Journal of Health Monitoring - Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen - RKI

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MÄRZ 2020   GESUNDHEITSBERICHTERSTATTUNG DES BUNDES
SPECIAL ISSUE
             1    GEMEINSAM GETRAGEN VON RKI UND DESTATIS

                  Journal of Health Monitoring

                  Die gesundheitliche Lage von lesbischen,
                  schwulen, bisexuellen sowie trans- und
                  intergeschlechtlichen Menschen

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Journal of Health Monitoring   Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen                FOCUS

Journal of Health Monitoring · 2020 5(S1)
DOI 10.25646/6448
                                                      Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen
Robert Koch-Institut, Berlin
                                                      sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen
Kathleen Pöge 1, Gabriele Dennert 2,
Uwe Koppe 3, Annette Güldenring 4,                    Abstract
Ev B. Matthigack 5, Alexander Rommel 1                Geschlechter, sexuelle Orientierungen und die damit verbundenen Lebensweisen sind heterogen. Inwieweit Menschen
                                                      ihr Geschlecht, ihre Sexualität und ihre Lebensform selbstbestimmt und frei leben können, und mit welchen gesellschaftlichen
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    Robert Koch-Institut, Berlin
    Abteilung für Epidemiologie und Gesund-
                                                      Ressourcen, Teilhabechancen und Diskriminierungen dies verbunden ist, beeinflusst ihre Lebenslagen und damit auch
         heitsmonitoring                              ihre gesundheitliche Situation. Es wurde ein narratives Review zur gesundheitlichen Situation von lesbischen, schwulen,
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     Fachhochschule Dortmund, Sozialmedizin          bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Personen (LSBTI) durchgeführt und dazu internationale und deutsche
         und Public Health mit Schwerpunkt            Reviews, Metaanalysen und bevölkerungsbezogene Studien herangezogen. Der Beitrag beschreibt schlaglichtartig den
    Geschlecht und Diversität, FB 8 Angewandte        Stand der rechtlichen, gesellschaftlichen und medizinischen Anerkennung in Deutschland sowie die gesundheitliche
    Sozialwissenschaften
                                                      Lage von LSBTI-Personen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland haben sich für homo- und bisexuelle
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      Robert Koch-Institut, Berlin
                                                      Menschen schrittweise verbessert, während für trans- und intergeschlechtliche Personen aus Sicht vieler Akteur*innen
    Abteilung für Infektionsepidemiologie
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       Westküstenkliniken Heide/Brunsbüttel,         bezüglich sowohl der medizinischen als auch rechtlichen Anerkennung noch große Defizite bestehen und wissenschaftliche
    Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie         Erkenntnisse noch ungenügend Eingang in die medizinische Praxis gefunden haben. Die verfügbaren Daten zur
         und Psychosomatik                            gesundheitlichen Situation von LSBTI-Personen verweisen auf Handlungsbedarfe im Bereich der psychischen Gesundheit
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        Deutsche Vertretung der Internationalen      und der Gesundheitsversorgung. Die Datenlage ist jedoch sehr lückenhaft und lässt kaum Aussagen über die allgemeine
    Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen        gesundheitliche Lage und über gesundheitliche Ressourcen von LSBTI-Personen zu. Für die konkrete Planung und
    (IVIM), Organisation Intersex International
                                                      Umsetzung von Maßnahmen und die differenzierte Beschreibung der Situation in Deutschland bedarf es eines Ausbaus
    (OII Germany), Berlin
                                                      der Datengrundlagen, nicht zuletzt auch in bevölkerungsrepräsentativen Erhebungen.
Eingereicht: 20.12.2019
Akzeptiert: 07.02.2020                                   GESUNDHEIT · GESCHLECHT · INTERGESCHLECHTLICHKEIT · TRANSGESCHLECHTLICHKEIT · SEXUELLE ORIENTIERUNG
Veröffentlicht: 18.03.2020

                                                      1. Einleitung                                                         (LSBTI, Infobox Annex) in den vergangenen Jahren gesell-
                                                                                                                            schaftlich und rechtlich vermehrt Anerkennung. Dies zeigt
                                                      Die Vielfalt der Geschlechter, sexuellen Orientierungen und           sich beispielsweise in der 2017 vollzogenen Öffnung der Ehe
                                                      Lebensweisen ist Teil der gesellschaftlichen Diversität. Auch         für gleichgeschlechtliche Paare. Seit 2018 ermöglicht das Per-
                                                      wenn die Entwicklung differenziert zu betrachten ist und in           sonenstandsgesetz es intergeschlechtlichen Menschen, bei
                                                      vielen Bereichen noch am Anfang steht, erfahren lesbische,            ihrem Geschlechtseintrag neben „weiblich“ oder „männlich“
                                                      schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen         auch „divers“ anzugeben oder die Angabe offen zu lassen.

          Journal of Health Monitoring 2020 5(S1)                                                                                                                               2
Journal of Health Monitoring   Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen               FOCUS

                                                 Inwieweit Menschen ihr Geschlecht, ihre Sexualität und            ihre sexuelle Orientierung beziehungsweise geschlecht­
                                             ihre Lebensform selbstbestimmt und frei leben können                  liche Identität diskriminierungsfrei leben und auf ein unter-
                                             und mit welchen gesellschaftlichen Ressourcen, Teilhabe-              stützendes soziales und familiäres Umfeld zurückgreifen
                                             chancen und Diskriminierungen dies verbunden ist, beein-              können [6–8].
                                             flusst ihre Lebenslagen und damit auch ihre gesundheit­                   Der vorliegende Artikel gibt einen Überblick zur gesell-
                                             liche Situation. Nicht die individuelle geschlechtliche               schaftlichen und gesundheitlichen Situation von LSBTI-Per-
                                             Identität oder sexuelle Orientierung sind ursächlich für              sonen und zeigt übergreifende Handlungsbedarfe auf. Zu
                                             Unterschiede in der Gesundheit im Vergleich zur Gesamt-               Beginn wird dargestellt, wie viele LSBTI-Personen in
                                             bevölkerung, sondern der gesellschaftliche Kontext kann               Deutschland leben und in welchen gesellschaftlichen, recht-
                                             eine wichtige Einflussgröße sein. Für lesbische, schwule,             lichen und medizinischen Rahmenbedingungen sie posi-
                                             bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen kann             tioniert sind. Darauf folgt eine Beschreibung der gesund-
Geschlechter, sexuelle                       sich die vorherrschende gesellschaftliche Ausrichtung an              heitlichen Lage und Versorgung von LSBTI-Personen auf
Orientierungen und                           Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität nachteilig auf            Basis deutscher und internationaler Befunde. Schlussend-
Lebensweisen sind vielfältig.                die Lebenssituation und Gesundheit auswirken. Umgekehrt               lich wird im Rahmen der Einordnung der Ergebnisse auf
                                             kann eine wachsende Anerkennung positive Effekte auf                  Bestrebungen eingegangen, die Datenlage im Bereich der
                                             Zufriedenheit und Gesundheit haben.                                   Epidemiologie und Surveyforschung zu verbessern, um die
                                                 Neben großen Ähnlichkeiten lassen sich im Vergleich               Informationsgrundlagen für die Gesundheits- und Sozial-
                                             zur Gesamtbevölkerung LSBTI-spezifische gesundheitliche               berichterstattung weiter zu entwickeln.
                                             Belange identifizieren. So unterscheidet sich die selbstbe-               Bei der Einordnung der Ergebnisse ist zu beachten, dass
                                             richtete körperliche Gesundheit von lesbischen, schwulen              die bestehende Forschung stark auf bestimmte Themen
                                             und bisexuellen im Vergleich zu heterosexuellen Menschen              wie die sexuelle Gesundheit bei schwulen Männern oder
                                             nicht [1]. Der überwiegende Teil der Menschen weist also              generell auf die psychische Gesundheit von LSBTI-Perso-
                                             unabhängig von der sexuellen Orientierung eine gute oder              nen fokussiert. Die allgemeine gesundheitliche Situation
                                             sehr gute subjektive Gesundheit auf. Es konnte in interna-            und förderliche Faktoren für eine gute Gesundheit von
                                             tionalen Studien aber auch gezeigt werden, dass lesbische,            LSBTI-Personen sind bisher noch wenig betrachtet worden.
                                             schwule, bisexuelle sowie trans- und intergeschlechtliche             Daher ist zu beachten, dass aufgrund der Datenlage Themen
                                             Menschen häufiger depressive Erkrankungen erleben und                 zwangsläufig selektiv dargestellt werden. Datenlücken und
                                             suizidales Verhalten zeigen [1–5]. Bedeutsam sind in die-             Limitationen werden in der Diskussion benannt und ein Aus-
                                             sem Zusammenhang die verfügbaren individuellen und                    blick auf positive Entwicklungen bezüglich der Informations-
                                             sozialen Ressourcen. So zeigt sich zum Beispiel, dass das             grundlagen im Bereich der LSBTI-Gesundheit gegeben.
                                             psychische Wohlbefinden von homosexuellen, bisexuellen
                                             oder transgeschlechtlichen Personen besser ist, wenn sie

