Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland - STUDIE Im Auftrag des EMPL-Ausschusses - Europa EU
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STUDIE Im Auftrag des EMPL-Ausschusses Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität Generaldirektion Interne Politikbereiche Autoren: Nicola DÜLL, Tim VETTER PE 648.803 – Mai 2020 DE
Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland Abriss In dieser Studie über die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland werden die wichtigsten Entwicklungen im Bereich der Beschäftigung einschließlich atypischer Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung beleuchtet. Es werden politische Lösungen sowie die wesentlichen Herausforderungen für die Zukunft, wie etwa die Digitalisierung und der demografische Wandel, dargelegt. Außerdem werden die politischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut sowie Entwicklungen im deutschen Sozialpartnerschaftsmodell und im Berufsbildungssystem untersucht. Abschließend wird der Beitrag des Europäischen Sozialfonds beschrieben. Auch Aspekte der COVID-19-Pandemie werden behandelt. Diese Studie wurde von der Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität im Auftrag des Ausschusses für Beschäftigung und Soziales (EMPL) bereitgestellt.
Diese Studie wurde vom Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europäischen Parlaments in Auftrag gegeben. AUTOREN Nicola DÜLL, Economix Research & Consulting, München, Deutschland Tim VETTER, Economix Research & Consulting, München, Deutschland VERANTWORTLICHE BEAMTIN Susanne KRAATZ EDITIONSASSISTENZ Roberto BIANCHINI SPRACHFASSUNGEN Original: EN ÜBER DEN HERAUSGEBER Die Fachabteilungen liefern den internen und externen Sachverstand zur Unterstützung der Ausschüsse des Europäischen Parlaments und anderer parlamentarischer Gremien bei der Ausarbeitung der Gesetzgebung und Ausübung der demokratischen Kontrolle über die internen Politikbereiche der EU. Kontakt zur Fachabteilung oder Bestellung von Aktualisierungen: Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität Europäisches Parlament L-2929 Luxemburg E-Mail: Poldep-Economy-Science@ep.europa.eu Redaktionsschluss: April 2020 Datum der Veröffentlichung: Mai 2020 © Europäische Union, 2020. Dieses Dokument ist im Internet unter folgender Adresse abrufbar: https://www.europarl.europa.eu/committees/de/supporting-analyses/sa-highlights HAFTUNGSAUSSCHLUSS UND URHEBERRECHTSSCHUTZ Die hier vertretenen Auffassungen geben die Meinung der Verfasser wieder und entsprechen nicht unbedingt dem Standpunkt des Europäischen Parlaments. Nachdruck und Übersetzung – außer zu kommerziellen Zwecken – mit Quellenangabe sind gestattet, sofern das Europäische Parlament vorab unterrichtet und ihm ein Exemplar übermittelt wird. Für Zitierungszwecke sollte die Studie folgendermaßen angegeben werden: Düll, N., Vetter, T., Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland, Studie für den Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität, Europäisches Parlament, Luxemburg, 2020. © Titelbild unter Lizenz von Shutterstock.com verwendet.
Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland INHALT ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS 5 VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN 7 1. DIE BESCHÄFTIGUNGSSITUATION UND JÜNGSTE POLITISCHE REFORMEN IN DEUTSCHLAND 12 1.1. Entwicklung der Beschäftigung 12 1.1.1. Beschäftigungsdynamik und Fachkräftemangel 12 1.1.2. Beschäftigung von Frauen 14 1.2. Beschäftigung von Ausländern und migrationspolitische Maßnahmen 15 1.3. Atypische Beschäftigung 15 1.3.1. Teilzeitbeschäftigung 16 1.3.2. Marginal Beschäftigte (Minijobber) 16 1.3.3. Befristete Beschäftigung 17 1.3.4. Leiharbeit (Arbeitnehmerüberlassung) 17 1.4. Niedriglohnempfänger 19 1.5. Auswirkungen von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz auf Arbeitsplätze und Kompetenzen 20 1.5.1. Trends in den Bereichen Digitalisierung und Automatisierung 20 1.5.2. Neue Arbeitsformen 22 1.5.3. Auswirkungen auf die Qualifikation 23 1.6. Arbeitslosigkeit 24 1.6.1. Entwicklung der Arbeitslosigkeit 24 1.6.2. Unterbeschäftigung 25 1.7. Aktive Arbeitsmarktprogramme für die Eingliederung in Arbeitsmarkt und Gesellschaft 26 1.7.1. Maßnahmen zur Verhütung von Langzeitarbeitslosigkeit 27 1.7.2. Europäische Jugendgarantie 28 1.7.3. Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen in Deutschland 28 1.7.4. Kurzarbeit 29 1.7.5. Maßnahmen zur Unterstützung der Selbstständigen und Kleinstunternehmen, die von der Corona-Pandemie betroffen sind 30 1.8. Die Bundesagentur für Arbeit und Jobcenter 30 1.9. Sozialwirtschaft 32 2. SOZIALPOLITIK 33 2.1. Demografischer Wandel 33 2.1.1. Die wichtigsten Trends einer alternden Gesellschaft 33 2.1.2. Migration 34 3 PE 648.803
