Queer (de)konstruieren - Universität Hildesheim
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Stiftung Universität Hildesheim Fachbereich 2: Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation Institut für Philosophie Bachelorarbeit im Studiengang Philosophie - Künste - Medien Erstprüferin: Prof. Dr. Katrin Wille Zweitprüferin: MA. Antje Géra Queer (de)konstruieren Zwischen politischer Progressivität und Instrumentalisierung Alica Bonauer
Inhaltsverzeichnis Vorwort……………………………………………………………………………………………...2 1 Einleitung………………………………………………………………………………………….3 2 Geschichte des Ausdrucks Queer……………………………………………………………….………..6 2.1 Der Ursprung von queer……………………………………………………………………...7 2.2 Queer als Substantiv und „Umbrella Term“……………………………………………….…9 2.3 Queere Bündnispolitik und Funktionswandel………………………………………………10 3 Queer und Intersektionalität? – Ansätze von politischer Progressivität…………………….15 3.1 Was ist Intersektionalität?.........................................................................................................15 3.2 Geschlecht und Sexualität – Dimensionen struktureller Unterdrückung bei Gayle Rubin…...17 3.3 Queer und Intersektionalität – Synergie oder Entpolitisierung?...............................................22 4 Ebenen von Instrumentalisierung ……………………………………………………………...24 4.1 Begriffliche Instrumentalisierung…………………………………………………………….25 4.2 Kapitalistische Instrumentalisierung – Allyschaften und Unternehmen …………………….27 4.3 Globale Instrumentalisierung – der Homonationalismus und das Überlegenheitsgefühl des Westens gegenüber dem Globalen Süden……………………………………………….32 5 Fazit ……………………………………………………………………………………………...36 Literaturverzeichnis……………………………………………………………………………….38
Vorwort Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das erste Mal in meinem Leben das Wort queer gehört habe. Ich weiß nicht mehr, welche Assoziationen ich dazu hatte oder welche Haltung das Wort in mir hervorgerufen hat. Höchstwahrscheinlich war ich 15 oder 16 Jahre alt. Vielleicht ist mir das Wort einmal auf dem ein oder anderen Flyer begegnet, als ich bei einem Besuch in München durch das Glockenbachviertel gelaufen bin. Oder ich bin in etwa in dem gleichen Alter im Internet über diesen Ausdruck gestolpert. Vermutlich dachte ich an lesbische oder schwule Orte, an Initiativen und Treff- punkte, die Jugendlichen dabei helfen, die eigene Sexualität zu akzeptieren oder an Partys, Regenbo- genfahnen und Gleichstellungspolitik. Geschlecht ist mir zu diesem Zeitpunkt vermutlich noch nicht in den Sinn gekommen. Erst seit meinem Studienbeginn haben sich die Dimensionen um queer ver- dichtet, sie haben sich aneinandergereiht und jegliche Fragen in meinem Kopf aufgeworfen. Politi- sche Diskussionen um queer wurden lauter und sichtbarer. Fragen danach, wer in der Community Anerkennung erlangt und wer weiterhin unterdrückt bleibt, wurden präsenter. Nach und nach ist mir immer bewusster geworden, welche Komplexität hinter diesem Ausdruck steckt. Gleichzeitig lernte ich Menschen kennen, die sich selbst als queer bezeichnen. Ich beobachtete mich dabei, wie ein Wort, zu dem ich früher keine Haltung hatte, oder an die ich mich zumindest nicht mehr erinnern kann, jetzt bei Selbstbezeichnungen oder als scheinbare Verzierung von Konsumprodukten, schnell Unbehagen in mir auslöst. Mir schießen Fragen in den Kopf, ob queer als Identität überhaupt funktioniert, oder, ob diese Verwendung von queer nicht einen Widerspruch in sich darstellt? Fragen danach, ob es mir überhaupt zusteht, das zu beurteilen. Als mich dann im November 2019 die Redaktion des .divers Magazin fragte, ob ich an deren Glossar mitwirken möchte und unter anderem den Ausdruck queer übernehmen sollte, sah ich mich vor einer großen Herausforderung, die ich jedoch nicht abwinken wollte. Ich setzte mich tagelang an eine Recherche für einen Beitrag, der nicht länger als 125 Zeichen sein durfte. Aber genau darin sah ich die Herausforderung. Wie werde ich mit einer so geringen Zeichenzahl einem Wort gerecht, wel- ches eine derartig vielschichtige Bedeutung und Entstehungsgeschichte hat? Die Recherche zog mich in den Bann und die Antworten auf die Fragen um queer wurden immer unerlässlicher. Deshalb war es mir ein Anliegen, den Rahmen meiner Bachelorarbeit diesem Ausdruck zu widmen, zu versuchen, dessen Dimensionen zu begreifen, um nicht nur meine eigenen inneren Konflikte besser zu verstehen, sondern auch dessen politische Dimensionen. 2
1 Einleitung Was bedeutet es heutzutage, wenn eine Veranstaltung oder eine Party als queer1 bezeichnet wird? Oder sich selbst als queer benennt? Und welche Rolle spielt hierbei die der Intersektionalität? Wenn sich queer ursprünglich daraus entwickelt hat, sich gegen eine elitäre, weiß2 dominierte Schwulen- und Lesbenbewegung abzugrenzen, wie kann es dann dazu geführt haben, dass der Ausdruck mitt- lerweile etliche konsumorientierte Projekte wie Zeitschriften, Veranstaltungen oder Unternehmen ziert? Oder, dass Marketing- oder Modeunternehmen jährlich zum Pride Month ihre Pride Kollekti- onen herausgeben, um ihre (scheinbaren) Allyschaften3 zu zeigen? Ist queer lediglich zu einem west- lichen Aushängeschild für vermeintliche Solidarität und Akzeptanz geworden oder ist der gesell- schaftliche Wandel Zeichen einer Befreiung jahrelanger Unterdrückungsmechanismen? Der heute schon fast inflationär verwendete Ausdruck queer hat eine radikale Umdeutung er- lebt. Eine allgemeingültige Definition des Ausdrucks gibt es nicht, da das Konzept, das dahinter steckt sich weigert, eine feste Form anzunehmen und konstant im Wandel ist. Trotzdem wird queer heute häufig als Zuschreibung und Kategorie für alles Traditions- und Normabweichende in Bezug auf Geschlecht und Sexualität verwendet. Forscht man nach den Übersetzungen des englischen Wor- tes, trifft man auf verschiedene Antworten. Das Verständnis von dem Substantiv Queer als politischer Sammelbegriff, der alles Traditions- und Normabweichende bezüglich Sexualität und Geschlecht meint, ist am geläufigsten. Im Englischen heißt das dann „Umbrella Term“, und soll alles miteinbe- ziehen, was nicht ausschließlich heterosexuell ist oder von einer Einteilung der Geschlechter in Mann und Frau ausgeht. Queer ist jedoch in seiner Bedeutung und mit dessen Hintergrund viel komplexer.4 Der Gebrauch des Wortes stammt ursprünglich auch aus dem englischsprachigen Raum. Er wurde und wird teilweise nach wie vor ähnlich wie das Schimpfwort „Faggot“ (dt.: Schwuchtel) abwertend 1 Der Ausdruck Queer bzw. queer wird in dieser Arbeit in den unterschiedlichen Wortarten Substantiv, Adjektiv und Verb verwendet. Insofern der Ausdruck klein geschrieben ist, meint dieser entweder eine Praxis und wird in der Funktion als Verb verwendet. (Bsp.: etwas queeren bedeutet etwas durcheinanderbringen, aufheben oder heterosexuelle bzw. ge- schlechtliche Normen infrage stellen oder diesen nicht entsprechen), oder er meint im Sinne eines Adjektivs eine be- stimmte Beschaffenheit (Bsp.: eine queere Beziehung führen) oder Zugehörigkeit bzw. Abgrenzung zu oder von unter- schiedlichen Gruppen (Bsp.: die queere Community). Als Substantiv ist der Ausdruck überwiegend als „Umbrella Term“, also als Sammelbegriff, für jegliche geschlechtliche oder sexuelle Minderheiten geläufig. Bei diesen Verwendungen des Ausdrucks handelt es sich jedoch lediglich um eine Orientierungshilfe und soll den Ausdruck nicht in der hier formulier- ten Bedeutung festschreiben. 