Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland - STUDIE Im Auftrag des EMPL-Ausschusses - Europa EU

 
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Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland - STUDIE Im Auftrag des EMPL-Ausschusses - Europa EU
STUDIE
Im Auftrag des EMPL-Ausschusses

                   Die
         Beschäftigungssituation
          und die soziale Lage in
              Deutschland

               Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität
                       Generaldirektion Interne Politikbereiche
                           Autoren: Nicola DÜLL, Tim VETTER
                                PE 648.803 – Mai 2020
                                                                           DE
Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland - STUDIE Im Auftrag des EMPL-Ausschusses - Europa EU
Die
Beschäftigungssituation
 und die soziale Lage in
     Deutschland

Abriss
In dieser Studie über die Beschäftigungssituation und die soziale Lage
in Deutschland werden die wichtigsten Entwicklungen im Bereich der
Beschäftigung       einschließlich    atypischer      Beschäftigung,
Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung beleuchtet. Es werden
politische Lösungen sowie die wesentlichen Herausforderungen für
die Zukunft, wie etwa die Digitalisierung und der demografische
Wandel, dargelegt. Außerdem werden die politischen Maßnahmen
zur Bekämpfung der Armut sowie Entwicklungen im deutschen
Sozialpartnerschaftsmodell und im Berufsbildungssystem untersucht.
Abschließend wird der Beitrag des Europäischen Sozialfonds
beschrieben. Auch Aspekte der COVID-19-Pandemie werden
behandelt.

Diese Studie wurde von der Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft
und Lebensqualität im Auftrag des Ausschusses für Beschäftigung
und Soziales (EMPL) bereitgestellt.
Diese Studie wurde vom Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europäischen
Parlaments in Auftrag gegeben.

AUTOREN
Nicola DÜLL, Economix Research & Consulting, München, Deutschland
Tim VETTER, Economix Research & Consulting, München, Deutschland

VERANTWORTLICHE BEAMTIN
Susanne KRAATZ

EDITIONSASSISTENZ
Roberto BIANCHINI

SPRACHFASSUNGEN
Original: EN

ÜBER DEN HERAUSGEBER
Die Fachabteilungen liefern den internen und externen Sachverstand zur Unterstützung der
Ausschüsse des Europäischen Parlaments und anderer parlamentarischer Gremien bei der
Ausarbeitung der Gesetzgebung und Ausübung der demokratischen Kontrolle über die internen
Politikbereiche der EU.

Kontakt zur Fachabteilung oder Bestellung von Aktualisierungen:
Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität
Europäisches Parlament
L-2929 Luxemburg
E-Mail: Poldep-Economy-Science@ep.europa.eu

Redaktionsschluss: April 2020
Datum der Veröffentlichung: Mai 2020
© Europäische Union, 2020.

Dieses Dokument ist im Internet unter folgender Adresse abrufbar:
https://www.europarl.europa.eu/committees/de/supporting-analyses/sa-highlights

HAFTUNGSAUSSCHLUSS UND URHEBERRECHTSSCHUTZ
Die hier vertretenen Auffassungen geben die Meinung der Verfasser wieder und entsprechen nicht
unbedingt dem Standpunkt des Europäischen Parlaments.
Nachdruck und Übersetzung – außer zu kommerziellen Zwecken – mit Quellenangabe sind gestattet,
sofern das Europäische Parlament vorab unterrichtet und ihm ein Exemplar übermittelt wird.
Für Zitierungszwecke sollte die Studie folgendermaßen angegeben werden: Düll, N., Vetter, T., Die
Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland, Studie für den Ausschuss für Beschäftigung
und soziale Angelegenheiten, Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität,
Europäisches Parlament, Luxemburg, 2020.
© Titelbild unter Lizenz von Shutterstock.com verwendet.
Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland

INHALT
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS                                                                                  5
VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN                                                                            7
1. DIE BESCHÄFTIGUNGSSITUATION UND JÜNGSTE POLITISCHE REFORMEN
    IN DEUTSCHLAND                                                                                   12
   1.1. Entwicklung der Beschäftigung                                                                 12
        1.1.1. Beschäftigungsdynamik und Fachkräftemangel                                             12
        1.1.2. Beschäftigung von Frauen                                                               14
   1.2. Beschäftigung von Ausländern und migrationspolitische Maßnahmen                               15
   1.3. Atypische Beschäftigung                                                                       15
        1.3.1. Teilzeitbeschäftigung                                                                  16
        1.3.2. Marginal Beschäftigte (Minijobber)                                                     16
        1.3.3. Befristete Beschäftigung                                                               17
        1.3.4. Leiharbeit (Arbeitnehmerüberlassung)                                                   17
   1.4. Niedriglohnempfänger                                                                          19
   1.5. Auswirkungen von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz auf Arbeitsplätze und
          Kompetenzen                                                                                 20
        1.5.1. Trends in den Bereichen Digitalisierung und Automatisierung                            20
        1.5.2. Neue Arbeitsformen                                                                     22
        1.5.3. Auswirkungen auf die Qualifikation                                                     23
   1.6. Arbeitslosigkeit                                                                              24
        1.6.1. Entwicklung der Arbeitslosigkeit                                                       24
        1.6.2. Unterbeschäftigung                                                                     25
   1.7. Aktive Arbeitsmarktprogramme für die Eingliederung in Arbeitsmarkt und Gesellschaft           26
        1.7.1. Maßnahmen zur Verhütung von Langzeitarbeitslosigkeit                                   27
        1.7.2. Europäische Jugendgarantie                                                             28
        1.7.3. Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen in Deutschland                                28
        1.7.4. Kurzarbeit                                                                             29
        1.7.5. Maßnahmen zur Unterstützung der Selbstständigen und Kleinstunternehmen,
               die von der Corona-Pandemie betroffen sind                                             30
   1.8. Die Bundesagentur für Arbeit und Jobcenter                                                    30
   1.9. Sozialwirtschaft                                                                              32
2. SOZIALPOLITIK                                                                                     33
   2.1. Demografischer Wandel                                                                         33
        2.1.1. Die wichtigsten Trends einer alternden Gesellschaft                                    33
        2.1.2. Migration                                                                              34

                                                  3                                          PE 648.803
IPOL | Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität

         2.1.3. Aktives Altern                                                               36
    2.2. Aktuelle politische Entwicklungen im Bereich des Sozialschutzes                     37
         2.2.1. Reformen des öffentlichen Rentensystems                                      37
         2.2.2. Erfassungsbereich des öffentlichen Rentensystems                             38
         2.2.3. Umsetzung der EU-Mobilitätsrichtlinie                                        38
         2.2.4. Altenpflege                                                                  38
    2.3. Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen
          mit Behinderungen                                                               39
    2.4. Armut und Maßnahmen zur Bekämpfung vom Armut                                        40
         2.4.1. Kinderarmut                                                                  41
         2.4.2. Erschwinglicher Wohnraum                                                     42
         2.4.3. Gesetzlicher Mindestlohn                                                     42
         2.4.4. Europäische Initiative zu Mindestlöhnen                                      43
3. STRUKTUREN DES SOZIALEN DIALOGS                                                           44
    3.1. Sozialpartner                                                                       44
    3.2. Tarifverträge                                                                       45
    3.3. Europäische Betriebsräte                                                            45
4. KOMPETENZENTWICKLUNG                                                                      47
    4.1. Das duale deutsche Berufsausbildungssystem                                          47
         4.1.1. Entwicklungen und Herausforderungen                                          47
         4.1.2. Integration benachteiligter Gruppen in das Berufsausbildungssystem und die
                Jugendgarantie                                                               49
         4.1.3. Allianz für Aus- und Weiterbildung                                           49
    4.2. Stärkung des Lernens am Arbeitsplatz im Bereich der tertiären Bildung               50
         4.2.1. Duale Studiengänge                                                           50
         4.2.2. Praktika                                                                     50
    4.3. Förderung der Weiterbildung                                                         51
5. EUROPÄISCHER SOZIALFONDS IN DEUTSCHLAND                                                   52
LITERATURVERZEICHNIS                                                                         53
ANHANG                                                                                       60

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Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
KI         Künstliche Intelligenz

AAMP       Aktives Arbeitsmarktprogramm

BDA        Bund Deutscher Arbeitgeber

BiBB       Bundesinstitut für Berufsbildung

BAMF       Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

BMAS       Bundesministerium für Arbeit und Soziales

BMBF       Bundesministerium für Bildung und Forschung

BMWi       Bundesministerium für Wirtschaft und Energie

CEO        Geschäftsführer

Destatis   Statistisches Bundesamt

DIW        Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung

DGB        Deutscher Gewerkschaftsbund

EK         Europäische Kommission

ESF        Europäischer Sozialfonds

EU         Europäische Union

BIP        Bruttoinlandsprodukt

IAB        Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung

IFLAS      Initiative zur Flankierung des Strukturwandels

IAO        Internationale Arbeitsorganisation.