   Journal of Health Monitoring 2020 5(S1)                                                                                                                            3
Journal of Health Monitoring   Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen                 FOCUS

                                          2. Methode                                                            Attraktion sowie das sexuelle Verhalten. Die drei Dimensi-
                                                                                                                onen müssen nicht übereinstimmen und können sich über
                                          Der vorliegende Beitrag beruht auf einer Literaturrecherche           die Lebenszeit hinweg verändern [12]. Im Jahr 2016 wurde
                                          zur gesundheitlichen Lage von LSBTI-Personen in den                   im SOEP die sexuelle Orientierung durch eine freiwillige
                                          Datenbanken PubMed, Web of Science sowie auf thema-                   Selbstangabe erhoben. Auf Basis dieser und anderer Quel-
                                          tisch relevanten Internetseiten. Neben Studien zur Situa-             len wird geschätzt, dass sich etwa 2 % der Bevölkerung als
                                          tion in Deutschland wurden auch internationale Reviews,               lesbisch, schwul oder bisexuell identifizieren (Tabelle 1). Der
                                          Metaanalysen sowie populations- und community-basier-                 Anteil liegt bei den über 60-Jährigen niedriger als bei den
                                          te Studien in englischer Sprache herangezogen, die zwi-               unter 45-Jährigen. Auch die Befunde der BZgA deuten dar-
                                          schen 2000 und Januar 2020 veröffentlicht wurden. Zur                 auf hin, dass die Selbstidentifikation als lesbisch, schwul
                                          Abschätzung der Zahlen von LSBTI-Personen in Deutsch-                 oder bisexuell von jüngeren Befragten häufiger vorgenom-
                                          land werden vornehmlich publizierte Befunde auf Basis                 men wird (Tabelle 1). Zudem zeigen sich Unterschiede zwi-
                                          bevölkerungsrepräsentativer Surveys, namentlich des                   schen Frauen und Männern dahingehend, dass sich Frauen
                                          Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) aus dem Jahr 2016                   etwas häufiger als bisexuell und etwas seltener als lesbisch
                                          [9], des Mikrozensus von 2015 [10] und der Studie Jugendse-           identifizieren, während Männer sich etwas häufiger als
                                          xualität in Deutschland der Bundeszentrale für gesundheit-            schwul und etwas seltener als bisexuell bezeichnen [13]. Die
                                          liche Aufklärung (BZgA) aus dem Jahr 2015 [11] verwendet.             eindeutige Selbstidentifikation als lesbisch, schwul oder
                                          Zur Beschreibung der rechtlichen Rahmenbedingungen                    bisexuell betrifft aber insgesamt nur eine kleine Gruppe. Der
                                          wurden darüber hinaus Resolutionen und Rechtsdokumen-                 Anteil jener, die sich dagegen als nicht ausschließlich hetero-
                                          te auf nationaler und internationaler Ebene gesichtet.                sexuell bezeichnen, liegt deutlich höher und erreicht in ver-
                                                                                                                schiedenen Studien bei Frauen und Männern zweistellige
                                          3. Bevölkerungsanteile                                                Werte (Tabelle 1). Ebenso zeigen die Zahlen, dass sich ein
                                                                                                                höherer Anteil an Menschen von Personen des gleichen
                                          Der Bevölkerungsanteil von lesbischen, schwulen, bisexu-              Geschlechts angezogen fühlt (Begehren/Attraktion) bezie-
                                          ellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen in              hungsweise gleichgeschlechtliche sexuelle Kontakte erlebt
                                          Deutschland kann nur grob geschätzt werden.                           (Verhalten), als sich explizit als homo- oder bisexuell iden-
                                                                                                                tifiziert (Identität) (Tabelle 1). Auch hier steigen die Anga-
                                          3.1 Homo- und Bisexualität                                            ben mit dem Alter und erreichen im jungen Erwachsenen-
                                                                                                                alter ebenfalls zweistellige Werte (Tabelle 1) [11].
                                          Die sexuelle Orientierung kann in drei Dimensionen unter-                 Die Zahl der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaf-
                                          schieden werden: die sexuelle Identität (zum Beispiel                 ten stieg laut Mikrozensus zwischen den Jahren 2005 bis
                                          hetero-, homo- oder bisexuell), das sexuelle Begehren oder            2015 um 57 % von 60.000 auf 94.000 (Tabelle 1). Allerdings

Journal of Health Monitoring 2020 5(S1)                                                                                                                              4
Journal of Health Monitoring   Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen                           FOCUS

                                       Tabelle 1                           Anteil               Quelle                              bisexuellen Menschen auf der einen und heterosexuellen
       Sexuelle Orientierungen in Deutschland.     Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften                                       Menschen auf der anderen Seite feststellen. Mehr als die
Ergebnisse bevölkerungsweiter Befragungsstudien    Rund 94.000             0,5 % – 0,9 % aller  Destatis                            Hälfte der Menschen, die sich als lesbisch, schwul oder
                     Quelle: Eigene Darstellung    Personen                Partnerschaften      Mikrozensus                         bisexuell identifiziert, lebt nach den Daten des SOEP in
                                                                           mit gemeinsamem 2015 [14]
                                                                           Haushalt                                                 Großstädten mit über 100.000 Einwohner*innen, während
                                                   Selbstidentifikation als lesbisch, schwul oder bisexuell                         dies für ein Drittel der Heterosexuellen gilt [1] (das Gen-
                                                   Gesamt                          1,9 %        DIW                                 dersternchen * wird genutzt, um die geschlechtliche Viel-
                                                   < 45 Jahre                      2,8 %        SOEP 2016 [1]                       falt sprachlich sichtbar zu machen). Sie leben insgesamt
                                                   > 60 Jahre              Unter 1 %
                                                   Frauen, 21 – 25 Jahre Rund 3 % lesbisch BZgA                                     seltener in Partnerschaften und verlassen sich stärker als
                                                                           Rund 6 % bisexuell Jugendsexualität                      heterosexuelle Menschen auf außerfamiliäre Unterstüt-
                                                   Männer, 21 – 25 Jahre Rund 5 % schwul        2015 [11]                           zungsnetzwerke. Zudem weisen lesbische, schwule und
                                                                           Rund 2 % bisexuell
                                                                                                                                    bisexuelle Menschen zwar ein tendenziell höheres Bil-
                                                   Frauen, 18 – 75 Jahre 1,3 % lesbisch         BZgA
                                                                          1,8 % bisexuell       Liebesleben 2017 [13]               dungsniveau auf. Nach Angaben des SOEP zeigt sich aber,
                                                   Männer, 18 – 75 Jahre 2,1 % schwul                                               dass vor allem schwule Männern signifikant geringere
                                                                          1,4 % bisexuell
                                                                                                                                    Löhne erzielen als heterosexuelle Männer [1, 16]. Über die
                                                   Enge gleichgeschlechtliche Körperkontakte in den letzten
                                                   zwölf Monaten                                                                    Lebenszeit kann dies zu geringeren finanziellen Ressour-
                                                   Frauen, 21 – 25 Jahre Rund 14 %              BZgA                                cen und Altersarmut führen [17].
                                                   Männer, 21 – 25 Jahre Rund 12 %              Jugendsexualität
                                                                                                2015 [11]
                                                                                                                                    3.2 Trans- und Intergeschlechtlichkeit
                                                   Selbstbezeichnung als nicht ausschließlich heterosexuell
                                                   Frauen, ≥ 14 Jahre      Rund 11 %            Universität Leipzig
                                                   Männer, ≥ 14 Jahre      Rund 10 %            Sexualverhalten in                  Deutlich schwerer ist die Zahl inter- und transgeschlecht-
                                                                                                Deutschland 2016 [15]               licher Menschen in Deutschland zu schätzen. Einige trans-
                                                   Frauen, 18 – 75 Jahre 22,4 %                 BZgA                                geschlechtliche Personen beantragen auf Grundlage des
                                                   Männer, 18 – 75 Jahre 13,8 %                 Liebesleben 2017 [13]
                                                   BZgA = Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Destatis = Statistisches   Transsexuellen-Gesetzes (TSG) die Änderung ihres Perso-
                                                   Bundesamt, DIW = Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, SOEP = Sozio-      nenstands und Vornamens. Zwischen 2008 und 2016 stieg
                                                   oekonomisches Panel
                                                                                                                                    die Zahl dieser jährlichen Anträge von 903 auf 1.868 [18].
                                                   leben bei weitem nicht alle homo- oder bisexuellen Men-                          Die Häufigkeit von Transgeschlechtlichkeit wird in einer
                                                   schen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zusammen.                        internationalen Metaanalyse auf 4,6 von 100.000 Perso-
                                                   Auch ist aufgrund von Stigmatisierungsängsten bei Selbst-                        nen beziffert [19]. Bezüglich Intergeschlechtlichkeit schreibt
                                                   angaben von einer Untererfassung auszugehen [14].                                die Bundesärztekammer in einer Stellungnahme 2015, dass
                                                      Darüber hinaus lassen sich auf Basis des SOEP auch                            jährlich etwa 150 Kinder mit „Varianten/Störungen der
                                                   soziale Unterschiede zwischen lesbischen, schwulen und                           Geschlechtsentwicklung (DSD)“ geboren werden [20]. Laut