2 weiß: „Kursiv und klein geschrieben, um die Konstruktion des Begriffes hervorzuheben. Es handelt sich um keine Haut- farbe, sondern um Privilegien, die mit der Hauptfarbe einher gehen.“ Missy Magazine: Sprache In: Missy Magazine. Online verfügbar unter: https://missy-magazine.de/sprache/, Abrufda- tum: 13.08.2020 3 Allyschaft (eng. Allyship): “Allyship is the continuous process in which someone with privilege and power seeks to first learn about the experiences of a marginalized group of people, and then ultimately empathize with their challenges and build relationships with that group of people.” Forsey, Caroline: What Does Allyship Mean? In: blog.hubspot. Online verfügbar unter: https://blog.hubspot.com/marke- ting/allyship. Abrufdatum: 20.08.20. 4 Vgl. Divers: Glossar. In: diversmagazin. Online verfügbar unter: https://diversmagazin.de/glossar/. Abrufdatum: 25.08.20. 3
verwendet.5 Gleichzeitig haben sich jedoch in den späten 1980er Jahren LGBTQIA+6 Gruppen den Ausdruck queer mit Stolz angeeignet, positiv umgedeutet und als kämpferische Selbstbezeichnung verwendet. Insbesondere radikale Aktivist*innen und gesellschaftliche Außenseiter*innen aus den USA, die sich in der weiß dominierten Schwulen und Lesben Community nicht mehr repräsentiert gefühlt haben, erhofften sich mit der Selbstermächtigung durch die queere Bündnispolitik einen po- litischen Gegenentwurf, der sich herrschaftskritisch und kämpferisch gegen Normen, Festschreibun- gen und ausgrenzende Systeme auflehnt.7 Um einen umfassenden Blick auf derzeitige Diskurse um queer werfen zu können, ist es notwendig zu betrachten, woher die Motivationen der sich auflehnen- den Aktivist*innen genau stammen und inwiefern diese heute nach wie vor als aktuell gelten. Identi- tätskritik ist hierbei ein wichtiges Stichwort: queer versucht sich kritisch von der Identitätspolitik abzusetzen und spricht sich für die Aufhebung einer festgelegten, klaren und natürlichen Identität aus. Das heißt unter anderem, dass er sich dagegen wehrt, Menschen auf Merkmale wie Frau, Mann, People of Color8 und weiß zu reduzieren. Er setzt sich für Mehrdeutigkeit ein und bringt Kategorien durcheinander, auf denen geschlechtliche und sexuelle Normen aufbauen.9 Doch funktioniert dieser dekonstruktivistische Ansatz auch in Zeiten, in denen queer zu kapitalistischen Zwecken vermarktet wird, um daraus Profit zu schlagen? Oder in denen sich beispielsweise Unternehmen oder Kulturin- stitutionen als queer oder queerfriendly im Sinne eines erfüllten Diversitätskriteriums behaupten und dabei jedoch „Dimensionen struktureller und normativer Gewalt, sowie das zwangsläufige eigene Verstricktsein in Macht- und Herrschaftsverhältnisse außen vor lassen“?10 5 Vgl. Divers: Glossar. In: diversmagazin. Online verfügbar unter: https://diversmagazin.de/glossar/. Abrufdatum: 13.08.20. 6 LGBTQIA+: Das Akronym ist die internationale Abkürzung für lesbisch, schwul (eng. gay), bisexuell, transgeschlecht- lich, queer, intergeschlechtlich und asexuell. LGBTQIA+ Personen machen unterschiedliche Diskriminierungserfahrun- gen. Sie werden jedoch oft zusammen genannt, weil alle diese Lebensweisen der gesellschaftlichen Norm widersprechen, nach der es nur zwei Geschlechter gibt, die sich jeweils gegenseitig begehren. Es gibt verschiedene Varianten des Akro- nyms, die jeweils unterschiedliche sexuelle oder geschlechtliche Minderheiten explizit benennen. In dieser Arbeit wird das Akronym in der Variante „LGBTQIA+“ verwendet, wobei das Plus-Zeichen dafür steht, dass das Akronym um zahl- reiche Minderheiten ergänzt werden könnte, die genauso Teil der Community sind. Vgl. erklär mir mal… : Queer & LGBTIA*. In: Instagram. Veröffentlicht am 04.07.2020. Online verfügbar unter: https://www.instagram.com/p/CCNvxrrHNsm/. Abrufdatum: 20.08.20. 7 Vgl. Degele, Nina. Gender, Queer Studies: eine Einführung. UTB Basiswissen Soziologie 2986. Paderborn: Fink, 2008, S.43. 8 People of Color: „Der Begriff People of Color (im Singular Person of Color) ist eine Selbstbezeichnung von Menschen, die Rassismus erfahren“. Diversity Arts Culture: PoC/ Person of Color. In: diversity-arts-culture. Online verfügbar unter: https://www.diversity- arts-culture.berlin/woerterbuch/poc-person-color. Abrufdatum: 30.06.20. 9 Vgl. Divers: Glossar. In: diversmagazin. Online verfügbar unter: https://diversmagazin.de/glossar/. Abrufdatum: 13.08.20. 10 Kulturpolitischer Bundeskongress. Thema: Welt. Kultur. Politik: Kulturpolitik in Zeiten der Globalisierung: Kultur- statistik, Chronik, Literatur. Herausgegeben von Ulrike Blumenreich, Sabine Dengel, Wolfgang Hippe, und Norbert Sie- vers. 1. Auflage. Jahrbuch für Kulturpolitik, Band 16. Bielefeld: Transcript, 2018. S.145. 4
Im Mittelpunkt des Gedankens, der hinter queer steckt, steht das Praktizieren von intersektionaler Solidarität von einer weißen, heterosexuellen, cis11 Mehrheitsgesellschaft zu allen unter Queer ver- sammelten marginalisierten Gruppen und unter der queeren Community selbst, jenseits von (Selbst)Kategorisierungen. Doch auf welchen Ebenen kann dies stattfinden? Wo liegen, nicht nur in der westlichen vom Neoliberalismus geprägten Gesellschaft, die Potentiale politischer Progressivität? Und wo findet, auch in globalen Kontexten, die Grenzziehung zur Instrumentalisierung statt? Diese Arbeit soll durch eine begriffsanalytische und dekonstruktivistische Herangehensweise Fragen nachgehen, was queer bedeutet, welche historischen und philosophischen Hintergründe die- sem Ausdruck innewohnen und dieselben Fragen an den von Kimberlé Crenshaw geprägten Begriff der Intersektionalität stellen, um anschließend aufzuzeigen wo sich die Diskurse kreuzen. Fest steht: Während beide Ansätze über die kritische Analyse multipler und konfligierender Kate- gorisierungsprozesse zusammen