Queer (de)konstruieren - Universität Hildesheim

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Stiftung Universität Hildesheim
Fachbereich 2: Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation
Institut für Philosophie
Bachelorarbeit im Studiengang Philosophie - Künste - Medien

Erstprüferin: Prof. Dr. Katrin Wille
Zweitprüferin: MA. Antje Géra

                                   Queer (de)konstruieren
               Zwischen politischer Progressivität und Instrumentalisierung

                                                                          Alica Bonauer
Inhaltsverzeichnis

Vorwort……………………………………………………………………………………………...2

1 Einleitung………………………………………………………………………………………….3

2 Geschichte des Ausdrucks Queer……………………………………………………………….………..6

   2.1 Der Ursprung von queer……………………………………………………………………...7
   2.2 Queer als Substantiv und „Umbrella Term“……………………………………………….…9
   2.3 Queere Bündnispolitik und Funktionswandel………………………………………………10

3 Queer und Intersektionalität? – Ansätze von politischer Progressivität…………………….15

 3.1 Was ist Intersektionalität?.........................................................................................................15
 3.2 Geschlecht und Sexualität – Dimensionen struktureller Unterdrückung bei Gayle Rubin…...17
 3.3 Queer und Intersektionalität – Synergie oder Entpolitisierung?...............................................22

4 Ebenen von Instrumentalisierung ……………………………………………………………...24

  4.1 Begriffliche Instrumentalisierung…………………………………………………………….25
  4.2 Kapitalistische Instrumentalisierung – Allyschaften und Unternehmen …………………….27
  4.3 Globale Instrumentalisierung – der Homonationalismus und das Überlegenheitsgefühl
      des Westens gegenüber dem Globalen Süden……………………………………………….32

5 Fazit ……………………………………………………………………………………………...36

Literaturverzeichnis……………………………………………………………………………….38
Vorwort

Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das erste Mal in meinem Leben das Wort queer gehört
habe. Ich weiß nicht mehr, welche Assoziationen ich dazu hatte oder welche Haltung das Wort in mir
hervorgerufen hat. Höchstwahrscheinlich war ich 15 oder 16 Jahre alt. Vielleicht ist mir das Wort
einmal auf dem ein oder anderen Flyer begegnet, als ich bei einem Besuch in München durch das
Glockenbachviertel gelaufen bin. Oder ich bin in etwa in dem gleichen Alter im Internet über diesen
Ausdruck gestolpert. Vermutlich dachte ich an lesbische oder schwule Orte, an Initiativen und Treff-
punkte, die Jugendlichen dabei helfen, die eigene Sexualität zu akzeptieren oder an Partys, Regenbo-
genfahnen und Gleichstellungspolitik. Geschlecht ist mir zu diesem Zeitpunkt vermutlich noch nicht
in den Sinn gekommen. Erst seit meinem Studienbeginn haben sich die Dimensionen um queer ver-
dichtet, sie haben sich aneinandergereiht und jegliche Fragen in meinem Kopf aufgeworfen. Politi-
sche Diskussionen um queer wurden lauter und sichtbarer. Fragen danach, wer in der Community
Anerkennung erlangt und wer weiterhin unterdrückt bleibt, wurden präsenter. Nach und nach ist mir
immer bewusster geworden, welche Komplexität hinter diesem Ausdruck steckt. Gleichzeitig lernte
ich Menschen kennen, die sich selbst als queer bezeichnen. Ich beobachtete mich dabei, wie ein Wort,
zu dem ich früher keine Haltung hatte, oder an die ich mich zumindest nicht mehr erinnern kann, jetzt
bei Selbstbezeichnungen oder als scheinbare Verzierung von Konsumprodukten, schnell Unbehagen
in mir auslöst. Mir schießen Fragen in den Kopf, ob queer als Identität überhaupt funktioniert, oder,
ob diese Verwendung von queer nicht einen Widerspruch in sich darstellt? Fragen danach, ob es mir
überhaupt zusteht, das zu beurteilen.
     Als mich dann im November 2019 die Redaktion des .divers Magazin fragte, ob ich an deren
Glossar mitwirken möchte und unter anderem den Ausdruck queer übernehmen sollte, sah ich mich
vor einer großen Herausforderung, die ich jedoch nicht abwinken wollte. Ich setzte mich tagelang an
eine Recherche für einen Beitrag, der nicht länger als 125 Zeichen sein durfte. Aber genau darin sah
ich die Herausforderung. Wie werde ich mit einer so geringen Zeichenzahl einem Wort gerecht, wel-
ches eine derartig vielschichtige Bedeutung und Entstehungsgeschichte hat?
     Die Recherche zog mich in den Bann und die Antworten auf die Fragen um queer wurden
immer unerlässlicher. Deshalb war es mir ein Anliegen, den Rahmen meiner Bachelorarbeit diesem
Ausdruck zu widmen, zu versuchen, dessen Dimensionen zu begreifen, um nicht nur meine eigenen
inneren Konflikte besser zu verstehen, sondern auch dessen politische Dimensionen.

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1 Einleitung
Was bedeutet es heutzutage, wenn eine Veranstaltung oder eine Party als queer1 bezeichnet wird?
Oder sich selbst als queer benennt? Und welche Rolle spielt hierbei die der Intersektionalität? Wenn
sich queer ursprünglich daraus entwickelt hat, sich gegen eine elitäre, weiß2 dominierte Schwulen-
und Lesbenbewegung abzugrenzen, wie kann es dann dazu geführt haben, dass der Ausdruck mitt-
lerweile etliche konsumorientierte Projekte wie Zeitschriften, Veranstaltungen oder Unternehmen
ziert? Oder, dass Marketing- oder Modeunternehmen jährlich zum Pride Month ihre Pride Kollekti-
onen herausgeben, um ihre (scheinbaren) Allyschaften3 zu zeigen? Ist queer lediglich zu einem west-
lichen Aushängeschild für vermeintliche Solidarität und Akzeptanz geworden oder ist der gesell-
schaftliche Wandel Zeichen einer Befreiung jahrelanger Unterdrückungsmechanismen?
       Der heute schon fast inflationär verwendete Ausdruck queer hat eine radikale Umdeutung er-
lebt. Eine allgemeingültige Definition des Ausdrucks gibt es nicht, da das Konzept, das dahinter
steckt sich weigert, eine feste Form anzunehmen und konstant im Wandel ist. Trotzdem wird queer
heute häufig als Zuschreibung und Kategorie für alles Traditions- und Normabweichende in Bezug
auf Geschlecht und Sexualität verwendet. Forscht man nach den Übersetzungen des englischen Wor-
tes, trifft man auf verschiedene Antworten. Das Verständnis von dem Substantiv Queer als politischer
Sammelbegriff, der alles Traditions- und Normabweichende bezüglich Sexualität und Geschlecht
meint, ist am geläufigsten. Im Englischen heißt das dann „Umbrella Term“, und soll alles miteinbe-
ziehen, was nicht ausschließlich heterosexuell ist oder von einer Einteilung der Geschlechter in Mann
und Frau ausgeht. Queer ist jedoch in seiner Bedeutung und mit dessen Hintergrund viel komplexer.4
Der Gebrauch des Wortes stammt ursprünglich auch aus dem englischsprachigen Raum. Er wurde
und wird teilweise nach wie vor ähnlich wie das Schimpfwort „Faggot“ (dt.: Schwuchtel) abwertend