         Journal of Health Monitoring 2020 5(S1)                                                                                                                                        5
Journal of Health Monitoring   Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen                            FOCUS

                            Abbildung 1      Schätzung des Deutschen Ethikrats leben 80.000 interge-                                  Heteronormatives Geschlechtermodell
   Heteronormatives Geschlechtermodell       schlechtliche Personen in Deutschland [21]. Eine Über-
          Quelle: Rommel et al. 2019 [26]    sichtsarbeit wissenschaftlicher und klinischer Studien bezif-           es ist ein Mädchen           Zuweisung                 es ist ein Junge
                                             fert zwischen 0,018 % und 2,1 % beziehungsweise 3,8 %
                                             aller Geburten als „Varianten der Geschlechtsentwicklung“                     Frau                    Identität                    Mann
                                             oder des urogenitalen Systems [22]. Die Free & Equal Ini-
                                             tiative der Vereinigten Nationen geht von einem Bevölke-                     feminin                Präsentation                  maskulin
                                             rungsanteil zwischen 0,05 % bis 1,7 % aus [23, 24]. Insge-
                                             samt sind diese Zahlen aber als grobe Annäherung zu                       mit Männern          Sexualität und Beziehung          mit Frauen
                                             verstehen, da verlässliche Angaben zur Zahl trans- und
                                             intergeschlechtlichen Menschen in Deutschland fehlen.
Die heteronormative                                                                                                geschlechtliche sowie nichtheterosexuelle Menschen nicht
Ausrichtung der Gesellschaft                 4. Gesellschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen                 entsprechen (Abbildung 1).
stellt ein Gesundheitsrisiko                                                                                           Heteronormativität kann sich gesellschaftlich in der
für LSBTI-Personen dar.                      Soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche LSBTI-                  Nichtanerkennung von angeborenen Variationen der
                                             Organisationen haben durch ihre Öffentlichkeitsarbeit posi-           Geschlechtsmerkmale, der geschlechtlichen Identität, der
                                             tive Selbst- und Fremdwahrnehmungen von LSBTI-Men-                    geschlecht­lichen Selbstrepräsentation oder der sexuellen
                                             schen gefördert und einen zentralen Beitrag für die wach-             Orientierung äußern. Diese fehlende Anerkennung kann
                                             sende gesellschaftliche Anerkennung geleistet. Neben                  von Vorurteilen über Diskriminierung bis hin zu körper­
                                             verschiedenen Fortschritten bleiben jedoch weiterhin auch             lichen und sexualisierten Übergriffen reichen [27]. Sie
                                             Defizite in der gesellschaftlichen und rechtlichen Gleich-            schließt auch gesetzliche Regelungen ein, die LSBTI-Perso-
                                             stellung und medizinischen Anerkennung bestehen.                      nen von bestimmten Rechten ausschließen. Verschiedene
                                                                                                                   Studien aus den USA, Großbritannien und Australien zei-
                                             4.1 Die heteronormative Ausrichtung der Gesellschaft                  gen, dass homo- und bisexuelle sowie transgeschlechtliche
                                                                                                                   Jugendliche häufig von Mobbing betroffen sind [28, 29].
                                             Die heteronormative Ausrichtung der Gesellschaft kann                 In einer Studie des Deutschen Jugendinstituts zum Coming-
                                             ein Gesundheitsrisiko für LSBTI-Personen sein. Heteronor-             out (Infobox Annex) fürchteten sich 73,9 % der befragten
                                             mativität beschreibt die Vorstellung, es gebe ausschließlich          lesbischen, schwulen, bisexuellen und transgeschlecht­
                                             zwei biologisch und sozial übereinstimmende Geschlech-                lichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen vor der
                                             ter (Frauen und Männer), die in ihrer sexuellen Orientie-             Ablehnung durch befreundete Menschen, 69,4 % durch
                                             rung aufeinander bezogen sind [25]. Dies äußert sich in               Familie und 20,2 % berichteten von Angst vor körperlicher
                                             normativen sozialen Erwartungen, denen inter- und trans-              Gewalt [30]. Trans- und intergeschlechtliche Menschen

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Journal of Health Monitoring   Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen              FOCUS

                                          berichten im Zusammenhang mit ihrer geschlecht­lichen                 sichert allen Menschen das Recht auf Chancengleichheit
                                          Selbstrepräsentation von Diskriminierungen im Alltag, Bil-            für gesellschaftliche Teilhabe zu. Auf internationaler Ebene
                                          dungswesen und auf dem Arbeitsmarkt [31, 32].                         wird seit langem in UN-Resolutionen eine Anerkennung
                                              Solche Erfahrungen als Teil einer geschlechtlichen bezie-         der Rechte von geschlechtlichen und sexuellen Minderhei-
                                          hungsweise sexuellen Minderheit können zu Stress führen               ten und ein Beenden der strafrechtlichen Verfolgung gefor-
                                          und in der Folge die körperliche und psychische Gesund-               dert [37]. Der Artikel 3 des deutschen Grundgesetzes (GG)
                                          heit beeinträchtigen sowie das Gesundheitsverhalten nega-             schreibt den Grundsatz der Gleichbehandlung seitens des
                                          tiv beeinflussen (Minority Stress Model [33], Psychological           Staates fest und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz
                                          Mediation Framework [34]). Beispielsweise können die teil-            (AGG) von 2006 verbietet in arbeits- und zivilrechtlichen
                                          weise in diskriminierender Absicht abwertend gemeinten                Belangen jede Form von Ungleichbehandlung im Zusam-
                                          Bezeichnungen als „schwul“ oder „lesbisch“ zu negativen               menhang mit Geschlecht und sexueller Identität.
                                          verinnerlichten Einstellungen zu Homosexualität führen                    In Deutschland waren homosexuelle Frauen und Män-
                                          (Internalized Homonegativity [35]), die bei lesbischen,               ner lange Zeit von bestimmten Rechten systematisch aus-
                                          schwulen und bisexuellen Menschen eine geringere                      geschlossen und Verfolgung ausgesetzt. Schwule Männer
                                          Selbstakzeptanz, Selbstabwertung oder ein Gefühl von Ein-             wurden kriminalisiert, indem in Westdeutschland der im
                                          samkeit fördern und sich negativ auf die psychische                   Nationalsozialismus verschärfte § 175 des Strafgesetzbuches
                                          Gesundheit auswirken können [30]. Eine wichtige Res-                  („Unzucht zwischen Männern“) übernommen wurde. In
                                          source in der Bewältigung von diskriminierenden Erfah-                der damaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR)
                                          rungen und in der Ausbildung eines positiven Selbstbildes             wurde er 1957 faktisch außer Kraft gesetzt und schließlich
                                          stellen LSBTI-Communities und deren zivilgesellschaftliche            1968 abgeschafft. Die rechtliche Entwicklung in der DDR ist
                                          Organisationen dar, die wichtige Anlauf-, Vernetzungs- und            aber nicht mit einer allgemeinen gesellschaftlichen Akzep-
                                          Beratungsangebote bereitstellen. Der Kontakt zu Menschen              tanz von Homosexualität gleichzusetzen. Nach der deut-
                                          mit ähnlichen Lebenserfahrungen und Interessen, sowie                 schen Wiedervereinigung wurde § 175 im Jahr 1994 auch für
                                          gemeinsame Aktivitäten, können das psychische Wohlbe-                 das Gebiet der Bundesrepublik ersatzlos aufgehoben.
                                          finden positiv beeinflussen [36].                                         Nichtheterosexuelle Partnerschaften und Lebensge-
                                                                                                                meinschaften wurden lange Zeit rechtlich nicht anerkannt.
                                          4.2 Rechtliche Anerkennung und Gleichstellung                         Zwischen den Partner*innen konnten keine gegenseitigen
                                                                                                                Rechte und Pflichten geltend gemacht werden. Dies änderte
                                          Der gesellschaftliche Umgang mit geschlechtlicher und                 sich durch die Einführung der eingetragenen Lebenspart-
                                          sexueller Vielfalt ist auch eine Frage der Menschenrechte.            nerschaft im Jahr 2001 und schließlich durch die Öffnung
                                          Das von Deutschland ratifizierte Menschenrechtsabkom-                 der Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare im Jahr
                                          men der Vereinten Nationen (UN) und des Europarats                    2017. Damit wurde ebenfalls das Recht auf gemeinsame