IPOL | Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität 2.1.3. Aktives Altern 36 2.2. Aktuelle politische Entwicklungen im Bereich des Sozialschutzes 37 2.2.1. Reformen des öffentlichen Rentensystems 37 2.2.2. Erfassungsbereich des öffentlichen Rentensystems 38 2.2.3. Umsetzung der EU-Mobilitätsrichtlinie 38 2.2.4. Altenpflege 38 2.3. Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen 39 2.4. Armut und Maßnahmen zur Bekämpfung vom Armut 40 2.4.1. Kinderarmut 41 2.4.2. Erschwinglicher Wohnraum 42 2.4.3. Gesetzlicher Mindestlohn 42 2.4.4. Europäische Initiative zu Mindestlöhnen 43 3. STRUKTUREN DES SOZIALEN DIALOGS 44 3.1. Sozialpartner 44 3.2. Tarifverträge 45 3.3. Europäische Betriebsräte 45 4. KOMPETENZENTWICKLUNG 47 4.1. Das duale deutsche Berufsausbildungssystem 47 4.1.1. Entwicklungen und Herausforderungen 47 4.1.2. Integration benachteiligter Gruppen in das Berufsausbildungssystem und die Jugendgarantie 49 4.1.3. Allianz für Aus- und Weiterbildung 49 4.2. Stärkung des Lernens am Arbeitsplatz im Bereich der tertiären Bildung 50 4.2.1. Duale Studiengänge 50 4.2.2. Praktika 50 4.3. Förderung der Weiterbildung 51 5. EUROPÄISCHER SOZIALFONDS IN DEUTSCHLAND 52 LITERATURVERZEICHNIS 53 ANHANG 60 PE 648.803 4
Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS KI Künstliche Intelligenz AAMP Aktives Arbeitsmarktprogramm BDA Bund Deutscher Arbeitgeber BiBB Bundesinstitut für Berufsbildung BAMF Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BMAS Bundesministerium für Arbeit und Soziales BMBF Bundesministerium für Bildung und Forschung BMWi Bundesministerium für Wirtschaft und Energie CEO Geschäftsführer Destatis Statistisches Bundesamt DIW Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DGB Deutscher Gewerkschaftsbund EK Europäische Kommission ESF Europäischer Sozialfonds EU Europäische Union BIP Bruttoinlandsprodukt IAB Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IFLAS Initiative zur Flankierung des Strukturwandels IAO Internationale Arbeitsorganisation. KMK Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder IT Italien IKT Informations- und Kommunikationstechnologie AKE Arbeitskräfteerhebung 5 PE 648.803
IPOL | Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität NEET Nicht in Bildung, Beschäftigung oder Ausbildung befindlich NEPS Nationales Bildungspanel OECD Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ÖAV Öffentliche Arbeitsverwaltungen SOEP Sozio-oekonomisches Panel SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands KMU Kleine und mittlere Unternehmen VN Vereinte Nationen BAW Berufliche Aus- und Weiterbildung, Berufsausbildung PE 648.803 6
Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN Abbildung 1: Beschäftigungsquoten nach Geschlecht (15–64) 13 Abbildung 2: Grund für befristetes Beschäftigungsverhältnis nach Alter 18 Abbildung 3: Vollzeitbeschäftigte mit Entgelten unter der Schwelle des unteren Entgeltbereichs nach Staatsangehörigkeit 20 Abbildung 4: Arbeitslosenquoten nach ÖAV-Daten 24 Abbildung 5: Grund für Inaktivität, 2018, Altersklasse 15 bis 64 Jahre 25 Abbildung 6: Teilnehmer in Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik nach Politikbereich und relevanten Rechtsvorschriften, Februar 2020 26 Abbildung 7: Einnahmen und Ausgaben der Bundesagentur für Arbeit (ÖAV-Daten) 31 Abbildung 8: Erwerbstätigenquoten höherer Altersgruppen 36 Abbildung 9: (Unversorgte) Bewerber und (unbesetzte) Berufsausbildungsstellen, 2008/2009 – 2018/2019 48 Abbildung 10: Beschäftigungsdynamik, 2004–2019 60 Abbildung 11: Zeitarbeitnehmer 2004–2018 und Juni 2019 61 7 PE 648.803
IPOL | Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität ZUSAMMENFASSUNG Entwicklung der Beschäftigung Nach der weltweiten Wirtschaftskrise des Jahres 2008 verzeichnete die Beschäftigung in Deutschland ein stetiges Wachstum, und zwar – nationalen Statistiken zufolge – von 40,9 Millionen im Jahr 2009 auf 43,7 Millionen im Jahr 2016 und 45,3 Millionen im Jahr 2019. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten stieg im Zeitraum 2016–2019 um zwei Millionen (von 2010 bis 2019 um fünf Millionen). Schon vor Beginn der Corona-Krise gab es erste Anzeichen für eine Verlangsamung des Beschäftigungswachstums. Führende Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizieren zumindest für 2020 eine schwere wirtschaftliche Rezession infolge der Corona-Pandemie. Die Hauptquellen für das Beschäftigungswachstum waren gestiegene Beschäftigungsquoten – insbesondere bei Frauen und Älteren (sowohl für Männer als auch für Frauen) – sowie Einwanderung und gestiegene Beschäftigungsquoten bei Migranten. Der Fachkräftemangel bzw. drohende Fachkräftemangel und Strategien zu seiner Überwindung sind seit vielen Jahren ein zentrales Thema öffentlicher und politischer Diskussionen. Ein Fachkräftemangel besteht vor allem im Gesundheitswesen, im Baugewerbe und in einigen Bereichen des verarbeitenden Gewerbes sowie bei IKT-Stellen in allen Branchen. Digitalisierung Die Bundesregierung bemüht sich um eine Beschleunigung des Digitalisierungsprozesses in der Wirtschaft. In der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Auftrag gegebenen neuesten Arbeitsmarktprognose wird in einem Digitalisierungsszenario geschätzt, dass bis 2035 nur 300 000 Arbeitnehmer durch neue Technologien ersetzt werden; allerdings werden sich Arbeitsaufgaben inhaltlich verändern. In der Studie wird von einem erhöhten Bedarf an berufsbezogener Anpassung ausgegangen. Diskussionen über die Folgen der Digitalisierung für den Arbeitsmarkt mündeten im Dialogprozess Arbeiten 4.0 der Jahre 2015 und 2016. Mit diesem Prozess wurden Debatten über die Arbeitsbedingungen und soziale Sicherung von Crowdworkern und Plattformbeschäftigten, das Recht auf Telearbeit und das Recht auf Nichterreichbarkeit in Gang gesetzt. Atypische Beschäftigung und Beschäftigungsbedingungen Über die Hälfte des