Journal of Health Monitoring - Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen - RKI
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MÄRZ 2020 GESUNDHEITSBERICHTERSTATTUNG DES BUNDES SPECIAL ISSUE 1 GEMEINSAM GETRAGEN VON RKI UND DESTATIS Journal of Health Monitoring Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen 1
Journal of Health Monitoring Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen FOCUS Journal of Health Monitoring · 2020 5(S1) DOI 10.25646/6448 Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen Robert Koch-Institut, Berlin sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen Kathleen Pöge 1, Gabriele Dennert 2, Uwe Koppe 3, Annette Güldenring 4, Abstract Ev B. Matthigack 5, Alexander Rommel 1 Geschlechter, sexuelle Orientierungen und die damit verbundenen Lebensweisen sind heterogen. Inwieweit Menschen ihr Geschlecht, ihre Sexualität und ihre Lebensform selbstbestimmt und frei leben können, und mit welchen gesellschaftlichen 1 Robert Koch-Institut, Berlin Abteilung für Epidemiologie und Gesund- Ressourcen, Teilhabechancen und Diskriminierungen dies verbunden ist, beeinflusst ihre Lebenslagen und damit auch heitsmonitoring ihre gesundheitliche Situation. Es wurde ein narratives Review zur gesundheitlichen Situation von lesbischen, schwulen, 2 Fachhochschule Dortmund, Sozialmedizin bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Personen (LSBTI) durchgeführt und dazu internationale und deutsche und Public Health mit Schwerpunkt Reviews, Metaanalysen und bevölkerungsbezogene Studien herangezogen. Der Beitrag beschreibt schlaglichtartig den Geschlecht und Diversität, FB 8 Angewandte Stand der rechtlichen, gesellschaftlichen und medizinischen Anerkennung in Deutschland sowie die gesundheitliche Sozialwissenschaften Lage von LSBTI-Personen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland haben sich für homo- und bisexuelle 3 Robert Koch-Institut, Berlin Menschen schrittweise verbessert, während für trans- und intergeschlechtliche Personen aus Sicht vieler Akteur*innen Abteilung für Infektionsepidemiologie 4 Westküstenkliniken Heide/Brunsbüttel, bezüglich sowohl der medizinischen als auch rechtlichen Anerkennung noch große Defizite bestehen und wissenschaftliche Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie Erkenntnisse noch ungenügend Eingang in die medizinische Praxis gefunden haben. Die verfügbaren Daten zur und Psychosomatik gesundheitlichen Situation von LSBTI-Personen verweisen auf Handlungsbedarfe im Bereich der psychischen Gesundheit 5 Deutsche Vertretung der Internationalen und der Gesundheitsversorgung. Die Datenlage ist jedoch sehr lückenhaft und lässt kaum Aussagen über die allgemeine Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen gesundheitliche Lage und über gesundheitliche Ressourcen von LSBTI-Personen zu. Für die konkrete Planung und (IVIM), Organisation Intersex International Umsetzung von Maßnahmen und die differenzierte Beschreibung der Situation in Deutschland bedarf es eines Ausbaus (OII Germany), Berlin der Datengrundlagen, nicht zuletzt auch in bevölkerungsrepräsentativen Erhebungen. Eingereicht: 20.12.2019 Akzeptiert: 07.02.2020 GESUNDHEIT · GESCHLECHT · INTERGESCHLECHTLICHKEIT · TRANSGESCHLECHTLICHKEIT · SEXUELLE ORIENTIERUNG Veröffentlicht: 18.03.2020 1. Einleitung (LSBTI, Infobox Annex) in den vergangenen Jahren gesell- schaftlich und rechtlich vermehrt Anerkennung. Dies zeigt Die Vielfalt der Geschlechter, sexuellen Orientierungen und sich beispielsweise in der 2017 vollzogenen Öffnung der Ehe Lebensweisen ist Teil der gesellschaftlichen Diversität. Auch für gleichgeschlechtliche Paare. Seit 2018 ermöglicht das Per- wenn die Entwicklung differenziert zu betrachten ist und in sonenstandsgesetz es intergeschlechtlichen Menschen, bei vielen Bereichen noch am Anfang steht, erfahren lesbische, ihrem Geschlechtseintrag neben „weiblich“ oder „männlich“ schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen auch „divers“ anzugeben oder die Angabe offen zu lassen. Journal of Health Monitoring 2020 5(S1) 2
Journal of Health Monitoring Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen FOCUS Inwieweit Menschen ihr Geschlecht, ihre Sexualität und ihre sexuelle Orientierung beziehungsweise geschlecht ihre Lebensform selbstbestimmt und frei leben können liche Identität diskriminierungsfrei leben und auf ein unter- und mit welchen gesellschaftlichen Ressourcen, Teilhabe- stützendes soziales und familiäres Umfeld zurückgreifen chancen und Diskriminierungen dies verbunden ist, beein- können [6–8]. flusst ihre Lebenslagen und damit auch ihre gesundheit Der vorliegende Artikel gibt einen Überblick zur gesell- liche Situation. Nicht die individuelle geschlechtliche schaftlichen und gesundheitlichen Situation von LSBTI-Per- Identität oder sexuelle Orientierung sind ursächlich für sonen und zeigt übergreifende Handlungsbedarfe auf. Zu Unterschiede in der Gesundheit im Vergleich zur Gesamt- Beginn wird dargestellt, wie viele LSBTI-Personen in bevölkerung, sondern der gesellschaftliche Kontext kann Deutschland leben und in welchen gesellschaftlichen, recht- eine wichtige Einflussgröße sein. Für lesbische, schwule, lichen und medizinischen Rahmenbedingungen sie posi- bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen kann tioniert sind. Darauf folgt eine Beschreibung der gesund- Geschlechter, sexuelle sich die vorherrschende gesellschaftliche Ausrichtung an heitlichen Lage und Versorgung von LSBTI-Personen auf Orientierungen und Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität nachteilig auf Basis deutscher und internationaler Befunde. Schlussend- Lebensweisen sind vielfältig. die Lebenssituation und Gesundheit auswirken. Umgekehrt lich wird im Rahmen der Einordnung der Ergebnisse auf kann eine wachsende Anerkennung positive Effekte auf Bestrebungen eingegangen, die Datenlage im Bereich der Zufriedenheit und Gesundheit haben. Epidemiologie und Surveyforschung zu verbessern, um die Neben großen Ähnlichkeiten lassen sich im Vergleich Informationsgrundlagen für die Gesundheits- und Sozial- zur Gesamtbevölkerung LSBTI-spezifische gesundheitliche berichterstattung weiter zu entwickeln. Belange identifizieren. So unterscheidet sich die selbstbe- Bei der Einordnung der Ergebnisse ist zu beachten, dass richtete körperliche Gesundheit von lesbischen, schwulen die bestehende Forschung stark auf bestimmte Themen und bisexuellen im Vergleich zu heterosexuellen Menschen wie die sexuelle Gesundheit bei schwulen Männern oder nicht [1]. Der überwiegende Teil der Menschen weist also