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Journal of Health Monitoring   Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen             FOCUS

                                              Adoption nichtleiblicher Kinder durch gleichgeschlecht­liche         gefordert, dass sich transgeschlechtliche Menschen einer
                                              Lebenspartner*innen ermöglicht.                                      Operation unterziehen müssen, die zu einer „Fortpflan-
                                                  Im Jahr 2011 beschäftigte sich der Deutsche Ethikrat in          zungsunfähigkeit“ führt, um ihren Geschlechtseintrag
                                              einer Anhörung mit der Situation intergeschlechtlicher               ändern zu können. 2011 ist nach einem Urteil des Bundes-
                                              Menschen in Deutschland [38]. Durch Änderungen im Per-               verfassungsgerichts diese wichtige Barriere für die repro-
                                              sonenstandsrecht 2013 bestand erstmals die Möglichkeit               duktive Gesundheit von transgeschlechtlichen Menschen
                                              eines offenen Geschlechtseintrags. Seit Ende 2018 ist der            gefallen, jedoch wird von vielen Seiten ein Abbau von wei-
                                              Geschlechtseintrag für intergeschlechtliche Kinder nicht             teren Barrieren für die Änderung von Vornamen und des
                                              mehr zwingend, sondern Eltern haben eine Wahlmöglich-                Geschlechtseintrags gefordert [41].
                                              keit. Durch das veränderte Personenstandsgesetz, nach                    Für die soziale und gesundheitliche Chancengleichheit
                                              dem intergeschlechtliche Menschen bei ihrem Geschlechts-             sowie das individuelle Wohlbefinden ist der Grad der recht-
Während die rechtliche                        eintrag neben „weiblich“ oder „männlich“ alternativ auch             lichen Anerkennung der geschlechtlichen und sexuellen
Gleichstellung homosexueller                 „divers“ angeben oder die Angabe offen lassen können, ent-            Vielfalt bedeutsam [42, 43]. Dieser bestimmt über die Res-
und bisexueller Menschen                      stand eine neue rechtliche Situation. Das zugrundeliegende           sourcen und Teilhabechancen von lesbischen, schwulen,
in Deutschland und auf                        Verfassungsgerichtsurteil aus dem Jahre 2017 erkennt erst-           bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Men-
                                              mals die Existenz von Geschlechtern jenseits von Frau und            schen und beeinflusst, welchen Diskriminierungen sie aus-
internationaler Ebene
                                              Mann an [39]. Jedoch müssen intergeschlechtliche Perso-              gesetzt sind. Eine international vergleichende Studie zeigt
Fortschritte gemacht hat,                     nen vor der Änderung des Personenstands ein ärzt­liches              den Zusammenhang zwischen variierenden gesellschaft-
steht sie bei trans- und                      Attest erbringen, um eine Änderung ihres Geschlechtsein-             lichen Rahmenbedingungen auf der einen und Wohlbefin-
intergeschlechtlichen                         trages zu erwirken. Dies wird von vielen intergeschlecht­            den und Gesundheit auf der anderen Seite [42]. Die gesell-
Menschen noch am Anfang.                      lichen Menschen als diskriminierend empfunden.                       schaftlichen Rahmenbedingungen werden über das
                                                  Obgleich die Gesetzesänderung auf intergeschlecht­liche          Konzept des strukturellen Stigmas gemessen. Zur Messung
                                              Personen zugeschnitten ist, versuchen auch transge-                  dieses Konzepts werden Gesetze und politische Maßnah-
                                              schlechtliche Personen, diese Regelung für eine Änderung             men gegenüber sexuellen Minderheiten, die fortlaufend
                                              ihres Geschlechtseintrages zu nutzen. Das sogenannte                 von der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and
                                             Transsexuellengesetz von 1980 wird von transgeschlecht-               Intersex Association in Europe (ILGA) gesammelt werden,
                                              lichen Menschen in vieler Hinsicht als diskriminierend               sowie Einstellungen gegenüber lesbischen und schwulen
                                              empfunden. Eine Änderung der Vornamen und des                        Menschen in der Bevölkerung aus dem European Social
                                              Geschlechtseintrags müssen hier auf Kosten der antrag-               Survey zu einem Index zusammengefasst [42]. Die Befunde
                                              stellenden Person durch zwei Sachverständigengutachten               zeigen, dass sich nicht nur das Ausmaß des strukturellen
                                              und ein Gerichtsurteil bestätigt werden [40]. Bis 2011 wurde         Stigmas in den Staaten der Europäischen Union (EU) stark
                                              darüber hinaus im sogenannten Transsexuellengesetz                   unterscheidet, sondern ein größeres strukturelles Stigma

   Journal of Health Monitoring 2020 5(S1)                                                                                                                          8
Journal of Health Monitoring   Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen                                                                        FOCUS

                                                zum Beispiel auch mit der Tendenz zur Verschleierung                                                  4.3 Medizinische Anerkennung
                                                homo- und bisexueller Orientierungen [42] und mit einer
                                                geringeren Lebenszufriedenheit der Betroffenen einhergeht                                             In den vergangenen Jahren wird geschlechtliche und sexu-
                                                (Abbildung 2). Ähnliche Zusammenhänge lassen sich auch                                                elle Vielfalt auch medizinisch verstärkt anerkannt, indem
                                                zwischen den Bundesstaaten der USA zeigen: Die psychi-                                                sie vonseiten der Gesundheitsberufe und ihrer Fachverbän-
                                                sche Gesundheit von lesbischen, schwulen und bisexuellen                                              de seltener pathologisiert wird. Insbesondere bei den The-
                                                Personen ist in jenen Bundesstaaten besser, die auch                                                  men Trans- und Intergeschlechtlichkeit besteht aber noch
                                                gleichgeschlechtliche Ehen ermöglichen [44].                                                          Handlungsbedarf. Ein wichtiger Schritt für die Anerkennung
                                                    Im internationalen Vergleich weist Deutschland ein                                                der sexuellen Vielfalt erfolgte 1990, indem die Generalver-
                                                geringeres Ausmaß strukturellen Stigmas auf. Trotz recht-                                             sammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
                                                licher Verbesserungen sind die Lebensrealitäten von                                                   Homosexualität von der Liste der psychischen Erkrankun-
                                                geschlechtlichen und sexuellen Minderheiten aber weiter-                                              gen strich [45]. Ende 2019 beschloss das Bundeskabinett
                                                hin durch Benachteiligungen gekennzeichnet. Die weitere                                               ein Verbot von gezielten Interventionen, die sexuelle Ori-
                                                rechtsstaatliche Gleichstellung verschiedener geschlecht-                                             entierung oder die selbstempfundene geschlechtliche Iden-
                                                licher und sexueller Lebensweisen ist ein wesentliches Fun-                                           tität einer Person verändern oder unterdrücken (sogenann-
                                                dament für ein selbstbestimmtes Leben und fördert die                                                 te Konversionstherapien), da diese Interventionen bei
                                                gesellschaftliche Anerkennung.                                                                        Betroffenen oftmals psychische Schäden hinterlassen. Das