gesamten Beschäftigungszuwachses seit der konjunkturellen Erholung war auf die Ausweitung der Teilzeitbeschäftigung, insbesondere bei Frauen (+2,8 Millionen Frauen in sozialversicherungspflichtiger Teilzeitbeschäftigung im Zeitraum 2010–2019), zurückzuführen. Abgesehen von der Entwicklung der Teilzeitbeschäftigung gibt es Anzeichen dafür, dass der Anteil atypischer Beschäftigung in den letzten Jahren aufgrund besserer Beschäftigungsmöglichkeiten leicht zurückgegangen ist. Im Juni 2019 gab es 7,9 Millionen marginal Beschäftigte – sogenannte Minijobber, die bis zu 450 EUR im Monat verdienen. Minijobber sind hauptsächlich Schüler und Studenten, Rentner (im Vorruhestand und nach Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalters) und Hausfrauen sowie nebenberuflich Tätige. In den letzten Jahren stieg die Zahl der Minijobber in geringerem Umfang als die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Im Jahr 2018 lag der Anteil der Beschäftigten mit befristeten Arbeitsverträgen bei 8,3 %. Mindestens in den letzten drei Jahren lässt sich eine erhöhte Verbleibsquote feststellen. Im Juni 2019 waren ca. 2 % aller Beschäftigten Leiharbeitnehmer. Die Anzahl der Leiharbeitnehmer ging, nachdem sie 2017 einen Höchstwert erreicht hatte, in den Jahren 2018 und 2019 zurück. PE 648.803 8
Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland Im Jahr 2017 erhielten 7,9 Millionen Personen Löhne unterhalb der Niedriglohnschwelle (ein Bruttostundenlohn, der 2/3 des Medianentgelts aller Beschäftigten entspricht). Die Mobilität aus dem Niedriglohnsektor heraus ist gering. Arbeitslosigkeit und aktive arbeitsmarktpolitische Programme Aufgrund der gestiegenen Arbeitskräftenachfrage ging die Arbeitslosenquote ebenso wie die Nichterwerbsquote zurück. Verwaltungsdaten zufolge belief sich die Arbeitslosenquote im Januar 2020 auf 5 %, Daten der Arbeitskräfteerhebung zufolge auf 3,2 %; sie war bis dahin seit vielen Jahren rückläufig. Anfang 2020 ist erstmals seit der Weltwirtschaftskrise ein leichter Anstieg zu beobachten (gegenüber dem Vorjahr). Die Arbeitslosenquote liegt bei jungen Menschen knapp unter der von Erwachsenen. Die Inzidenz von Langzeitarbeitslosigkeit ist in den letzten Jahren leicht zurückgegangen. Die Senkung der Langzeitarbeitslosigkeit, insbesondere durch die Förderung eines sozialen Arbeitsmarktes für Dauerarbeitslose, steht im Mittelpunkt aktueller aktiver arbeitsmarktpolitischer Programme. Ein weiterer Schwerpunkt ist es, benachteiligte junge Menschen in Bildung (insbesondere Berufsbildung) und Beschäftigung zu bringen, wie die Fortführung der seit den 1970er Jahren laufenden Maßnahmen belegt. Aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen wurden in jüngerer Zeit erfolgreich gezielt bei Flüchtlingen und Asylbewerbern eingesetzt. Das Bundesteilhabegesetz von 2016 fördert Maßnahmen zur Integration von Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt. Um die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Arbeitsmarkt zu bewältigen, entschied die Bundesregierung, die Anspruchsvoraussetzungen für Kurzarbeit zu erleichtern. Demografischer Wandel Die deutsche Gesellschaft wird aufgrund niedriger Geburtenziffern und einer steigenden Lebenserwartung immer älter, auch wenn die Geburtenziffern in letzter Zeit gestiegen sind. Eine große Herausforderung stellt die weitere Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie dar. Als Folge der Flüchtlingskrise erreichte der Wanderungssaldo in Deutschland 2015 einen Höchststand von 1,1 Millionen Personen und ging in den drei Folgejahren wieder zurück. Im Migrationsbericht für 2018 wird für Deutschland ein Wanderungssaldo von fast 400 000 Personen ausgewiesen. Fast die Hälfte dieser Nettozuwanderung hatte ihren Ursprung in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU). Zur Bewältigung des Fachkräftemangels verabschiedete der Bundestag das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das am 1. März 2020 in Kraft trat. Das neue Gesetz erleichtert die Zuwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften und von Arbeitskräften mit Berufsausbildung aus Drittländern nach Deutschland. Die Systeme der sozialen Sicherheit Im Zuge von Rentenreformen wurden das Renteneintrittsalter erhöht, die Frühverrentung wurde eingeschränkt, und es wurden Anreize für Rentner zur Aufnahme einer Beschäftigung geschaffen. Die Beschäftigungsquoten bei Älteren sind in den letzten Jahren enorm gestiegen (für die Altersgruppe 60–64 von 25,3 % im Jahr 2004 auf 60,3 % im Jahr 2018 und für die Altersgruppe 50-59 von 68,2 % im Jahr 2004 auf 83,6 % im Jahr 2018). Die wachsende Zahl älterer Pflegebedürftiger stellt eine große Herausforderung dar. Um die Ausgaben für die stationäre Pflege zu begrenzen, hat die Bundesregierung Maßnahmen für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Pflege älterer Menschen beschlossen. Da der Mangel an Pflegepersonal 9 PE 648.803