KMK        Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder

IT         Italien

IKT        Informations- und Kommunikationstechnologie

AKE        Arbeitskräfteerhebung

                                           5                                           PE 648.803
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 NEET              Nicht in Bildung, Beschäftigung oder Ausbildung befindlich

 NEPS              Nationales Bildungspanel

 OECD              Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

 ÖAV               Öffentliche Arbeitsverwaltungen

 SOEP              Sozio-oekonomisches Panel

 SPD               Sozialdemokratische Partei Deutschlands

 KMU               Kleine und mittlere Unternehmen

 VN                Vereinte Nationen

 BAW               Berufliche Aus- und Weiterbildung, Berufsausbildung

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Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland

VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN
Abbildung 1:   Beschäftigungsquoten nach Geschlecht (15–64)                                            13
Abbildung 2:   Grund für befristetes Beschäftigungsverhältnis nach Alter                               18
Abbildung 3:   Vollzeitbeschäftigte mit Entgelten unter der Schwelle des unteren Entgeltbereichs
               nach Staatsangehörigkeit                                                          20
Abbildung 4:   Arbeitslosenquoten nach ÖAV-Daten                                                       24
Abbildung 5:   Grund für Inaktivität, 2018, Altersklasse 15 bis 64 Jahre                               25
Abbildung 6:   Teilnehmer in Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik nach Politikbereich und
               relevanten Rechtsvorschriften, Februar 2020                                             26
Abbildung 7:   Einnahmen und Ausgaben der Bundesagentur für Arbeit (ÖAV-Daten)                         31
Abbildung 8:   Erwerbstätigenquoten höherer Altersgruppen                                              36
Abbildung 9:   (Unversorgte) Bewerber und (unbesetzte) Berufsausbildungsstellen, 2008/2009 –
               2018/2019                                                                               48
Abbildung 10: Beschäftigungsdynamik, 2004–2019                                                         60
Abbildung 11: Zeitarbeitnehmer 2004–2018 und Juni 2019                                                 61

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ZUSAMMENFASSUNG
Entwicklung der Beschäftigung
Nach der weltweiten Wirtschaftskrise des Jahres 2008 verzeichnete die Beschäftigung in Deutschland
ein stetiges Wachstum, und zwar – nationalen Statistiken zufolge – von 40,9 Millionen im Jahr 2009 auf
43,7 Millionen im Jahr 2016 und 45,3 Millionen im Jahr 2019. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten stieg im Zeitraum 2016–2019 um zwei Millionen (von 2010 bis 2019 um fünf Millionen).
Schon vor Beginn der Corona-Krise gab es erste Anzeichen für eine Verlangsamung des
Beschäftigungswachstums. Führende Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizieren zumindest für
2020 eine schwere wirtschaftliche Rezession infolge der Corona-Pandemie.
Die Hauptquellen für das Beschäftigungswachstum waren gestiegene Beschäftigungsquoten –
insbesondere bei Frauen und Älteren (sowohl für Männer als auch für Frauen) – sowie Einwanderung
und gestiegene Beschäftigungsquoten bei Migranten.
Der Fachkräftemangel bzw. drohende Fachkräftemangel und Strategien zu seiner Überwindung sind
seit vielen Jahren ein zentrales Thema öffentlicher und politischer Diskussionen. Ein Fachkräftemangel
besteht vor allem im Gesundheitswesen, im Baugewerbe und in einigen Bereichen des verarbeitenden
Gewerbes sowie bei IKT-Stellen in allen Branchen.

Digitalisierung
Die Bundesregierung bemüht sich um eine Beschleunigung des Digitalisierungsprozesses in der
Wirtschaft. In der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Auftrag gegebenen neuesten
Arbeitsmarktprognose wird in einem Digitalisierungsszenario geschätzt, dass bis 2035 nur
300 000 Arbeitnehmer durch neue Technologien ersetzt werden; allerdings werden sich
Arbeitsaufgaben inhaltlich verändern. In der Studie wird von einem erhöhten Bedarf an
berufsbezogener Anpassung ausgegangen.
Diskussionen über die Folgen der Digitalisierung für den Arbeitsmarkt mündeten im Dialogprozess
Arbeiten 4.0 der Jahre 2015 und 2016. Mit diesem Prozess wurden Debatten über die
Arbeitsbedingungen und soziale Sicherung von Crowdworkern und Plattformbeschäftigten, das Recht
auf Telearbeit und das Recht auf Nichterreichbarkeit in Gang gesetzt.

Atypische Beschäftigung und Beschäftigungsbedingungen
Über die Hälfte des gesamten Beschäftigungszuwachses seit der konjunkturellen Erholung war auf die
Ausweitung der Teilzeitbeschäftigung, insbesondere bei Frauen (+2,8 Millionen Frauen in
sozialversicherungspflichtiger Teilzeitbeschäftigung im Zeitraum 2010–2019), zurückzuführen.
Abgesehen von der Entwicklung der Teilzeitbeschäftigung gibt es Anzeichen dafür, dass der Anteil
atypischer Beschäftigung in den letzten Jahren aufgrund besserer Beschäftigungsmöglichkeiten leicht
zurückgegangen ist. Im Juni 2019 gab es 7,9 Millionen marginal Beschäftigte – sogenannte Minijobber,
die bis zu 450 EUR im Monat verdienen. Minijobber sind hauptsächlich Schüler und Studenten, Rentner
(im Vorruhestand und nach Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalters) und Hausfrauen sowie
nebenberuflich Tätige. In den letzten Jahren stieg die Zahl der Minijobber in geringerem Umfang als
die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Im Jahr 2018 lag der Anteil der Beschäftigten
mit befristeten Arbeitsverträgen bei 8,3 %. Mindestens in den letzten drei Jahren lässt sich eine erhöhte
Verbleibsquote feststellen. Im Juni 2019 waren ca. 2 % aller Beschäftigten Leiharbeitnehmer. Die
Anzahl der Leiharbeitnehmer ging, nachdem sie 2017 einen Höchstwert erreicht hatte, in den Jahren
2018 und 2019 zurück.

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Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland

Im Jahr 2017 erhielten 7,9 Millionen Personen Löhne unterhalb der Niedriglohnschwelle (ein
Bruttostundenlohn, der 2/3 des Medianentgelts aller Beschäftigten entspricht). Die Mobilität aus dem
Niedriglohnsektor heraus ist gering.

Arbeitslosigkeit und aktive arbeitsmarktpolitische Programme
Aufgrund der gestiegenen Arbeitskräftenachfrage ging die Arbeitslosenquote ebenso wie die
Nichterwerbsquote zurück. Verwaltungsdaten zufolge belief sich die Arbeitslosenquote im Januar
2020 auf 5 %, Daten der Arbeitskräfteerhebung zufolge auf 3,2 %; sie war bis dahin seit vielen Jahren
rückläufig. Anfang 2020 ist erstmals seit der Weltwirtschaftskrise ein leichter Anstieg zu beobachten
(gegenüber dem Vorjahr). Die Arbeitslosenquote liegt bei jungen Menschen knapp unter der von
Erwachsenen. Die Inzidenz von Langzeitarbeitslosigkeit ist in den letzten Jahren leicht
zurückgegangen.
Die Senkung der Langzeitarbeitslosigkeit, insbesondere durch die Förderung eines sozialen
Arbeitsmarktes für Dauerarbeitslose, steht im Mittelpunkt aktueller aktiver arbeitsmarktpolitischer
Programme. Ein weiterer Schwerpunkt ist es, benachteiligte junge Menschen in Bildung (insbesondere
Berufsbildung) und Beschäftigung zu bringen, wie die Fortführung der seit den 1970er Jahren
laufenden Maßnahmen belegt. Aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen wurden in jüngerer Zeit
erfolgreich gezielt bei Flüchtlingen und Asylbewerbern eingesetzt. Das Bundesteilhabegesetz von
2016 fördert Maßnahmen zur Integration von Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt. Um
die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Arbeitsmarkt zu bewältigen, entschied die
Bundesregierung, die Anspruchsvoraussetzungen für Kurzarbeit zu erleichtern.