generell auf die psychische Gesundheit von LSBTI-Perso- unabhängig von der sexuellen Orientierung eine gute oder nen fokussiert. Die allgemeine gesundheitliche Situation sehr gute subjektive Gesundheit auf. Es konnte in interna- und förderliche Faktoren für eine gute Gesundheit von tionalen Studien aber auch gezeigt werden, dass lesbische, LSBTI-Personen sind bisher noch wenig betrachtet worden. schwule, bisexuelle sowie trans- und intergeschlechtliche Daher ist zu beachten, dass aufgrund der Datenlage Themen Menschen häufiger depressive Erkrankungen erleben und zwangsläufig selektiv dargestellt werden. Datenlücken und suizidales Verhalten zeigen [1–5]. Bedeutsam sind in die- Limitationen werden in der Diskussion benannt und ein Aus- sem Zusammenhang die verfügbaren individuellen und blick auf positive Entwicklungen bezüglich der Informations- sozialen Ressourcen. So zeigt sich zum Beispiel, dass das grundlagen im Bereich der LSBTI-Gesundheit gegeben. psychische Wohlbefinden von homosexuellen, bisexuellen oder transgeschlechtlichen Personen besser ist, wenn sie Journal of Health Monitoring 2020 5(S1) 3
Journal of Health Monitoring Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen FOCUS 2. Methode Attraktion sowie das sexuelle Verhalten. Die drei Dimensi- onen müssen nicht übereinstimmen und können sich über Der vorliegende Beitrag beruht auf einer Literaturrecherche die Lebenszeit hinweg verändern [12]. Im Jahr 2016 wurde zur gesundheitlichen Lage von LSBTI-Personen in den im SOEP die sexuelle Orientierung durch eine freiwillige Datenbanken PubMed, Web of Science sowie auf thema- Selbstangabe erhoben. Auf Basis dieser und anderer Quel- tisch relevanten Internetseiten. Neben Studien zur Situa- len wird geschätzt, dass sich etwa 2 % der Bevölkerung als tion in Deutschland wurden auch internationale Reviews, lesbisch, schwul oder bisexuell identifizieren (Tabelle 1). Der Metaanalysen sowie populations- und community-basier- Anteil liegt bei den über 60-Jährigen niedriger als bei den te Studien in englischer Sprache herangezogen, die zwi- unter 45-Jährigen. Auch die Befunde der BZgA deuten dar- schen 2000 und Januar 2020 veröffentlicht wurden. Zur auf hin, dass die Selbstidentifikation als lesbisch, schwul Abschätzung der Zahlen von LSBTI-Personen in Deutsch- oder bisexuell von jüngeren Befragten häufiger vorgenom- land werden vornehmlich publizierte Befunde auf Basis men wird (Tabelle 1). Zudem zeigen sich Unterschiede zwi- bevölkerungsrepräsentativer Surveys, namentlich des schen Frauen und Männern dahingehend, dass sich Frauen Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) aus dem Jahr 2016 etwas häufiger als bisexuell und etwas seltener als lesbisch [9], des Mikrozensus von 2015 [10] und der Studie Jugendse- identifizieren, während Männer sich etwas häufiger als xualität in Deutschland der Bundeszentrale für gesundheit- schwul und etwas seltener als bisexuell bezeichnen [13]. Die liche Aufklärung (BZgA) aus dem Jahr 2015 [11] verwendet. eindeutige Selbstidentifikation als lesbisch, schwul oder Zur Beschreibung der rechtlichen Rahmenbedingungen bisexuell betrifft aber insgesamt nur eine kleine Gruppe. Der wurden darüber hinaus Resolutionen und Rechtsdokumen- Anteil jener, die sich dagegen als nicht ausschließlich hetero- te auf nationaler und internationaler Ebene gesichtet. sexuell bezeichnen, liegt deutlich höher und erreicht in ver- schiedenen Studien bei Frauen und Männern zweistellige 3. Bevölkerungsanteile Werte (Tabelle 1). Ebenso zeigen die Zahlen, dass sich ein höherer Anteil an Menschen von Personen des gleichen Der Bevölkerungsanteil von lesbischen, schwulen, bisexu- Geschlechts angezogen fühlt (Begehren/Attraktion) bezie- ellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen in hungsweise gleichgeschlechtliche sexuelle Kontakte erlebt Deutschland kann nur grob geschätzt werden. (Verhalten), als sich explizit als homo- oder bisexuell iden- tifiziert (Identität) (Tabelle 1). Auch hier steigen die Anga- 3.1 Homo- und Bisexualität ben mit dem Alter und erreichen im jungen Erwachsenen- alter ebenfalls zweistellige Werte (Tabelle 1) [11]. Die sexuelle Orientierung kann in drei Dimensionen unter- Die Zahl der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaf- schieden werden: die sexuelle Identität (zum Beispiel ten stieg laut Mikrozensus zwischen den Jahren 2005 bis hetero-, homo- oder bisexuell), das sexuelle Begehren oder 2015 um 57 % von 60.000 auf 94.000 (Tabelle 1). Allerdings Journal of Health Monitoring 2020 5(S1) 4
Journal of Health Monitoring Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen FOCUS Tabelle 1 Anteil Quelle bisexuellen Menschen auf der einen und heterosexuellen Sexuelle Orientierungen in Deutschland. Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften Menschen auf der anderen Seite feststellen. Mehr als die Ergebnisse bevölkerungsweiter Befragungsstudien Rund 94.000 0,5 % – 0,9 % aller Destatis Hälfte der Menschen, die sich als lesbisch, schwul oder Quelle: Eigene Darstellung Personen Partnerschaften Mikrozensus bisexuell identifiziert, lebt nach den Daten des SOEP in mit gemeinsamem 2015 [14] Haushalt Großstädten mit über 100.000 Einwohner*innen, während Selbstidentifikation als lesbisch, schwul oder bisexuell dies für ein Drittel der Heterosexuellen gilt [1] (das Gen- Gesamt 1,9 % DIW dersternchen * wird genutzt, um die geschlechtliche Viel- < 45 Jahre 2,8 % SOEP 2016 [1] falt sprachlich sichtbar zu machen). Sie leben insgesamt > 60 Jahre Unter 1 % Frauen, 21 – 25 Jahre Rund 3 % lesbisch BZgA seltener in Partnerschaften und verlassen sich stärker als Rund 6 % bisexuell Jugendsexualität heterosexuelle Menschen auf außerfamiliäre Unterstüt- Männer, 21 – 25 Jahre Rund 5 % schwul 2015 [11] zungsnetzwerke. Zudem weisen lesbische, schwule und Rund 2 % bisexuell bisexuelle Menschen zwar ein tendenziell höheres Bil- Frauen, 18 – 75 Jahre 1,3 % lesbisch BZgA 1,8 % bisexuell Liebesleben 2017 [13] dungsniveau auf. Nach Angaben des SOEP zeigt sich aber, Männer, 18 – 75 Jahre 2,1 % schwul dass vor allem schwule Männern signifikant geringere 1,4 % bisexuell Löhne erzielen als heterosexuelle Männer [1, 16]. Über die Enge gleichgeschlechtliche Körperkontakte in den letzten zwölf Monaten Lebenszeit kann dies zu geringeren finanziellen Ressour- Frauen, 21 – 25 Jahre Rund 14 % BZgA cen und Altersarmut führen [17]. Männer, 21 – 25 Jahre Rund 12 % Jugendsexualität 2015 [11] 3.2 Trans- und Intergeschlechtlichkeit Selbstbezeichnung als nicht ausschließlich heterosexuell Frauen, ≥ 14 Jahre Rund 11 % Universität Leipzig Männer, ≥ 14 