IPOL | Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität zu den größten Problemen gehört, gelten neue Initiativen vor allem der Anhebung der Löhne für Pflegerinnen und Pfleger und der Anwerbung im Ausland. Armut Die gute Wirtschaftsleistung Deutschlands in den letzten zehn Jahren in Deutschland hat zur Verminderung der Armut beigetragen. Die Armutsquoten von Kindern (in Haushalten, die 50 % des Medianeinkommens nach Steuern und Sozialleistungen erhielten) liegt höher als für die übrige Bevölkerung. Vor allem Kinder, die in Haushalten von Alleinerziehenden, in Haushalten mit niedriger Erwerbsbeteiligung oder in kinderreichen Familien leben, sind von Armut bedroht. Zu den wesentlichen Aufgaben gehören die Verbesserung der sozialen Mobilität und die Ermöglichung eines gleichberechtigten Zugangs armer Kinder zu hochwertiger Bildung. Zur Linderung der Erwerbstätigenarmut wurde 2015 ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt. Er hat sich positiv auf die Löhne in den untersten Einkommensgruppen ausgewirkt, obwohl noch immer nicht alle Unternehmen das Gesetz einhalten. Wohnung Erschwinglicher Wohnraum ist inzwischen nicht nur für einkommensschwache Haushalte, sondern auch für Haushalte mit mittlerem Einkommen ein großes Problem, insbesondere in wirtschaftlich dynamischen Ballungsräumen. Aktuelle Maßnahmen umfassen eine Anhebung des Wohngelds sowie die Regulierung von Mietpreissteigerungen. Sozialer Dialog Deutschland ist bekannt für sein Sozialpartnerschaftsmodell. Allerdings haben die Gewerkschaften seit Jahrzehnten mit sinkenden Mitgliederzahlen zu kämpfen, und für einen immer größeren Anteil der Arbeitnehmer gilt weder ein Tarifvertrag noch eine Betriebsvereinbarung. Dessen ungeachtet sind die Löhne aufgrund der guten Wirtschaftsleistung und niedrigen Arbeitslosigkeit gestiegen. Am höchsten war der Lohnzuwachs in der Metall- und Elektroindustrie, in der Stahlindustrie und im öffentlichen Sektor der Bundesländer (vor allem für einzelne Berufsgruppen wie Pflegekräfte). Kompetenzentwicklung Das duale System der Berufsausbildung ist weithin als einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren für den Abbau der Jugendarbeitslosigkeit und des Qualifikationsdefizits anerkannt. Der Umstand, dass immer weniger junge Menschen an einer dualen Berufsausbildung teilnehmen, ist sehr besorgniserregend. Seit der Einführung des Bachelor-Abschlusses durch den Bologna-Prozess ziehen immer mehr von ihnen eine Hochschulbildung vor. Zur Bewältigung der Herausforderungen für das duale Berufsausbildungssystem wurde eine Allianz für Aus- und Weiterbildung 2015–2018 geschmiedet. Bundesregierung, Sozialpartner und weitere wichtige Interessenvertreter unterzeichneten eine neue Vereinbarung über die Allianz für 2019–2021. Zu den wichtigsten Aktionen gehören Maßnahmen für die Integration benachteiligter Jugendlicher in die duale Berufsausbildung und zur Unterstützung bei der Vermittlung. Das arbeitsplatznahe Lernen in der Hochschulbildung wurde ausgebaut. Zusätzlich zu traditionellen Studienformen wurden neue Formate von Studiengängen im Einklang mit der dualen Struktur eingeführt. Darüber hinaus kommen zunehmend Praktikumsprogramme zur Anwendung. In den letzten Jahren wurden mehrere Maßnahmen und Rechtsvorschriften zur Förderung der Fort- und Weiterbildung eingeführt. Das Qualifizierungschancengesetz, das seit Januar 2019 in Kraft ist, PE 648.803 10
Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland beinhaltet einen gesetzlichen Anspruch auf Weiterbildungsberatung durch die Bundesagentur für Arbeit und erweitert die geförderte Ausbildung auf Beschäftigte, die vom Strukturwandel betroffen sind. Als Reaktion auf die Herausforderungen des digitalen Wandels am Arbeitsplatz wurde im Juni 2019 eine neue nationale Weiterbildungsstrategie verabschiedet. Europäischer Sozialfonds (ESF) In den sieben Jahren der ESF-Förderperiode 2014–2020 wurden 2,7 Mrd. EUR für Projekte auf Bundesebene bereitgestellt. Weitere 4,8 Mrd. EUR wurden für Projekte auf der Ebene der 16 Bundesländer vorgesehen. Ein besonderer Schwerpunkt bei der Verwendung von ESF-Mitteln lag auf der Arbeitsmarktintegration. 11 PE 648.803
IPOL | Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität 1. DIE BESCHÄFTIGUNGSSITUATION UND JÜNGSTE POLITISCHE REFORMEN IN DEUTSCHLAND 1.1. Entwicklung der Beschäftigung WICHTIGSTE ERKENNTNISSE Nach der weltweiten Wirtschaftskrise des Jahres 2008 verzeichnete die Beschäftigung in Deutschland ein stetiges Wachstum. Die Hauptquellen für dieses Wachstum waren gestiegene Beschäftigungsquoten bei Frauen und älteren Arbeitskräften. Über die Hälfte des gesamten Beschäftigungszuwachses seit der konjunkturellen Erholung war auf die Ausweitung der Teilzeitbeschäftigung, besonders bei Frauen, zurückzuführen. Die Anteile anderer Formen von atypischer Beschäftigung sind in den letzten Jahren aufgrund besserer Beschäftigungsmöglichkeiten leicht zurückgegangen. Mehr als ein Sechstel der Beschäftigten (7,9 Millionen) sind Niedriglohnempfänger. Die Senkung der Langzeitarbeitslosigkeit, vor allem durch die Förderung eines sozialen Arbeitsmarktes für Dauerarbeitslose, steht im Mittelpunkt aktueller aktiver arbeitsmarktpolitischer Programme. Aktive arbeitsmarktpolitische Programme wurden erfolgreich gezielt für Flüchtlinge und Asylbewerber eingesetzt. Um die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Arbeitsmarkt zu bewältigen, entschied die Bundesregierung, die Anspruchsvoraussetzungen für Kurzarbeit zu erleichtern; dies wurde in den ersten Wochen stark genutzt. Vor dem Hintergrund der neuen Arbeitsformen bestehen die wichtigsten Herausforderungen in der Überwindung des Fachkräftemangels, der Beschleunigung der Digitalisierung und entsprechenden Anpassung von Kompetenzen und der Überprüfung von Arbeitsmarktregelungen und der sozialen Sicherheit. 