1
  Der Ausdruck Queer bzw. queer wird in dieser Arbeit in den unterschiedlichen Wortarten Substantiv, Adjektiv und Verb
verwendet. Insofern der Ausdruck klein geschrieben ist, meint dieser entweder eine Praxis und wird in der Funktion als
Verb verwendet. (Bsp.: etwas queeren bedeutet etwas durcheinanderbringen, aufheben oder heterosexuelle bzw. ge-
schlechtliche Normen infrage stellen oder diesen nicht entsprechen), oder er meint im Sinne eines Adjektivs eine be-
stimmte Beschaffenheit (Bsp.: eine queere Beziehung führen) oder Zugehörigkeit bzw. Abgrenzung zu oder von unter-
schiedlichen Gruppen (Bsp.: die queere Community). Als Substantiv ist der Ausdruck überwiegend als „Umbrella Term“,
also als Sammelbegriff, für jegliche geschlechtliche oder sexuelle Minderheiten geläufig. Bei diesen Verwendungen des
Ausdrucks handelt es sich jedoch lediglich um eine Orientierungshilfe und soll den Ausdruck nicht in der hier formulier-
ten Bedeutung festschreiben.
2
  weiß: „Kursiv und klein geschrieben, um die Konstruktion des Begriffes hervorzuheben. Es handelt sich um keine Haut-
farbe, sondern um Privilegien, die mit der Hauptfarbe einher gehen.“
 Missy Magazine: Sprache In: Missy Magazine. Online verfügbar unter: https://missy-magazine.de/sprache/, Abrufda-
tum: 13.08.2020
3
  Allyschaft (eng. Allyship): “Allyship is the continuous process in which someone with privilege and power seeks to
first learn about the experiences of a marginalized group of people, and then ultimately empathize with their challenges
and build relationships with that group of people.”
Forsey, Caroline: What Does Allyship Mean? In: blog.hubspot. Online verfügbar unter: https://blog.hubspot.com/marke-
ting/allyship. Abrufdatum: 20.08.20.
4
  Vgl. Divers: Glossar. In: diversmagazin. Online verfügbar unter: https://diversmagazin.de/glossar/. Abrufdatum:
25.08.20.
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verwendet.5 Gleichzeitig haben sich jedoch in den späten 1980er Jahren LGBTQIA+6 Gruppen den
Ausdruck queer mit Stolz angeeignet, positiv umgedeutet und als kämpferische Selbstbezeichnung
verwendet. Insbesondere radikale Aktivist*innen und gesellschaftliche Außenseiter*innen aus den
USA, die sich in der weiß dominierten Schwulen und Lesben Community nicht mehr repräsentiert
gefühlt haben, erhofften sich mit der Selbstermächtigung durch die queere Bündnispolitik einen po-
litischen Gegenentwurf, der sich herrschaftskritisch und kämpferisch gegen Normen, Festschreibun-
gen und ausgrenzende Systeme auflehnt.7 Um einen umfassenden Blick auf derzeitige Diskurse um
queer werfen zu können, ist es notwendig zu betrachten, woher die Motivationen der sich auflehnen-
den Aktivist*innen genau stammen und inwiefern diese heute nach wie vor als aktuell gelten. Identi-
tätskritik ist hierbei ein wichtiges Stichwort: queer versucht sich kritisch von der Identitätspolitik
abzusetzen und spricht sich für die Aufhebung einer festgelegten, klaren und natürlichen Identität
aus. Das heißt unter anderem, dass er sich dagegen wehrt, Menschen auf Merkmale wie Frau, Mann,
People of Color8 und weiß zu reduzieren. Er setzt sich für Mehrdeutigkeit ein und bringt Kategorien
durcheinander, auf denen geschlechtliche und sexuelle Normen aufbauen.9 Doch funktioniert dieser
dekonstruktivistische Ansatz auch in Zeiten, in denen queer zu kapitalistischen Zwecken vermarktet
wird, um daraus Profit zu schlagen? Oder in denen sich beispielsweise Unternehmen oder Kulturin-
stitutionen als queer oder queerfriendly im Sinne eines erfüllten Diversitätskriteriums behaupten und
dabei jedoch „Dimensionen struktureller und normativer Gewalt, sowie das zwangsläufige eigene
Verstricktsein in Macht- und Herrschaftsverhältnisse außen vor lassen“?10

5
   Vgl. Divers: Glossar. In: diversmagazin. Online verfügbar unter: https://diversmagazin.de/glossar/. Abrufdatum:
13.08.20.
6
  LGBTQIA+: Das Akronym ist die internationale Abkürzung für lesbisch, schwul (eng. gay), bisexuell, transgeschlecht-
lich, queer, intergeschlechtlich und asexuell. LGBTQIA+ Personen machen unterschiedliche Diskriminierungserfahrun-
gen. Sie werden jedoch oft zusammen genannt, weil alle diese Lebensweisen der gesellschaftlichen Norm widersprechen,
nach der es nur zwei Geschlechter gibt, die sich jeweils gegenseitig begehren. Es gibt verschiedene Varianten des Akro-
nyms, die jeweils unterschiedliche sexuelle oder geschlechtliche Minderheiten explizit benennen. In dieser Arbeit wird
das Akronym in der Variante „LGBTQIA+“ verwendet, wobei das Plus-Zeichen dafür steht, dass das Akronym um zahl-
reiche Minderheiten ergänzt werden könnte, die genauso Teil der Community sind.
Vgl. erklär mir mal… : Queer & LGBTIA*. In: Instagram. Veröffentlicht am 04.07.2020. Online verfügbar unter:
https://www.instagram.com/p/CCNvxrrHNsm/. Abrufdatum: 20.08.20.
7
  Vgl. Degele, Nina. Gender, Queer Studies: eine Einführung. UTB Basiswissen Soziologie 2986. Paderborn: Fink, 2008,
S.43.
8
  People of Color: „Der Begriff People of Color (im Singular Person of Color) ist eine Selbstbezeichnung von Menschen,
die Rassismus erfahren“.
Diversity Arts Culture: PoC/ Person of Color. In: diversity-arts-culture. Online verfügbar unter: https://www.diversity-
arts-culture.berlin/woerterbuch/poc-person-color. Abrufdatum: 30.06.20.
9
   Vgl. Divers: Glossar. In: diversmagazin. Online verfügbar unter: https://diversmagazin.de/glossar/. Abrufdatum:
13.08.20.
10
   Kulturpolitischer Bundeskongress. Thema: Welt. Kultur. Politik: Kulturpolitik in Zeiten der Globalisierung: Kultur-
statistik, Chronik, Literatur. Herausgegeben von Ulrike Blumenreich, Sabine Dengel, Wolfgang Hippe, und Norbert Sie-
vers. 1. Auflage. Jahrbuch für Kulturpolitik, Band 16. Bielefeld: Transcript, 2018. S.145.
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Im Mittelpunkt des Gedankens, der hinter queer steckt, steht das Praktizieren von intersektionaler
Solidarität von einer weißen, heterosexuellen, cis11 Mehrheitsgesellschaft zu allen unter Queer ver-
sammelten marginalisierten Gruppen und unter der queeren Community selbst, jenseits von
(Selbst)Kategorisierungen. Doch auf welchen Ebenen kann dies stattfinden? Wo liegen, nicht nur in
der westlichen vom Neoliberalismus geprägten Gesellschaft, die Potentiale politischer Progressivität?
Und wo findet, auch in globalen Kontexten, die Grenzziehung zur Instrumentalisierung statt?
       Diese Arbeit soll durch eine begriffsanalytische und dekonstruktivistische Herangehensweise
Fragen nachgehen, was queer bedeutet, welche historischen und philosophischen Hintergründe die-
sem Ausdruck innewohnen und dieselben Fragen an den von Kimberlé Crenshaw geprägten Begriff
der Intersektionalität stellen, um anschließend aufzuzeigen wo sich die Diskurse kreuzen. Fest steht:
       Während beide Ansätze über die kritische Analyse multipler und konfligierender Kate-
       gorisierungsprozesse zusammen finden (sollten), werden sie immer wieder durch eine
       doppelte Leerstelle getrennt: erstens der relativen Abwesenheit von Sexualität in der The-
       oretisierung von Intersektionalität in den Gender Studies und zweitens einem langen
       Schweigen zu Intersektionalität in einer eher weißen Genealogie der Queer Theory.12