finden (sollten), werden sie immer wieder durch eine doppelte Leerstelle getrennt: erstens der relativen Abwesenheit von Sexualität in der The- oretisierung von Intersektionalität in den Gender Studies und zweitens einem langen Schweigen zu Intersektionalität in einer eher weißen Genealogie der Queer Theory.12 Im Folgenden werden also Hintergründe für die doppelte Leerstelle erforscht und durch eine diskurs- kritische Betrachtung ergänzt, um so herauszufinden, wie es zu einer Instrumentalisierung von queer kommen konnte und weshalb bzw. inwiefern sowohl die Konzeption von queer als auch die von Intersektionalität einem whitening13 Prozess unterzogen wird. In einem weiteren Arbeitsschritt sollen Potentiale von politischer Progressivität und die stän- dige Verflechtung mit dessen Instrumentalisierungsebenen aufgezeigt werden. Es sollen sowohl dis- kursprägende Perspektiven aus dem dominierenden anglo-amerikanischen Queer-Diskurs mit einbe- zogen und hinterfragt werden, wie beispielsweise die von Annamarie Jagose, Gayle Rubin und Jasbir Puar, als auch Perspektiven von diskursprägenden, deutschsprachigen Queer-Theoretiker*innen wie Nina Degele, Heinz Jürgen Voß, Salih Alexander Wolter und Antke Engel. 11 cis: Das Wort cis kommt aus dem Lateinischen und bedeutet diesseits von etwas. In Bezug auf Geschlecht bedeutet cis, dass sich eine Person diesseits von der Geschlechtszuordnung bei ihrer Geburt befindet. Vgl. Divers: Glossar In: diversmagazin. Online verfügbar unter: https://diversmagazin.de/glossar/. Abrufdatum: 02.07.20. 12 Dietze, Gabriele und Haschemi Yekani, Elahe und Michaelis, Beatrice: Queer und Intersektionalität. In: Portal Inter- sektionalität. Online verfügbar unter: http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/ueberblickstexte/dietzehaschemi- michaelis/. S.1. Abrufdatum: 15.07.2020. 13 Whitening: Bsp.: “‘Whitening intersectionality’ does not refer to the race of intersectionality practitioners, but to the ways of doing intersectionality that rearticulate it around Eurocentric epistemologies. One does not need to be white to whiten intersectionality, as non-white and colonial immigrant scholars who are ideologically co-opted by dominant epis- temologies also contribute to reproducing hegemonic knowledge.” Bilge, Sirma. Whitening Intersectionality: Evanescence of Race in Intersectionality Scholarship. Online verfügbar unter: https://www.academia.edu/11805835/Whitening_Intersectionality_Evanescence_of_Race_in_Intersectionality_Scholar- ship. November 2014. S.16. Abrufdatum: 13.08.2020. 5
Gerade weil der hochverzweigte Sexualitätendiskurs ein stark westlich geprägter Diskurs zu sein scheint, ist es besonders wichtig, queer zudem in eine globale Perspektive zu setzen. Wegwei- send hierbei ist ein intersektionales Verständnis, wie es die international viel diskutierten Schwar- zen14 Frauen und queeren Migrant*innen Kimberly Crenshaw, Angela Davis oder Nikita Dhawan erarbeitet haben. Hierbei soll nicht nur betrachtet werden, welche Rolle queer im intersektionalen Kontext spielt, sondern auch inwiefern der Ausdruck im Westen und in seiner Abgrenzung zum Glo- balen Süden unterschiedliche Formen von Instrumentalisierung erfährt. Während der Westen nach wie vor von Stigmatisierung und Diskriminierung gegenüber Men- schen, die keiner heterosexuellen Norm oder der binären Geschlechterordnung entsprechen, be- herrscht wird, grenzt er sich dennoch gegenüber dem Globalen Süden als aufgeklärt und sexuell be- freit ab. Dies spielt dem Überlegenheitsgefühl des Westens in die Hände und stellt eine globale Ebene der Instrumentalisierung der queeren Community dar. Während insbesondere die begriffliche, die kapitalistische und die homonationalistische Instru- mentalisierung von queer Hauptuntersuchungsgegenstand dieser Arbeit sind, werden zusätzlich we- sentliche Begriffe der Queer Theory vorgestellt und erläutert, anhand welcher wichtige Machtstruk- turen und die damit einhergehenden Diskriminierungsformen erklärt werden können. Um jedoch das kritische Potential der Überschneidungen der Diskurse um queer und um Intersektionalität ausfindig zu machen sowie die verschiedenen Verflechtungen von politischer Progressivität und Ebenen der Instrumentalisierung zu untersuchen und hierbei queer-theoretische Schlüsselbegriffe vorzustellen, ist es wichtig, in einem früheren Schritt einen historischen Abriss und eine Kontextualisierung von queer darzulegen, um die Konstruktionen dieses Ausdrucks zu verdeutlichen und diesen anschließend wieder zu dekonstruieren. 2 Geschichte des Ausdrucks Queer Im Folgenden werden die historischen Hintergründe, die ersten kulturellen Überlieferungen bzw. Verwendungen und die politischen Ursprünge des Ausdrucks queer erläutert. Hierbei wird queer zu- nächst im Kontext der diskursdominierenden anglo-amerikanischen und deutschsprachigen Überlie- ferungen anhand der bereits erwähnten international einflussreichsten Theoretiker*innen ins Augen- 14 Schwarz: "Der Begriff Schwarz wird oft als Selbstbezeichnung von Menschen afrikanischer und afro-diasporischer Herkunft, schwarzen Menschen, Menschen dunkler Hautfarbe und people of colo(u)r gewählt. Das großgeschriebene „S“ wird bewusst gesetzt, um eine sozio-politische Positionierung in einer mehrheitlich weiß dominierten Gesellschaftsord- nung zu markieren und gilt als Symbol einer emanzipatorischen Widerständigkeitspraktik“ Diversity Arts Culture: Schwarz. In: diversity-arts-culture. Online verfügbar unter: https://www.diversity-arts-cul- ture.berlin/en/node/75. Abrufdatum: 23.08.2020. 6
merk genommen, um daran anschließend ein Tableau an Begrifflichkeiten gesellschaftlicher Unter- drückungsmechanismen einzuführen, die für die nachfolgende Diskussion über Ebenen politischer Progressivität und Instrumentalisierung von queer, auch im globalen Kontexten, fundamental sind. Des Weiteren sind Bildungsinitiativen von (post)migrantischen und queeren Interessensorga- nisationen wie „erklär mir mal…“ wichtiger Bezugspunkt dieser Erläuterungen, um die historischen Hintergründe des Ausdrucks in einer intersektionalen und (post)migrantischen Perspektive zu be- trachten. Obwohl diese Initiativen kein überwiegend wissenschaftliches Interesse in ihrer Arbeit mar- kieren, ist es trotzdem insbesondere deshalb wichtig, sich auf Formate wie diese zu beziehen, weil der deutschsprachige sowie der anglo-amerikanische Raum erhebliche (post)migrantische diskursive Leerstellen um queer aufweist und diese Positionen explizit unsichtbar macht. Hierbei maßt sich diese Arbeit allerdings nicht an, queer in Bezug zu allen globalen kulturellen Dimensionen zu setzen, sondern versucht lediglich einen kritischen Blick auf ein westlich geprägtes Verständnis von queer, das sich in einer scheinbar direkten und beabsichtigten Abgrenzung zum Glo- balen Süden entwickelt hat, zu erweitern, herauszuarbeiten und mitzudenken. 