1.1.1. Beschäftigungsdynamik und Fachkräftemangel Nach der weltweiten Wirtschaftskrise verzeichnete die Beschäftigung in Deutschland ein stetiges Wachstum, und zwar – nationalen Statistiken zufolge – von 40,9 Millionen im Juni 2009 auf 43,7 Millionen im Juni 2016 und 45,3 Millionen im Juni 2019. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten wuchs von 27,6 Millionen im Jahr 2009 auf 31,4 Millionen im Jahr 2016 und 33,8 Millionen im Jahr 2019, was einem Anstieg von 21 % in diesen zehn Jahren entsprach (siehe Anhang, Abbildung 10). Die monatlichen Beschäftigungsdaten für 2019 zeigen, dass sich der Beschäftigungsaufbau 2019 verlangsamte (Sachverständigenrat, 2019). Führende Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizieren zumindest für 2020 eine schwere wirtschaftliche Rezession infolge der Corona-Pandemie. Die gemeinsame Gruppe der Prognoseinstitute (Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose) sagt für 2020 einen Rückgang des BIP um 4,2 % voraus (Gemeinschaftsdiagnose, 2020). Das ifo Institut schätzt, dass ein vollständiger Shutdown der Wirtschaft zwischen 255 Mrd. und 495 Mrd. EUR kosten wird (ifo Institut, 2020). Der Bundesverband der Deutschen Industrie rechnet in Deutschland für 2020 mit einem Rückgang des BIP um 3 bis 6 % in 2020 infolge der Corona-Krise. Daten der Arbeitskräfteerhebung (AKE) von Eurostat zufolge gab es im Jahr 2018 in Deutschland 3,56 Millionen Selbstständige. Der Anteil der Selbstständigen an der Gesamtbeschäftigung sank von 10,5 % im Jahr 2004 auf 8,8 % im Jahr 2018, wobei auch die Anteile der Arbeitgeber und selbstständig PE 648.803 12
Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland Erwerbstätigen zurückgingen. Eine Erklärung für den jüngsten Rückgang der Selbstständigkeit liegt darin, dass der Arbeitsmarkt immer mehr attraktive Beschäftigungsmöglichkeiten bietet. Ursächlich für das Beschäftigungswachstum war die zunehmende Arbeitskräftenachfrage in Verbindung mit dem anhaltenden Wirtschaftswachstum der letzten zehn Jahre. Dank der umfassenden Nutzung von Kurzarbeitsregelungen und Arbeitszeitkonten hatte Weltwirtschaftskrise nur einen geringen negativen Effekt auf die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und die deutsche Wirtschaft erholte sich rasch. Abbildung 1: Beschäftigungsquoten nach Geschlecht (15–64) Quelle: Eurostat, AKE-Daten. Die gestiegenen Beschäftigungsquoten, die das Beschäftigungswachstum ausmachten, waren bei Frauen, Älteren (Abbildung 1, und siehe Abschnitt 3.2.2) und Ausländern besonders beachtlich. Sowohl die Arbeitslosenquote als auch die Nichterwerbsquote gingen entsprechend zurück. Auch die Einwanderung hat Beschäftigungswachstum generiert. Der Fachkräftemangel bzw. drohende Fachkräftemangel und Strategien zu seiner Überwindung sind seit vielen Jahren ein zentrales Thema öffentlicher und politischer Diskussionen. Generell ist es schwierig, das Ausmaß des Mangels zu bemessen, da Unternehmen reagieren, indem sie andere Strategien verfolgen, wie etwa Outsourcing, Offshoring oder Fortbildung der eigenen Mitarbeiter. Bei fehlenden Fachkräften könnten Unternehmen auch gezwungen sein, ihre Aktivitäten zu reduzieren und darauf zu verzichten, Marktpotenziale auszuschöpfen oder Möglichkeiten zur Steigerung der Produktivität zu nutzen. Dennoch wurde von der Bundesagentur für Arbeit, also der öffentlichen Arbeitsverwaltung Deutschlands, eine Analyse des Fachkräftemangels durchgeführt. Als Hauptindikatoren wurden die Zeit bis zur Besetzung einer bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten freien Stelle und die Arbeitslosen-Stellen-Relation verwendet. Im Jahr 2008, während der Wirtschafts- und Finanzkrise, lag das Verhältnis von Arbeitslosen zu gemeldeten Stellen bei etwa 806:100 und 2019 bei 232:100 (das heißt, im Durchschnitt kamen zwei Arbeitslose auf eine freie Stelle, Bundesagentur für Arbeit, 2019a). Aufgeschlüsselt nach Branchen besteht ein Fachkräftemangel vor allem im Gesundheitswesen, im Baugewerbe und in einigen Bereichen des verarbeitenden Gewerbes sowie in der IKT-Branche und bei 13 PE 648.803
IPOL | Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität IKT-Stellen in allen Branchen. Die Bewertung von Engpasstätigkeiten bildet die Grundlage für die Erstellung einer Weißen Liste für die Zuwanderung. Im Jahr 2011 verkündete die Bundesregierung ihre Strategie zur Fachkräftesicherung gestützt auf fünf Säulen: i) Zugang zu Bildung für alle; ii) Qualifizierung (Aus- und Weiterbildung); iii) Aktivierungsmaßnahmen und Beschäftigungssicherung; iv) Vereinbarkeit von Beruf und Familie; v) Integration und qualifizierte Zuwanderung. Mit dieser Strategie in Einklang stehen politische Initiativen der letzten Zeit, beispielsweise das neue Einwanderungsgesetz und die neue Strategie zur Förderung der Fort- und Weiterbildung (siehe Abschnitt 5.3). Insbesondere Gewerkschaften haben argumentiert, dass etwas gegen niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen unternommen werden müsse, um den Fachkräftemangel zu beheben. So geht man etwa davon aus, dass schlechte Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen und in der Altenpflege zu einer hohen Arbeitskräftefluktuation und einem Mangel an Fachkräften beitragen (siehe z. B. Kraft/Drossel, 2019, und Abschnitt 3.2.5). 