                                                       Lebenszufriedenheit (adjustierter Mittelwert des Landes)
                                                8,5
                                                       R² Linear = 0,600
                                                8,0
                                                                                                           Dänemark
                                                7,5                              Niederlande
                                                                                                                       Finnland
                                                                  Spanien            Belgien
                                                7,0              Schweden                                          Österreich     Luxemburg
                                                                              Deutschland                             Irland                    Tschechische Republik
                                                       Vereinigtes Königreich                                                      Frankreich             Slowenien
                                                6,5                                                                                                                 Malta
                                                                                                                  Portugal                                                  Slowakei
                                                                                                                                                   Italien                               Estland                             Lettland
                                                6,0                                                                                 Ungarn
                                                                                                                                                                 Kroatien
                                                                                                                                                                                   Polen                              Litauen
                                                                                                                                               Griechenland   Rumänien
                                                5,5                                                                                                                             Zypern
                                                                                                                                                               Bulgarien
                                 Abbildung 2
                                                5,0
  Selbstberichtete Lebenszufriedenheit unter
sexuellen Minderheiten in Europa nach Grad
  des strukturellen Stigmas auf Länderebene           -2,0                -1,5                 -1,0                  -0,5                0,0                  0,5               1,0                 1,5                  2,0                 2,5
  Quelle: Pachankis & Branstrom (2018) [42]                                                                                                                                                        Strukturelles Stigma auf Länderebene (z-score)

      Journal of Health Monitoring 2020 5(S1)                                                                                                                                                                                     9
Journal of Health Monitoring   Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen               FOCUS

                                          Verbot soll ab 2020 für Minderjährige und nichteinwilli-              Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen“. Sie
                                          gungsfähige Erwachsene gelten und betrifft auch die öffent-           regelten den psychiatrisch-psychotherapeutischen Behand-
                                          liche Werbung, das Anbieten und die Vermittlung solcher               lungsweg, den Prozess der Diagnostik und die Fristen bis
                                          Maßnahmen. Es soll dem Schutz der geschlechtlichen und                zur Indikationsstellung einer Behandlung mit gegenge-
                                          sexuellen Selbstbestimmung dienen.                                    schlechtlichen Maßnahmen. Im Jahr 2009 verfasste der
                                             Transgeschlechtlichkeit wird bisher in der Internationalen         Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Kran-
                                          statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter           kenkassen (MDS) auf der Grundlage dieser Standards eine
                                          Gesundheitsprobleme, 10. Revision (ICD-10) der WHO mit                verbindliche „Begutachtungsanleitung Transsexualität“ [49],
                                          der Diagnose „Transsexualismus“ (F64.0) als psychische                die geschlechtlich binär standardisiert und nach wie vor in
                                          Störung klassifiziert. Mit der 11. Revision (ICD-11) dieser           Kraft ist. Behandelnde Ärzt*innen wurden damit in ihrer
                                          Klassifikation, die 2019 von der WHO verabschiedet wurde              Möglichkeit eingeschränkt, individuelle und eigenverant-
                                          und 2022 in Kraft treten soll, wird Transgeschlechtlichkeit           wortliche Behandlungswege zu gestalten [49]. Unter ande-
                                          medizinisch nicht mehr als psychische Störung, sondern                rem verlangt der MDS neben einer 18-monatigen Psycho-
                                          als geschlechtliche Nichtübereinstimmung beziehungs-                  therapie den sogenannten „Alltagstest“ [50], der die
                                          weise Geschlechtsinkongruenz in die Kategorie „Zustände              „Lebbarkeit“ im angestrebten Geschlecht überprüfen soll.
                                          sexueller Gesundheit“ eingeordnet. Geschlechtsinkongru-                   Die Begutachtungsanleitung Transsexualität wird kriti-
                                          enz beschreibt die Identifikation mit einem anderen als               siert, weil sie die heteronormative Ausrichtung der Gesell-
                                          bei Geburt zugewiesenen oder mit keinem Geschlecht [46]               schaft medizinisch fortschreibt, indem sie die geschlecht-
                                          und damit die Diskrepanz zwischen der empfundenen                     liche Vielfalt nicht anerkennt. So ist die Kostenübernahme
                                          Geschlechtszugehörigkeit einerseits und den körperlichen             von körperverändernden Maßnahmen an die Kriterien der
                                          Geschlechtsmerkmalen andererseits. Sie wird nicht mehr                Diagnose „Transsexualität“ gebunden, das heißt transge-
                                          per se als psychisches Leiden klassifiziert [47], kann nach           schlechtliche Menschen müssen sich eindeutig gegen­
                                          der fünften Auflage des Diagnostic and Statistical Manual             geschlechtlich als Frau oder Mann verstehen. Dies schließt
                                          of Mental Disorders (DSM-5) aber unter Umständen zu                   Menschen aus, die sich außerhalb dieser Zweigeschlecht-
                                          einem psychischen Leidenszustand führen, der seit 2013                lichkeit beispielsweise als nichtbinär, queer oder agender
                                          als „Genderdysphorie“ bezeichnet wird [48].                           verstehen (Infobox Annex) [51]. Individuelle geschlechtsan­
                                              Das Bundessozialgericht verpflichtete 1987 die Kran-              gleichende Behandlungswege, in denen nur einzelne
                                          kenkassen, die Kosten für geschlechtsangleichende Maß-                geschlechtsverändernde Behandlungen durchgeführt wer-
                                          nahmen bei transgeschlechtlichen Menschen zu überneh-                 den, sind somit für diese Personengruppe schwer oder
                                          men. 1997 veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für               nur auf eigene Kosten möglich [52].
                                          Sexualforschung, die Akademie für Sexualmedizin und die                   Eine Veränderung soll die neue Leitlinie „Geschlechtsin-
                                          Gesellschaft für Sexualwissenschaft die „Standards der                kongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit:

Journal of Health Monitoring 2020 5(S1)                                                                                                                           10
Journal of Health Monitoring   Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen                  FOCUS