Im Folgenden werden also Hintergründe für die doppelte Leerstelle erforscht und durch eine diskurs-
kritische Betrachtung ergänzt, um so herauszufinden, wie es zu einer Instrumentalisierung von queer
kommen konnte und weshalb bzw. inwiefern sowohl die Konzeption von queer als auch die von
Intersektionalität einem whitening13 Prozess unterzogen wird.
       In einem weiteren Arbeitsschritt sollen Potentiale von politischer Progressivität und die stän-
dige Verflechtung mit dessen Instrumentalisierungsebenen aufgezeigt werden. Es sollen sowohl dis-
kursprägende Perspektiven aus dem dominierenden anglo-amerikanischen Queer-Diskurs mit einbe-
zogen und hinterfragt werden, wie beispielsweise die von Annamarie Jagose, Gayle Rubin und Jasbir
Puar, als auch Perspektiven von diskursprägenden, deutschsprachigen Queer-Theoretiker*innen wie
Nina Degele, Heinz Jürgen Voß, Salih Alexander Wolter und Antke Engel.

11
   cis: Das Wort cis kommt aus dem Lateinischen und bedeutet diesseits von etwas. In Bezug auf Geschlecht bedeutet cis,
dass sich eine Person diesseits von der Geschlechtszuordnung bei ihrer Geburt befindet.
Vgl. Divers: Glossar In: diversmagazin. Online verfügbar unter: https://diversmagazin.de/glossar/. Abrufdatum:
02.07.20.
12
   Dietze, Gabriele und Haschemi Yekani, Elahe und Michaelis, Beatrice: Queer und Intersektionalität. In: Portal Inter-
sektionalität. Online verfügbar unter: http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/ueberblickstexte/dietzehaschemi-
michaelis/. S.1. Abrufdatum: 15.07.2020.
13
   Whitening: Bsp.: “‘Whitening intersectionality’ does not refer to the race of intersectionality practitioners, but to the
ways of doing intersectionality that rearticulate it around Eurocentric epistemologies. One does not need to be white to
whiten intersectionality, as non-white and colonial immigrant scholars who are ideologically co-opted by dominant epis-
temologies also contribute to reproducing hegemonic knowledge.”
Bilge, Sirma. Whitening Intersectionality: Evanescence of Race in Intersectionality Scholarship. Online verfügbar unter:
https://www.academia.edu/11805835/Whitening_Intersectionality_Evanescence_of_Race_in_Intersectionality_Scholar-
ship. November 2014. S.16. Abrufdatum: 13.08.2020.
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Gerade weil der hochverzweigte Sexualitätendiskurs ein stark westlich geprägter Diskurs zu
sein scheint, ist es besonders wichtig, queer zudem in eine globale Perspektive zu setzen. Wegwei-
send hierbei ist ein intersektionales Verständnis, wie es die international viel diskutierten Schwar-
zen14 Frauen und queeren Migrant*innen Kimberly Crenshaw, Angela Davis oder Nikita Dhawan
erarbeitet haben. Hierbei soll nicht nur betrachtet werden, welche Rolle queer im intersektionalen
Kontext spielt, sondern auch inwiefern der Ausdruck im Westen und in seiner Abgrenzung zum Glo-
balen Süden unterschiedliche Formen von Instrumentalisierung erfährt.
      Während der Westen nach wie vor von Stigmatisierung und Diskriminierung gegenüber Men-
schen, die keiner heterosexuellen Norm oder der binären Geschlechterordnung entsprechen, be-
herrscht wird, grenzt er sich dennoch gegenüber dem Globalen Süden als aufgeklärt und sexuell be-
freit ab. Dies spielt dem Überlegenheitsgefühl des Westens in die Hände und stellt eine globale Ebene
der Instrumentalisierung der queeren Community dar.
      Während insbesondere die begriffliche, die kapitalistische und die homonationalistische Instru-
mentalisierung von queer Hauptuntersuchungsgegenstand dieser Arbeit sind, werden zusätzlich we-
sentliche Begriffe der Queer Theory vorgestellt und erläutert, anhand welcher wichtige Machtstruk-
turen und die damit einhergehenden Diskriminierungsformen erklärt werden können. Um jedoch das
kritische Potential der Überschneidungen der Diskurse um queer und um Intersektionalität ausfindig
zu machen sowie die verschiedenen Verflechtungen von politischer Progressivität und Ebenen der
Instrumentalisierung zu untersuchen und hierbei queer-theoretische Schlüsselbegriffe vorzustellen,
ist es wichtig, in einem früheren Schritt einen historischen Abriss und eine Kontextualisierung von
queer darzulegen, um die Konstruktionen dieses Ausdrucks zu verdeutlichen und diesen anschließend
wieder zu dekonstruieren.

2 Geschichte des Ausdrucks Queer
Im Folgenden werden die historischen Hintergründe, die ersten kulturellen Überlieferungen bzw.
Verwendungen und die politischen Ursprünge des Ausdrucks queer erläutert. Hierbei wird queer zu-
nächst im Kontext der diskursdominierenden anglo-amerikanischen und deutschsprachigen Überlie-
ferungen anhand der bereits erwähnten international einflussreichsten Theoretiker*innen ins Augen-

14
  Schwarz: "Der Begriff Schwarz wird oft als Selbstbezeichnung von Menschen afrikanischer und afro-diasporischer
Herkunft, schwarzen Menschen, Menschen dunkler Hautfarbe und people of colo(u)r gewählt. Das großgeschriebene „S“
wird bewusst gesetzt, um eine sozio-politische Positionierung in einer mehrheitlich weiß dominierten Gesellschaftsord-
nung zu markieren und gilt als Symbol einer emanzipatorischen Widerständigkeitspraktik“
Diversity Arts Culture: Schwarz. In: diversity-arts-culture. Online verfügbar unter: https://www.diversity-arts-cul-
ture.berlin/en/node/75. Abrufdatum: 23.08.2020.
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merk genommen, um daran anschließend ein Tableau an Begrifflichkeiten gesellschaftlicher Unter-
drückungsmechanismen einzuführen, die für die nachfolgende Diskussion über Ebenen politischer
Progressivität und Instrumentalisierung von queer, auch im globalen Kontexten, fundamental sind.
       Des Weiteren sind Bildungsinitiativen von (post)migrantischen und queeren Interessensorga-
nisationen wie „erklär mir mal…“ wichtiger Bezugspunkt dieser Erläuterungen, um die historischen
Hintergründe des Ausdrucks in einer intersektionalen und (post)migrantischen Perspektive zu be-
trachten. Obwohl diese Initiativen kein überwiegend wissenschaftliches Interesse in ihrer Arbeit mar-
kieren, ist es trotzdem insbesondere deshalb wichtig, sich auf Formate wie diese zu beziehen, weil
der deutschsprachige sowie der anglo-amerikanische Raum erhebliche (post)migrantische diskursive
Leerstellen um queer aufweist und diese Positionen explizit unsichtbar macht.
       Hierbei maßt sich diese Arbeit allerdings nicht an, queer in Bezug zu allen globalen kulturellen
Dimensionen zu setzen, sondern versucht lediglich einen kritischen Blick auf ein westlich geprägtes
Verständnis von queer, das sich in einer scheinbar direkten und beabsichtigten Abgrenzung zum Glo-
balen Süden entwickelt hat, zu erweitern, herauszuarbeiten und mitzudenken.