1.1.2. Beschäftigung von Frauen Die weibliche Erwerbstätigkeit machte einen erheblichen Teil des Beschäftigungswachstums aus. So stieg die Frauenbeschäftigungsquote 1 um 13,6 Prozentpunkte von 58,5 % im Jahr 2004 auf 72,1 % im Jahr 2018, bei Männern hingegen im selben Zeitraum lediglich um 7,9 Prozentpunkte (Abbildung 1). Dennoch lag die Beschäftigungsquote bei Frauen 2018 immer noch um 7,6 Prozentpunkte unter der der Männer. Mit Politikmaßnahmen soll die Erwerbstätigkeit von Frauen gefördert werden (z. B. durch zusätzliche Kinderbetreuungsplätze). Über die Hälfte des Beschäftigungswachstums war auf die Ausweitung der Teilzeitbeschäftigung, insbesondere für Frauen, zurückzuführen (siehe auch Abschnitt 1.3.1). Nach wie vor besteht ein enormes Potenzial für die Verlängerung der Arbeitszeiten von Frauen. Damit dies geschehen kann, müssen Geschlechterstereotypen überwunden werden und eine Verlängerung der Arbeitszeit muss attraktiver werden. In den letzten Jahren sind die Angebote für eine Ganztagsbetreuung von Kindern – auch für Kinder im Schulalter – erweitert worden, doch ist der Versorgungsgrad noch immer niedrig. Seit einiger Zeit wird heftig über die Qualität der Kinderbetreuung diskutiert (siehe auch Abschnitt 3.3.1). Daten des Statistischen Bundesamtes (Destatis) zufolge belief sich die Verdienstlücke zwischen Männern und Frauen (Gender Pay Gap) in Deutschland 2018 auf durchschnittlich 21 %, obwohl jüngere Frauen – zumindest im Schnitt – ein höheres Bildungsniveau aufweisen als Männer (siehe z. B. Destatis hier oder hier). Diese Lücke lässt sich weitgehend durch eine berufliche Segregation erklären, da Frauen oft schlechter bezahlte Berufe wählen (Zucco, 2019). Die Forschung zeigt außerdem, dass im Allgemeinen große Unterschiede zwischen den Stundenlöhnen für Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigung in einem bestimmten Beruf bestehen (Zucco, 2019). Somit führt Teilzeitbeschäftigung, die unter Frauen weit verbreitet ist (siehe unten), zu einer Benachteiligung in Bezug auf Karriere/zugewiesene Arbeitsaufgaben und Entlohnung. Eine Diskriminierung bei der beruflichen Entwicklung ist zum Teil für den Gender Gap verantwortlich. Mit 27 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in leitenden Funktionen (Bundesagentur für Arbeit, 2019b) und Aufsichtsräten sind Frauen in Führungspositionen in hohem Maße unterrepräsentiert. Bereits 2012 hat das Europäische Parlament einen Vorschlag zur Verbesserung des Geschlechterverhältnisses bei nicht-geschäftsführenden Direktoren von börsennotierten 1 Gemessen als Verhältnis der beschäftigten Frauen zur weiblichen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. PE 648.803 14
Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland Unternehmen vorgelegt. Durch das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen wurde eine verbindliche Quote von 30 % für Aufsichtsräte von börsennotierten Gesellschaften und mitbestimmten Gesellschaften eingeführt. Das Gesetz ist seit 2016 in Kraft und betrifft etwa 100 Unternehmen. Es verpflichtet außerdem ca. 3 500 börsennotierte oder mitbestimmte Unternehmen in Deutschland zur Festlegung von Zielen für eine Erhöhung des Frauenanteils in Aufsichtsräten, Vorständen und obersten Führungsebenen. Im Falle einer Nichteinhaltung sind allerdings keine Sanktionen vorgesehen, und auch ein Ziel „Null“ ist erlaubt. Das Gesetz hat sich positiv ausgewirkt, da der Anteil von Frauen in Vorstandspositionen in den 100 wie auch in den 200 größten Unternehmen2 gestiegen ist, auch wenn er noch weit unter dem Ziel von 30 % liegt (Kirsch und Wrohlich, 2020). Die anhaltend schwache Präsenz von Frauen in Vorständen und Geschäftsführungen bleibt eine große Herausforderung. 1.2. Beschäftigung von Ausländern und migrationspolitische Maßnahmen Die Anzahl der Beschäftigten mit ausländischer Staatsangehörigkeit hat sich im Zeitraum 2009–2019 verdoppelt (Statista-Daten). Stand 30. Juni 2019 hatten ca. 3,85 Mio. Arbeitnehmer mit ausländischer Staatsangehörigkeit einen Arbeitsvertrag für eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung (11,6 % aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten). Die Beschäftigungsquote der Bevölkerung mit ausländischer Staatsangehörigkeit im Alter von 15 bis 64 Jahren hat sich kontinuierlich erhöht (ausgenommen 2016), nämlich von 52,7 % im Jahr 2005 auf 58,3 % im Jahr 2010 und 64,8 % im Jahr 2018 (13 Prozentpunkte unter der Beschäftigungsquote deutscher Staatsangehöriger). Im Allgemeinen steigen die Beschäftigungsquoten tendenziell mit der Aufenthaltsdauer (Vogler-Ludwig/Düll 2015). Außerdem sank die Anzahl der Arbeitslosen aufgrund einer gestiegenen Arbeitskräftenachfrage. Die Beschäftigungsbedingungen sind für ausländische Staatsangehörige in der Regel ungünstiger als für deutsche Staatsangehörige (vom Deutschen Gewerkschaftsbund DGB erhobene Daten). Fast 15 % der ausländischen Arbeitskräfte hatten einen befristeten Arbeitsvertrag, also beinahe dreimal so viele wie bei den deutschen Staatsangehörigen. Nahezu 35 % der ausländischen Vollzeitfachkräfte mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung oder einem Hochschulabschluss arbeiteten zu einem Niedriglohn, bei den deutschen Vollzeitfachkräften hingegen waren es knapp 20 %. Bei den Minijobs war der Anteil ausländischer Staatsangehöriger allerdings nicht höher als der deutscher Staatsangehöriger (siehe Abschnitt 1.3). Das Kompetenzprofil ausländischer Staatsangehöriger zeigt eine Polarisierung gegenüber früheren Phasen der Nettomigration, neue Einwanderer weisen in der Regel ein höheres Bildungsniveau auf als deutsche Staatsangehörige; dennoch gehen sie oft einer Arbeit nach, die ein niedrigeres Qualifikationsniveau erfordert, als sie eigentlich besitzen. Etwa ein Drittel der Migranten in Deutschland sind überqualifiziert (OECD/EU, 2018). 