Demografischer Wandel
Die deutsche Gesellschaft wird aufgrund niedriger Geburtenziffern und einer steigenden
Lebenserwartung immer älter, auch wenn die Geburtenziffern in letzter Zeit gestiegen sind. Eine große
Herausforderung stellt die weitere Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie dar.
Als Folge der Flüchtlingskrise erreichte der Wanderungssaldo in Deutschland 2015 einen Höchststand
von 1,1 Millionen Personen und ging in den drei Folgejahren wieder zurück. Im Migrationsbericht für
2018 wird für Deutschland ein Wanderungssaldo von fast 400 000 Personen ausgewiesen. Fast die
Hälfte dieser Nettozuwanderung hatte ihren Ursprung in einem anderen Mitgliedstaat der
Europäischen Union (EU).
Zur     Bewältigung    des     Fachkräftemangels    verabschiedete      der    Bundestag     das
Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das am 1. März 2020 in Kraft trat. Das neue Gesetz erleichtert die
Zuwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften und von Arbeitskräften mit Berufsausbildung aus
Drittländern nach Deutschland.

Die Systeme der sozialen Sicherheit
Im Zuge von Rentenreformen wurden das Renteneintrittsalter erhöht, die Frühverrentung wurde
eingeschränkt, und es wurden Anreize für Rentner zur Aufnahme einer Beschäftigung geschaffen. Die
Beschäftigungsquoten bei Älteren sind in den letzten Jahren enorm gestiegen (für die Altersgruppe
60–64 von 25,3 % im Jahr 2004 auf 60,3 % im Jahr 2018 und für die Altersgruppe 50-59 von 68,2 % im
Jahr 2004 auf 83,6 % im Jahr 2018).
Die wachsende Zahl älterer Pflegebedürftiger stellt eine große Herausforderung dar. Um die Ausgaben
für die stationäre Pflege zu begrenzen, hat die Bundesregierung Maßnahmen für eine bessere
Vereinbarkeit von Beruf und Pflege älterer Menschen beschlossen. Da der Mangel an Pflegepersonal

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IPOL | Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität

zu den größten Problemen gehört, gelten neue Initiativen vor allem der Anhebung der Löhne für
Pflegerinnen und Pfleger und der Anwerbung im Ausland.

Armut
Die gute Wirtschaftsleistung Deutschlands in den letzten zehn Jahren in Deutschland hat zur
Verminderung der Armut beigetragen. Die Armutsquoten von Kindern (in Haushalten, die 50 % des
Medianeinkommens nach Steuern und Sozialleistungen erhielten) liegt höher als für die übrige
Bevölkerung. Vor allem Kinder, die in Haushalten von Alleinerziehenden, in Haushalten mit niedriger
Erwerbsbeteiligung oder in kinderreichen Familien leben, sind von Armut bedroht. Zu den
wesentlichen Aufgaben gehören die Verbesserung der sozialen Mobilität und die Ermöglichung eines
gleichberechtigten Zugangs armer Kinder zu hochwertiger Bildung.
Zur Linderung der Erwerbstätigenarmut wurde 2015 ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt. Er hat
sich positiv auf die Löhne in den untersten Einkommensgruppen ausgewirkt, obwohl noch immer nicht
alle Unternehmen das Gesetz einhalten.

Wohnung
Erschwinglicher Wohnraum ist inzwischen nicht nur für einkommensschwache Haushalte, sondern
auch für Haushalte mit mittlerem Einkommen ein großes Problem, insbesondere in wirtschaftlich
dynamischen Ballungsräumen. Aktuelle Maßnahmen umfassen eine Anhebung des Wohngelds sowie
die Regulierung von Mietpreissteigerungen.

Sozialer Dialog
Deutschland ist bekannt für sein Sozialpartnerschaftsmodell. Allerdings haben die Gewerkschaften seit
Jahrzehnten mit sinkenden Mitgliederzahlen zu kämpfen, und für einen immer größeren Anteil der
Arbeitnehmer gilt weder ein Tarifvertrag noch eine Betriebsvereinbarung. Dessen ungeachtet sind die
Löhne aufgrund der guten Wirtschaftsleistung und niedrigen Arbeitslosigkeit gestiegen. Am höchsten
war der Lohnzuwachs in der Metall- und Elektroindustrie, in der Stahlindustrie und im öffentlichen
Sektor der Bundesländer (vor allem für einzelne Berufsgruppen wie Pflegekräfte).

Kompetenzentwicklung
Das duale System der Berufsausbildung ist weithin als einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren für den
Abbau der Jugendarbeitslosigkeit und des Qualifikationsdefizits anerkannt. Der Umstand, dass immer
weniger junge Menschen an einer dualen Berufsausbildung teilnehmen, ist sehr besorgniserregend.
Seit der Einführung des Bachelor-Abschlusses durch den Bologna-Prozess ziehen immer mehr von
ihnen eine Hochschulbildung vor. Zur Bewältigung der Herausforderungen für das duale
Berufsausbildungssystem wurde eine Allianz für Aus- und Weiterbildung 2015–2018 geschmiedet.
Bundesregierung, Sozialpartner und weitere wichtige Interessenvertreter unterzeichneten eine neue
Vereinbarung über die Allianz für 2019–2021. Zu den wichtigsten Aktionen gehören Maßnahmen für
die Integration benachteiligter Jugendlicher in die duale Berufsausbildung und zur Unterstützung bei
der Vermittlung.
Das arbeitsplatznahe Lernen in der Hochschulbildung wurde ausgebaut. Zusätzlich zu traditionellen
Studienformen wurden neue Formate von Studiengängen im Einklang mit der dualen Struktur
eingeführt. Darüber hinaus kommen zunehmend Praktikumsprogramme zur Anwendung.
In den letzten Jahren wurden mehrere Maßnahmen und Rechtsvorschriften zur Förderung der Fort-
und Weiterbildung eingeführt. Das Qualifizierungschancengesetz, das seit Januar 2019 in Kraft ist,

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Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland

beinhaltet einen gesetzlichen Anspruch auf Weiterbildungsberatung durch die Bundesagentur für
Arbeit und erweitert die geförderte Ausbildung auf Beschäftigte, die vom Strukturwandel betroffen
sind. Als Reaktion auf die Herausforderungen des digitalen Wandels am Arbeitsplatz wurde im Juni
2019 eine neue nationale Weiterbildungsstrategie verabschiedet.

Europäischer Sozialfonds (ESF)
In den sieben Jahren der ESF-Förderperiode 2014–2020 wurden 2,7 Mrd. EUR für Projekte auf
Bundesebene bereitgestellt. Weitere 4,8 Mrd. EUR wurden für Projekte auf der Ebene der
16 Bundesländer vorgesehen. Ein besonderer Schwerpunkt bei der Verwendung von ESF-Mitteln lag
auf der Arbeitsmarktintegration.

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1. DIE BESCHÄFTIGUNGSSITUATION UND JÜNGSTE POLITISCHE
   REFORMEN IN DEUTSCHLAND
1.1.     Entwicklung der Beschäftigung

 WICHTIGSTE ERKENNTNISSE

 Nach der weltweiten Wirtschaftskrise des Jahres 2008 verzeichnete die Beschäftigung in
 Deutschland ein stetiges Wachstum. Die Hauptquellen für dieses Wachstum waren gestiegene
 Beschäftigungsquoten bei Frauen und älteren Arbeitskräften.