Jahre Rund 10 % Sexualverhalten in Deutlich schwerer ist die Zahl inter- und transgeschlecht- Deutschland 2016 [15] licher Menschen in Deutschland zu schätzen. Einige trans- Frauen, 18 – 75 Jahre 22,4 % BZgA geschlechtliche Personen beantragen auf Grundlage des Männer, 18 – 75 Jahre 13,8 % Liebesleben 2017 [13] BZgA = Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Destatis = Statistisches Transsexuellen-Gesetzes (TSG) die Änderung ihres Perso- Bundesamt, DIW = Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, SOEP = Sozio- nenstands und Vornamens. Zwischen 2008 und 2016 stieg oekonomisches Panel die Zahl dieser jährlichen Anträge von 903 auf 1.868 [18]. leben bei weitem nicht alle homo- oder bisexuellen Men- Die Häufigkeit von Transgeschlechtlichkeit wird in einer schen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zusammen. internationalen Metaanalyse auf 4,6 von 100.000 Perso- Auch ist aufgrund von Stigmatisierungsängsten bei Selbst- nen beziffert [19]. Bezüglich Intergeschlechtlichkeit schreibt angaben von einer Untererfassung auszugehen [14]. die Bundesärztekammer in einer Stellungnahme 2015, dass Darüber hinaus lassen sich auf Basis des SOEP auch jährlich etwa 150 Kinder mit „Varianten/Störungen der soziale Unterschiede zwischen lesbischen, schwulen und Geschlechtsentwicklung (DSD)“ geboren werden [20]. Laut Journal of Health Monitoring 2020 5(S1) 5
Journal of Health Monitoring Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen FOCUS Abbildung 1 Schätzung des Deutschen Ethikrats leben 80.000 interge- Heteronormatives Geschlechtermodell Heteronormatives Geschlechtermodell schlechtliche Personen in Deutschland [21]. Eine Über- Quelle: Rommel et al. 2019 [26] sichtsarbeit wissenschaftlicher und klinischer Studien bezif- es ist ein Mädchen Zuweisung es ist ein Junge fert zwischen 0,018 % und 2,1 % beziehungsweise 3,8 % aller Geburten als „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ Frau Identität Mann oder des urogenitalen Systems [22]. Die Free & Equal Ini- tiative der Vereinigten Nationen geht von einem Bevölke- feminin Präsentation maskulin rungsanteil zwischen 0,05 % bis 1,7 % aus [23, 24]. Insge- samt sind diese Zahlen aber als grobe Annäherung zu mit Männern Sexualität und Beziehung mit Frauen verstehen, da verlässliche Angaben zur Zahl trans- und intergeschlechtlichen Menschen in Deutschland fehlen. Die heteronormative geschlechtliche sowie nichtheterosexuelle Menschen nicht Ausrichtung der Gesellschaft 4. Gesellschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen entsprechen (Abbildung 1). stellt ein Gesundheitsrisiko Heteronormativität kann sich gesellschaftlich in der für LSBTI-Personen dar. Soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche LSBTI- Nichtanerkennung von angeborenen Variationen der Organisationen haben durch ihre Öffentlichkeitsarbeit posi- Geschlechtsmerkmale, der geschlechtlichen Identität, der tive Selbst- und Fremdwahrnehmungen von LSBTI-Men- geschlechtlichen Selbstrepräsentation oder der sexuellen schen gefördert und einen zentralen Beitrag für die wach- Orientierung äußern. Diese fehlende Anerkennung kann sende gesellschaftliche Anerkennung geleistet. Neben von Vorurteilen über Diskriminierung bis hin zu körper verschiedenen Fortschritten bleiben jedoch weiterhin auch lichen und sexualisierten Übergriffen reichen [27]. Sie Defizite in der gesellschaftlichen und rechtlichen Gleich- schließt auch gesetzliche Regelungen ein, die LSBTI-Perso- stellung und medizinischen Anerkennung bestehen. nen von bestimmten Rechten ausschließen. Verschiedene Studien aus den USA, Großbritannien und Australien zei- 4.1 Die heteronormative Ausrichtung der Gesellschaft gen, dass homo- und bisexuelle sowie transgeschlechtliche Jugendliche häufig von Mobbing betroffen sind [28, 29]. Die heteronormative Ausrichtung der Gesellschaft kann In einer Studie des Deutschen Jugendinstituts zum Coming- ein Gesundheitsrisiko für LSBTI-Personen sein. Heteronor- out (Infobox Annex) fürchteten sich 73,9 % der befragten mativität beschreibt die Vorstellung, es gebe ausschließlich lesbischen, schwulen, bisexuellen und transgeschlecht zwei biologisch und sozial übereinstimmende Geschlech- lichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen vor der ter (Frauen und Männer), die in ihrer sexuellen Orientie- Ablehnung durch befreundete Menschen, 69,4 % durch rung aufeinander bezogen sind [25]. Dies äußert sich in Familie und 20,2 % berichteten von Angst vor körperlicher normativen sozialen Erwartungen, denen inter- und trans- Gewalt [30]. Trans- und intergeschlechtliche Menschen Journal of Health Monitoring 2020 5(S1) 6
Journal of Health Monitoring Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen FOCUS berichten im Zusammenhang mit ihrer geschlechtlichen sichert allen Menschen das Recht auf Chancengleichheit Selbstrepräsentation von Diskriminierungen im Alltag, Bil- für gesellschaftliche Teilhabe zu. Auf internationaler Ebene dungswesen und auf dem Arbeitsmarkt [31, 32]. wird seit langem in UN-Resolutionen eine Anerkennung Solche Erfahrungen als Teil einer geschlechtlichen bezie- der Rechte von geschlechtlichen und sexuellen Minderhei- hungsweise sexuellen Minderheit können zu Stress führen ten und ein Beenden der strafrechtlichen Verfolgung gefor- und in der Folge die körperliche und psychische Gesund- dert [37]. Der Artikel 3 des deutschen Grundgesetzes (GG) heit beeinträchtigen sowie das Gesundheitsverhalten nega- schreibt den Grundsatz der Gleichbehandlung seitens des tiv beeinflussen (Minority Stress Model [33], Psychological Staates fest und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz Mediation Framework [34]). Beispielsweise können die teil- (AGG) von 2006 verbietet in arbeits- und zivilrechtlichen weise in diskriminierender Absicht abwertend gemeinten Belangen jede Form von Ungleichbehandlung im Zusam- Bezeichnungen als „schwul“ oder „lesbisch“ zu negativen menhang mit Geschlecht und sexueller Identität. verinnerlichten Einstellungen zu Homosexualität führen In Deutschland waren homosexuelle Frauen und Män- (Internalized Homonegativity [35]), die bei lesbischen, ner lange Zeit von bestimmten Rechten systematisch aus- schwulen und bisexuellen Menschen eine geringere geschlossen und Verfolgung ausgesetzt. Schwule Männer Selbstakzeptanz, Selbstabwertung oder ein Gefühl von Ein- wurden kriminalisiert, indem in Westdeutschland der im samkeit fördern und sich negativ auf die psychische Nationalsozialismus verschärfte § 175 des Strafgesetzbuches Gesundheit auswirken können [30]. Eine wichtige Res- („Unzucht zwischen Männern“) übernommen wurde. In source in der Bewältigung von diskriminierenden Erfah- der damaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) rungen und in der Ausbildung eines positiven Selbstbildes wurde er 1957 faktisch außer Kraft gesetzt und schließlich stellen LSBTI-Communities und deren zivilgesellschaftliche 1968 abgeschafft. Die rechtliche Entwicklung in der DDR ist Organisationen dar, die wichtige Anlauf-, Vernetzungs- und aber nicht mit einer allgemeinen gesellschaftlichen Akzep- Beratungsangebote bereitstellen. Der Kontakt zu Menschen tanz von Homosexualität gleichzusetzen. Nach der deut- mit ähnlichen Lebenserfahrungen und Interessen, sowie schen Wiedervereinigung wurde § 175 im Jahr 1994 auch für gemeinsame Aktivitäten, können das psychische Wohlbe- das Gebiet der Bundesrepublik ersatzlos aufgehoben. finden positiv beeinflussen [36]. Nichtheterosexuelle Partnerschaften und Lebensge- meinschaften wurden lange Zeit rechtlich nicht anerkannt. 