                                          S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung“ von             wurden die Operationen häufig mit der Angst vor Stigma-
                                          2018 bringen, die jedoch für den MDS bislang nicht bindend             tisierung und Diskriminierung des Kindes, die auf ein nor-
                                          ist [53]. Die S3-Leitlinien lassen wesentlich größere Spiel-          matives Zweigeschlechtermodell zurückgeht und Interge-
                                          räume für individuelle Behandlungsverläufe zu. Psychothe-             schlechtlichkeit als Abweichung begreift. So wurde die
                                          rapie und „Alltagstest“ wurden als Indikationsvorausset-              Geburt eines intergeschlechtlichen Kindes als psychosozia­
                                          zungen für somatische Behandlungen fallen gelassen und                ­ler Notfall für die Eltern eingestuft. Gesellschaftliche Erwar-
                                          Entscheidungen über Behandlungsmaßnahmen als „infor-                  tungen sowie normative Vorstellungen von Geschlecht sei-
                                          mierte Einwilligung“ konzipiert, sodass maßgeblich Bedarfe            tens des ärztlichen Personals und auch der Eltern sind
                                          von transgeschlechtlichen Menschen mit berücksichtigt                  ebenso bedeutsam [57].
                                          werden sollen.                                                             In den letzten Jahren empfehlen medizinische Leitlinien
                                              Das Thema Intergeschlechtlichkeit wird in einem Span-             zunehmend Zurückhaltung bei geschlechtsverändernden
                                          nungsverhältnis zwischen Medikalisierung [54] und Entpa-              Eingriffen bei intergeschlechtlichen Menschen. Auch der
                                          thologisierung diskutiert. So wird in der 2022 in Kraft treten-       Deutsche Ethikrat mahnte 2012 in einer Stellungnahme
                                          den ICD-11 der WHO Intergeschlechtlichkeit als „Disorder“,            zum Thema „Intersexualität“ eine umfassende Abwägung
                                          das heißt als „Störung“ klassifiziert und damit als grund-            aller Vor- und Nachteile eines Eingriffs und seiner langfris-
                                          sätzlich behandlungsbedürftig angesehen. Aus menschen-                tigen Folgen an [58]. In der Stellungnahme der Bundesärz-
                                          rechtlicher Sicht wird diese Klassifikation kritisiert, da sie        tekammer von 2015 zur „Versorgung von Kindern, Jugend-
                                          von einer zweigeschlechtlichen Norm ausgeht und Abwei-                 lichen und Erwachsenen mit Varianten/Störungen der
                                          chungen als grundsätzlich behandlungsbedürftig patholo-               Geschlechtsentwicklung (Disorders of Sex Development,
                                          gisiert [55]. Die Begrifflichkeit „Störung der Geschlechts-           DSD)“ wird klargestellt, dass Eingriffe grundsätzlich nur
                                          entwicklung (DSD)“ wird dementsprechend abgelehnt und                  erfolgen sollen, um lebensbedrohliche Situationen oder
                                          stattdessen Intergeschlechtlichkeit als Variationen der               schwerwiegende Gesundheitsgefährdungen abzuwenden
                                          Geschlechtsmerkmale beschrieben [56].                                 [20]. Schließlich empfiehlt die S2-Leitlinie „Varianten der
                                              Medizinisch nicht notwendige Eingriffe an interge-                Geschlechtsentwicklung“ der Deutschen Gesellschaft für
                                          schlechtlichen Kindern gehen auf Forschungen der                      Urologie (DGU) e. V., der Deutschen Gesellschaft für Kin-
                                          1950er-Jahre zur psychosexuellen Entwicklung zurück, die               derchirurgie (DGKCH) e. V., der Deutschen Gesellschaft
                                          von einer sozialen Formbarkeit der geschlechtlichen Iden-             für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED) e. V.
                                          tität ausgingen. Vermutet wurde, dass intergeschlecht­                von 2016 medikamentöse oder chirurgische Eingriffe an
                                          liche Kinder durch eine Erziehung als Mädchen oder Junge              nichteinwilligungsfähigen Kindern nur in Ausnahmefällen
                                          eine entsprechende Identität ausbilden würden und dies                vorzunehmen [59].
                                          durch medizinische Eingriffe in einer frühen Lebensphase                   Das EU-Parlament hat 2019 eine Resolution verabschie-
                                          flankierend unterstützt werden könnte [54, 57]. Begründet              det, die unter anderem die Unterlassung von medizinisch

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Journal of Health Monitoring   Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen               FOCUS

                                          nicht notwendigen körperverändernden Operationen bei                  Kreuzung, Schnittpunkt) gefasst [63]. Wenn also im Fol-
                                          intergeschlechtlichen Menschen fordert [60]. In Deutsch-              genden der Fokus auf dem Geschlecht (trans- und
                                          land liegt seit Anfang 2020 ein Referentenentwurf eines               intergeschlecht­liche Menschen) sowie der sexuellen Ori-
                                          Gesetzes zum Schutz von Kindern vor geschlechtsverän-                 entierung (lesbische, schwule und bisexuelle Menschen)
                                          dernden operativen Eingriffen vor [61]. Dieser sieht vor,             liegt, so sollte beachtet werden, dass die Heterogenität
                                          dass geschlechtsangleichende medizinische Eingriffe an                innerhalb der jeweiligen Gruppen mit den vorliegenden
                                          Kindern nur in unaufschiebbaren Fällen und zur Abwen-                 Daten kaum darstellbar ist. Die gesundheitliche Situation
                                          dung von Lebensgefahr zulässig sein sollen.                           ist nicht nur abhängig vom Geschlecht und der sexuellen
                                                                                                                Orientierung, sondern kann je nach weiteren Zugehörig-
                                          5. Die gesundheitliche Lage von LSBTI-Personen                        keiten sehr unterschiedlich ausfallen.

                                          Die Themenauswahl der folgenden Ausführungen orien-                   5.1 Lesbische Frauen
                                          tiert sich stark an der Verfügbarkeit von Befunden aus
                                          Deutschland sowie aus internationalen Studien. Auch wenn              In einer Befragungsstudie zur gesundheitlichen Situation
                                          die internationalen Zahlen nicht direkt auf Deutschland               von lesbischen Frauen in Deutschland von 2005 gaben 55 %
                                          übertragbar sind, so zeigen sie wichtige Zusammenhänge                der Befragten an, ein sehr gutes bis gutes subjektives Wohl-
                                          auf und können Hinweise auf mögliche gesundheitliche                  befinden zu haben. Lediglich 1,1 % berichteten von einem
                                          Ungleichheiten geben.                                                 körperlichen und 1,7 % von einem psychisch schlechten
                                              Die im Folgenden dargestellten Gruppen sind in sich               Wohlbefinden [6]. In einer schwedischen Studie wiesen les-
                                          heterogen. Geschlecht und sexuelle Orientierung (Infobox              bische und bisexuelle Frauen in der Altersgruppe bis 45 Jah-
                                          Annex) wirken mit weiteren sozialen Differenzkategorien wie           re einen schlechteren allgemeinen Gesundheitszustand auf
                                          Bildung, Einkommen, Migrationshintergrund/-geschichte                 als heterosexuelle Frauen [64]. Besondere Aspekte der
                                          oder Personen/People of color zusammen. Personen/Peo-                 gesundheitlichen Lage lesbischer Frauen sind bisher bezüg-
                                          ple of color ist eine Eigenbezeichnung von Menschen, die              lich körperlicher Erkrankungen (Krebserkrankungen), der
                                          von Rassismus betroffen sind [62]. Die Differenzkategorien            psychischen Gesundheit (Suizidalitat, psychische Erkran-
                                          werden dabei nicht als individuelle Eigenschaften, sondern            kungen), des Substanzkonsums und der Gewaltbetroffen-
                                          als gesellschaftliche Machtverhältnisse begriffen, die mit            heit beschrieben worden [6, 65].
                                          Privilegierungen oder Benachteiligungen verbunden sind.                   Auf Basis der deutschen Krebsregisterdaten können keine
                                          Sie addieren sich nicht auf, sondern bringen in Kombination           Aussagen zur Krebsmorbidität und -mortalität lesbischer
                                          spezifische Lebenslagen hervor, welche die gesundheitliche            Frauen gemacht werden. Die Befunde aus den wenigen
                                          Lage beeinflussen. Dieses Zusammenwirken wird unter                   internationalen epidemiologischen Studien insbesondere
                                          dem Begriff der Intersektionalität (engl. intersection:               aus den USA verweisen entweder auf eine erhöhte Inzidenz

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Journal of Health Monitoring   Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen              FOCUS