 Über die Hälfte des gesamten Beschäftigungszuwachses seit der konjunkturellen Erholung war auf
 die Ausweitung der Teilzeitbeschäftigung, besonders bei Frauen, zurückzuführen. Die Anteile
 anderer Formen von atypischer Beschäftigung sind in den letzten Jahren aufgrund besserer
 Beschäftigungsmöglichkeiten leicht zurückgegangen. Mehr als ein Sechstel der Beschäftigten
 (7,9 Millionen) sind Niedriglohnempfänger.

 Die Senkung der Langzeitarbeitslosigkeit, vor allem durch die Förderung eines sozialen
 Arbeitsmarktes für Dauerarbeitslose, steht im Mittelpunkt aktueller aktiver arbeitsmarktpolitischer
 Programme. Aktive arbeitsmarktpolitische Programme wurden erfolgreich gezielt für Flüchtlinge
 und Asylbewerber eingesetzt. Um die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Arbeitsmarkt zu
 bewältigen, entschied die Bundesregierung, die Anspruchsvoraussetzungen für Kurzarbeit zu
 erleichtern; dies wurde in den ersten Wochen stark genutzt.

 Vor dem Hintergrund der neuen Arbeitsformen bestehen die wichtigsten Herausforderungen in der
 Überwindung des Fachkräftemangels, der Beschleunigung der Digitalisierung und entsprechenden
 Anpassung von Kompetenzen und der Überprüfung von Arbeitsmarktregelungen und der sozialen
 Sicherheit.

1.1.1.       Beschäftigungsdynamik und Fachkräftemangel
Nach der weltweiten Wirtschaftskrise verzeichnete die Beschäftigung in Deutschland ein stetiges
Wachstum, und zwar – nationalen Statistiken zufolge – von 40,9 Millionen im Juni 2009 auf
43,7 Millionen im Juni 2016 und 45,3 Millionen im Juni 2019. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten wuchs von 27,6 Millionen im Jahr 2009 auf 31,4 Millionen im Jahr 2016 und
33,8 Millionen im Jahr 2019, was einem Anstieg von 21 % in diesen zehn Jahren entsprach (siehe
Anhang, Abbildung 10).
Die monatlichen Beschäftigungsdaten für 2019 zeigen, dass sich der Beschäftigungsaufbau 2019
verlangsamte (Sachverständigenrat, 2019). Führende Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizieren
zumindest für 2020 eine schwere wirtschaftliche Rezession infolge der Corona-Pandemie. Die
gemeinsame Gruppe der Prognoseinstitute (Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose) sagt für 2020 einen
Rückgang des BIP um 4,2 % voraus (Gemeinschaftsdiagnose, 2020). Das ifo Institut schätzt, dass ein
vollständiger Shutdown der Wirtschaft zwischen 255 Mrd. und 495 Mrd. EUR kosten wird (ifo Institut,
2020). Der Bundesverband der Deutschen Industrie rechnet in Deutschland für 2020 mit einem
Rückgang des BIP um 3 bis 6 % in 2020 infolge der Corona-Krise.
Daten der Arbeitskräfteerhebung (AKE) von Eurostat zufolge gab es im Jahr 2018 in Deutschland
3,56 Millionen Selbstständige. Der Anteil der Selbstständigen an der Gesamtbeschäftigung sank von
10,5 % im Jahr 2004 auf 8,8 % im Jahr 2018, wobei auch die Anteile der Arbeitgeber und selbstständig

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Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland

Erwerbstätigen zurückgingen. Eine Erklärung für den jüngsten Rückgang der Selbstständigkeit liegt
darin, dass der Arbeitsmarkt immer mehr attraktive Beschäftigungsmöglichkeiten bietet.
Ursächlich für das Beschäftigungswachstum war die zunehmende Arbeitskräftenachfrage in
Verbindung mit dem anhaltenden Wirtschaftswachstum der letzten zehn Jahre. Dank der umfassenden
Nutzung von Kurzarbeitsregelungen und Arbeitszeitkonten hatte Weltwirtschaftskrise nur einen
geringen negativen Effekt auf die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und die
deutsche Wirtschaft erholte sich rasch.
Abbildung 1: Beschäftigungsquoten nach Geschlecht (15–64)

Quelle: Eurostat, AKE-Daten.

Die gestiegenen Beschäftigungsquoten, die das Beschäftigungswachstum ausmachten, waren bei
Frauen, Älteren (Abbildung 1, und siehe Abschnitt 3.2.2) und Ausländern besonders beachtlich.
Sowohl die Arbeitslosenquote als auch die Nichterwerbsquote gingen entsprechend zurück. Auch die
Einwanderung hat Beschäftigungswachstum generiert.
Der Fachkräftemangel bzw. drohende Fachkräftemangel und Strategien zu seiner Überwindung sind
seit vielen Jahren ein zentrales Thema öffentlicher und politischer Diskussionen. Generell ist es
schwierig, das Ausmaß des Mangels zu bemessen, da Unternehmen reagieren, indem sie andere
Strategien verfolgen, wie etwa Outsourcing, Offshoring oder Fortbildung der eigenen Mitarbeiter. Bei
fehlenden Fachkräften könnten Unternehmen auch gezwungen sein, ihre Aktivitäten zu reduzieren
und darauf zu verzichten, Marktpotenziale auszuschöpfen oder Möglichkeiten zur Steigerung der
Produktivität zu nutzen.
Dennoch wurde von der Bundesagentur für Arbeit, also der öffentlichen Arbeitsverwaltung
Deutschlands, eine Analyse des Fachkräftemangels durchgeführt. Als Hauptindikatoren wurden die
Zeit bis zur Besetzung einer bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten freien Stelle und die
Arbeitslosen-Stellen-Relation verwendet. Im Jahr 2008, während der Wirtschafts- und Finanzkrise, lag
das Verhältnis von Arbeitslosen zu gemeldeten Stellen bei etwa 806:100 und 2019 bei 232:100 (das
heißt, im Durchschnitt kamen zwei Arbeitslose auf eine freie Stelle, Bundesagentur für Arbeit, 2019a).
Aufgeschlüsselt nach Branchen besteht ein Fachkräftemangel vor allem im Gesundheitswesen, im
Baugewerbe und in einigen Bereichen des verarbeitenden Gewerbes sowie in der IKT-Branche und bei

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IKT-Stellen in allen Branchen. Die Bewertung von Engpasstätigkeiten bildet die Grundlage für die
Erstellung einer Weißen Liste für die Zuwanderung.
Im Jahr 2011 verkündete die Bundesregierung ihre Strategie zur Fachkräftesicherung gestützt auf fünf
Säulen: i) Zugang zu Bildung für alle; ii) Qualifizierung (Aus- und Weiterbildung);
iii) Aktivierungsmaßnahmen und Beschäftigungssicherung; iv) Vereinbarkeit von Beruf und Familie;
v) Integration und qualifizierte Zuwanderung. Mit dieser Strategie in Einklang stehen politische
Initiativen der letzten Zeit, beispielsweise das neue Einwanderungsgesetz und die neue Strategie zur
Förderung der Fort- und Weiterbildung (siehe Abschnitt 5.3). Insbesondere Gewerkschaften haben
argumentiert, dass etwas gegen niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen unternommen
werden müsse, um den Fachkräftemangel zu beheben. So geht man etwa davon aus, dass schlechte
Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen und in der Altenpflege zu einer hohen
Arbeitskräftefluktuation und einem Mangel an Fachkräften beitragen (siehe z. B. Kraft/Drossel, 2019,
und Abschnitt 3.2.5).