4.2 Rechtliche Anerkennung und Gleichstellung Zwischen den Partner*innen konnten keine gegenseitigen Rechte und Pflichten geltend gemacht werden. Dies änderte Der gesellschaftliche Umgang mit geschlechtlicher und sich durch die Einführung der eingetragenen Lebenspart- sexueller Vielfalt ist auch eine Frage der Menschenrechte. nerschaft im Jahr 2001 und schließlich durch die Öffnung Das von Deutschland ratifizierte Menschenrechtsabkom- der Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare im Jahr men der Vereinten Nationen (UN) und des Europarats 2017. Damit wurde ebenfalls das Recht auf gemeinsame Journal of Health Monitoring 2020 5(S1) 7
Journal of Health Monitoring Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen FOCUS Adoption nichtleiblicher Kinder durch gleichgeschlechtliche gefordert, dass sich transgeschlechtliche Menschen einer Lebenspartner*innen ermöglicht. Operation unterziehen müssen, die zu einer „Fortpflan- Im Jahr 2011 beschäftigte sich der Deutsche Ethikrat in zungsunfähigkeit“ führt, um ihren Geschlechtseintrag einer Anhörung mit der Situation intergeschlechtlicher ändern zu können. 2011 ist nach einem Urteil des Bundes- Menschen in Deutschland [38]. Durch Änderungen im Per- verfassungsgerichts diese wichtige Barriere für die repro- sonenstandsrecht 2013 bestand erstmals die Möglichkeit duktive Gesundheit von transgeschlechtlichen Menschen eines offenen Geschlechtseintrags. Seit Ende 2018 ist der gefallen, jedoch wird von vielen Seiten ein Abbau von wei- Geschlechtseintrag für intergeschlechtliche Kinder nicht teren Barrieren für die Änderung von Vornamen und des mehr zwingend, sondern Eltern haben eine Wahlmöglich- Geschlechtseintrags gefordert [41]. keit. Durch das veränderte Personenstandsgesetz, nach Für die soziale und gesundheitliche Chancengleichheit dem intergeschlechtliche Menschen bei ihrem Geschlechts- sowie das individuelle Wohlbefinden ist der Grad der recht- Während die rechtliche eintrag neben „weiblich“ oder „männlich“ alternativ auch lichen Anerkennung der geschlechtlichen und sexuellen Gleichstellung homosexueller „divers“ angeben oder die Angabe offen lassen können, ent- Vielfalt bedeutsam [42, 43]. Dieser bestimmt über die Res- und bisexueller Menschen stand eine neue rechtliche Situation. Das zugrundeliegende sourcen und Teilhabechancen von lesbischen, schwulen, in Deutschland und auf Verfassungsgerichtsurteil aus dem Jahre 2017 erkennt erst- bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Men- mals die Existenz von Geschlechtern jenseits von Frau und schen und beeinflusst, welchen Diskriminierungen sie aus- internationaler Ebene Mann an [39]. Jedoch müssen intergeschlechtliche Perso- gesetzt sind. Eine international vergleichende Studie zeigt Fortschritte gemacht hat, nen vor der Änderung des Personenstands ein ärztliches den Zusammenhang zwischen variierenden gesellschaft- steht sie bei trans- und Attest erbringen, um eine Änderung ihres Geschlechtsein- lichen Rahmenbedingungen auf der einen und Wohlbefin- intergeschlechtlichen trages zu erwirken. Dies wird von vielen intergeschlecht den und Gesundheit auf der anderen Seite [42]. Die gesell- Menschen noch am Anfang. lichen Menschen als diskriminierend empfunden. schaftlichen Rahmenbedingungen werden über das Obgleich die Gesetzesänderung auf intergeschlechtliche Konzept des strukturellen Stigmas gemessen. Zur Messung Personen zugeschnitten ist, versuchen auch transge- dieses Konzepts werden Gesetze und politische Maßnah- schlechtliche Personen, diese Regelung für eine Änderung men gegenüber sexuellen Minderheiten, die fortlaufend ihres Geschlechtseintrages zu nutzen. Das sogenannte von der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Transsexuellengesetz von 1980 wird von transgeschlecht- Intersex Association in Europe (ILGA) gesammelt werden, lichen Menschen in vieler Hinsicht als diskriminierend sowie Einstellungen gegenüber lesbischen und schwulen empfunden. Eine Änderung der Vornamen und des Menschen in der Bevölkerung aus dem European Social Geschlechtseintrags müssen hier auf Kosten der antrag- Survey zu einem Index zusammengefasst [42]. Die Befunde stellenden Person durch zwei Sachverständigengutachten zeigen, dass sich nicht nur das Ausmaß des strukturellen und ein Gerichtsurteil bestätigt werden [40]. Bis 2011 wurde Stigmas in den Staaten der Europäischen Union (EU) stark darüber hinaus im sogenannten Transsexuellengesetz unterscheidet, sondern ein größeres strukturelles Stigma Journal of Health Monitoring 2020 5(S1) 8
Journal of Health Monitoring Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen FOCUS zum Beispiel auch mit der Tendenz zur Verschleierung 4.3 Medizinische Anerkennung homo- und bisexueller Orientierungen [42] und mit einer geringeren Lebenszufriedenheit der Betroffenen einhergeht In den vergangenen Jahren wird geschlechtliche und sexu- (Abbildung 2). Ähnliche Zusammenhänge lassen sich auch elle Vielfalt auch medizinisch verstärkt anerkannt, indem zwischen den Bundesstaaten der USA zeigen: Die psychi- sie vonseiten der Gesundheitsberufe und ihrer Fachverbän- sche Gesundheit von lesbischen, schwulen und bisexuellen de seltener pathologisiert wird. Insbesondere bei den The- Personen ist in jenen Bundesstaaten besser, die auch men Trans- und Intergeschlechtlichkeit besteht aber noch gleichgeschlechtliche Ehen ermöglichen [44]. Handlungsbedarf. Ein wichtiger Schritt für die Anerkennung Im internationalen Vergleich weist Deutschland ein der sexuellen Vielfalt erfolgte 1990, indem die Generalver- geringeres Ausmaß strukturellen Stigmas auf. Trotz