2.1 Der Ursprung von Queer
Queer hatte und hat zu verschiedenen Zeiten an diversen Orten unterschiedliche Bedeutungen. Be-
sonders prägend für die Überlieferung und die Aufnahme in den allgemeinen Sprachgebrauch scheint
hier allerdings der anglo-amerikanische Raum gewesen zu sein. Erste Überlieferungen des Ausdrucks
queer lassen sich bereits in Sprichwörtern und metaphorischen Wendungen des 16. Jahrhunderts aus-
findig machen. Während queer zu diesem Zeitpunkt überwiegend als Synonym für „merkwürdig“,
„sonderbar“, „fragwürdig“ oder „pervers“ gilt, spiegelt sich der Ausdruck in Redensarten, wie jene
des Sozialreformers und Mitbegründers der Kooperativenbewegung Robert Owen, wider. Seine Aus-
sage „All the world is queer save thee and me, and even thou art a little queer“ erlangt im 19. Jahr-
hundert Popularität und gilt neben Verwendungen des Ausdrucks in Geschichten über Sherlock Hol-
mes und Arthur Conan Doyle als erste kulturelle Überlieferung.15 Zu diesem Zeitpunkt kann queer
überwiegend bedeutungsgleich mit dem englischen Wort „odd“ (dt.: merkwürdig) gelesen werden.
Laut dem Historiker George Chauncey wird der Ausdruck queer erstmalig für gleichgeschlechtliches
Begehren in den New Yorker Subkulturen vor dem zweiten Weltkrieg verwendet.16 Interessant hier-
bei ist, dass die Bezeichnung queer dem Ausdruck gay vorausgeht. Queer dient zwischen 1910 und
1930 als Selbstbezeichnung überwiegend für sich mit Männlichkeit identifizierende Personen, die

15
   Vgl. Barker, Meg-John, und Scheele, Julia. Queer: eine illustrierte Geschichte. Übersetzt von Jennifer Sophia Theodor.
1. Auflage. Münster: Unrast, 2018, S.12.
16
   Vgl. Jagose, Annamarie, und Genschel, Corinna. Queer theory: eine Einführung. 3. Auflage November 2017. Berlin:
Querverlag, 2017, S.97.
                                                           7
sich auf Grund ihrer gleichgeschlechtlichen Begehrensstruktur und nicht wegen ihrer Geschlechtsi-
dentität als queer bezeichnen. Allerdings wird queer in den 1930er Jahren von gay verdrängt. Gay
erringt die Vormachtstellung während des zweiten Weltkrieges.17
       Eine erstmalige Verwendung des Ausdrucks queer als homosexuellen-feindliche Beschimp-
fung ist in einem Brief aus dem Jahr 1894 von John Sholto Douglas, dem Marquis von Queensberry,
dokumentiert. Dieser wirft Oscar Wilde darin vor, eine Affäre mit Douglas‘ Sohn zu haben.18 Der
Gebrauch des Wortes, um Dinge allgemein abzuwerten, hält sich hartnäckig. Es dient als Herabwür-
digung und Diffamierung gleichgeschlechtlich begehrender Menschen und meint insbesondere „wei-
bische“, „affektierte“, „tuntige“ Männer.19 Laut der Encyclopedia of Homosexuality ist queer im Nor-
den Amerikas des 20. Jahrhunderts das am weitesten verbreitete, alltagssprachliche Schimpfwort, um
nicht nur gleichgeschlechtlich begehrende Menschen abzuwerten.20 Allerdings eignet sich die queere
Community im Sinne einer aktivistischen Strategie den Ausdruck um 1980 mit Stolz wieder an, um
sich gegen diese Form von Queerfeindlichkeit zu wehren. Dies geschieht insbesondere durch mehr-
fach marginalisierte Queers, die sich in der kommerziell gewordenen, lifestyle-orientierten und elitä-
ren Schwulenkultur einerseits und in separatistischen Feministinnen andererseits, nicht mehr reprä-
sentiert fühlen.21 Schnell avanciert das Wort jedoch in die englischsprachige Mainstream-Kultur und
wird abermals insbesondere in kommerziellen Formaten von und für schwule, weiße, cis männliche
Personen übernommen. Queer scheint entgegen der ursprünglichen Bündnispolitik immer mehr zu
einem westlichen, weißen und von Männlichkeit geprägten Konzept, sowohl außerhalb der queeren
Community als auch innerhalb dieser, instrumentalisiert zu werden.
       Fest steht allerdings, dass der Ausdruck queer mittlerweile einen politischen Horizont erreicht
hat, der sich nicht mit einer einfachen Übersetzung in „merkwürdig“, „sonderbar“, „fragwürdig“ oder
„pervers“ transformieren lässt. Deswegen ist der Gebrauch von queer als Anglizismus nicht nur in
der deutschen Sprache und in akademischen Diskursen häufig gerechtfertigt. Allerdings ist es nach
wie vor essentiell, die Motive der Verwendung des Ausdrucks hervorzuheben und zu kontextualisie-
ren. Hierbei kann queer zudem in den unterschiedlichen Wortarten Substantiv, Adjektiv und Verb
verwendet werden. Während jedoch die Queer Theory beispielsweise queer grundsätzlich als Verb
und Praxis versteht, ist der Gebrauch des Ausdrucks queer als Substantiv und Umbrella Term am
geläufigsten.

17
   Vgl. Jagose, Annamarie, und Genschel, Corinna. Queer theory: eine Einführung. 3. Auflage November 2017. Berlin:
Querverlag, 2017, S.97.
18
   Vgl. Barker, Meg-John, und Scheele, Julia. Queer: eine illustrierte Geschichte. Übersetzt von Jennifer Sophia Theodor.
1. Auflage. Münster: Unrast, 2018. S.13.
19
   Vgl. ebd.
20
   Vgl. Jagose, Annamarie, und Genschel, Corinna. Queer theory: eine Einführung. 3. Auflage November 2017. Berlin:
Querverlag, 2017, S. 97.
21
   Vgl. Degele, Nina. Gender, Queer Studies: eine Einführung. UTB Basiswissen Soziologie 2986. Paderborn: Fink, 2008,
S.43.
                                                           8
2.2 Queer als Substantiv und „Umbrella Term“
        Früher war der Begriff ,queer‘ im besten Fall ein umgangssprachlicher Ausdruck für
        „homosexuell“ und im schlimmsten ein homophobes Schimpfwort. Seit ein paar Jahren
        jedoch wird queer anders gebraucht – als Sammelbegriff für ein politisches Bündnis
        sexueller Randgruppen und zur Bezeichnung eines neuen theoretischen Konzepts, das
        sich aus den bereits etablierten Lesbischen und Schwulen Studien entwickelt hat.22

Der Ausdruck queer ist im heutigen Verständnis also ein Sammelbegriff und beschreibt nach Jagose
ein politisches Bündnis sexueller Randgruppen, das jedoch zusätzlich geschlechtliche Vielfalt inklu-
diert. Queer wird in diesem Zusammenhang häufig als Synonym für LGBTQIA+ verwendet. Hierbei
stellt sich jedoch die Frage, ob die beiden Ausdrücke wirklich deckungsgleich sind. Als Begründung
für die synonyme Verwendung der Bezeichnungen wird oftmals die Unüberschaubarkeit des Akro-
nyms LGBTQIA+ genannt. Queer sei im Gegensatz zu dem immer länger werdenden „Buchstaben-
salat“ LGBTQIA+ eine einfachere Alternative, um möglichst viele Menschen zusammenzufassen,
ohne Abkürzungsirrtümer, wie sie das Akronym in sich birgt.24 In diesem Bedeutungshorizont wird
Queer gerne als „Umbrella Term“ verwendet, der jegliche Abweichungen heterosexueller und ge-
schlechtlicher Normen meint, da der Ausdruck nicht an eine bestimmte Identitätskategorie gebunden
ist. Deshalb lasse sich Queer in einer Vielzahl von Diskussionen nutzbringend verwenden.25
      Hierbei stellt sich jedoch die Frage, inwiefern der Gebrauch von Queer mit dem Motiv, „einfa-
cher“ geschlechtliche und sexuelle Komplexitäten zu beschreiben, einer begrifflichen Instrumentali-
sierung gleicht. Wenn queeres Denken als Affekt gegen Festlegungen und für Mehrdeutigkeit steht,
und „Kraft aus der Auseinandersetzung mit Denkformen und Institutionen, die vereinfachen, binari-
sieren, hierachisieren und ausgrenzen“26 zieht, zeugt es dann nicht von Ignoranz und Unreflektiert-
heit, Queer aus Angst vor Abkürzungsirrtümern mit dem Akronym zu ersetzen?
      Oder ist diese Kritik an der Verwendung von Queer Zeugnis einer Überakademisierung und
Weltfremdheit, welche Queer zum Vorwurf gemacht wird, und baut in Wirklichkeit Zugangsbarrie-
ren ab? Um diese Fragen nach der begrifflichen Ebene der Instrumentalisierung von Queer zu beant-
worten, ist es zunächst wichtig, die politische Entstehungsgeschichte von queer nachzuzeichnen und
zu erläutern, um über die Darlegung sprachlicher Kontexte auch politische Zusammenhänge zu ver-
deutlichen.