                                          spezifisch für Brustkrebs bei nichtheterosexuellen Frauen            14,0 % (Odds Ratio 4,05; 95 %-Konfidenzintervall (KI)
                                          oder zeigen keinen Unterschied nach sexueller Orientie-              1,56 – 10,47) und eine Lebenszeitprävalenz von 25,6 %
                                          rung [66]. Eine Studie aus Dänemark ergab, dass bei les-             (Odds Ratio 3,43; 95 %-KI 1,60 – 7,33) für riskanten Sub­
                                          bischen Frauen in Partnerschaften die Wahrscheinlichkeit             stanzkonsum beziehungsweise Substanzabhängigkeit im
                                          der Entwicklung einer Krebserkrankung nicht deutlich grö-            Vergleich zu 2,9 %, respektive 7,1 % bei heterosexuellen
                                          ßer ist, als in der Gruppe der Frauen insgesamt. Auch spe-           Frauen [74]. Eine weitere populationsbasierte Querschnitt-
                                          zifische Krebserkrankungen wie die Diagnose eines Zervix-            studie aus den USA untersuchte die 12-Monats-Prävalenz
                                          karzinoms, von Brustkrebs oder Lungenkrebs entsprechen               von Suchtmittelkonsum und -abhängigkeiten. Lesbische
                                          in etwa den erwarteten Neuerkrankungen in der Gruppe                 Frauen hatten im Vergleich zu heterosexuellen Frauen sig-
                                          der Frauen [67]. Demgegenüber weisen die Daten der däni-             nifikant höhere Prävalenzen, sowohl beim Konsum von
                                          schen National Cohort Study für lesbische im Vergleich zu            Marihuana (16,7 % vs. 2,6 %) und anderen Drogen (12,6 %
                                          heterosexuellen Frauen eine höhere Mortalität für Krebs              vs. 3,1 %) als auch bei der Abhängigkeit von Alkohol (13,3 %
                                          aus (Hazard Ratio 1,62; 95 %-KI 1,28 – 2,05) [68].                   vs. 2,5 %), von Marihuana (2,8 % vs. 0,2 %) und anderen
                                              Als Hintergrund der beschriebenen Morbiditäten wer-              Drogen (5,7 % vs. 0,4 %) [75].
                                          den verhaltensassoziierte Risikofaktoren diskutiert, insbe-              Neben Risikofaktoren für die Gesundheit gibt es auch
                                          sondere im Gesundheitsverhalten (z. B. Rauchen, Alkohol-             Hinweise auf gesundheitsförderliches Verhalten von lesbi-
                                          konsum [69–71], im reproduktiven Verhalten [72]) und in              schen Frauen: So gaben in einer deutschen Studie von 2005
                                          der Inanspruchnahme spezifischer Früherkennungsmaß-                  77,6 % der Befragten an, regelmäßig Sport zu treiben,
                                          nahmen [70], wie auch bezüglich des Risikos sexuell über-            40,7 % berichteten, zwei Stunden oder mehr pro Woche
                                          tragbarer Infektionen [73], die in der Ätiologie von Krebser-        sportlich aktiv zu sein [6].
                                          krankungen eine Rolle spielen. Bisher werden sexuelle                    Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass lesbische
                                          Kontakte zwischen lesbischen Frauen selten im Zusam-                 Frauen ein hohes Suizidalitätsrisiko haben, was bisher
                                          menhang mit sexuell übertragbaren Erkrankungen wissen-               wenig Beachtung in der Suizidprävention findet [68, 76].
                                          schaftlich untersucht. Auch könnten die Ergebnisse auf               Als wichtige Einflussfaktoren gelten hierbei Gewalt- und
                                          einen spezifischen Versorgungsbedarf im Bereich der Früh­            Diskriminierungserfahrungen, insbesondere auch mit sexu-
                                          erkennung hinweisen.                                                 alisierter Gewalt und Gewalterfahrungen in jüngerem Alter
                                              Hinsichtlich der psychischen Gesundheit ergab eine sys-          [76, 77]. In einer der wenigen bevölkerungsbezogenen
                                          tematische Übersichtsarbeit europäischer Studien Hinweise            Befragungen aus Schweden, die zwischen sexuellen Orien-
                                          auf eine erhöhte Prävalenz des riskanten Substanzmittel-             tierungen differenzierte, waren bisexuelle und lesbische
                                          konsums beziehungsweise von Substanzabhängigkeit bei                 Frauen die am stärksten von Diskriminierung, Gewalt und
                                          lesbischen im Vergleich zu heterosexuellen Frauen [69]. Eine         Gewaltandrohungen betroffene Gruppe [64]. Die Zugehö-
                                          eingeschlossene Studie fand eine 12-Monats-Prävalenz von             rigkeit zu geschlechtlichen oder sexuellen Minderheiten

Journal of Health Monitoring 2020 5(S1)                                                                                                                          13
Journal of Health Monitoring   Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen            FOCUS

                                          kann aber auch gesundheitlich förderliche Effekte haben:              HIV-Diagnose (3 %). In Deutschland wurden im Jahr 2018
                                          Nach Informationen des US-amerikanischen MetLife-Sur-                 insgesamt 7.332 Syphilis-Fälle gemeldet [79], wobei auf
                                          veys aus dem Jahr 2006 gaben 38 % der Befragten an, dass              MSM 85,0 % der Meldungen mit bekanntem Übertragungs-
                                          sie durch unterstützende soziale Netzwerke, über eine Stär-           risiko entfallen. Darüber hinaus berichteten 19,2 % der
                                          kung der Resilienz und „Krisenkompetenz“ negative Erfah-              EMIS-Teilnehmenden jemals mit Gonorrhö und 13,9 % mit
                                          rungen besser bewältigen können [8].                                  Chlamydien diagnostiziert worden zu sein [78]. Auch hier
                                                                                                                berichteten Männer mit HIV-Infektion häufiger von einer
                                          5.2 Schwule Männer                                                    Diagnose.
                                                                                                                    Männer, die Sex mit Männern haben, haben auch ein
                                          Die gesundheitliche Situation schwuler Männern ist bisher             erhöhtes Risiko für HIV. Im Rahmen der EMIS-Studie
                                          hauptsächlich mit Fokus auf sexuell übertragbare Erkran-              gaben 10% aller Teilnehmenden an, eine HIV-Diagnose
                                          kungen betrachtet worden. Dies liegt in höheren Prävalen-             erhalten zu haben. In Deutschland nehmen die HIV-Neu-
                                          zen zum Beispiel für Infektionen mit HIV (Humanes                     diagnosen unter MSM seit 2014 ab [80]. Dennoch waren
                                          Immundefizienz-Virus) bei schwulen Männern im Vergleich               im Jahr 2018 von den schätzungsweise 2.400 Personen,
                                          zu heterosexuellen Menschen oder lesbischen Frauen                    die sich mit HIV neu infiziert haben, 1.600 MSM. Wenn
                                          begründet, birgt jedoch die Gefahr der Reduktion schwu-               MSM mit humanen Papillomaviren (HPV) und HIV infi-
                                          ler Lebensweisen auf sexuelle Verhaltensweisen. Über die              ziert sind, kann aufgrund der Immunsuppression gleich-
                                          allgemeine gesundheitliche Lage schwuler Männer ist ver-              zeitig ein erhöhtes Risiko für Anal- und Kolorektalkarzi-
                                          gleichsweise wenig bekannt. Daten liegen überwiegend zu               nome bestehen [81, 82]. Es besteht die Hoffnung, dass mit
                                          Männern, die Sex mit Männern haben (MSM) vor. In die-                 Maßnahmen wie verbesserten Test­angeboten, der frühen
                                          ser Gruppe werden schwule und bisexuelle Männer zusam-                Behandlung HIV-Infizierter und der HIV-Präexpositions-
                                          mengefasst, aber auch Männer, die Sex mit Männern                     prophylaxe (PrEP) die Zahl der Neuinfektionen, und damit
                                          haben, ohne sich selbst als schwul oder bisexuell zu ver-             auch der berichteten Komorbiditäten, in den nächsten Jah-
                                          stehen.                                                               ren weiter verringert werden kann.
                                              Bezüglich sexuell übertragbarer Erkrankungen weisen                   Schwulenfeindlichkeit und strafrechtliche Verfolgung
                                          MSM im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ein erhöhtes                   (in den alten Bundesländern bis 1994) können Auswirkun-
                                          Risiko auf. Im Rahmen des Europäischen MSM Internet                   gen auf die psychische Gesundheit, das Gesundheitsver-
                                          Survey (EMIS) von 2017 berichteten etwa 14,2 % der Teil-              halten und die körperliche Gesundheit haben. Verschiedene
                                          nehmenden, jemals eine Syphilis-Diagnose erhalten zu                  internationale Metaanalysen und systematische Reviews
                                          haben [78]. Das Risiko war innerhalb der MSM ungleich                 zeigen, dass schwule und bisexuelle Männer beziehungs-
                                          verteilt: MSM mit diagnostizierter HIV-Infektion gaben                weise MSM im Vergleich zu heterosexuellen Männern häu-
                                          häufiger eine Syphilis-Diagnose an (15 %) als MSM ohne                figer durch Angststörungen, Depressionen, Alkohol- und

Journal of Health Monitoring 2020 5(S1)                                                                                                                        14
Journal of Health Monitoring   Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen               FOCUS

