die namenlose Protagonistin erzählen von charaktervollen Protagonistinnen ihrer eigenen Welt verschliesst? Genau diese Er- der Erzählung ‹Meerespassagen› noch immer mit und thematisieren eindringlich schwere Krank- fahrung macht die Protagonistin in Bettina New York verbunden, wo sie einmal gewohnt heiten. Spoerris ‹Herzvirus›. Als sie eines Tages von der hat. Eine Bar Mizwa von Freunden bietet nach Sympathische Antiheldin. Schule zurückkommt, ist ihre Mutter abgeholt Jahren wieder Anlass, den Atlantik zu überque- Sandra Hughes vierter Roman ‹Fallen› schildert und in eine psychiatrische Klinik gebracht wor- ren. Mit ihrem kleinen Sohn besucht sie für eini- das unerwartete Los eines 15-Jährigen, der einen den. Ohne ihr Wissen, ohne ihr Einverständnis ge Tage die Stadt, doch das zunächst freudige Schlaganfall erleidet. Die Autorin nimmt den – der herrische Stiefvater hat entschieden. Doch Wiedersehen wird unerwartet von einer schreck- Blickwinkel der überfürsorglichen Mutter ein das ist nur ein kleiner Teil einer viel grösseren lichen Neuigkeit überschattet: Eine andere gute und beschreibt eindringlich ihren Schmerz, ihre Geschichte, die sich um eine ungewöhnliche Freundin vor Ort ist schwer erkrankt. In dichten, Wut und Hilflosigkeit. Nach dem Hirnschlag ihres Frau und ihre schleichende Erkrankung dreht. stichwortartigen Sätzen beschreibt Irène Speiser Sohnes fällt Vera in ein Loch, kann nicht mehr zur Sie wird aus Optik der heranwachsenden Toch- die inneren Zustände und die äusseren Um- Arbeit, muss Medikamente nehmen und schottet ter erzählt, die sich mit feiner Beobachtungsgabe stände der Protagonistin, lässt diese ineinander sich völlig von ihrem sozialen Umfeld ab. Sie ist an das Leben ihrer Mutter – und auch an ihr eige- fliessen. Manchmal sind die vage angedeuteten eine Antiheldin, die sich weigert, eine starke Frau nes – erinnert. Zeitsprünge schwer nachvollziehbar, man folgt und Mutter zu verkörpern, die allen Schicksals- Wir erhalten stückweise Ausschnitte aus dem Le- einem Fluss aus Bildern und Gedanken. Die schlägen zum Trotz weiterkämpft und das Beste ben des Kindes, das seine Mutter bewundert, Hauptfigur ist hin- und hergerissen zwischen daraus macht. Vera ist weinerlich, selbstmitleidig und der Jugendlichen, die um sie besorgt ist. Erinnerungen und einem schmerzhaften Jetzt. und von ihren Nächsten abhängig. Doch sie ist Spoerris unaufgeregte Erzählweise verleiht den Ihr innerer Konflikt ist spürbar: Wie soll sie mit auch sensibel, gutmütig und eigenwillig. Hughes teilweise erschütternden Geschichten eine ab- der Situation umgehen? zeichnet ein genaues und komplexes Bild der Pro- surde Selbstverständlichkeit. Die Erinnerungs- Prägnant und detailliert, manchmal etwas zu tagonistin und vermag so die Vielschichtigkeit bilder folgen keiner Erzählordnung, sondern umständlich, formuliert die Autorin, was schwer eines Menschen wiederzugeben. sind herausgepflückt aus dem realen Leben – in Worte zu fassen ist: Emotionen, Stimmungen, Die in Allschwil lebende Autorin liess sich von einzelne Ereignisse, die ein einheitliches Ganzes Beziehungen. Manche der nüchternen Erkennt- einem wahren Ereignis inspirieren: Vor zwei ergeben. Die Autorin verknüpft Persönliches ge- nisse gehen unter die Haut – gerade aufgrund Jahren erlitt ein Jugendlicher in Aesch mitten im schickt mit Historischem der 1970/80er-Jahre: ihrer Einfachheit erscheinen sie in Konfrontati- Dorf einen Schlaganfall – zehn Personen gingen Demonstrationen gegen Atomkraftwerke, Um- on mit einer unheilbaren Krankheit besonders an ihm vorbei, bis nach einer Stunde der elfte weltkatastrophen, aber auch Literatur, Musik tragisch: «Man hatte Glück, und man hatte endlich die Polizei rief. Indem Hughes die Mutter und Film sind selbstverständlicher Teil ihrer Ge- Pech.» Die kurzen Sätze, mehr Adjektive als Ver- ins Zentrum rückt, schafft sie eine neue Dimen- dächtnisfragmente. Nach ihrem Debüt ‹Konzert ben, sorgen für Stimmungspunkte, für das Er- sion, die auch unabhängig vom tragischen für die Unerschrockenen› (2013) ist ‹Herzvirus› spüren der Atmosphäre. Ein reichhaltiges Voka- Schicksal zum Tragen kommt: Der pubertieren- der zweite Roman der in Basel aufgewachsenen bular und überraschende Wortkombinationen de Junge, der sich abnabeln will und eine un- Autorin. sind typisch für Speiser, die selbst zehn Jahre in sichtbare Wand aufbaut. Daneben die besorgte Bettina Spoerri, ‹Herzvirus›. Braumüller, 2016. New York verbracht hat und seit 2003 in Basel Mutter, abhängig vom eigenen Kind, an das sie 288 S., gb., CHF 31.90, Foto: Matthias von Gunten lebt. Ihr Buch bietet bodenständige Reflexionen nicht mehr herankommt. Vera lässt ihre Umge- Die Autorin, geb. 1968, leitet seit Herbst 2013 das über Leben und Tod, Freundschaft und Verlust. Literaturhaus in Lenzburg. bung kaum atmen – je mehr sie sich ihrem Sohn Irène Speiser, ‹Meerespassagen›. Stroemfeld, 2015. annähert, desto abweisender wird er ihr gegen- 88 S., gb., CHF 24.90. Foto: Ute Schendel über. Ein aufwühlendes Buch mit unerwartetem Lesung: Mi 22.6., 19.30, Allg. Lesegellschaft Basel, Moderation: Michael Guggenheimer Ende. Die Autorin, geb. 1959, ist freiberuflich tätig. Sandra Hughes, ‹Fallen›. Dörlemann, 2016. 160 S., gb., CHF 27. Foto: Marc Wetli Die Autorin, geb. 1966, arbeitet in der Kulturabt. BS. 16 | ProgrammZeitung | Mai 2016
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