22
   Jagose, Annamarie, und Genschel, Corinna. Queer theory: eine Einführung. 3. Auflage November 2017. Berlin: Quer-
verlag, 2017, S.13.
24
   Vgl. Voß, Heinz-Jürgen, und Wolter, Salih Alexander. Queer und (Anti-)Kapitalismus. Stuttgart: Schmetterling Verlag
2019. S.28.
25
   Vgl. Jagose, Annamarie, und Genschel, Corinna. Queer theory: eine Einführung. 3. Auflage November 2017. Berlin:
Querverlag, 2017, S.14.
26
   Degele, Nina. Gender, Queer Studies: eine Einführung. UTB Basiswissen Soziologie 2986. Paderborn: Fink, 2008,
S.43.
                                                          9
2.3 Queere Bündnispolitik und Funktionswandel
      Dass Menschen den Begriff queer heute gerne benutzen, um ihre sexuelle und geschlecht-
      liche Identität zu beschreiben, ist den Aufständen Schwarzer Trans*-Frauen, gegen ras-
      sistische und queerfeindliche Polizeigewalt zu verdanken.27

Wie bereits benannt, wird Queer heute häufig als Synonym für LGBTQIA+ verwendet. Hierbei stellt
sich jedoch die Frage, ob das Akronym tatsächlich in der Bedeutung deckungsgleich mit der des
Ausdrucks Queer ist. Um hervorzuheben, ob und wo sich zentrale Unterschiede zwischen den beiden
Ausdrücken befinden, ist es wichtig herauszustellen, welche Handlungsmöglichkeiten beide Ausdrü-
cke mit sich bringen und welche Motive hinter der ursprünglichen Begriffsgebung stecken.
      Heutzutage wird queer häufig dafür benutzt, um eine Abweichung von einer gesellschaftlichen
Norm zu bezeichnen, denn queer wird mittlerweile auch mit quer oder anders übersetzt.28 Hierbei ist
Heteronormativität ein wichtiges Stichwort. „Eine queere Lebensweise bezeichnet ein Leben, wel-
ches von Heteronormativität abweicht.“29
        Unter Heteronormativität versteht man die Auffassung, dass Heterosexualität die Norm
        in unserer Gesellschaft bestimmt. Sie geht von einer binären Geschlechterordnung aus,
        in der das Geschlechtermodell von einer dualen Einteilung in Mann und Frau definiert
        wird, die sich ausschließlich gegenseitig begehren und sich mit dem Geschlecht, wel-
        ches ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, identifizieren.30

Eingeführt und geprägt wurde dieser Begriff maßgeblich durch die Denkbewegung der Queer Stu-
dies. Er stellt nicht nur die Annahme in Frage, es gäbe ausschließlich zwei gegensätzliche Geschlech-
ter, die sexuell aufeinander bezogen sind und die mit Heterosexualität einhergehende Privilegierung,
sondern analysiert und kritisiert anhand dessen auch Machts-, Ungleichheits- und Herrschaftsverhält-
nisse.31 Hierunter fallen beispielsweise auch durch den Neoliberalismus geprägte Normen, welche
sich laut Kritiker*innen wie Volker Woltersdorff und Lisa Duggan selbst innerhalb der Schwulen
und Lesbenszene etablieren.
„Gay“ ist im Sinne einer schwulen oder lesbischen Identität Teil des Akronyms. Die ursprüngliche
Bedeutung von queer war zwischenzeitlich und ist in manchen Kontexten nach wie vor schwul und
männlich konnotiert. Der Ausdruck Gay lässt allerdings im Gegensatz zu queer weniger Interpretati-
onsfreiraum. Unter dem gay lifestyle versteht Woltersdorff einen Lebensentwurf hauptsächlich
schwuler, aber auch lesbischer Menschen, im Sinne eines neoliberalen Modells, welches von beruf-

27
   erklär mir mal… :Queer & Feminismus-Queer. In: Instagram. Veröffentlicht am: 29.06.2020. Online verfügbar unter:
https://www.instagram.com/tv/CCAwVcBqcRJ/?hl=de. Abrufdatum: 20.08.20.
28
   Vgl. ebd.
29
   Ebd.
30
   Divers Magazin: Glossar. In: Divers Magazin. Online verfügbar unter: https://diversmagazin.de/glossar/. Abrufda-
tum:12.07.2020.
31
   Ebd.
                                                        10
lichem Erfolg, gutem und sicherem Einkommen, Modebewusstsein, Mobilität, Flexibilität, Hedonis-
mus, Konsumorientierung und Individualismus geprägt ist.32 Unter diesen Voraussetzungen können
sie als „ideale Subjekte einer Konsum- und Dienstleistungsgesellschaft“33 fungieren. Lisa Duggon
bezeichnet diese partielle Normalisierung von Homosexualität unter neoliberalem Vorzeichen kri-
tisch als neue „Homonormativität“.34
       Die Theorien von Woltersdorff und Duggan werden aus der Prämisse heraus entwickelt, dass
LGBTQIA+ als feste und starre Identitäten und somit auch als eine der Voraussetzungen zur Ent-
wicklung des gay lifestyle oder des Konzepts der Homonormativität gelten. Wohingegen der Aus-
druck und die Studien um Queer den Bestrebungen nachgehen, kontinuierlich Identität als Teil einer
zwar alles durchdringenden, aber ungleichmäßig verteilten gesellschaftlichen Macht in Frage zu stel-
len. Queere Aktivist*innen betonen im gleichen Zuge, dass beispielsweise Gleichstellungspolitik
viele ausschließt, und kritisieren den Fokus insbesondere der weiß dominierten Schwulenbewegung
auf Eheschließung, Konsumkultur oder Militarisierung.
       Schon zum Zeitpunkt des ersten historisch bedeutsamen und überlieferten Widerstandes (New
York, Juni 1969) stehen hier die Anliegen von zwei unterschiedlichen Bewegungen gegenüber. Wäh-
rend die Homophilenbewegung sich für einen liberalen gesellschaftlichen Wandel engagierte, eine
Verbesserung der öffentlichen Meinung anstrebte und ein Bild von Homosexualität präsentierte, das
für die Mainstream Gesellschaft akzeptabel sein sollte, lehnte es die Homobefreiungsbewegung (gay
liberation) ab, sich auf heterosexuelle Ängste einzulassen und konfrontierte die Gesellschaft mit ihrer
Andersartigkeit, anstatt sie mit einem Gleichheitsanspruch zu umwerben.35 Hierbei sollten Themen
jener queeren Gruppen fokussiert werden, die am stärksten an den Rand gedrängt werden und im
Alltagsleben von Gewalt, Suizid, Armut und Wohnungslosigkeit bedroht sind.36