2.1 Der Ursprung von Queer Queer hatte und hat zu verschiedenen Zeiten an diversen Orten unterschiedliche Bedeutungen. Be- sonders prägend für die Überlieferung und die Aufnahme in den allgemeinen Sprachgebrauch scheint hier allerdings der anglo-amerikanische Raum gewesen zu sein. Erste Überlieferungen des Ausdrucks queer lassen sich bereits in Sprichwörtern und metaphorischen Wendungen des 16. Jahrhunderts aus- findig machen. Während queer zu diesem Zeitpunkt überwiegend als Synonym für „merkwürdig“, „sonderbar“, „fragwürdig“ oder „pervers“ gilt, spiegelt sich der Ausdruck in Redensarten, wie jene des Sozialreformers und Mitbegründers der Kooperativenbewegung Robert Owen, wider. Seine Aus- sage „All the world is queer save thee and me, and even thou art a little queer“ erlangt im 19. Jahr- hundert Popularität und gilt neben Verwendungen des Ausdrucks in Geschichten über Sherlock Hol- mes und Arthur Conan Doyle als erste kulturelle Überlieferung.15 Zu diesem Zeitpunkt kann queer überwiegend bedeutungsgleich mit dem englischen Wort „odd“ (dt.: merkwürdig) gelesen werden. Laut dem Historiker George Chauncey wird der Ausdruck queer erstmalig für gleichgeschlechtliches Begehren in den New Yorker Subkulturen vor dem zweiten Weltkrieg verwendet.16 Interessant hier- bei ist, dass die Bezeichnung queer dem Ausdruck gay vorausgeht. Queer dient zwischen 1910 und 1930 als Selbstbezeichnung überwiegend für sich mit Männlichkeit identifizierende Personen, die 15 Vgl. Barker, Meg-John, und Scheele, Julia. Queer: eine illustrierte Geschichte. Übersetzt von Jennifer Sophia Theodor. 1. Auflage. Münster: Unrast, 2018, S.12. 16 Vgl. Jagose, Annamarie, und Genschel, Corinna. Queer theory: eine Einführung. 3. Auflage November 2017. Berlin: Querverlag, 2017, S.97. 7
sich auf Grund ihrer gleichgeschlechtlichen Begehrensstruktur und nicht wegen ihrer Geschlechtsi- dentität als queer bezeichnen. Allerdings wird queer in den 1930er Jahren von gay verdrängt. Gay erringt die Vormachtstellung während des zweiten Weltkrieges.17 Eine erstmalige Verwendung des Ausdrucks queer als homosexuellen-feindliche Beschimp- fung ist in einem Brief aus dem Jahr 1894 von John Sholto Douglas, dem Marquis von Queensberry, dokumentiert. Dieser wirft Oscar Wilde darin vor, eine Affäre mit Douglas‘ Sohn zu haben.18 Der Gebrauch des Wortes, um Dinge allgemein abzuwerten, hält sich hartnäckig. Es dient als Herabwür- digung und Diffamierung gleichgeschlechtlich begehrender Menschen und meint insbesondere „wei- bische“, „affektierte“, „tuntige“ Männer.19 Laut der Encyclopedia of Homosexuality ist queer im Nor- den Amerikas des 20. Jahrhunderts das am weitesten verbreitete, alltagssprachliche Schimpfwort, um nicht nur gleichgeschlechtlich begehrende Menschen abzuwerten.20 Allerdings eignet sich die queere Community im Sinne einer aktivistischen Strategie den Ausdruck um 1980 mit Stolz wieder an, um sich gegen diese Form von Queerfeindlichkeit zu wehren. Dies geschieht insbesondere durch mehr- fach marginalisierte Queers, die sich in der kommerziell gewordenen, lifestyle-orientierten und elitä- ren Schwulenkultur einerseits und in separatistischen Feministinnen andererseits, nicht mehr reprä- sentiert fühlen.21 Schnell avanciert das Wort jedoch in die englischsprachige Mainstream-Kultur und wird abermals insbesondere in kommerziellen Formaten von und für schwule, weiße, cis männliche Personen übernommen. Queer scheint entgegen der ursprünglichen Bündnispolitik immer mehr zu einem westlichen, weißen und von Männlichkeit geprägten Konzept, sowohl außerhalb der queeren Community als auch innerhalb dieser, instrumentalisiert zu werden. Fest steht allerdings, dass der Ausdruck queer mittlerweile einen politischen Horizont erreicht hat, der sich nicht mit einer einfachen Übersetzung in „merkwürdig“, „sonderbar“, „fragwürdig“ oder „pervers“ transformieren lässt. Deswegen ist der Gebrauch von queer als Anglizismus nicht nur in der deutschen Sprache und in akademischen Diskursen häufig gerechtfertigt. Allerdings ist es nach wie vor essentiell, die Motive der Verwendung des Ausdrucks hervorzuheben und zu kontextualisie- ren. Hierbei kann queer zudem in den unterschiedlichen Wortarten Substantiv, Adjektiv und Verb verwendet werden. Während jedoch die Queer Theory beispielsweise queer grundsätzlich als Verb und Praxis versteht, ist der Gebrauch des Ausdrucks queer als Substantiv und Umbrella Term am geläufigsten. 17 Vgl. Jagose, Annamarie, und Genschel, Corinna. Queer theory: eine Einführung. 3. Auflage November 2017. Berlin: Querverlag, 2017, S.97. 18 Vgl. Barker, Meg-John, und Scheele, Julia. Queer: eine illustrierte Geschichte. Übersetzt von Jennifer Sophia Theodor. 1. Auflage. Münster: Unrast, 2018. S.13. 19 Vgl. ebd. 20 Vgl. Jagose, Annamarie, und Genschel, Corinna. Queer theory: eine Einführung. 3. Auflage November 2017. Berlin: Querverlag, 2017, S. 97. 21 Vgl. Degele, Nina. Gender, Queer Studies: eine Einführung. UTB Basiswissen Soziologie 2986. Paderborn: Fink, 2008, S.43. 8
2.2 Queer als Substantiv und „Umbrella Term“ Früher war der Begriff ,queer‘ im besten Fall ein umgangssprachlicher Ausdruck für „homosexuell“ und im schlimmsten ein homophobes Schimpfwort. Seit ein paar Jahren jedoch wird queer anders gebraucht – als Sammelbegriff für ein politisches Bündnis sexueller Randgruppen und zur Bezeichnung eines neuen theoretischen Konzepts, das sich aus den bereits etablierten Lesbischen und Schwulen Studien entwickelt hat.22 Der Ausdruck queer ist im heutigen Verständnis also ein Sammelbegriff und beschreibt nach Jagose ein politisches Bündnis sexueller Randgruppen, das jedoch zusätzlich geschlechtliche Vielfalt inklu- diert. Queer wird in diesem Zusammenhang häufig als Synonym für LGBTQIA+ verwendet. Hierbei stellt sich jedoch die Frage, ob die beiden Ausdrücke wirklich deckungsgleich sind. Als Begründung für die synonyme Verwendung der Bezeichnungen wird oftmals die Unüberschaubarkeit des Akro- nyms LGBTQIA+ genannt. Queer sei im Gegensatz zu dem immer länger werdenden „Buchstaben- salat“ LGBTQIA+ eine einfachere Alternative, um möglichst viele Menschen zusammenzufassen, ohne Abkürzungsirrtümer, wie sie das Akronym in sich birgt.24 In diesem Bedeutungshorizont wird Queer gerne als „Umbrella Term“ verwendet, der jegliche Abweichungen heterosexueller und ge- schlechtlicher Normen meint, da der