                                          Drogenabhängigkeit sowie Suizidalität belastet sind [33, 83,          5.3 Bisexuelle Menschen
                                          84]. Laut einer internationalen Metaanalyse von 2017 liegt
                                          zum Beispiel die Lebenszeitprävalenz für Suizidgedanken               Die Lebens- und Gesundheitssituation von bisexuellen
                                          für MSM bei 35,0 % (Range zwischen den Ländern 13,2 %                 Menschen wird selten in den Blick genommen, weil sie
                                          bis 55,8 %) [85]. Psychische Belastungen und Suizidalität             meist unter die Gruppen der lesbischen oder schwulen
                                          können zudem auch mit einer HIV-Infektion einhergehen.                Menschen subsummiert wird. Die wenigen vorliegenden
                                          Ein positiver HIV-Status führte in den vorliegenden Unter-            Befunde zu bisexuellen Menschen beziehen sich fast aus-
                                          suchungen zu einem signifikant erhöhten Risiko für suizi-             schließlich auf Frauen und Männer. Weitere geschlecht­liche
                                          dale Gedanken [85]. Auch tatsächliche Suizidversuche sind             Verortungen wie beispielsweise nichtbinär oder queer wer-
                                          bei schwulen und bisexuellen Männern häufiger als bei                 den nur sehr selten berücksichtigt.
                                          heterosexuellen Menschen (Relatives Risiko 4,28; 95%-KI                   Bei bisexuellen Frauen gibt es weniger Hinweise auf
                                          2,32 – 7,88) [84].                                                    sexuell übertragbare Infektionen als bei bisexuellen Män-
                                              Psychische Erkrankungen und Stress können sich auch               nern. Allerdings wird die Häufigkeit solcher Infektionen in
                                          negativ auf das Gesundheitsverhalten auswirken. Eine                  dieser Gruppe selten thematisiert. Bei Frauen, die Sex mit
                                          populationsbasierte Querschnittstudie aus den USA unter-              Frauen haben, gibt es Hinweise auf häufigere bakterielle
                                          suchte die 12-Monats-Prävalenz von Suchtmittelkonsum                  Vaginosen [87]. Bezogen auf bisexuelle Männer zeigte ein
                                          und -abhängigkeit. Danach hatten schwule Männer zwar                  US-amerikanischer Survey, dass bisexuelle Männer häufi-
                                          eine leicht erhöhte Prävalenz für starken Alkoholkonsum               ger HIV-positiv (7,7 %) sind als heterosexuelle Männer
                                          (18,1 % vs. 13,7 %), dieser war jedoch nicht statistisch sig-         (0,3 %), aber seltener als schwule Männer (17,4 %) [88].
                                          nifikant [75, 86]. Deutlicher fielen die Unterschiede jedoch          Bezüglich weiterer sexuell übertragbarer Erkrankungen
                                          bei der Alkoholabhängigkeit (16,8 % vs. 6,1%) und bei Kon-            ergaben sich keine Unterschiede zwischen Männern mit
                                          sum und Abhängigkeit von illegalen Drogen aus [75]. Als               schwuler oder bisexueller Identität [89].
                                          mögliche Gründe werden auch Strategien zur Bewältigung                    Eine populationsbasierte Querschnittstudie aus den USA
                                          von Stress aufgrund von Ausgrenzungs- und Diskriminie-                untersuchte die 12-Monats-Prävalenzen von Suchtmittel-
                                          rungserfahrungen im Zusammenhang mit ihrer sexuellen                  konsum und -abhängigkeiten von Frauen und Männern.
                                          Orientierung genannt [33, 83]. Die zunehmende gesell-                 Bisexuelle Frauen neigten im Vergleich zu heterosexuellen
                                          schaftliche und rechtliche Anerkennung schwuler Lebens-               Frauen häufiger zu starkem Alkoholkonsum (25,0 % vs.
                                          weisen stellt eine positive Entwicklung dar, von der eine             8,4 %) sowie zu höheren Prävalenzen für den Konsum von
                                          Angleichung der gesundheitlichen Lage schwuler Männer                 Marihuana (22,2 % vs. 2,6 %), anderen Drogen (14,1 % vs.
                                          an die heterosexueller Menschen nicht zuletzt in den Berei-           3,1 %) sowie zu Alkoholabhängigkeit (15,6 % vs. 2,5 %) [75].
                                          chen der seelischen Gesundheit und des gesundheitsbe-                 Weiterhin neigten bisexuelle Menschen, besonders Frauen,
                                          zogenen Risikoverhaltens zu erwarten ist.                             im Vergleich zu heterosexuellen sowie lesbischen und

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Journal of Health Monitoring   Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen              FOCUS

                                          schwulen Menschen zu einem deutlich höheren Tabakkon-                 medizinische Orientierung an einer zweigeschlechtlichen
                                          sum [90]. Bisexuelle Männer wiesen im Vergleich zu hetero-            Norm die gesundheitliche Situation von transgeschlecht-
                                          sexuellen Männern nur eine geringfügig erhöhte Prävalenz              lichen Menschen [94]. Diskriminierungserfahrungen im
                                          beim starken Alkoholkonsum auf (16,4 % vs. 13,7 %).                   alltäg­lichen Leben und Barrieren auf dem Weg zur
                                          Erhöhte Prävalenzen bei bisexuellen Männern wurden aller-             Geschlechtsangleichung und in der gesundheitlichen Ver-
                                          dings für Alkoholabhängigkeit (19,5 % vs. 6,1 %), den Kon-            sorgung im Allgemeinen (Kapitel 4.3) werden von vielen
                                          sum von Marihuana (13,2 % vs. 6,2 %) und weiteren Dro-                transgeschlechtlichen Menschen als belastend beschrie-
                                          gen (17,7 % vs. 4,5 %) und der Abhängigkeit von diesen                ben und können zu Stress und einer schlechteren psychi-
                                          (5,1 % vs. 0,5 %) berichtet [75].                                     schen Gesundheit führen.
                                              Sowohl in der Gesellschaft als auch in lesbischen,                    Vor diesem Hintergrund weisen internationale Studien
                                          schwulen und queeren Communities (Infobox Annex) sind                 hohe Prävalenzen für depressive Erkrankungen von trans-
                                          bisexuelle Menschen nicht immer selbstverständlich                    geschlechtlichen Menschen auf [4, 95]. Ergebnisse aus Neu-
                                          akzeptiert und werden entweder in ihrer sexuellen Orien-              seeland zeigen, dass junge transgeschlechtliche Menschen
                                          tierung nicht ernst genommen oder sind mit Vorurteilen                eine fast fünffach höhere 12-Monats-Prävalenz eines Sui-
                                          konfrontiert [91]. Wie lesbische und schwule Menschen                 zidversuchs aufweisen als Personen, die in dem Geschlecht
                                          haben bisexuelle Menschen ein höheres Risiko für Sui-                 leben, dass ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde (weib-
                                          zidgedanken und Suizidversuche als heterosexuelle Per-                lich/männlich) [96]. Ein Review internationaler Forschungs-
                                          sonen [92]. Zudem zeigte ein Review, dass bisexuelle Men-             literatur von 2016 stellte hohe Raten von nichtsuizidalem,
                                          schen aber auch generell Menschen, die ihre sexuelle                  selbstverletzendem Verhalten für transgeschlechtliche Per-
                                          Orientierung hinterfragen („questioning“), im Vergleich               sonen fest (17 % – 42 %). Insbesondere für transgeschlecht-
                                          mit lesbischen und schwulen Menschen häufiger zu                      liche Menschen, die sich nicht binär als weiblich oder
                                          selbstverletzendem Verhalten neigen [93]. Eine verstärkte             männlich verstehen (z. B. questioning, nichtbinär, agender;
                                          Sichtbarkeit und gesellschaftliche Anerkennung könnte                 Infobox Annex), wird ein hohes Risiko beschrieben [93].
                                          insbesondere für die psychische Gesundheit bisexueller                Diese Zahlen weisen auf einen dringenden Bedarf
                                          Menschen förderlich sein.                                             gesellschaft­licher Aufklärung bezüglich transgeschlecht­
                                                                                                                licher Menschen hin, um Diskriminierungen abzubauen
                                          5.4 Transgeschlechtliche Menschen                                     und so die Selbstakzeptanz und psychische Gesundheit
                                                                                                                von transgeschlechtlichen Menschen zu fördern.
                                          Durch das Engagement transgeschlechtlicher Menschen                       Zur sexuellen Gesundheit von transgeschlechtlichen
                                          sind in den vergangenen Jahren vermehrt Schritte zu einer             Menschen liegen für Deutschland derzeit kaum Daten vor.
                                          medizinischen Anerkennung zu verzeichnen (Kapitel 4.3).               Internationale Studien zeigen, dass unter transgeschlecht-
                                          Dennoch prägen weiterhin die gesellschaftliche und                    lichen Personen die Prävalenz von HIV höher ist als in der

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