Die Gründer*in des Center for Intersectional Justice (CIJ) Emilia Roig erklärt, dass eine intersektio-
nale Linse hilft, Minderheiten innerhalb von Minderheiten sichtbar zu machen und Diskriminierung
innerhalb von Diskriminierung zu bekämpfen.37 Der aus der Schwarzen Frauen* Bewegung stam-
mende und von Kimberlé Crenshaw maßgeblich geprägte Begriff Intersektionalität (eng. intersec-
tion: Kreuzung) meint nach einer Definition von Altar Brah und Anne Phoenix:

32
   Vgl. Degele, Nina. Gender, Queer Studies: eine Einführung. UTB Basiswissen Soziologie 2986. Paderborn: Fink, 2008,
S.191.
33
   Ebd.
34
   Vgl. ebd.
35
   Vgl. Jagose, Annamarie, und Genschel, Corinna. Queer theory: eine Einführung. 3. Auflage November 2017. Berlin:
Querverlag, 2017, S.47.
36
   Vgl. Barker, Meg-John, und Scheele, Julia. Queer: eine illustrierte Geschichte. Übersetzt von Jennifer Sophia Theodor.
1. Auflage. Münster: Unrast, 2018, S. 16.
37
   Vgl. erklär mir mal… : Intersektionalität. In: Instagram. Veröffentlicht am: 12.05.2020. Online verfügbar unter:
https://www.instagram.com/tv/CAGGiM7lWrW/?hl=de. Abrufdatum: 20.08.20.
                                                           11
the complex, irreducible, varied, and variable effects which ensue when multiple axes of
      differentiation – economic, political, cultural, psychic, subjective and experimental – in-
      tersect in historically specific contexts38

Dieses Konzept bezeichnet also die „kontextspezifischen Untersuchungen der Überschneidungen und
des Zusammenwirkens verschiedener gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen und -praktiken.“39 Im
Vordergrund des Intersektionalitätkonzeptes steht anfangs die Triade von race, class und gender.40
Allerdings werden in Räumen, in denen es explizit um Diskriminierung auf Grund der Sexualität oder
des Geschlechts geht, die Lebensrealitäten der von Rassismus betroffenen Menschen oft auch nicht
mitgedacht.41 Andersherum werden Menschen, die sich abseits der heterosexuellen Norm verorten,
häufig auf Grund von kulturellen, postkolonialen oder religiösen Positionen nicht als Teil nicht-wei-
ßer Communities gesehen.42
      Wenn die Theorie der Intersektionalität angewendet wird, um diese Mehrfachdiskriminierung
innerhalb von marginalisierten Communities sichtbar zu machen, muss auch gegen die Diskriminie-
rung unterschiedlich marginalisierter Gruppen gekämpft werden.43 Spezifische Erläuterungen zum
Begriff der Intersektionalität und wo sich die Überschneidungspunkte zum Diskurs um queer befin-
den, werden zu einem späteren Zeitpunkt der Arbeit genau untersucht. Vorher ist es jedoch wichtig,
einen kurzen historischen Abriss des ersten bedeutsamen queeren Aufstandes gegen rassistische Po-
lizeigewalt und Queerfeindlichkeit in westlichen Kulturzusammenhängen zu geben, um daran an-
schließend wichtige Stränge beider Diskurse – um queer und um Intersektionalität – zusammenzu-
führen.
      Am 27. Juni 1969 stürmen Polizist*innen das Stonewall Inn in New York. Zu diesem Zeitpunkt
ist das Stonewall Inn vor allem ein Zufluchtsort für jene, denen in den angeseheneren Bars der Zutritt
verwehrt bleibt.44 Hier kommen hauptsächlich nicht-heterosexuelle Menschen zusammen, von Ras-
sismus betroffene Menschen, diejenigen, die auf Grund ihrer Geschlechtsidentität diskriminiert wer-
den, von Armut betroffene Menschen, Sexarbeiter*innen und andere marginalisierte Gruppen.45 „All
jene also die mit dem Begriff ,queer‘ als Fremdbezeichnung beschimpft wurden.“46 Obwohl Razzien
der Polizei an queeren Orten zu diesem Zeitpunkt keine Seltenheit sind, so ist jedoch der Stonewall

38
   Degele, Nina. Gender, Queer Studies: eine Einführung. UTB Basiswissen Soziologie 2986. Paderborn: Fink, 2008,
S.142.
39
   Ebd.
40
   Vgl. ebd.
41
   Vgl. erklär mir mal… : Queer & Feminismus -Queer. In: Instagram. Veröffentlicht am: 29.06.2020. Online verfügbar
unter: https://www.instagram.com/tv/CCAwVcBqcRJ/?hl=de. Abrufdatum: 20.08.20.
42
   Vgl. ebd.
43
   Vgl. ebd.
44
   Vgl. ebd.
45
   Vgl. ebd.
46
   Ebd.
                                                        12
Riot im Juni 1969 der erstmalige folgenreiche Widerstand gegen eben genau diese polizeiliche, insti-
tutionelle und individuelle Gewalt, die diesen Tag in die Geschichte eingehen lässt. Die Stamm-
gäst*innen wehren sich in gewaltvollen Auseinandersetzungen, nicht nur gegen die Staatsmächte,
sondern auch gegen die Kriminalisierung ihrer Identifizierungen. Aus der Razzia und dem Wider-
stand entwickelt sich ein circa einwöchiger Aufstand. Es werden Parolen skandiert, die denen der
späteren Homo-Befreiung sehr ähneln.47 Welche Personen genau den Aufstand begonnen haben, ist
auch heute noch nicht eindeutig. Allerdings ist die Revolte sehr wahrscheinlich auf die Schwarze
Trans* Frau Marsha P. Johnson und die BIPoC48 Trans*-Frau Sylvia Rivera zurückzuführen.49
       Der Ausdruck queer, so wie er heute verstanden wird, egal ob als Sammelbegriff, als politische
Praxis und Lebensweise oder als Abweichung von Heteronormativität, wird oftmals mit einem etwa-
igen unreflektierten, weißen Verständnis, das Zusammenhänge mit kapitalistischen Verhältnissen
nicht hinterfragt, gedacht.50 Deshalb ist es besonders wichtig hervorzuheben, dass all jene, die am
häufigsten Ziel von Polizeischikanen waren, die gesellschaftlich und ökonomisch Marginalisierten,
oftmals diejenigen sind, die am entschlossensten kämpften und denen systematisch die Verantwor-
tung für den Kampf übertragen wird.51
        Es waren […], wie Jin Haritaworn hervorhebt, „[S]chwarze und Drag Queens/ Trans-
        gender of [C]olour aus der Arbeiter[*innen]klasse, die schon in den 1960er Jahren den
        Widerstand gegen das heteronormative Zwangssystem trugen und sich in Abgrenzung
        zur [weißen] Mittelklasse-Schwulen und Lesben queer nannten, lange bevor deren aka-
        demische Nachfahren sich diese Identität aneigneten.52

Aus den Aufständen und den Demonstrationen des Stonewall Inn entstehen die Pride Märsche, wie
sie heute bekannt sind.53 Heutzutage wird allerdings immer häufiger durch die Kommerzialisierung
des Pride vergessen, warum gefeiert werden kann, wofür mehrfach marginalisierte Personen jahre-
lang kämpfen mussten.54 „Und warum sich Menschen heute gerne als queer bezeichnen, während es
früher als Schimpfwort galt.“55