Ausdruck nicht an eine bestimmte Identitätskategorie gebunden ist. Deshalb lasse sich Queer in einer Vielzahl von Diskussionen nutzbringend verwenden.25 Hierbei stellt sich jedoch die Frage, inwiefern der Gebrauch von Queer mit dem Motiv, „einfa- cher“ geschlechtliche und sexuelle Komplexitäten zu beschreiben, einer begrifflichen Instrumentali- sierung gleicht. Wenn queeres Denken als Affekt gegen Festlegungen und für Mehrdeutigkeit steht, und „Kraft aus der Auseinandersetzung mit Denkformen und Institutionen, die vereinfachen, binari- sieren, hierachisieren und ausgrenzen“26 zieht, zeugt es dann nicht von Ignoranz und Unreflektiert- heit, Queer aus Angst vor Abkürzungsirrtümern mit dem Akronym zu ersetzen? Oder ist diese Kritik an der Verwendung von Queer Zeugnis einer Überakademisierung und Weltfremdheit, welche Queer zum Vorwurf gemacht wird, und baut in Wirklichkeit Zugangsbarrie- ren ab? Um diese Fragen nach der begrifflichen Ebene der Instrumentalisierung von Queer zu beant- worten, ist es zunächst wichtig, die politische Entstehungsgeschichte von queer nachzuzeichnen und zu erläutern, um über die Darlegung sprachlicher Kontexte auch politische Zusammenhänge zu ver- deutlichen. 22 Jagose, Annamarie, und Genschel, Corinna. Queer theory: eine Einführung. 3. Auflage November 2017. Berlin: Quer- verlag, 2017, S.13. 24 Vgl. Voß, Heinz-Jürgen, und Wolter, Salih Alexander. Queer und (Anti-)Kapitalismus. Stuttgart: Schmetterling Verlag 2019. S.28. 25 Vgl. Jagose, Annamarie, und Genschel, Corinna. Queer theory: eine Einführung. 3. Auflage November 2017. Berlin: Querverlag, 2017, S.14. 26 Degele, Nina. Gender, Queer Studies: eine Einführung. UTB Basiswissen Soziologie 2986. Paderborn: Fink, 2008, S.43. 9
2.3 Queere Bündnispolitik und Funktionswandel Dass Menschen den Begriff queer heute gerne benutzen, um ihre sexuelle und geschlecht- liche Identität zu beschreiben, ist den Aufständen Schwarzer Trans*-Frauen, gegen ras- sistische und queerfeindliche Polizeigewalt zu verdanken.27 Wie bereits benannt, wird Queer heute häufig als Synonym für LGBTQIA+ verwendet. Hierbei stellt sich jedoch die Frage, ob das Akronym tatsächlich in der Bedeutung deckungsgleich mit der des Ausdrucks Queer ist. Um hervorzuheben, ob und wo sich zentrale Unterschiede zwischen den beiden Ausdrücken befinden, ist es wichtig herauszustellen, welche Handlungsmöglichkeiten beide Ausdrü- cke mit sich bringen und welche Motive hinter der ursprünglichen Begriffsgebung stecken. Heutzutage wird queer häufig dafür benutzt, um eine Abweichung von einer gesellschaftlichen Norm zu bezeichnen, denn queer wird mittlerweile auch mit quer oder anders übersetzt.28 Hierbei ist Heteronormativität ein wichtiges Stichwort. „Eine queere Lebensweise bezeichnet ein Leben, wel- ches von Heteronormativität abweicht.“29 Unter Heteronormativität versteht man die Auffassung, dass Heterosexualität die Norm in unserer Gesellschaft bestimmt. Sie geht von einer binären Geschlechterordnung aus, in der das Geschlechtermodell von einer dualen Einteilung in Mann und Frau definiert wird, die sich ausschließlich gegenseitig begehren und sich mit dem Geschlecht, wel- ches ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, identifizieren.30 Eingeführt und geprägt wurde dieser Begriff maßgeblich durch die Denkbewegung der Queer Stu- dies. Er stellt nicht nur die Annahme in Frage, es gäbe ausschließlich zwei gegensätzliche Geschlech- ter, die sexuell aufeinander bezogen sind und die mit Heterosexualität einhergehende Privilegierung, sondern analysiert und kritisiert anhand dessen auch Machts-, Ungleichheits- und Herrschaftsverhält- nisse.31 Hierunter fallen beispielsweise auch durch den Neoliberalismus geprägte Normen, welche sich laut Kritiker*innen wie Volker Woltersdorff und Lisa Duggan selbst innerhalb der Schwulen und Lesbenszene etablieren. „Gay“ ist im Sinne einer schwulen oder lesbischen Identität Teil des Akronyms. Die ursprüngliche Bedeutung von queer war zwischenzeitlich und ist in manchen Kontexten nach wie vor schwul und männlich konnotiert. Der Ausdruck Gay lässt allerdings im Gegensatz zu queer weniger Interpretati- onsfreiraum. Unter dem gay lifestyle versteht Woltersdorff einen Lebensentwurf hauptsächlich schwuler, aber auch lesbischer Menschen, im Sinne eines neoliberalen Modells, welches von beruf- 27 erklär mir mal… :Queer & Feminismus-Queer. In: Instagram. Veröffentlicht am: 29.06.2020. Online verfügbar unter: https://www.instagram.com/tv/CCAwVcBqcRJ/?hl=de. Abrufdatum: 20.08.20. 28 Vgl. ebd. 29 Ebd. 30 Divers Magazin: Glossar. In: Divers Magazin. Online verfügbar unter: https://diversmagazin.de/glossar/. Abrufda- tum:12.07.2020. 31 Ebd. 10
lichem Erfolg, gutem und sicherem Einkommen, Modebewusstsein, Mobilität, Flexibilität, Hedonis- mus, Konsumorientierung und Individualismus geprägt ist.32 Unter diesen Voraussetzungen können sie als „ideale Subjekte einer Konsum- und Dienstleistungsgesellschaft“33 fungieren. Lisa Duggon bezeichnet diese partielle Normalisierung von Homosexualität unter neoliberalem Vorzeichen kri- tisch als neue „Homonormativität“.34 Die Theorien von Woltersdorff und Duggan werden aus der Prämisse heraus entwickelt, dass LGBTQIA+ als feste und starre Identitäten und somit auch als eine der Voraussetzungen zur Ent- wicklung des gay lifestyle oder des Konzepts der Homonormativität gelten. Wohingegen der Aus- druck und die Studien um Queer den Bestrebungen nachgehen, kontinuierlich Identität als Teil einer zwar alles durchdringenden, aber ungleichmäßig verteilten gesellschaftlichen Macht in Frage zu stel- len. Queere Aktivist*innen betonen im gleichen Zuge, dass beispielsweise Gleichstellungspolitik viele ausschließt, und kritisieren den Fokus insbesondere der weiß dominierten Schwulenbewegung auf Eheschließung, Konsumkultur oder Militarisierung. Schon zum Zeitpunkt des ersten historisch bedeutsamen und überlieferten Widerstandes (New York, Juni 1969) stehen hier die Anliegen von zwei unterschiedlichen Bewegungen gegenüber. Wäh- rend die Homophilenbewegung sich für einen liberalen gesellschaftlichen Wandel engagierte, eine Verbesserung der öffentlichen Meinung anstrebte und ein Bild von Homosexualität präsentierte, das für die Mainstream Gesellschaft akzeptabel sein sollte, lehnte es die Homobefreiungsbewegung (gay liberation) ab, sich auf heterosexuelle Ängste einzulassen und konfrontierte die Gesellschaft mit ihrer Andersartigkeit, anstatt sie mit einem Gleichheitsanspruch zu umwerben.35 Hierbei sollten Themen jener queeren Gruppen fokussiert werden, die am stärksten an den Rand gedrängt werden und im Alltagsleben von Gewalt, Suizid, Armut und Wohnungslosigkeit bedroht sind.36 Die Gründer*in des Center for Intersectional Justice (CIJ) Emilia Roig erklärt, dass eine intersektio- nale Linse hilft, Minderheiten innerhalb von Minderheiten sichtbar zu machen und Diskriminierung innerhalb von Diskriminierung zu bekämpfen.37 Der aus der Schwarzen Frauen* Bewegung stam- mende und von Kimberlé Crenshaw maßgeblich geprägte Begriff Intersektionalität (eng. intersec- tion: Kreuzung) meint nach einer Definition von Altar Brah und Anne Phoenix: 32 Vgl. Degele, Nina. Gender, Queer Studies: eine Einführung. UTB Basiswissen Soziologie 2986. Paderborn: Fink, 2008, S.191. 