1.1.2.          Beschäftigung von Frauen
Die weibliche Erwerbstätigkeit machte einen erheblichen Teil des Beschäftigungswachstums aus. So
stieg die Frauenbeschäftigungsquote 1 um 13,6 Prozentpunkte von 58,5 % im Jahr 2004 auf 72,1 % im
Jahr 2018, bei Männern hingegen im selben Zeitraum lediglich um 7,9 Prozentpunkte (Abbildung 1).
Dennoch lag die Beschäftigungsquote bei Frauen 2018 immer noch um 7,6 Prozentpunkte unter der
der Männer. Mit Politikmaßnahmen soll die Erwerbstätigkeit von Frauen gefördert werden (z. B. durch
zusätzliche Kinderbetreuungsplätze).
Über die Hälfte des Beschäftigungswachstums war auf die Ausweitung der Teilzeitbeschäftigung,
insbesondere für Frauen, zurückzuführen (siehe auch Abschnitt 1.3.1). Nach wie vor besteht ein
enormes Potenzial für die Verlängerung der Arbeitszeiten von Frauen. Damit dies geschehen kann,
müssen Geschlechterstereotypen überwunden werden und eine Verlängerung der Arbeitszeit muss
attraktiver werden. In den letzten Jahren sind die Angebote für eine Ganztagsbetreuung von Kindern
– auch für Kinder im Schulalter – erweitert worden, doch ist der Versorgungsgrad noch immer niedrig.
Seit einiger Zeit wird heftig über die Qualität der Kinderbetreuung diskutiert (siehe auch
Abschnitt 3.3.1).
Daten des Statistischen Bundesamtes (Destatis) zufolge belief sich die Verdienstlücke zwischen
Männern und Frauen (Gender Pay Gap) in Deutschland 2018 auf durchschnittlich 21 %, obwohl jüngere
Frauen – zumindest im Schnitt – ein höheres Bildungsniveau aufweisen als Männer (siehe z. B. Destatis
hier oder hier). Diese Lücke lässt sich weitgehend durch eine berufliche Segregation erklären, da Frauen
oft schlechter bezahlte Berufe wählen (Zucco, 2019). Die Forschung zeigt außerdem, dass im
Allgemeinen große Unterschiede zwischen den Stundenlöhnen für Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigung
in einem bestimmten Beruf bestehen (Zucco, 2019). Somit führt Teilzeitbeschäftigung, die unter
Frauen weit verbreitet ist (siehe unten), zu einer Benachteiligung in Bezug auf Karriere/zugewiesene
Arbeitsaufgaben und Entlohnung. Eine Diskriminierung bei der beruflichen Entwicklung ist zum Teil
für den Gender Gap verantwortlich.
Mit 27 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in leitenden Funktionen (Bundesagentur für
Arbeit, 2019b) und Aufsichtsräten sind Frauen in Führungspositionen in hohem Maße
unterrepräsentiert. Bereits 2012 hat das Europäische Parlament einen Vorschlag zur Verbesserung des
Geschlechterverhältnisses bei nicht-geschäftsführenden Direktoren von börsennotierten

1
    Gemessen als Verhältnis der beschäftigten Frauen zur weiblichen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter.

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Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland

Unternehmen vorgelegt. Durch das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an
Führungspositionen wurde eine verbindliche Quote von 30 % für Aufsichtsräte von börsennotierten
Gesellschaften und mitbestimmten Gesellschaften eingeführt. Das Gesetz ist seit 2016 in Kraft und
betrifft etwa 100 Unternehmen. Es verpflichtet außerdem ca. 3 500 börsennotierte oder mitbestimmte
Unternehmen in Deutschland zur Festlegung von Zielen für eine Erhöhung des Frauenanteils in
Aufsichtsräten, Vorständen und obersten Führungsebenen. Im Falle einer Nichteinhaltung sind
allerdings keine Sanktionen vorgesehen, und auch ein Ziel „Null“ ist erlaubt. Das Gesetz hat sich positiv
ausgewirkt, da der Anteil von Frauen in Vorstandspositionen in den 100 wie auch in den 200 größten
Unternehmen2 gestiegen ist, auch wenn er noch weit unter dem Ziel von 30 % liegt (Kirsch und
Wrohlich, 2020). Die anhaltend schwache Präsenz von Frauen in Vorständen und Geschäftsführungen
bleibt eine große Herausforderung.

1.2.       Beschäftigung von Ausländern und migrationspolitische
           Maßnahmen
Die Anzahl der Beschäftigten mit ausländischer Staatsangehörigkeit hat sich im Zeitraum 2009–2019
verdoppelt (Statista-Daten). Stand 30. Juni 2019 hatten ca. 3,85 Mio. Arbeitnehmer mit ausländischer
Staatsangehörigkeit einen Arbeitsvertrag für eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung (11,6 %
aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten).
Die Beschäftigungsquote der Bevölkerung mit ausländischer Staatsangehörigkeit im Alter von 15 bis
64 Jahren hat sich kontinuierlich erhöht (ausgenommen 2016), nämlich von 52,7 % im Jahr 2005 auf
58,3 % im Jahr 2010 und 64,8 % im Jahr 2018 (13 Prozentpunkte unter der Beschäftigungsquote
deutscher Staatsangehöriger). Im Allgemeinen steigen die Beschäftigungsquoten tendenziell mit der
Aufenthaltsdauer (Vogler-Ludwig/Düll 2015). Außerdem sank die Anzahl der Arbeitslosen aufgrund
einer gestiegenen Arbeitskräftenachfrage.
Die Beschäftigungsbedingungen sind für ausländische Staatsangehörige in der Regel ungünstiger als
für deutsche Staatsangehörige (vom Deutschen Gewerkschaftsbund DGB erhobene Daten). Fast 15 %
der ausländischen Arbeitskräfte hatten einen befristeten Arbeitsvertrag, also beinahe dreimal so viele
wie bei den deutschen Staatsangehörigen. Nahezu 35 % der ausländischen Vollzeitfachkräfte mit einer
abgeschlossenen Berufsausbildung oder einem Hochschulabschluss arbeiteten zu einem Niedriglohn,
bei den deutschen Vollzeitfachkräften hingegen waren es knapp 20 %. Bei den Minijobs war der Anteil
ausländischer Staatsangehöriger allerdings nicht höher als der deutscher Staatsangehöriger (siehe
Abschnitt 1.3).
Das Kompetenzprofil ausländischer Staatsangehöriger zeigt eine Polarisierung gegenüber früheren
Phasen der Nettomigration, neue Einwanderer weisen in der Regel ein höheres Bildungsniveau auf als
deutsche Staatsangehörige; dennoch gehen sie oft einer Arbeit nach, die ein niedrigeres
Qualifikationsniveau erfordert, als sie eigentlich besitzen. Etwa ein Drittel der Migranten in
Deutschland sind überqualifiziert (OECD/EU, 2018).

1.3.       Atypische Beschäftigung
In Deutschland geht es bei der Debatte zur atypischen Beschäftigung um Teilzeitbeschäftigung
(20 Wochenstunden oder weniger), befristete Verträge, Leiharbeit, „marginale“ Beschäftigung oder
sogenannte Minijobber (Menschen in geringfügiger Beschäftigung – Einzelheiten siehe
Abschnitt 1.3.2). Die verschiedenen Komponenten der atypischen Beschäftigung haben sich in den

2
    Nach Umsatz.

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zurückliegenden Jahren unterschiedlich entwickelt.

1.3.1.          Teilzeitbeschäftigung
Im Zeitraum 2010–2018 ist die Anzahl der sozialversicherungspflichtig teilzeitbeschäftigten Frauen um
2,8 Millionen, die der Männer um eine Million gestiegen (Bundesagentur für Arbeit, 2019b). Bei
Männern ist Teilzeit häufiger unfreiwillig (nach Eurostat, AKE-Daten).
Deutschland gehört zur Gruppe von Ländern mit einer ausgeprägten Kultur der Teilzeitarbeit bei
Frauen. Im Jahr 2018 waren vier von fünf Teilzeitbeschäftigten Frauen (Eurostat, AKE-Daten.) 3. Der
Anteil der teilzeitbeschäftigten Frauen an allen Frauen in einem sozialversicherungspflichtigen
Arbeitsverhältnis stieg von 35,8 % im Jahr 2008 auf 47,7 % im Jahr 2018, der der Männer von 5,8 % auf
10,9 % (Bundesagentur für Arbeit, 2019b). Im Jahr 2018 arbeiteten teilzeitbeschäftigte Frauen in
Westdeutschland im Durchschnitt 20 Stunden pro Woche, in Ostdeutschland 4 24,4 Stunden.
Es gibt zwei Formen der Teilzeitbeschäftigung mit Arbeitsvertrag: i) sozialversicherungspflichtige
Teilzeitarbeitsverträge und ii) Minijob-Verträge mit dem Minijob als Haupteinkommensquelle (siehe
Abschnitt 1.3.2).