47
   Vgl. Jagose, Annamarie, und Genschel, Corinna. Queer theory: eine Einführung. 3. Auflage November 2017. Berlin:
Querverlag, 2017, S.47.
48
   BIPoC: BIPoC steht für Black Indigenous People of Color.
Vgl. Wir muessten mal reden: Awareness Glossar. In: wirmuesstenmalreden.blogspot. Online verfügbar unter:
https://wirmuesstenreden.blogspot.com/p/woketionary.html. Abrufdatum: 17.08.2020.
49
   Vgl. erklär mir mal… : Queer & Feminismus - Queer. In: Instagram. Veröffentlicht am: 29.06.2020. Online verfügbar
unter: https://www.instagram.com/tv/CCAwVcBqcRJ/?hl=de. Abrufdatum: 20.08.20.
50
   Vgl. Voß, Heinz-Jürgen, und Wolter, Salih Alexander. Queer und (Anti-)Kapitalismus. Stuttgart: Schmetterling Verlag,
2019. S.29.
51
   Vgl. ebd.
52
   Ebd. S. 28.
53
   Vgl. erklär mir mal… : Queer & Feminismus - Queer. In: Instagram. Veröffentlicht am: 29.06.2020. Online verfügbar
unter: https://www.instagram.com/tv/CCAwVcBqcRJ/?hl=de. Abrufdatum: 20.08.20.
54
   Vgl. ebd.
55
   Ebd.
                                                          13
Die Verwendung von queer als Selbstbezeichnung bedeutet für viele, dass ihnen die queeren
Szenen, im Gegensatz zu schwulen und lesbischen Kreisen, mehr Raum bieten. Zwar bestehen zwi-
schen den Bezeichnungen vielfältige personelle und politisch-inhaltliche Verflechtungen, allerdings
zeichnen sich nach raumsoziologischen Untersuchungen von Nina Schuster queere Räume unter an-
derem dadurch aus, dass sie besonders offen bezüglich der Reflexion eigener und gesamtgesellschaft-
lich gültiger Normen und Ausschlüsse sind.56
       Normen bzw. Regeln für Verhalten sind nach Ervin Goffman allgegenwärtiger Bestandteil öf-
fentlicher Orte.57 Aus diesen Regeln lassen sich wiederum Rückschlüsse auf soziale Organisation
ziehen. Hierbei greift abermals das Konzept der Heteronormativität, aus dem zahlreiche Verhaltens-
normen abgeleitet werden. Darüber hinaus sind „an die Dominanz dieses Prinzips viele, stark ver-
zweigte gesellschaftliche Organisations- und Privilegierungsformen angeschlossen.“58 Wird also da-
von ausgegangen, dass queer die Abweichung von Heteronormativität ist, so bedeutet die Praxis von
queer eine andauernde Reflexivität von strukturellen Diskriminierungsformen sowie das Infragestel-
len der damit einhergehenden gesellschaftlichen Organisations- und Privilegierungsformen.
       Darüber hinaus stellen sich die entsprechenden Räume beständig Herausforderungen identitäts-
politischer Verengung. Zwangsläufig konstituieren sich mit der Eröffnung von Räumen auch eigene
Normen. Zwar entstehen diese Räume in Abgrenzung zu hegemonialen Normen, allerdings geht mit
der Eröffnung eines Szenen spezifischen Raums auch die Vereindeutigung und Normalisierungen
bestimmter Subjektpositionen und Identitäten einher.59 „Einen Ausweg aus diesem Dilemma queerer
Räume bietet die in der Szene praktizierte Möglichkeit, Normen immer wieder neu zu verhandeln.“60
Sich als queer zu verstehen oder zu praktizieren kann also mehr bedeuten als nur Sexualität und Ge-
schlecht in Frage zu stellen, sondern bedeutet auch strukturelle Macht kritisch zu durchleuchten.
Folglich ist einer der größten Unterschiede zwischen den Bezeichnungen queer bzw. Queer und
LGBTQIA+, dass LGBTQIA+ hauptsächlich ein aus dem Globalen Norden stammender Terminus
für sexuelle und geschlechtliche Identität bzw. Vielfalt ist, während queer vor allem auch politische
Praxis und die damit einhergehende ständige Hinterfragung und Reflexion von bisher sicher geglaub-
ten Wahrheiten, Identitäten und damit verbundenen Normen bezeichnet.
       Das Akronym ist in erster Linie eine Sammlung ganz spezifisch benannter Identitäten, die an-
fänglich nicht flexibel zu sein scheinen. Somit ist LGBTQIA+ eher eine Auflistung, anstatt eines
„Umbrella Terms“, wodurch eine Trennung zwischen den einzelnen Identitäten reproduziert wird.

56
   Vgl. Paul, Barbara und Lüder, Tietz und Schubarth, Caroline, Hrsg. Queer as: kritische Heteronormativitätsforschung
aus interdisziplinärer Perspektive. Studien interdisziplinäre Geschlechterforschung 9. Bielefeld: Transcript, 2016. S.163.
57
   Vgl. ebd. S.151.
58
   Vgl. ebd. S.163.
59
   Vgl. ebd.
60
   Ebd.
                                                           14
Die komplexe Bedeutung des Ausdrucks queer und das sich nicht-Einschränken auf einzelne Identi-
täten, sondern Anerkennen eines komplexen politischen und sozialen Kontextes, gleicht dem Konzept
der Intersektionalität und scheint eine wechselseitige Unterstreichung beider Konzepte hervorzubrin-
gen.

3 Queer und Intersektionalität? – Ansätze politischer Progressivität
Wie bereits dargelegt diente und dient queer bzw. Queer in vielerlei Hinsicht als Ausdruck politischer
Praxis, deren Anliegen es nicht ist zu vereinfachen und zu binarisieren, sondern Normen und Herr-
schaftsstrukturen in ihrer Verwobenheit infrage zu stellen. Wie der Ausdruck selbst hat auch diese
Arbeit nicht die Absicht, die zwei sich gegenüberstehenden Ebenen der politischen Progressivität und
der Instrumentalisierung zu untersuchen, sondern viel mehr aufzuzeigen, wie diese ineinander über-
gehen und zwangsläufig miteinander verbunden sind. Für einen der Hauptinteressenspunkte von
queer, das ständige Hinterfragen struktureller sowie individueller Ungleichheits- und Diskriminie-
rungsformen, ist der Begriff der Intersektionalität von maßgeblicher Bedeutung.

3.1 Was ist Intersektionalität?
        Consider an analogy to traffic in an intersection, coming and going in all four directions.
        Discrimination, like traffic through an intersection, may flow in one direction, and it
        may flow in another. If an accident happens in an intersection, it can be caused by cars
        traveling from any number of directions and, sometimes, from all of them. Similarly, if
        a Black women is harmed because she is in the intersection, her injury could result from
        sex discrimination or race discrimination.61

Die Metapher der Straßenkreuzung, anhand welcher Mehrfachdiskriminierung erklärt werden soll
und die von der Juristin Kimerlé Crenshaw maßgeblich geprägt wurde, wird nicht nur in dem ver-
hältnismäßig sehr jungen und einflussreichen Diskurs um Intersektionalität selbst zu einem populären
Bild. Ursprünglich stammt der Begriff aus dem US-amerikanischen Schwarzen Feminismus.62 Aus-
schlaggebend ist das Combahee River Collective, welches im Manifest A Black Feminist Statement
(1977) herausarbeitet „dass das proklamierte ,politische Subjekt Frau‘ der Mainstream-Feministin-
nen, die damals in den Medien ,des Westens‘ Aufmerksamkeit zu finden begannen, implizit immer
als weiß, cis und Mittelstand angehörig gedacht war.“63 Weitere fehlende Diversitätsmerkmale wie
beispielsweise Sexualität, körperliche und geistige Fähigkeiten bzw. Behinderungen oder Alter wer-
den in der Kritik des Kollektivs zunächst nicht explizit benannt.