recht- sammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) licher Verbesserungen sind die Lebensrealitäten von Homosexualität von der Liste der psychischen Erkrankun- geschlechtlichen und sexuellen Minderheiten aber weiter- gen strich [45]. Ende 2019 beschloss das Bundeskabinett hin durch Benachteiligungen gekennzeichnet. Die weitere ein Verbot von gezielten Interventionen, die sexuelle Ori- rechtsstaatliche Gleichstellung verschiedener geschlecht- entierung oder die selbstempfundene geschlechtliche Iden- licher und sexueller Lebensweisen ist ein wesentliches Fun- tität einer Person verändern oder unterdrücken (sogenann- dament für ein selbstbestimmtes Leben und fördert die te Konversionstherapien), da diese Interventionen bei gesellschaftliche Anerkennung. Betroffenen oftmals psychische Schäden hinterlassen. Das Lebenszufriedenheit (adjustierter Mittelwert des Landes) 8,5 R² Linear = 0,600 8,0 Dänemark 7,5 Niederlande Finnland Spanien Belgien 7,0 Schweden Österreich Luxemburg Deutschland Irland Tschechische Republik Vereinigtes Königreich Frankreich Slowenien 6,5 Malta Portugal Slowakei Italien Estland Lettland 6,0 Ungarn Kroatien Polen Litauen Griechenland Rumänien 5,5 Zypern Bulgarien Abbildung 2 5,0 Selbstberichtete Lebenszufriedenheit unter sexuellen Minderheiten in Europa nach Grad des strukturellen Stigmas auf Länderebene -2,0 -1,5 -1,0 -0,5 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 Quelle: Pachankis & Branstrom (2018) [42] Strukturelles Stigma auf Länderebene (z-score) Journal of Health Monitoring 2020 5(S1) 9
Journal of Health Monitoring Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen FOCUS Verbot soll ab 2020 für Minderjährige und nichteinwilli- Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen“. Sie gungsfähige Erwachsene gelten und betrifft auch die öffent- regelten den psychiatrisch-psychotherapeutischen Behand- liche Werbung, das Anbieten und die Vermittlung solcher lungsweg, den Prozess der Diagnostik und die Fristen bis Maßnahmen. Es soll dem Schutz der geschlechtlichen und zur Indikationsstellung einer Behandlung mit gegenge- sexuellen Selbstbestimmung dienen. schlechtlichen Maßnahmen. Im Jahr 2009 verfasste der Transgeschlechtlichkeit wird bisher in der Internationalen Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Kran- statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter kenkassen (MDS) auf der Grundlage dieser Standards eine Gesundheitsprobleme, 10. Revision (ICD-10) der WHO mit verbindliche „Begutachtungsanleitung Transsexualität“ [49], der Diagnose „Transsexualismus“ (F64.0) als psychische die geschlechtlich binär standardisiert und nach wie vor in Störung klassifiziert. Mit der 11. Revision (ICD-11) dieser Kraft ist. Behandelnde Ärzt*innen wurden damit in ihrer Klassifikation, die 2019 von der WHO verabschiedet wurde Möglichkeit eingeschränkt, individuelle und eigenverant- und 2022 in Kraft treten soll, wird Transgeschlechtlichkeit wortliche Behandlungswege zu gestalten [49]. Unter ande- medizinisch nicht mehr als psychische Störung, sondern rem verlangt der MDS neben einer 18-monatigen Psycho- als geschlechtliche Nichtübereinstimmung beziehungs- therapie den sogenannten „Alltagstest“ [50], der die weise Geschlechtsinkongruenz in die Kategorie „Zustände „Lebbarkeit“ im angestrebten Geschlecht überprüfen soll. sexueller Gesundheit“ eingeordnet. Geschlechtsinkongru- Die Begutachtungsanleitung Transsexualität wird kriti- enz beschreibt die Identifikation mit einem anderen als siert, weil sie die heteronormative Ausrichtung der Gesell- bei Geburt zugewiesenen oder mit keinem Geschlecht [46] schaft medizinisch fortschreibt, indem sie die geschlecht- und damit die Diskrepanz zwischen der empfundenen liche Vielfalt nicht anerkennt. So ist die Kostenübernahme Geschlechtszugehörigkeit einerseits und den körperlichen von körperverändernden Maßnahmen an die Kriterien der Geschlechtsmerkmalen andererseits. Sie wird nicht mehr Diagnose „Transsexualität“ gebunden, das heißt transge- per se als psychisches Leiden klassifiziert [47], kann nach schlechtliche Menschen müssen sich eindeutig gegen der fünften Auflage des Diagnostic and Statistical Manual geschlechtlich als Frau oder Mann verstehen. Dies schließt of Mental Disorders (DSM-5) aber unter Umständen zu Menschen aus, die sich außerhalb dieser Zweigeschlecht- einem psychischen Leidenszustand führen, der seit 2013 lichkeit beispielsweise als nichtbinär, queer oder agender als „Genderdysphorie“ bezeichnet wird [48]. verstehen (Infobox Annex) [51]. Individuelle geschlechtsan Das Bundessozialgericht verpflichtete 1987 die Kran- gleichende Behandlungswege, in denen nur einzelne kenkassen, die Kosten für geschlechtsangleichende Maß- geschlechtsverändernde Behandlungen durchgeführt wer- nahmen bei transgeschlechtlichen Menschen zu überneh- den, sind somit für diese Personengruppe schwer oder men. 1997 veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für nur auf eigene Kosten möglich [52]. Sexualforschung, die Akademie für Sexualmedizin und die Eine Veränderung soll die neue Leitlinie „Geschlechtsin- Gesellschaft für Sexualwissenschaft die „Standards der kongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit: Journal of Health Monitoring 2020 5(S1) 10
Journal of Health Monitoring Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen FOCUS S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung“ von wurden die Operationen häufig mit der Angst vor Stigma- 2018 bringen, die jedoch für den MDS bislang nicht bindend tisierung und Diskriminierung des Kindes, die auf ein nor- ist [53]. Die S3-Leitlinien lassen wesentlich größere Spiel- matives Zweigeschlechtermodell zurückgeht und Interge- räume für individuelle Behandlungsverläufe zu. Psychothe- schlechtlichkeit als Abweichung begreift. So wurde die rapie und „Alltagstest“ wurden als Indikationsvorausset- Geburt eines intergeschlechtlichen Kindes als psychosozia zungen für somatische Behandlungen fallen gelassen und ler Notfall für die Eltern eingestuft. Gesellschaftliche Erwar- Entscheidungen über Behandlungsmaßnahmen als „infor- tungen sowie normative Vorstellungen von Geschlecht sei- mierte Einwilligung“ konzipiert, sodass maßgeblich Bedarfe tens des ärztlichen Personals und auch der Eltern sind von transgeschlechtlichen Menschen mit berücksichtigt ebenso bedeutsam [57]. werden sollen. In den letzten Jahren empfehlen medizinische Leitlinien Das Thema Intergeschlechtlichkeit wird in einem Span- zunehmend Zurückhaltung bei geschlechtsverändernden nungsverhältnis zwischen Medikalisierung [54] und Entpa- Eingriffen bei