1.3.2.          Marginal Beschäftigte (Minijobber)
Marginale Beschäftigung – in Deutschland als Minijobs bezeichnet – ist zu einem zentralen Merkmal
des Arbeitsmarkts im Land geworden, geht doch ein Fünftel der abhängig Beschäftigten einem Minijob
nach. Minijobber dürfen bis zu 450 EUR monatlich verdienen. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, einen
pauschalen Beitrag zur Sozialversicherung zu zahlen, der niedriger ist als die Arbeitgeber- und
Arbeitnehmerbeiträge bei regulären sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen. Die
Beschäftigten können sich von der Zahlung ihrer Beiträge zur Rentenversicherung befreien lassen.
Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung sind Solidarleistungen, die in den Haushalt der
gesetzlichen Krankenversicherung einfließen, ohne dass daraus ein Anspruch des beschäftigten
Minijobbers auf Krankenversicherungsschutz folgt. Außerdem werden kleine Insolvenz- und
Unfallversicherungsbeiträge sowie eine Umlage für die Entgeltfortzahlung bei Krankheit/Mutterschaft
gezahlt. Zur Arbeitslosenversicherung oder zur gesetzlichen Rentenversicherung werden keine
Beiträge geleistet. Für die Einkommensteuer gilt ein Pauschalsteuer-Satz von 2 % auf den Bruttolohn.
Dies stellt für die meisten Minijobber eine Steuerersparnis dar, vor allem wenn ihr Einkommen aus ihrer
Hauptbeschäftigung, die Rente oder das Einkommen des Ehepartners hoch ist. Minijobs können
regelmäßig oder gelegentlich ausgeübt werden, oder sie werden zusätzlich zur regulären
Beschäftigung übernommen (Düll, 2017). Für Einkommen im Bereich von 451 bis 1 300 EUR, die
sogenannten Midijobs, ist eine Stufenregelung für die üblichen Sozialversicherungsbeitragssätze
vorgesehen. Midijobber müssen Beiträge für alle Bereiche des Sozialversicherungssystems zahlen,
allerdings mit reduzierten Arbeitnehmeranteilen, und Midijobber haben die gleichen Rechte wie alle
anderen regulär Beschäftigten. Für Midijobber gelten keine Steuervergünstigungen. Die
Beitragsbemessungsgrenze (bei mehreren Arbeitsverhältnissen) wurde kürzlich von 850 EUR
auf 1 300 EUR erhöht.
Im Juni 2019 gab es 7,9 Millionen Minijobber und 33,41 Millionen sozialversicherungspflichtig
Beschäftigte (Daten der Bundesagentur für Arbeit, siehe Anhang, Abbildung 10). Von diesen marginal

3
    Allerdings hat der Anteil der teilzeitbeschäftigten Männer leicht – um rund 4,3 Prozentpunkte – zugenommen, nämlich von 14,8 % im
    Jahr 2004 auf 19,1 % im Jahr 2018 (Eurostat, AKE-Daten).
4
    Ostdeutschland umfasst die Bundesländer auf dem Gebiet der früheren DDR (Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen,
    Sachsen-Anhalt, Thüringen), Westdeutschland die übrigen elf Bundesländer einschließlich Berlin.

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Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland

Beschäftigten übten 62,1 % den Minijob als einzige Beschäftigungsform und 37,9 % den Minijob als
Nebentätigkeit aus. Minijobber sind im Durchschnitt in aller Regel weniger qualifiziert, da sie Aufgaben
ausführen, die leichter aufzuteilen sind. Minijobs können gut in die Arbeitsorganisation passen, da ihre
Aufgaben nur wenige Stunden Arbeit erfordern oder sich problemlos auf mehrere Minijobs aufteilen
lassen. Darüber hinaus können diese Arbeitsstellen in einigen Branchen als Flexibilitätspuffer dienen
(Fischer u. a., 2015). Im Dezember 2019 arbeiteten 17,3 % Minijobber im Sektor Groß- und
Einzelhandel, Reparatur von Kraftfahrzeugen und Motorrädern, 13,3 % im Hotel- und
Gaststättengewerbe, 12,5 % im Sektor „Sonstige Dienstleistungen“, 10,9 % im Gesundheits- und
Sozialwesen sowie 7,2 % im Verarbeitenden Gewerbe (Knappschaft Bahn See, 2019).
Bei Personen, die bereits auf anderem Wege krankenversichert sind, z. B. als Familienmitglieder, wie
etwa Jugendliche, Hausfrauen und -männer, Rentner und Arbeitslose, ist der Anreiz für die Aufnahme
eines Minijobs hoch. Daher sind Minijobber hauptsächlich Schüler und Studenten, Rentner (im
Vorruhestand und nach Erreichen des gesetzlichen Rentenalters), Hausfrauen, andere Personen mit
einem Minijob als Haupttätigkeit sowie nebenberuflich Tätige (Düll, 2017).
Die Anzahl der Minijobber ist von 6,6 Millionen im Jahr 2004 auf 7,9 Millionen Mitte 2019 gestiegen
(siehe Anhang, Abbildung 10), und das trotz eines Rückgangs nach der Einführung des Mindestlohns
(von 8,50 EUR) im Jahr 2015.
Regelungen zu Minijobs gibt es seit vielen Jahrzehnten. In den 1960er und 1970er Jahren ging es in
erster Linie darum, das Angebot vor allem an den Arbeitskräften zu verbessern, die am Arbeitsmarkt
teilnahmen, und die Anzahl der Stunden bei jenen, die in Beschäftigung waren, zu erhöhen sowie die
Beschäftigungsquoten verheirateter Frauen zu steigern, um den Arbeitskräftemangel zu beseitigen.
Als Reaktion auf eine hohe Arbeitslosigkeit wurden die Minijobregelungen 2003 im Zuge umfassender
Arbeitsmarktreformen, der sogenannten „Hartz-Reformen“, mit dem Ziel, die Arbeitskosten zu senken,
die Flexibilität zu erhöhen und auch geringfügige Beschäftigungsmöglichkeiten bereitzustellen, neu
gestaltet. Seither wird aufgrund veränderter Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt mit
Arbeitskräftemangel sowie gesellschaftlicher Entwicklungen wie eine erhöhte Beschäftigung von
Frauen, verbesserte Kinderbetreuungsmöglichkeiten, mehr Alleinerziehende und Scheidungen über
Reformen diskutiert.

1.3.3.      Befristete Beschäftigung
Die Anzahl der Beschäftigten mit einem befristeten Arbeitsvertrag belief sich 2018 auf 4,7 Millionen
bzw. 12,6 % aller Beschäftigten im Alter von 15 bis 64 Jahren (Eurostat, AKE-Daten). Junge Menschen
haben häufiger einen befristeten Arbeitsvertrag, besonders wenn sie gleichzeitig eine
Berufsausbildung absolvieren.
Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) (siehe Hohendanner, 2019),
das sich auf eine andere Datenquelle stützt, stieg der Anteil der befristet Beschäftigten von 3,9 % im
Jahr 1996 auf 8,3 % im Jahr 2018. Im selben Jahr waren 44,1 % aller neuen Arbeitsverträge befristet
(gegenüber 35,4 % im Jahr 1996); von den Beschäftigten, deren befristeter Arbeitsvertrag auslief,
wurden 44,2 % von ihrem Arbeitgeber übernommen – dies ist der höchste Anteil seit 2009.