61
   Crenshaw, Kimberle: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimina-
tion Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, University of Chicago Legal Forum: Vol. 1989 , Article 8. Online
verfügbar unter: https://chicagounbound.uchicago.edu/uclf/vol1989/iss1/8. S.149.Abrufdatum: 25.08.2020.
62
   Vgl. Sweetapple, Christopher, und Voß, Heinz-Jürgen und Wolter, Salih Alexander. Intersektionalität Von der Anti-
diskriminierung zur befreiten Gesellschaft?, Stuttgart: Schmetterling Verlag. 2020. S.9.
63
   Ebd.
                                                          15
Im Jahre 1989 gibt die Juristin Kimerlé Crenshaw in ihrem heute zu den Grundlagentexten des
Schwarzen Feminismus zählenden Essay „Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black
Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine“ diesem Phänomen der Mehrfachdiskriminierung
den Namen Intersektionalität.
       Und auch wenn der Begriff Kritik erfährt, zum Beispiel aufgrund der monodirektionalen Ab-
hängigkeiten der einzelnen Diskriminierungsformen, die dadurch assoziiert werden können, so etab-
liert sich die Bezeichnung weiterhin in unterschiedlichen Disziplinen. Fokus hierbei wird allerdings
trotz der vermeintlich irrtümlichen einseitigen Assoziationen auf die wechselseitigen Verwobenhei-
ten unterschiedlicher Diskriminierungs- und Herrschaftsformen gelegt. Während allerdings zunächst
auch von Crenshaw selbst lediglich die Trias, „race“, „gender“ und „class“ als wesentliche Differenz-
kategorien mit einbezogen werden, so existieren heute insbesondere im europäischen Raum heftige
und viel kritisierte Meinungsverschiedenheiten darüber, welche Kategorien das Konzept der Inter-
sektionalität über die Trias hinaus aufgreifen soll und kann.64
       Je nachdem auf welcher Ebene intersektionale Verhältnisse untersucht werden, birgt diese Ana-
lyse verschiedene Schwierigkeiten und Herausforderungen in sich. Die Untersuchung von mehr als
drei Kategorien wäre beispielsweise auf der Ebene sozialstruktureller Analysen unüberschaubar und
kaum zu bewältigen.65 Wohingegen intersektionale Analysen auf kleineren Ebenen wie beispiels-
weise Prozesse der Identitätsbildung (Mikroebene) oder kulturelle Symbole (Repräsentationsebene)
wiederum mehr als drei Kategorien abbilden könnten.66
Zusätzlich fehlt jedoch laut den Theoretiker*innen Nina Degele und Gabriele Winker eine schlüssige
theoretische Begründung, warum gerade „race“, „class“ und „gender“ die zentralen Linien der Dif-
ferenz markieren.67 Allerdings warnen gleichzeitig unterschiedliche Wissenschaftler*innen wie bei-
spielsweise Sirma Bilge davor, die Wichtigkeit von „race“ als Differenzkategorie in weißen Genea-
logien zu Intersektionalität zu verfälschen, zu minimieren oder gar als optional darzustellen.68 Dies
ist insbesondere deshalb problematisch, so argumentiert Bilge, da die Optionalität, das Ausblenden
oder absichtliche Vernachlässigen der Kategorie „race“ für das Silencing von Schwarzen Femi-
nist*innen und Feminist*innen of Color sorgt.
       Einen allgemeinen Konsens darüber, welche Kategorien in intersektionale Analysen mit einbe-
zogen werden sollen, gibt es folglich nicht. Allerdings sollte die Entscheidung der Kategorien der
Ungleichheit vom untersuchten Gegenstand und von der gewählten Untersuchungsebene abhängig

64
   Vgl. Winker, Gabriele, und Degele, Nina. Intersektionalität: zur Analyse sozialer Ungleichheiten. 2., unveränd. Aufl.
Sozialtheorie Intro. Bielefeld: Transcript, 2010. S.14.
65
   Vgl. ebd. S.15ff.
66
   Vgl. ebd.
67
   Vgl. ebd.
68
   Vgl. Bilge, Sirma. Whitening Intersectionality: Evanescence of Race in Intersectionality Scholarship. Online verfügbar
unter:https://www.academia.edu/11805835/Whitening_Intersectionality_Evanescence_of_Race_in_Intersectiona-
lity_Scholarship. November 2014.S.17. Abrufdatum: 13.08.2020.
                                                           16
gemacht werden.69 Hierbei sollte allerdings beachtet werden, dass die Wahl der unterschiedlichen
Perspektiven von verschiedenen Differenzkategorien die Stimmen bestimmter nicht-verhandelter
Minderheiten immer auch ausschließt und ungewollt hegemoniale Strukturen aufrecht erhalten kann.
       In Anbetracht dieser Arbeit ist es sinnvoll, sich den Kategorien Geschlecht und Sexualität auf
struktureller Diskriminierungsebene zu nähern, um anschließend daran festzustellen wie queer, im
Sinne einer kontinuierlichen kritischen Infragestellung von struktureller Macht, praktizierbar sein
kann. Selbstverständlich können nicht alle gesamtgesellschaftlichen strukturellen Ebenen von Dis-
kriminierung in Bezug auf Geschlecht und Sexualität in einer intersektionalen Perspektive erläutert
werden, da dieses Vorhaben den Rahmen dieser Arbeit überschreiten würde. Allerdings ist es sinnvoll
sich dieser Ebene durch abermals diskursprägende Denker*innen wie Gayle Rubin als Hauptbezugs-
punkt zu widmen, da diese sich nicht nur in philosophischen Diskursen als maßgebliche Denker*in,
die sexuelle und geschlechtliche Unterdrückungsmechanismen hinterfragt, etabliert hat.
       Gayle Rubin prägt durch ihren einflussreichen Essay, „Thinking Sex: Notes for a Radical The-
ory of the Politics of Sexuality“, die US-amerikanische Tradition der Queer Theory und legt beson-
deres Augenmerk auf verschiedene Formen von Macht, die zugleich unterschiedlich sind und mitei-
nander interagieren, um darauf aufbauend den Blick auf die soziokulturelle Regulierung von Sexua-
lität insgesamt zu erweitern.70
Im Folgenden sollen also Rubins Überlegungen bezüglich sexueller Unterdrückungsmechanismen
ausführlich dargelegt werden, um anschließend daran fundierte Aussagen darüber treffen zu können,
wie queere intersektionale Praxis in Form von kritischen Infragestellungen struktureller Ungleich-
heitsformen aussehen kann.

3.2 Geschlecht und Sexualität – Dimensionen struktureller Diskriminierung bei
Gayle Rubin
       The realm of sexuality also has its own internal politics, inequities, and modes of oppres-
       sion. As with other aspects of human behavior, the concrete institutional forms of sexu-
       ality at any given time and place are products of human activity. They are imbued with
       conflicts of interest and political maneuver, both deliberate and incidental. In that sense
       sex is always political.71

Rubin beschäftigt sich in ihren Studien mit sexuellen Handlungen, den damit verbundenen Sanktio-
nen und moralischen Vorstellungen sowie dem politischen Potential, welches unweigerlich damit

69
   Vgl. Bilge, Sirma. Whitening Intersectionality: Evanescence of Race in Intersectionality Scholarship. Online verfügbar
unter:https://www.academia.edu/11805835/Whitening_Intersectionality_Evanescence_of_Race_in_Intersectiona-
lity_Scholarship. November 2014.S.17. Abrufdatum: 13.08.2020.
70
   Vgl. Sweetapple, Christopher, und Voß, Heinz-Jürgen und Wolter, Salih Alexander. Intersektionalität Von der Anti-
diskriminierung zur befreiten Gesellschaft?, Stuttgart: Schmetterling Verlag. 2020. S.20.
71
   Parker, Richard G., und Aggleton, Peter, Hrsg. Culture, society and sexuality: a reader. Second Edition. Sexuality,
culture and health. London; New York: Routledge. 2007. S.150.
                                                           17
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