intergeschlechtlichen Menschen. Auch der thologisierung diskutiert. So wird in der 2022 in Kraft treten- Deutsche Ethikrat mahnte 2012 in einer Stellungnahme den ICD-11 der WHO Intergeschlechtlichkeit als „Disorder“, zum Thema „Intersexualität“ eine umfassende Abwägung das heißt als „Störung“ klassifiziert und damit als grund- aller Vor- und Nachteile eines Eingriffs und seiner langfris- sätzlich behandlungsbedürftig angesehen. Aus menschen- tigen Folgen an [58]. In der Stellungnahme der Bundesärz- rechtlicher Sicht wird diese Klassifikation kritisiert, da sie tekammer von 2015 zur „Versorgung von Kindern, Jugend- von einer zweigeschlechtlichen Norm ausgeht und Abwei- lichen und Erwachsenen mit Varianten/Störungen der chungen als grundsätzlich behandlungsbedürftig patholo- Geschlechtsentwicklung (Disorders of Sex Development, gisiert [55]. Die Begrifflichkeit „Störung der Geschlechts- DSD)“ wird klargestellt, dass Eingriffe grundsätzlich nur entwicklung (DSD)“ wird dementsprechend abgelehnt und erfolgen sollen, um lebensbedrohliche Situationen oder stattdessen Intergeschlechtlichkeit als Variationen der schwerwiegende Gesundheitsgefährdungen abzuwenden Geschlechtsmerkmale beschrieben [56]. [20]. Schließlich empfiehlt die S2-Leitlinie „Varianten der Medizinisch nicht notwendige Eingriffe an interge- Geschlechtsentwicklung“ der Deutschen Gesellschaft für schlechtlichen Kindern gehen auf Forschungen der Urologie (DGU) e. V., der Deutschen Gesellschaft für Kin- 1950er-Jahre zur psychosexuellen Entwicklung zurück, die derchirurgie (DGKCH) e. V., der Deutschen Gesellschaft von einer sozialen Formbarkeit der geschlechtlichen Iden- für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED) e. V. tität ausgingen. Vermutet wurde, dass intergeschlecht von 2016 medikamentöse oder chirurgische Eingriffe an liche Kinder durch eine Erziehung als Mädchen oder Junge nichteinwilligungsfähigen Kindern nur in Ausnahmefällen eine entsprechende Identität ausbilden würden und dies vorzunehmen [59]. durch medizinische Eingriffe in einer frühen Lebensphase Das EU-Parlament hat 2019 eine Resolution verabschie- flankierend unterstützt werden könnte [54, 57]. Begründet det, die unter anderem die Unterlassung von medizinisch Journal of Health Monitoring 2020 5(S1) 11
Journal of Health Monitoring Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen FOCUS nicht notwendigen körperverändernden Operationen bei Kreuzung, Schnittpunkt) gefasst [63]. Wenn also im Fol- intergeschlechtlichen Menschen fordert [60]. In Deutsch- genden der Fokus auf dem Geschlecht (trans- und land liegt seit Anfang 2020 ein Referentenentwurf eines intergeschlechtliche Menschen) sowie der sexuellen Ori- Gesetzes zum Schutz von Kindern vor geschlechtsverän- entierung (lesbische, schwule und bisexuelle Menschen) dernden operativen Eingriffen vor [61]. Dieser sieht vor, liegt, so sollte beachtet werden, dass die Heterogenität dass geschlechtsangleichende medizinische Eingriffe an innerhalb der jeweiligen Gruppen mit den vorliegenden Kindern nur in unaufschiebbaren Fällen und zur Abwen- Daten kaum darstellbar ist. Die gesundheitliche Situation dung von Lebensgefahr zulässig sein sollen. ist nicht nur abhängig vom Geschlecht und der sexuellen Orientierung, sondern kann je nach weiteren Zugehörig- 5. Die gesundheitliche Lage von LSBTI-Personen keiten sehr unterschiedlich ausfallen. Die Themenauswahl der folgenden Ausführungen orien- 5.1 Lesbische Frauen tiert sich stark an der Verfügbarkeit von Befunden aus Deutschland sowie aus internationalen Studien. Auch wenn In einer Befragungsstudie zur gesundheitlichen Situation die internationalen Zahlen nicht direkt auf Deutschland von lesbischen Frauen in Deutschland von 2005 gaben 55 % übertragbar sind, so zeigen sie wichtige Zusammenhänge der Befragten an, ein sehr gutes bis gutes subjektives Wohl- auf und können Hinweise auf mögliche gesundheitliche befinden zu haben. Lediglich 1,1 % berichteten von einem Ungleichheiten geben. körperlichen und 1,7 % von einem psychisch schlechten Die im Folgenden dargestellten Gruppen sind in sich Wohlbefinden [6]. In einer schwedischen Studie wiesen les- heterogen. Geschlecht und sexuelle Orientierung (Infobox bische und bisexuelle Frauen in der Altersgruppe bis 45 Jah- Annex) wirken mit weiteren sozialen Differenzkategorien wie re einen schlechteren allgemeinen Gesundheitszustand auf Bildung, Einkommen, Migrationshintergrund/-geschichte als heterosexuelle Frauen [64]. Besondere Aspekte der oder Personen/People of color zusammen. Personen/Peo- gesundheitlichen Lage lesbischer Frauen sind bisher bezüg- ple of color ist eine Eigenbezeichnung von Menschen, die lich körperlicher Erkrankungen (Krebserkrankungen), der von Rassismus betroffen sind [62]. Die Differenzkategorien psychischen Gesundheit (Suizidalitat, psychische Erkran- werden dabei nicht als individuelle Eigenschaften, sondern kungen), des Substanzkonsums und der Gewaltbetroffen- als gesellschaftliche Machtverhältnisse begriffen, die mit heit beschrieben worden [6, 65]. Privilegierungen oder Benachteiligungen verbunden sind. Auf Basis der deutschen Krebsregisterdaten können keine Sie addieren sich nicht auf, sondern bringen in Kombination Aussagen zur Krebsmorbidität und -mortalität lesbischer spezifische Lebenslagen hervor, welche die gesundheitliche Frauen gemacht werden. Die Befunde aus den wenigen Lage beeinflussen. Dieses Zusammenwirken wird unter internationalen epidemiologischen Studien insbesondere dem Begriff der Intersektionalität (engl. intersection: aus den USA verweisen entweder auf eine erhöhte Inzidenz Journal of Health Monitoring 2020 5(S1) 12