33 Ebd. 34 Vgl. ebd. 35 Vgl. Jagose, Annamarie, und Genschel, Corinna. Queer theory: eine Einführung. 3. Auflage November 2017. Berlin: Querverlag, 2017, S.47. 36 Vgl. Barker, Meg-John, und Scheele, Julia. Queer: eine illustrierte Geschichte. Übersetzt von Jennifer Sophia Theodor. 1. Auflage. Münster: Unrast, 2018, S. 16. 37 Vgl. erklär mir mal… : Intersektionalität. In: Instagram. Veröffentlicht am: 12.05.2020. Online verfügbar unter: https://www.instagram.com/tv/CAGGiM7lWrW/?hl=de. Abrufdatum: 20.08.20. 11
the complex, irreducible, varied, and variable effects which ensue when multiple axes of differentiation – economic, political, cultural, psychic, subjective and experimental – in- tersect in historically specific contexts38 Dieses Konzept bezeichnet also die „kontextspezifischen Untersuchungen der Überschneidungen und des Zusammenwirkens verschiedener gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen und -praktiken.“39 Im Vordergrund des Intersektionalitätkonzeptes steht anfangs die Triade von race, class und gender.40 Allerdings werden in Räumen, in denen es explizit um Diskriminierung auf Grund der Sexualität oder des Geschlechts geht, die Lebensrealitäten der von Rassismus betroffenen Menschen oft auch nicht mitgedacht.41 Andersherum werden Menschen, die sich abseits der heterosexuellen Norm verorten, häufig auf Grund von kulturellen, postkolonialen oder religiösen Positionen nicht als Teil nicht-wei- ßer Communities gesehen.42 Wenn die Theorie der Intersektionalität angewendet wird, um diese Mehrfachdiskriminierung innerhalb von marginalisierten Communities sichtbar zu machen, muss auch gegen die Diskriminie- rung unterschiedlich marginalisierter Gruppen gekämpft werden.43 Spezifische Erläuterungen zum Begriff der Intersektionalität und wo sich die Überschneidungspunkte zum Diskurs um queer befin- den, werden zu einem späteren Zeitpunkt der Arbeit genau untersucht. Vorher ist es jedoch wichtig, einen kurzen historischen Abriss des ersten bedeutsamen queeren Aufstandes gegen rassistische Po- lizeigewalt und Queerfeindlichkeit in westlichen Kulturzusammenhängen zu geben, um daran an- schließend wichtige Stränge beider Diskurse – um queer und um Intersektionalität – zusammenzu- führen. Am 27. Juni 1969 stürmen Polizist*innen das Stonewall Inn in New York. Zu diesem Zeitpunkt ist das Stonewall Inn vor allem ein Zufluchtsort für jene, denen in den angeseheneren Bars der Zutritt verwehrt bleibt.44 Hier kommen hauptsächlich nicht-heterosexuelle Menschen zusammen, von Ras- sismus betroffene Menschen, diejenigen, die auf Grund ihrer Geschlechtsidentität diskriminiert wer- den, von Armut betroffene Menschen, Sexarbeiter*innen und andere marginalisierte Gruppen.45 „All jene also die mit dem Begriff ,queer‘ als Fremdbezeichnung beschimpft wurden.“46 Obwohl Razzien der Polizei an queeren Orten zu diesem Zeitpunkt keine Seltenheit sind, so ist jedoch der Stonewall 38 Degele, Nina. Gender, Queer Studies: eine Einführung. UTB Basiswissen Soziologie 2986. Paderborn: Fink, 2008, S.142. 39 Ebd. 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. erklär mir mal… : Queer & Feminismus -Queer. In: Instagram. Veröffentlicht am: 29.06.2020. Online verfügbar unter: https://www.instagram.com/tv/CCAwVcBqcRJ/?hl=de. Abrufdatum: 20.08.20. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. ebd. 44 Vgl. ebd. 45 Vgl. ebd. 46 Ebd. 12
Riot im Juni 1969 der erstmalige folgenreiche Widerstand gegen eben genau diese polizeiliche, insti- tutionelle und individuelle Gewalt, die diesen Tag in die Geschichte eingehen lässt. Die Stamm- gäst*innen wehren sich in gewaltvollen Auseinandersetzungen, nicht nur gegen die Staatsmächte, sondern auch gegen die Kriminalisierung ihrer Identifizierungen. Aus der Razzia und dem Wider- stand entwickelt sich ein circa einwöchiger Aufstand. Es werden Parolen skandiert, die denen der späteren Homo-Befreiung sehr ähneln.47 Welche Personen genau den Aufstand begonnen haben, ist auch heute noch nicht eindeutig. Allerdings ist die Revolte sehr wahrscheinlich auf die Schwarze Trans* Frau Marsha P. Johnson und die BIPoC48 Trans*-Frau Sylvia Rivera zurückzuführen.49 Der Ausdruck queer, so wie er heute verstanden wird, egal ob als Sammelbegriff, als politische Praxis und Lebensweise oder als Abweichung von Heteronormativität, wird oftmals mit einem etwa- igen unreflektierten, weißen Verständnis, das Zusammenhänge mit kapitalistischen Verhältnissen nicht hinterfragt, gedacht.50 Deshalb ist es besonders wichtig hervorzuheben, dass all jene, die am häufigsten Ziel von Polizeischikanen waren, die gesellschaftlich und ökonomisch Marginalisierten, oftmals diejenigen sind, die am entschlossensten kämpften und denen systematisch die Verantwor- tung für den Kampf übertragen wird.51 Es waren […], wie Jin Haritaworn hervorhebt, „[S]chwarze und Drag Queens/ Trans- gender of [C]olour aus der Arbeiter[*innen]klasse, die schon in den 1960er Jahren den Widerstand gegen das heteronormative Zwangssystem trugen und sich in Abgrenzung zur [weißen] Mittelklasse-Schwulen und Lesben queer nannten, lange bevor deren aka- demische Nachfahren sich diese Identität aneigneten.52 Aus den Aufständen und den Demonstrationen des Stonewall Inn entstehen die Pride Märsche, wie sie heute bekannt sind.53 Heutzutage wird allerdings immer häufiger durch die Kommerzialisierung des Pride vergessen, warum gefeiert werden kann, wofür mehrfach marginalisierte Personen jahre- lang kämpfen mussten.54 „Und warum sich Menschen heute gerne als queer bezeichnen, während es früher als Schimpfwort galt.“55 47 Vgl. Jagose, Annamarie, und Genschel, Corinna. Queer theory: eine Einführung. 3. Auflage November 2017. Berlin: Querverlag, 2017, S.47. 48 BIPoC: BIPoC steht für Black Indigenous People of Color. Vgl. Wir muessten mal reden: Awareness Glossar. In: wirmuesstenmalreden.blogspot. Online verfügbar unter: https://wirmuesstenreden.blogspot.com/p/woketionary.html. Abrufdatum: 17.08.2020. 49 Vgl. erklär mir mal… : Queer & Feminismus - Queer. In: Instagram. Veröffentlicht am: 29.06.2020. Online verfügbar unter: https://www.instagram.com/tv/CCAwVcBqcRJ/?hl=de. Abrufdatum: 20.08.20. 50 Vgl. Voß, Heinz-Jürgen, und Wolter, Salih Alexander. Queer und (Anti-)Kapitalismus. Stuttgart: Schmetterling Verlag, 2019. S.29. 51 Vgl. ebd. 52 Ebd. S. 28. 53 Vgl. erklär mir mal… : Queer & Feminismus - Queer. In: Instagram. Veröffentlicht am: 29.06.2020. Online verfügbar unter: https://www.instagram.com/tv/CCAwVcBqcRJ/?hl=de. Abrufdatum: 20.08.20. 54 Vgl. ebd. 55 Ebd. 13