1.3.4.      Leiharbeit (Arbeitnehmerüberlassung)
Im Juni 2019 waren ca. 2 % aller Beschäftigten Leiharbeitnehmer (Bundesagentur für Arbeit, 2020a).
Stand Juni 2019 sind 40 % der Leiharbeitnehmer in der Produktion, 33 % in sonstigen
Dienstleistungsberufen, 14 % in personenbezogenen Dienstleistungsberufen, 11 % im Vertrieb und
2 % in IT- und naturwissenschaftlichen Dienstleistungsberufen tätig.

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Abbildung 2: Grund für befristetes Beschäftigungsverhältnis nach Alter

Quelle: Eurostat, AKE-Daten.

Die meisten weiblichen Leiharbeitnehmer sind in personenbezogenen Dienstleistungsberufen (28 %)
oder sonstigen Dienstleistungsberufen (27 %) tätig, während fast die Hälfte (48 %) aller männlichen
Leiharbeitnehmer in Produktionsberufen arbeitet. Im Juni 2019 betrug das durchschnittliche
monatliche Medianentgelt von Leiharbeitnehmern 1 928 EUR und lag damit deutlich unter dem
Durchschnitt der Gesamtbeschäftigung. Befragt nach dem Hauptgrund für die Ausübung einer
Leiharbeit, gaben die meisten Erwachsenen an, dass es sich um eine Probezeit handelte oder dass sie
keine Festanstellung finden konnten (Abbildung 2).
Nachdem die Zahl der Leiharbeitnehmer 2017 einen Höchstwert erreicht hatte, ging sie 2018 um
30 000 (siehe Anhang Abbildung 11) und bis Juni 2019 um noch einmal 984 000 zurück. Dieser
Rückgang kann auf eine Konjunktureintrübung hindeuten, da Unternehmen auf eine sinkende
Nachfrage      reagieren.    Ein   anderer     Grund      könnte     auch    die    Reform      des
Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes sein, die im April 2017 in Kraft trat; die Reform bewirkte durch
Abänderung der vorherigen Reform, die zur Umsetzung der EU-Richtlinie über Leiharbeit (2008) in die
Praxis implementiert worden war, eine Anhebung der Löhne von Leiharbeitnehmern und eine
Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen (Sachverständigenrat, 2019). Mit der Reform von 2017 wurde
die Überlassungsdauer für Leiharbeitnehmer bei einem Arbeitgeber auf 18 Monate begrenzt
(Bundesagentur für Arbeit, 2020a). Ausnahmen von dieser Regel sind möglich, wenn mit einem
Tarifvertrag eine längere Einsatzdauer festgelegt wird; im Jahr 2020 erlauben 109 Tarifverträge eine
längere Höchstüberlassungsdauer. Leiharbeitnehmer müssen nach neun Monaten Beschäftigung den
gleichen Lohn wie das Stammpersonal erhalten. Des Weiteren ist die Beschäftigung von

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Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland

Leiharbeitnehmern als Streikbrecher verboten. Diese Änderungen waren eine Reaktion auf die Kritik,
Leiharbeitnehmer würden nicht nur als Flexibilitätspuffer, sondern auch für die Bezahlung niedrigerer
Löhne, die Einschränkung garantierter Arbeitnehmerrechte und die Verschlechterung der
Arbeitsbedingungen gegenüber den Stamm-Mitarbeitern instrumentalisiert.

1.4.       Niedriglohnempfänger
Laut Verdienststrukturerhebung der Europäischen Union (Eurostat, 2016) lag Deutschland im Jahr 2014
beim Anteil der Niedriglohnempfänger unter 26 EU-Mitgliedstaaten an sechster Stelle (22,5 %)
(Durchschnitt 17,5 %).
Aus Daten des sozio-oekonomischen Panels (Grabka/Schröder, 2019) geht hervor, dass im Jahr 2017
7,9 Millionen Beschäftigte Niedriglohnempfänger waren (Bruttostundenverdienst in Höhe von zwei
Dritteln des Medians aller Beschäftigten), was einem Anstieg von 2,9 Millionen Personen (+46 %)
gegenüber 1995 entspricht. Die Mobilität aus dem Niedriglohnsektor heraus ist gering und hat nicht
zugenommen. Wie bereits festgestellt, erhalten Frauen häufiger Niedriglöhne als Männer. Außerdem
war 2017 ein niedriges Einkommensniveau (Haupttätigkeit) bei Personen, die in den östlichen
Bundesländern leben, häufiger anzutreffen (33,3 %) als in den westlichen Bundesländern (20,0 %) für
Menschen ohne beruflichen Abschluss (48,8 %), Alleinerziehende (36,5 %) und Arbeitskräfte unter
25 Jahren (53,9 %). Der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund, die einen Niedriglohn erhalten
(eigener Migrationshintergrund5 30,3 %), lag ebenfalls deutlich über dem der Niedriglohnempfänger
ohne Migrationshintergrund (20,2 % – Grabka/Schröder, 2019).

5
    In nationalen Statistiken Deutschlands werden Personen mit Migrationshintergrund unterteilt in solche mit eigenem
    Migrationshintergrund und solche, deren Mutter oder Vater nach Deutschland eingewandert ist.

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Abbildung 3: Vollzeitbeschäftigte mit Entgelten unter der Schwelle
             des unteren Entgeltbereichs nach Staatsangehörigkeit

Quelle: Bundestag, 2019a.

Nach einer anderen Klassifikation zeigen vom Bundestag veröffentlichte Daten (2019a), dass zwar der
Anteil deutscher Staatsangehöriger in Vollzeitbeschäftigung mit einem Verdienst unterhalb der
Niedriglohnschwelle von 21,4 % im Jahr 2010 auf 16,7 % im Jahr 2018 gesunken ist, der Anteil von
Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit unterhalb der Niedriglohnschwelle im gleichen
Zeitraum jedoch von 29,5 % auf 38 % gestiegen ist (Abbildung 3).
Oft fallen Niedrigverdienende unter Regelungen für Minijobs (450 EUR Monatsentgelt) und Midijobs
(bis 850 EUR Monatsentgelt) (siehe Abschnitt 1.3.2). Wegen günstiger Steuer- und
Transfersystemregelungen sehen viele Niedriglohnempfänger davon ab, ihre Arbeitszeiten zu
verlängern, da sie dann keinen Anspruch auf die genannten Regelungen mehr hätten
(Grabka/Schröder, 2019; Sachverständigenrat, 2019).

1.5.      Auswirkungen von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz auf
          Arbeitsplätze und Kompetenzen
1.5.1.        Trends in den Bereichen Digitalisierung und Automatisierung
Die Digitalisierung der Wirtschaft hat erhebliche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Dabei lassen sich
zwei potenzielle Haupteffekte unterscheiden: i) die Menge an Arbeitsplätzen im Hinblick auf den
Verlust von Arbeitsplätzen (Automatisierung) und die Entstehung von Arbeitsplätzen (neue Waren und
Dienstleistungen, neue Produktionsprozesse usw.); ii) damit verbunden strukturelle Veränderungen
auf dem Arbeitsmarkt, da einige Tätigkeiten verschwinden und andere Tätigkeitsprofile entstehen
oder sich verändern werden (siehe z. B. Arntz/Gregory/Zierahn, 2019; Matthes u. a., 2019; Wolter u. a.,

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Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland

2019).
Deutschland weist die höchste Roboterintensität im Verarbeitenden Gewerbe 6 in Europa auf, und im
OECD-Vergleich liegt die Roboterintensität nur in Korea7 und Japan höher (OECD, 2017a). Während die
Automatisierung in hohem Maße die Fertigungsprozesse direkt beeinflusst, wird erwartet, dass
Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) und andere neue IT-bezogene Technologien erhebliche
Auswirkungen auf die Aufgaben und Qualifikationsinhalte von Tätigkeiten haben. Schon jetzt zeichnet
sich eine Tendenz zur Hybridisierung von Tätigkeiten ab, beispielsweise eine steigende Nachfrage nach
IKT-Fachkräften mit interdisziplinären Fertigkeiten (z. B. in den Bereichen Mechanik, Biologie,
Unternehmensführung) oder nach Nicht-IKT-Kräften mit spezifischen IKT-Kompetenzen.
Arntz/Gregory/Zierahn (2018) unterscheiden zwischen selbststeuernden 4.0-Technologien
(automatisierte Produktionsanlagen, intelligente Fabriken (Smart Factories), cyberphysikalische
Systeme, Internet der Dinge) und IT-integrierte 4.0-Technologien (Big Data, Cloud Computing,
Internetplattformen). Selbststeuernde 4.0-Technologien, die die Automatisierung von
Fertigungsprozessen ermöglichen, gehören zu den Haupttriebkräften der Digitalisierung.
Die IAB-ZEW-Betriebsbefragung zur Arbeitswelt 4.0 (Arntz u. a., 2016; Arntz u. a., 2018) vermittelt
Einblicke in den Automatisierungs- und Digitalisierungsgrad der Arbeitsmittel in deutschen
Unternehmen von 2011 bis 2016. Dieser Befragung zufolge haben sich 31,4 % der Unternehmen noch
nicht mit der Nutzung von Industrie-4.0-Technologien beschäftigt; 15,0 % haben begonnen, sich über
Industrie-4.0-Technologien zu informieren; 2,1 % planen ihren Einsatz; 33,9 % nutzen diese
Technologien bereits; und 17,6 % der Unternehmen gaben an, dass die Nutzung dieser Technologien
zentraler Bestandteil ihres Geschäftsmodells ist. Die Bundesregierung bemüht sich um eine
Beschleunigung des Digitalisierungsprozesses in der Wirtschaft. Für Schlüsselindustrien ergeben sich
besondere Herausforderungen; so hat etwa die Förderung des automatisierten Fahrens erhebliche
Auswirkungen auf die deutsche Kraftfahrzeugbranche.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat vor kurzem zwei Studien in Auftrag gegeben, mit
denen die künftigen Auswirkungen der Digitalisierung auf den deutschen Arbeitsmarkt untersucht
werden sollen. In der Arbeitsmarktprognose für 2030, die 2016 von Economix (Vogler-Ludwig u. a.,
2016) erstellt wurde, werden ein Basisszenario und ein Szenario der beschleunigten Digitalisierung
zugrunde gelegt. Beim Digitalisierungsszenario wird davon ausgegangen, dass Akteure in Wirtschaft
und Politik einer intensiven Nutzung digitaler Technologien Priorität einräumen. Die Prognose zeigt,
dass es möglich sein wird, durch eine beschleunigte Digitalisierung zusätzliche Arbeitsplätze zu
schaffen (263 000 zusätzliche Stellen bis 2030 gegenüber dem Basisszenario), allerdings mit
erheblichen strukturellen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Im Digitalisierungsszenario (Wirtschaft
4.0) der neuesten Prognose des Bundesinstituts für Berufsbildung (BiBB) und des Instituts für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales in
Auftrag gegebenen und 2019 veröffentlicht wurde (Zika u. a. 2019), wird geschätzt, dass bis 2035 nur
300 000 Arbeitnehmer durch neue Technologien ersetzt werden. Insgesamt werden 3,3 Millionen neue
Arbeitsplätze entstehen und 4 Millionen – vor allem aus demografischen Gründen – verschwinden. Die
Verfasser erwarten einen erhöhten Bedarf an beruflicher Anpassung, wobei ein Missverhältnis
zwischen vorhandenen und benötigten Qualifikationen die Situation erschweren wird.

6
    Der Bestand an Industrierobotern geteilt durch die Wertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe.
7
    Die Roboterintensität in Korea ist immer noch doppelt so hoch wie in Deutschland.

                                                                 21                                        PE 648.803
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1.5.2.          Neue Arbeitsformen
Diskussionen über die Folgen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt mündeten im Dialogprozess
Arbeiten 4.0. Dieser Prozess wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) im April
2015 eingeleitet und im November 2016 abgeschlossen. Ein Ziel dieser Initiative war es, durch eine
Förderung der Zusammenarbeit zwischen Akteuren aus Wirtschaft und Industrie, von Gewerkschaften,
der Zivilgesellschaft und der Forschung sowie aus der Politik die Herausforderungen auf dem künftigen
Arbeitsmarkt (in Bezug auf Gewinne und Verluste an Arbeitsplätzen infolge der Digitalisierung, sich
verändernde Qualifikationsanforderungen, Arbeitsbedingungen, Unternehmensstrukturen und
Arbeitsorganisation) zu ermitteln. Im Rahmen des Prozesses wurden mehrere spezifische
Veranstaltungen und Maßnahmen durchgeführt, wozu auch die Veröffentlichung wissenschaftlicher
Studien und die Organisation von Gipfeltreffen gehörten. Im Ergebnis des Prozesses wurde 2016 das
Weißbuch Arbeiten 4.0 veröffentlicht (siehe BMAS, 2017), in dem die notwendigen Reformen
(z. B. Verbesserung der sozialen Sicherung für Solo-Selbstständige) aufgeführt und Empfehlungen für
politische Maßnahmen gegeben werden.
Der Prozess setzte eine Debatte über die Arbeitsbedingungen und soziale Sicherung von
Selbstständigen ohne Angestellte und – in Bezug auf den Sektor Informations- und
Kommunikationstechnologie (IKT) – über die Arbeitsbedingungen insbesondere von Crowdworkern8
in Gang. Allerdings liegen keine offiziellen Daten zur Anzahl der sogenannten Clickworker in
Deutschland vor. Die Gewerkschaft IG Metall beteiligte sich an der Frankfurter Erklärung zu
plattformbasierter Arbeit, einer Aufforderung zur „transnationalen Zusammenarbeit von
Beschäftigten, Arbeitnehmerorganisationen, Plattformkunden, Plattformbetreibern und
Regulierungsstellen, um faire Arbeitsbedingungen und die Einbeziehung der Arbeitnehmer in die
Regulierung der wachsenden Welt digitaler Arbeitsplattformen zu gewährleisten“.
Technologische Innovationen erleichtern den Arbeitsmarktzugang für Sektoren wie die
Personenbeförderung oder das Hotel- und Gaststättengewerbe, z. B. durch die Automatisierung von
Buchungsvorgängen. Dies hat in Deutschland zur wachsenden Popularität von Plattformen wie Uber
oder Airbnb geführt. Der erleichterte Zugang führte bei den angestammten Akteuren in diesen
Sektoren, die sich von diesen neuen Geschäftsmodellen bedroht fühlen, zu Kritik und Forderungen
nach Regulierung. Diese angestammten Akteure wurden zum Teil von Parteien in Deutschland
unterstützt. So schloss sich beispielsweise 2019 die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)
offenbar den Taxifahrern bei deren Widerstand gegen Uber an.
Das Recht auf Telearbeit, die Rolle von Arbeitszeitregelungen in Zeiten größerer Verfügbarkeit infolge
der Digitalisierung am Arbeitsplatz und das Recht auf Nichterreichbarkeit werden in Deutschland und
auf europäischer Ebene intensiv diskutiert9. So vertraten etwa Arbeitgeberverbände im Dialogprozess
Arbeiten 4.0 (BMAS, 2017, siehe oben) die Auffassung, dass das Arbeitszeitrecht bei den Regelungen
zur Höchstarbeitszeit flexibler sein sollte und dass gesetzliche Ruhezeiten geändert werden sollten, um
den Bedarfen von Betrieben besser gerecht zu werden. Die Gewerkschaften betonten das Recht auf
Nichterreichbarkeit und das Recht auf Telearbeit und wiesen auf Defizite bei der Kontrolle der
Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes hin 10. Ein Beispiel für Initiativen auf Unternehmensebene liefert
Volkswagen, dessen interne Server die Weiterleitung von E-Mails an individuelle Konten in der Zeit von
18.15 Uhr bis 7.00 Uhr in Deutschland abschalten; inzwischen haben sich viele weitere Unternehmen
diesem Vorgehen angeschlossen.

8
    Das sind Selbstständige ohne Angestellte, die (oft digital) Dienstleistungen auf Online-Arbeitsplattformen wie Clickworker oder Amazon
    Mechanical Turk anbieten.
9
    Der Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europäischen Parlaments plant einen Bericht zu diesem Thema.

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