Journal of Health Monitoring Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen FOCUS spezifisch für Brustkrebs bei nichtheterosexuellen Frauen 14,0 % (Odds Ratio 4,05; 95 %-Konfidenzintervall (KI) oder zeigen keinen Unterschied nach sexueller Orientie- 1,56 – 10,47) und eine Lebenszeitprävalenz von 25,6 % rung [66]. Eine Studie aus Dänemark ergab, dass bei les- (Odds Ratio 3,43; 95 %-KI 1,60 – 7,33) für riskanten Sub bischen Frauen in Partnerschaften die Wahrscheinlichkeit stanzkonsum beziehungsweise Substanzabhängigkeit im der Entwicklung einer Krebserkrankung nicht deutlich grö- Vergleich zu 2,9 %, respektive 7,1 % bei heterosexuellen ßer ist, als in der Gruppe der Frauen insgesamt. Auch spe- Frauen [74]. Eine weitere populationsbasierte Querschnitt- zifische Krebserkrankungen wie die Diagnose eines Zervix- studie aus den USA untersuchte die 12-Monats-Prävalenz karzinoms, von Brustkrebs oder Lungenkrebs entsprechen von Suchtmittelkonsum und -abhängigkeiten. Lesbische in etwa den erwarteten Neuerkrankungen in der Gruppe Frauen hatten im Vergleich zu heterosexuellen Frauen sig- der Frauen [67]. Demgegenüber weisen die Daten der däni- nifikant höhere Prävalenzen, sowohl beim Konsum von schen National Cohort Study für lesbische im Vergleich zu Marihuana (16,7 % vs. 2,6 %) und anderen Drogen (12,6 % heterosexuellen Frauen eine höhere Mortalität für Krebs vs. 3,1 %) als auch bei der Abhängigkeit von Alkohol (13,3 % aus (Hazard Ratio 1,62; 95 %-KI 1,28 – 2,05) [68]. vs. 2,5 %), von Marihuana (2,8 % vs. 0,2 %) und anderen Als Hintergrund der beschriebenen Morbiditäten wer- Drogen (5,7 % vs. 0,4 %) [75]. den verhaltensassoziierte Risikofaktoren diskutiert, insbe- Neben Risikofaktoren für die Gesundheit gibt es auch sondere im Gesundheitsverhalten (z. B. Rauchen, Alkohol- Hinweise auf gesundheitsförderliches Verhalten von lesbi- konsum [69–71], im reproduktiven Verhalten [72]) und in schen Frauen: So gaben in einer deutschen Studie von 2005 der Inanspruchnahme spezifischer Früherkennungsmaß- 77,6 % der Befragten an, regelmäßig Sport zu treiben, nahmen [70], wie auch bezüglich des Risikos sexuell über- 40,7 % berichteten, zwei Stunden oder mehr pro Woche tragbarer Infektionen [73], die in der Ätiologie von Krebser- sportlich aktiv zu sein [6]. krankungen eine Rolle spielen. Bisher werden sexuelle Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass lesbische Kontakte zwischen lesbischen Frauen selten im Zusam- Frauen ein hohes Suizidalitätsrisiko haben, was bisher menhang mit sexuell übertragbaren Erkrankungen wissen- wenig Beachtung in der Suizidprävention findet [68, 76]. schaftlich untersucht. Auch könnten die Ergebnisse auf Als wichtige Einflussfaktoren gelten hierbei Gewalt- und einen spezifischen Versorgungsbedarf im Bereich der Früh Diskriminierungserfahrungen, insbesondere auch mit sexu- erkennung hinweisen. alisierter Gewalt und Gewalterfahrungen in jüngerem Alter Hinsichtlich der psychischen Gesundheit ergab eine sys- [76, 77]. In einer der wenigen bevölkerungsbezogenen tematische Übersichtsarbeit europäischer Studien Hinweise Befragungen aus Schweden, die zwischen sexuellen Orien- auf eine erhöhte Prävalenz des riskanten Substanzmittel- tierungen differenzierte, waren bisexuelle und lesbische konsums beziehungsweise von Substanzabhängigkeit bei Frauen die am stärksten von Diskriminierung, Gewalt und lesbischen im Vergleich zu heterosexuellen Frauen [69]. Eine Gewaltandrohungen betroffene Gruppe [64]. Die Zugehö- eingeschlossene Studie fand eine 12-Monats-Prävalenz von rigkeit zu geschlechtlichen oder sexuellen Minderheiten Journal of Health Monitoring 2020 5(S1) 13
Journal of Health Monitoring Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen FOCUS kann aber auch gesundheitlich förderliche Effekte haben: HIV-Diagnose (3 %). In Deutschland wurden im Jahr 2018 Nach Informationen des US-amerikanischen MetLife-Sur- insgesamt 7.332 Syphilis-Fälle gemeldet [79], wobei auf veys aus dem Jahr 2006 gaben 38 % der Befragten an, dass MSM 85,0 % der Meldungen mit bekanntem Übertragungs- sie durch unterstützende soziale Netzwerke, über eine Stär- risiko entfallen. Darüber hinaus berichteten 19,2 % der kung der Resilienz und „Krisenkompetenz“ negative Erfah- EMIS-Teilnehmenden jemals mit Gonorrhö und 13,9 % mit rungen besser bewältigen können [8]. Chlamydien diagnostiziert worden zu sein [78]. Auch hier berichteten Männer mit HIV-Infektion häufiger von einer 5.2 Schwule Männer Diagnose. Männer, die Sex mit Männern haben, haben auch ein Die gesundheitliche Situation schwuler Männern ist bisher erhöhtes Risiko für HIV. Im Rahmen der EMIS-Studie hauptsächlich mit Fokus auf sexuell übertragbare Erkran- gaben 10% aller Teilnehmenden an, eine HIV-Diagnose kungen betrachtet worden. Dies liegt in höheren Prävalen- erhalten zu haben. In Deutschland nehmen die HIV-Neu- zen zum Beispiel für Infektionen mit HIV (Humanes diagnosen unter MSM seit 2014 ab [80]. Dennoch waren Immundefizienz-Virus) bei schwulen Männern im Vergleich im Jahr 2018 von den schätzungsweise 2.400 Personen, zu heterosexuellen Menschen oder lesbischen Frauen die sich mit HIV neu infiziert haben, 1.600 MSM. Wenn begründet, birgt jedoch die Gefahr der Reduktion schwu- MSM mit humanen Papillomaviren (HPV) und HIV infi- ler Lebensweisen auf sexuelle Verhaltensweisen. Über die ziert sind, kann aufgrund der Immunsuppression gleich- allgemeine gesundheitliche Lage schwuler Männer ist ver- zeitig ein erhöhtes Risiko für Anal- und Kolorektalkarzi- gleichsweise wenig bekannt. Daten liegen überwiegend zu nome bestehen [81, 82]. Es besteht die Hoffnung, dass mit Männern, die Sex mit Männern haben (MSM) vor. In die- Maßnahmen wie verbesserten Testangeboten, der frühen ser Gruppe werden schwule und bisexuelle Männer zusam- Behandlung HIV-Infizierter und der HIV-Präexpositions- mengefasst, aber auch Männer, die Sex mit Männern prophylaxe (PrEP) die Zahl der Neuinfektionen, und damit haben, ohne sich selbst als schwul oder bisexuell zu ver- auch der berichteten Komorbiditäten, in den nächsten Jah- stehen. ren weiter verringert werden kann. Bezüglich sexuell übertragbarer Erkrankungen weisen Schwulenfeindlichkeit und strafrechtliche Verfolgung MSM im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ein erhöhtes (in den alten Bundesländern bis 1994) können Auswirkun- Risiko auf. Im Rahmen des Europäischen MSM Internet gen auf die psychische Gesundheit, das Gesundheitsver- Survey (EMIS) von 2017 berichteten etwa 14,2 % der Teil- halten und die körperliche Gesundheit haben. Verschiedene nehmenden, jemals eine Syphilis-Diagnose erhalten zu internationale Metaanalysen und systematische Reviews haben [78]. Das Risiko war innerhalb der MSM ungleich zeigen, dass schwule und bisexuelle Männer beziehungs- verteilt: MSM mit diagnostizierter HIV-Infektion gaben weise MSM im Vergleich zu heterosexuellen Männern häu- häufiger eine Syphilis-Diagnose an (15 %) als MSM ohne figer durch Angststörungen, Depressionen, Alkohol- und Journal of Health Monitoring 2020 5(S1) 14