Die Verwendung von queer als Selbstbezeichnung bedeutet für viele, dass ihnen die queeren Szenen, im Gegensatz zu schwulen und lesbischen Kreisen, mehr Raum bieten. Zwar bestehen zwi- schen den Bezeichnungen vielfältige personelle und politisch-inhaltliche Verflechtungen, allerdings zeichnen sich nach raumsoziologischen Untersuchungen von Nina Schuster queere Räume unter an- derem dadurch aus, dass sie besonders offen bezüglich der Reflexion eigener und gesamtgesellschaft- lich gültiger Normen und Ausschlüsse sind.56 Normen bzw. Regeln für Verhalten sind nach Ervin Goffman allgegenwärtiger Bestandteil öf- fentlicher Orte.57 Aus diesen Regeln lassen sich wiederum Rückschlüsse auf soziale Organisation ziehen. Hierbei greift abermals das Konzept der Heteronormativität, aus dem zahlreiche Verhaltens- normen abgeleitet werden. Darüber hinaus sind „an die Dominanz dieses Prinzips viele, stark ver- zweigte gesellschaftliche Organisations- und Privilegierungsformen angeschlossen.“58 Wird also da- von ausgegangen, dass queer die Abweichung von Heteronormativität ist, so bedeutet die Praxis von queer eine andauernde Reflexivität von strukturellen Diskriminierungsformen sowie das Infragestel- len der damit einhergehenden gesellschaftlichen Organisations- und Privilegierungsformen. Darüber hinaus stellen sich die entsprechenden Räume beständig Herausforderungen identitäts- politischer Verengung. Zwangsläufig konstituieren sich mit der Eröffnung von Räumen auch eigene Normen. Zwar entstehen diese Räume in Abgrenzung zu hegemonialen Normen, allerdings geht mit der Eröffnung eines Szenen spezifischen Raums auch die Vereindeutigung und Normalisierungen bestimmter Subjektpositionen und Identitäten einher.59 „Einen Ausweg aus diesem Dilemma queerer Räume bietet die in der Szene praktizierte Möglichkeit, Normen immer wieder neu zu verhandeln.“60 Sich als queer zu verstehen oder zu praktizieren kann also mehr bedeuten als nur Sexualität und Ge- schlecht in Frage zu stellen, sondern bedeutet auch strukturelle Macht kritisch zu durchleuchten. Folglich ist einer der größten Unterschiede zwischen den Bezeichnungen queer bzw. Queer und LGBTQIA+, dass LGBTQIA+ hauptsächlich ein aus dem Globalen Norden stammender Terminus für sexuelle und geschlechtliche Identität bzw. Vielfalt ist, während queer vor allem auch politische Praxis und die damit einhergehende ständige Hinterfragung und Reflexion von bisher sicher geglaub- ten Wahrheiten, Identitäten und damit verbundenen Normen bezeichnet. Das Akronym ist in erster Linie eine Sammlung ganz spezifisch benannter Identitäten, die an- fänglich nicht flexibel zu sein scheinen. Somit ist LGBTQIA+ eher eine Auflistung, anstatt eines „Umbrella Terms“, wodurch eine Trennung zwischen den einzelnen Identitäten reproduziert wird. 56 Vgl. Paul, Barbara und Lüder, Tietz und Schubarth, Caroline, Hrsg. Queer as: kritische Heteronormativitätsforschung aus interdisziplinärer Perspektive. Studien interdisziplinäre Geschlechterforschung 9. Bielefeld: Transcript, 2016. S.163. 57 Vgl. ebd. S.151. 58 Vgl. ebd. S.163. 59 Vgl. ebd. 60 Ebd. 14
Die komplexe Bedeutung des Ausdrucks queer und das sich nicht-Einschränken auf einzelne Identi- täten, sondern Anerkennen eines komplexen politischen und sozialen Kontextes, gleicht dem Konzept der Intersektionalität und scheint eine wechselseitige Unterstreichung beider Konzepte hervorzubrin- gen. 3 Queer und Intersektionalität? – Ansätze politischer Progressivität Wie bereits dargelegt diente und dient queer bzw. Queer in vielerlei Hinsicht als Ausdruck politischer Praxis, deren Anliegen es nicht ist zu vereinfachen und zu binarisieren, sondern Normen und Herr- schaftsstrukturen in ihrer Verwobenheit infrage zu stellen. Wie der Ausdruck selbst hat auch diese Arbeit nicht die Absicht, die zwei sich gegenüberstehenden Ebenen der politischen Progressivität und der Instrumentalisierung zu untersuchen, sondern viel mehr aufzuzeigen, wie diese ineinander über- gehen und zwangsläufig miteinander verbunden sind. Für einen der Hauptinteressenspunkte von queer, das ständige Hinterfragen struktureller sowie individueller Ungleichheits- und Diskriminie- rungsformen, ist der Begriff der Intersektionalität von maßgeblicher Bedeutung. 3.1 Was ist Intersektionalität? Consider an analogy to traffic in an intersection, coming and going in all four directions. Discrimination, like traffic through an intersection, may flow in one direction, and it may flow in another. If an accident happens in an intersection, it can be caused by cars traveling from any number of directions and, sometimes, from all of them. Similarly, if a Black women is harmed because she is in the intersection, her injury could result from sex discrimination or race discrimination.61 Die Metapher der Straßenkreuzung, anhand welcher Mehrfachdiskriminierung erklärt werden soll und die von der Juristin Kimerlé Crenshaw maßgeblich geprägt wurde, wird nicht nur in dem ver- hältnismäßig sehr jungen und einflussreichen Diskurs um Intersektionalität selbst zu einem populären Bild. Ursprünglich stammt der Begriff aus dem US-amerikanischen Schwarzen Feminismus.62 Aus- schlaggebend ist das Combahee River Collective, welches im Manifest A Black Feminist Statement (1977) herausarbeitet „dass das proklamierte ,politische Subjekt Frau‘ der Mainstream-Feministin- nen, die damals in den Medien ,des Westens‘ Aufmerksamkeit zu finden begannen, implizit immer als weiß, cis und Mittelstand angehörig gedacht war.“63 Weitere fehlende Diversitätsmerkmale wie beispielsweise Sexualität, körperliche und geistige Fähigkeiten bzw. Behinderungen oder Alter wer- den in der Kritik des Kollektivs zunächst nicht explizit benannt. 61 Crenshaw, Kimberle: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimina- tion Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, University of Chicago Legal Forum: Vol. 1989 , Article 8. Online verfügbar unter: https://chicagounbound.uchicago.edu/uclf/vol1989/iss1/8. S.149.Abrufdatum: 25.08.2020. 62 Vgl. Sweetapple, Christopher, und Voß, Heinz-Jürgen und Wolter, Salih Alexander. Intersektionalität Von der Anti- diskriminierung zur befreiten Gesellschaft?, Stuttgart: Schmetterling Verlag. 2020. S.9. 63 Ebd. 15