Journal of Health Monitoring Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen FOCUS Drogenabhängigkeit sowie Suizidalität belastet sind [33, 83, 5.3 Bisexuelle Menschen 84]. Laut einer internationalen Metaanalyse von 2017 liegt zum Beispiel die Lebenszeitprävalenz für Suizidgedanken Die Lebens- und Gesundheitssituation von bisexuellen für MSM bei 35,0 % (Range zwischen den Ländern 13,2 % Menschen wird selten in den Blick genommen, weil sie bis 55,8 %) [85]. Psychische Belastungen und Suizidalität meist unter die Gruppen der lesbischen oder schwulen können zudem auch mit einer HIV-Infektion einhergehen. Menschen subsummiert wird. Die wenigen vorliegenden Ein positiver HIV-Status führte in den vorliegenden Unter- Befunde zu bisexuellen Menschen beziehen sich fast aus- suchungen zu einem signifikant erhöhten Risiko für suizi- schließlich auf Frauen und Männer. Weitere geschlechtliche dale Gedanken [85]. Auch tatsächliche Suizidversuche sind Verortungen wie beispielsweise nichtbinär oder queer wer- bei schwulen und bisexuellen Männern häufiger als bei den nur sehr selten berücksichtigt. heterosexuellen Menschen (Relatives Risiko 4,28; 95%-KI Bei bisexuellen Frauen gibt es weniger Hinweise auf 2,32 – 7,88) [84]. sexuell übertragbare Infektionen als bei bisexuellen Män- Psychische Erkrankungen und Stress können sich auch nern. Allerdings wird die Häufigkeit solcher Infektionen in negativ auf das Gesundheitsverhalten auswirken. Eine dieser Gruppe selten thematisiert. Bei Frauen, die Sex mit populationsbasierte Querschnittstudie aus den USA unter- Frauen haben, gibt es Hinweise auf häufigere bakterielle suchte die 12-Monats-Prävalenz von Suchtmittelkonsum Vaginosen [87]. Bezogen auf bisexuelle Männer zeigte ein und -abhängigkeit. Danach hatten schwule Männer zwar US-amerikanischer Survey, dass bisexuelle Männer häufi- eine leicht erhöhte Prävalenz für starken Alkoholkonsum ger HIV-positiv (7,7 %) sind als heterosexuelle Männer (18,1 % vs. 13,7 %), dieser war jedoch nicht statistisch sig- (0,3 %), aber seltener als schwule Männer (17,4 %) [88]. nifikant [75, 86]. Deutlicher fielen die Unterschiede jedoch Bezüglich weiterer sexuell übertragbarer Erkrankungen bei der Alkoholabhängigkeit (16,8 % vs. 6,1%) und bei Kon- ergaben sich keine Unterschiede zwischen Männern mit sum und Abhängigkeit von illegalen Drogen aus [75]. Als schwuler oder bisexueller Identität [89]. mögliche Gründe werden auch Strategien zur Bewältigung Eine populationsbasierte Querschnittstudie aus den USA von Stress aufgrund von Ausgrenzungs- und Diskriminie- untersuchte die 12-Monats-Prävalenzen von Suchtmittel- rungserfahrungen im Zusammenhang mit ihrer sexuellen konsum und -abhängigkeiten von Frauen und Männern. Orientierung genannt [33, 83]. Die zunehmende gesell- Bisexuelle Frauen neigten im Vergleich zu heterosexuellen schaftliche und rechtliche Anerkennung schwuler Lebens- Frauen häufiger zu starkem Alkoholkonsum (25,0 % vs. weisen stellt eine positive Entwicklung dar, von der eine 8,4 %) sowie zu höheren Prävalenzen für den Konsum von Angleichung der gesundheitlichen Lage schwuler Männer Marihuana (22,2 % vs. 2,6 %), anderen Drogen (14,1 % vs. an die heterosexueller Menschen nicht zuletzt in den Berei- 3,1 %) sowie zu Alkoholabhängigkeit (15,6 % vs. 2,5 %) [75]. chen der seelischen Gesundheit und des gesundheitsbe- Weiterhin neigten bisexuelle Menschen, besonders Frauen, zogenen Risikoverhaltens zu erwarten ist. im Vergleich zu heterosexuellen sowie lesbischen und Journal of Health Monitoring 2020 5(S1) 15
Journal of Health Monitoring Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans- und intergeschlechtlichen Menschen FOCUS schwulen Menschen zu einem deutlich höheren Tabakkon- medizinische Orientierung an einer zweigeschlechtlichen sum [90]. Bisexuelle Männer wiesen im Vergleich zu hetero- Norm die gesundheitliche Situation von transgeschlecht- sexuellen Männern nur eine geringfügig erhöhte Prävalenz lichen Menschen [94]. Diskriminierungserfahrungen im beim starken Alkoholkonsum auf (16,4 % vs. 13,7 %). alltäglichen Leben und Barrieren auf dem Weg zur Erhöhte Prävalenzen bei bisexuellen Männern wurden aller- Geschlechtsangleichung und in der gesundheitlichen Ver- dings für Alkoholabhängigkeit (19,5 % vs. 6,1 %), den Kon- sorgung im Allgemeinen (Kapitel 4.3) werden von vielen sum von Marihuana (13,2 % vs. 6,2 %) und weiteren Dro- transgeschlechtlichen Menschen als belastend beschrie- gen (17,7 % vs. 4,5 %) und der Abhängigkeit von diesen ben und können zu Stress und einer schlechteren psychi- (5,1 % vs. 0,5 %) berichtet [75]. schen Gesundheit führen. Sowohl in der Gesellschaft als auch in lesbischen, Vor diesem Hintergrund weisen internationale Studien schwulen und queeren Communities (Infobox Annex) sind hohe Prävalenzen für depressive Erkrankungen von trans- bisexuelle Menschen nicht immer selbstverständlich geschlechtlichen Menschen auf [4, 95]. Ergebnisse aus Neu- akzeptiert und werden entweder in ihrer sexuellen Orien- seeland zeigen, dass junge transgeschlechtliche Menschen tierung nicht ernst genommen oder sind mit Vorurteilen eine fast fünffach höhere 12-Monats-Prävalenz eines Sui- konfrontiert [91]. Wie lesbische und schwule Menschen zidversuchs aufweisen als Personen, die in dem Geschlecht haben bisexuelle Menschen ein höheres Risiko für Sui- leben, dass ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde (weib- zidgedanken und Suizidversuche als heterosexuelle Per- lich/männlich) [96]. Ein Review internationaler Forschungs- sonen [92]. Zudem zeigte ein Review, dass bisexuelle Men- literatur von 2016 stellte hohe Raten von nichtsuizidalem, schen aber auch generell Menschen, die ihre sexuelle selbstverletzendem Verhalten für transgeschlechtliche Per- Orientierung hinterfragen („questioning“), im Vergleich sonen fest (17 % – 42 %). Insbesondere für transgeschlecht- mit lesbischen und schwulen Menschen häufiger zu liche Menschen, die sich nicht binär als weiblich oder selbstverletzendem Verhalten neigen [93]. Eine verstärkte männlich verstehen (z. B. questioning, nichtbinär, agender; Sichtbarkeit und gesellschaftliche Anerkennung könnte Infobox Annex), wird ein hohes Risiko beschrieben [93]. insbesondere für die psychische Gesundheit bisexueller Diese Zahlen weisen auf einen dringenden Bedarf Menschen förderlich sein. gesellschaftlicher Aufklärung bezüglich transgeschlecht licher Menschen hin, um Diskriminierungen abzubauen 5.4 Transgeschlechtliche Menschen und so die Selbstakzeptanz und psychische Gesundheit von transgeschlechtlichen Menschen zu fördern. Durch das Engagement transgeschlechtlicher Menschen Zur sexuellen Gesundheit von transgeschlechtlichen sind in den vergangenen Jahren vermehrt Schritte zu einer Menschen liegen für Deutschland derzeit kaum Daten vor. medizinischen Anerkennung zu verzeichnen (Kapitel 4.3). Internationale Studien zeigen, dass unter transgeschlecht- Dennoch prägen weiterhin die gesellschaftliche und lichen Personen die Prävalenz von HIV höher ist als in der Journal of Health Monitoring 2020 5(S1) 16
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