Im Jahre 1989 gibt die Juristin Kimerlé Crenshaw in ihrem heute zu den Grundlagentexten des Schwarzen Feminismus zählenden Essay „Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine“ diesem Phänomen der Mehrfachdiskriminierung den Namen Intersektionalität. Und auch wenn der Begriff Kritik erfährt, zum Beispiel aufgrund der monodirektionalen Ab- hängigkeiten der einzelnen Diskriminierungsformen, die dadurch assoziiert werden können, so etab- liert sich die Bezeichnung weiterhin in unterschiedlichen Disziplinen. Fokus hierbei wird allerdings trotz der vermeintlich irrtümlichen einseitigen Assoziationen auf die wechselseitigen Verwobenhei- ten unterschiedlicher Diskriminierungs- und Herrschaftsformen gelegt. Während allerdings zunächst auch von Crenshaw selbst lediglich die Trias, „race“, „gender“ und „class“ als wesentliche Differenz- kategorien mit einbezogen werden, so existieren heute insbesondere im europäischen Raum heftige und viel kritisierte Meinungsverschiedenheiten darüber, welche Kategorien das Konzept der Inter- sektionalität über die Trias hinaus aufgreifen soll und kann.64 Je nachdem auf welcher Ebene intersektionale Verhältnisse untersucht werden, birgt diese Ana- lyse verschiedene Schwierigkeiten und Herausforderungen in sich. Die Untersuchung von mehr als drei Kategorien wäre beispielsweise auf der Ebene sozialstruktureller Analysen unüberschaubar und kaum zu bewältigen.65 Wohingegen intersektionale Analysen auf kleineren Ebenen wie beispiels- weise Prozesse der Identitätsbildung (Mikroebene) oder kulturelle Symbole (Repräsentationsebene) wiederum mehr als drei Kategorien abbilden könnten.66 Zusätzlich fehlt jedoch laut den Theoretiker*innen Nina Degele und Gabriele Winker eine schlüssige theoretische Begründung, warum gerade „race“, „class“ und „gender“ die zentralen Linien der Dif- ferenz markieren.67 Allerdings warnen gleichzeitig unterschiedliche Wissenschaftler*innen wie bei- spielsweise Sirma Bilge davor, die Wichtigkeit von „race“ als Differenzkategorie in weißen Genea- logien zu Intersektionalität zu verfälschen, zu minimieren oder gar als optional darzustellen.68 Dies ist insbesondere deshalb problematisch, so argumentiert Bilge, da die Optionalität, das Ausblenden oder absichtliche Vernachlässigen der Kategorie „race“ für das Silencing von Schwarzen Femi- nist*innen und Feminist*innen of Color sorgt. Einen allgemeinen Konsens darüber, welche Kategorien in intersektionale Analysen mit einbe- zogen werden sollen, gibt es folglich nicht. Allerdings sollte die Entscheidung der Kategorien der Ungleichheit vom untersuchten Gegenstand und von der gewählten Untersuchungsebene abhängig 64 Vgl. Winker, Gabriele, und Degele, Nina. Intersektionalität: zur Analyse sozialer Ungleichheiten. 2., unveränd. Aufl. Sozialtheorie Intro. Bielefeld: Transcript, 2010. S.14. 65 Vgl. ebd. S.15ff. 66 Vgl. ebd. 67 Vgl. ebd. 68 Vgl. Bilge, Sirma. Whitening Intersectionality: Evanescence of Race in Intersectionality Scholarship. Online verfügbar unter:https://www.academia.edu/11805835/Whitening_Intersectionality_Evanescence_of_Race_in_Intersectiona- lity_Scholarship. November 2014.S.17. Abrufdatum: 13.08.2020. 16
gemacht werden.69 Hierbei sollte allerdings beachtet werden, dass die Wahl der unterschiedlichen Perspektiven von verschiedenen Differenzkategorien die Stimmen bestimmter nicht-verhandelter Minderheiten immer auch ausschließt und ungewollt hegemoniale Strukturen aufrecht erhalten kann. In Anbetracht dieser Arbeit ist es sinnvoll, sich den Kategorien Geschlecht und Sexualität auf struktureller Diskriminierungsebene zu nähern, um anschließend daran festzustellen wie queer, im Sinne einer kontinuierlichen kritischen Infragestellung von struktureller Macht, praktizierbar sein kann. Selbstverständlich können nicht alle gesamtgesellschaftlichen strukturellen Ebenen von Dis- kriminierung in Bezug auf Geschlecht und Sexualität in einer intersektionalen Perspektive erläutert werden, da dieses Vorhaben den Rahmen dieser Arbeit überschreiten würde. Allerdings ist es sinnvoll sich dieser Ebene durch abermals diskursprägende Denker*innen wie Gayle Rubin als Hauptbezugs- punkt zu widmen, da diese sich nicht nur in philosophischen Diskursen als maßgebliche Denker*in, die sexuelle und geschlechtliche Unterdrückungsmechanismen hinterfragt, etabliert hat. Gayle Rubin prägt durch ihren einflussreichen Essay, „Thinking Sex: Notes for a Radical The- ory of the Politics of Sexuality“, die US-amerikanische Tradition der Queer Theory und legt beson- deres Augenmerk auf verschiedene Formen von Macht, die zugleich unterschiedlich sind und mitei- nander interagieren, um darauf aufbauend den Blick auf die soziokulturelle Regulierung von Sexua- lität insgesamt zu erweitern.70 Im Folgenden sollen also Rubins Überlegungen bezüglich sexueller Unterdrückungsmechanismen ausführlich dargelegt werden, um anschließend daran fundierte Aussagen darüber treffen zu können, wie queere intersektionale Praxis in Form von kritischen Infragestellungen struktureller Ungleich- heitsformen aussehen kann. 3.2 Geschlecht und Sexualität – Dimensionen struktureller Diskriminierung bei Gayle Rubin The realm of sexuality also has its own internal politics, inequities, and modes of oppres- sion. As with other aspects of human behavior, the concrete institutional forms of sexu- ality at any given time and place are products of human activity. They are imbued with conflicts of interest and political maneuver, both deliberate and incidental. In that sense sex is always political.71 Rubin beschäftigt sich in ihren Studien mit sexuellen Handlungen, den damit verbundenen Sanktio- nen und moralischen Vorstellungen sowie dem politischen Potential, welches unweigerlich damit 69 Vgl. Bilge, Sirma. Whitening Intersectionality: Evanescence of Race in Intersectionality Scholarship. Online verfügbar unter:https://www.academia.edu/11805835/Whitening_Intersectionality_Evanescence_of_Race_in_Intersectiona- lity_Scholarship. November 2014.S.17. Abrufdatum: 13.08.2020. 70 Vgl. Sweetapple, Christopher, und Voß, Heinz-Jürgen und Wolter, Salih Alexander. Intersektionalität Von der Anti- diskriminierung zur befreiten Gesellschaft?, Stuttgart: Schmetterling Verlag. 2020. S.20. 71 Parker, Richard G., und Aggleton, Peter, Hrsg. Culture, society and sexuality: a reader. Second Edition. Sexuality, culture and health. London; New York: Routledge. 2007. S.150. 17
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