1.3. Atypische Beschäftigung In Deutschland geht es bei der Debatte zur atypischen Beschäftigung um Teilzeitbeschäftigung (20 Wochenstunden oder weniger), befristete Verträge, Leiharbeit, „marginale“ Beschäftigung oder sogenannte Minijobber (Menschen in geringfügiger Beschäftigung – Einzelheiten siehe Abschnitt 1.3.2). Die verschiedenen Komponenten der atypischen Beschäftigung haben sich in den 2 Nach Umsatz. 15 PE 648.803
IPOL | Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität zurückliegenden Jahren unterschiedlich entwickelt. 1.3.1. Teilzeitbeschäftigung Im Zeitraum 2010–2018 ist die Anzahl der sozialversicherungspflichtig teilzeitbeschäftigten Frauen um 2,8 Millionen, die der Männer um eine Million gestiegen (Bundesagentur für Arbeit, 2019b). Bei Männern ist Teilzeit häufiger unfreiwillig (nach Eurostat, AKE-Daten). Deutschland gehört zur Gruppe von Ländern mit einer ausgeprägten Kultur der Teilzeitarbeit bei Frauen. Im Jahr 2018 waren vier von fünf Teilzeitbeschäftigten Frauen (Eurostat, AKE-Daten.) 3. Der Anteil der teilzeitbeschäftigten Frauen an allen Frauen in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis stieg von 35,8 % im Jahr 2008 auf 47,7 % im Jahr 2018, der der Männer von 5,8 % auf 10,9 % (Bundesagentur für Arbeit, 2019b). Im Jahr 2018 arbeiteten teilzeitbeschäftigte Frauen in Westdeutschland im Durchschnitt 20 Stunden pro Woche, in Ostdeutschland 4 24,4 Stunden. Es gibt zwei Formen der Teilzeitbeschäftigung mit Arbeitsvertrag: i) sozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeitsverträge und ii) Minijob-Verträge mit dem Minijob als Haupteinkommensquelle (siehe Abschnitt 1.3.2). 1.3.2. Marginal Beschäftigte (Minijobber) Marginale Beschäftigung – in Deutschland als Minijobs bezeichnet – ist zu einem zentralen Merkmal des Arbeitsmarkts im Land geworden, geht doch ein Fünftel der abhängig Beschäftigten einem Minijob nach. Minijobber dürfen bis zu 450 EUR monatlich verdienen. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, einen pauschalen Beitrag zur Sozialversicherung zu zahlen, der niedriger ist als die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge bei regulären sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen. Die Beschäftigten können sich von der Zahlung ihrer Beiträge zur Rentenversicherung befreien lassen. Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung sind Solidarleistungen, die in den Haushalt der gesetzlichen Krankenversicherung einfließen, ohne dass daraus ein Anspruch des beschäftigten Minijobbers auf Krankenversicherungsschutz folgt. Außerdem werden kleine Insolvenz- und Unfallversicherungsbeiträge sowie eine Umlage für die Entgeltfortzahlung bei Krankheit/Mutterschaft gezahlt. Zur Arbeitslosenversicherung oder zur gesetzlichen Rentenversicherung werden keine Beiträge geleistet. Für die Einkommensteuer gilt ein Pauschalsteuer-Satz von 2 % auf den Bruttolohn. Dies stellt für die meisten Minijobber eine Steuerersparnis dar, vor allem wenn ihr Einkommen aus ihrer Hauptbeschäftigung, die Rente oder das Einkommen des Ehepartners hoch ist. Minijobs können regelmäßig oder gelegentlich ausgeübt werden, oder sie werden zusätzlich zur regulären Beschäftigung übernommen (Düll, 2017). Für Einkommen im Bereich von 451 bis 1 300 EUR, die sogenannten Midijobs, ist eine Stufenregelung für die üblichen Sozialversicherungsbeitragssätze vorgesehen. Midijobber müssen Beiträge für alle Bereiche des Sozialversicherungssystems zahlen, allerdings mit reduzierten Arbeitnehmeranteilen, und Midijobber haben die gleichen Rechte wie alle anderen regulär Beschäftigten. Für Midijobber gelten keine Steuervergünstigungen. Die Beitragsbemessungsgrenze (bei mehreren Arbeitsverhältnissen) wurde kürzlich von 850 EUR auf 1 300 EUR erhöht. Im Juni 2019 gab es 7,9 Millionen Minijobber und 33,41 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte (Daten der Bundesagentur für Arbeit, siehe Anhang, Abbildung 10). Von diesen marginal 3 Allerdings hat der Anteil der teilzeitbeschäftigten Männer leicht – um rund 4,3 Prozentpunkte – zugenommen, nämlich von 14,8 % im Jahr 2004 auf 19,1 % im Jahr 2018 (Eurostat, AKE-Daten). 4 Ostdeutschland umfasst die Bundesländer auf dem Gebiet der früheren DDR (Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen), Westdeutschland die übrigen elf Bundesländer einschließlich Berlin. PE 648.803 16
Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland Beschäftigten übten 62,1 % den Minijob als einzige Beschäftigungsform und 37,9 % den Minijob als Nebentätigkeit aus. Minijobber sind im Durchschnitt in aller Regel weniger qualifiziert, da sie Aufgaben ausführen, die leichter aufzuteilen sind. Minijobs können gut in die Arbeitsorganisation passen, da ihre Aufgaben nur wenige Stunden Arbeit erfordern oder sich problemlos auf mehrere Minijobs aufteilen lassen. Darüber hinaus können diese Arbeitsstellen in einigen Branchen als Flexibilitätspuffer dienen (Fischer u. a., 2015). Im Dezember 2019 arbeiteten 17,3 % Minijobber im Sektor Groß- und Einzelhandel, Reparatur von Kraftfahrzeugen und Motorrädern, 13,3 % im Hotel- und Gaststättengewerbe, 12,5 % im Sektor „Sonstige Dienstleistungen“, 10,9 % im Gesundheits- und Sozialwesen sowie 7,2 % im Verarbeitenden Gewerbe (Knappschaft Bahn See, 2019). Bei Personen, die bereits auf anderem Wege krankenversichert sind, z. B. als Familienmitglieder, wie etwa Jugendliche, Hausfrauen und -männer, Rentner und Arbeitslose, ist der Anreiz für die Aufnahme eines Minijobs hoch. Daher sind Minijobber hauptsächlich Schüler und Studenten, Rentner (im Vorruhestand und nach Erreichen des gesetzlichen Rentenalters), Hausfrauen, andere Personen mit einem Minijob als Haupttätigkeit sowie nebenberuflich Tätige (Düll, 2017). Die Anzahl der Minijobber ist von 6,6 Millionen im Jahr 2004 auf 7,9 Millionen Mitte 2019 gestiegen (siehe Anhang, Abbildung 10), und das trotz eines Rückgangs nach der Einführung des Mindestlohns (von 8,50 EUR) im Jahr 2015. Regelungen zu Minijobs gibt es seit vielen Jahrzehnten. In den 1960er und 1970er Jahren ging es in erster Linie darum, das Angebot vor allem an den Arbeitskräften zu verbessern, die am Arbeitsmarkt teilnahmen, und die Anzahl der Stunden bei jenen, die in Beschäftigung waren, zu erhöhen sowie die Beschäftigungsquoten verheirateter Frauen zu steigern, um den Arbeitskräftemangel zu beseitigen. Als Reaktion auf eine hohe Arbeitslosigkeit wurden die Minijobregelungen 2003 im Zuge umfassender Arbeitsmarktreformen, der sogenannten „Hartz-Reformen“, mit dem Ziel, die Arbeitskosten zu senken, die Flexibilität zu erhöhen und auch geringfügige Beschäftigungsmöglichkeiten bereitzustellen, neu gestaltet. Seither wird aufgrund veränderter Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt mit Arbeitskräftemangel sowie gesellschaftlicher Entwicklungen wie eine erhöhte Beschäftigung von Frauen, verbesserte Kinderbetreuungsmöglichkeiten, mehr Alleinerziehende und Scheidungen über Reformen diskutiert. 1.3.3. Befristete Beschäftigung Die Anzahl der Beschäftigten mit einem befristeten Arbeitsvertrag belief sich 2018 auf 4,7 Millionen bzw. 12,6 % aller Beschäftigten im Alter von 15 bis 64 Jahren (Eurostat, AKE-Daten). Junge Menschen haben häufiger einen befristeten Arbeitsvertrag, besonders wenn sie gleichzeitig eine Berufsausbildung absolvieren. Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) (siehe Hohendanner, 2019), das sich auf eine andere Datenquelle stützt, stieg der Anteil der befristet Beschäftigten von 3,9 % im Jahr 1996 auf 8,3 % im Jahr 2018. Im selben Jahr waren 44,1 % aller neuen Arbeitsverträge befristet (gegenüber 35,4 % im Jahr 1996); von den Beschäftigten, deren befristeter Arbeitsvertrag auslief, wurden 44,2 % von ihrem Arbeitgeber übernommen – dies ist der höchste Anteil seit 2009. 1.3.4. Leiharbeit (Arbeitnehmerüberlassung) Im Juni 2019 waren ca. 2 % aller Beschäftigten Leiharbeitnehmer (Bundesagentur für Arbeit, 2020a). Stand Juni 2019 sind 40 % der Leiharbeitnehmer in der Produktion, 33 % in sonstigen Dienstleistungsberufen, 14 % in personenbezogenen Dienstleistungsberufen, 11 % im Vertrieb und 2 % in IT- und naturwissenschaftlichen Dienstleistungsberufen tätig. 17 PE 648.803
IPOL | Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität Abbildung 2: Grund für befristetes Beschäftigungsverhältnis nach Alter Quelle: Eurostat, AKE-Daten. Die meisten weiblichen Leiharbeitnehmer sind in personenbezogenen Dienstleistungsberufen (28 %) oder sonstigen Dienstleistungsberufen (27 %) tätig, während fast die Hälfte (48 %) aller männlichen Leiharbeitnehmer in Produktionsberufen arbeitet. Im Juni 2019 betrug das durchschnittliche monatliche Medianentgelt von Leiharbeitnehmern 1 928 EUR und lag damit deutlich unter dem Durchschnitt der Gesamtbeschäftigung. Befragt nach dem Hauptgrund für die Ausübung einer Leiharbeit, gaben die meisten Erwachsenen an, dass es sich um eine Probezeit handelte oder dass sie keine Festanstellung finden konnten (Abbildung 2). Nachdem die Zahl der Leiharbeitnehmer 2017 einen Höchstwert erreicht hatte, ging sie 2018 um 30 000 (siehe Anhang Abbildung 11) und bis Juni 2019 um noch einmal 984 000 zurück. Dieser Rückgang kann auf eine Konjunktureintrübung hindeuten, da Unternehmen auf eine sinkende Nachfrage reagieren. Ein anderer Grund könnte auch die Reform des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes sein, die im April 2017 in Kraft trat; die Reform bewirkte durch Abänderung der vorherigen Reform, die zur Umsetzung der EU-Richtlinie über Leiharbeit (2008) in die Praxis implementiert worden war, eine Anhebung der Löhne von Leiharbeitnehmern und eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen (Sachverständigenrat, 2019). Mit der Reform von 2017 wurde die Überlassungsdauer für Leiharbeitnehmer bei einem Arbeitgeber auf 18 Monate begrenzt (Bundesagentur für Arbeit, 2020a). Ausnahmen von dieser Regel sind möglich, wenn mit einem Tarifvertrag eine längere Einsatzdauer festgelegt wird; im Jahr 2020 erlauben 109 Tarifverträge eine längere Höchstüberlassungsdauer. Leiharbeitnehmer müssen nach neun Monaten Beschäftigung den gleichen Lohn wie das Stammpersonal erhalten. Des Weiteren ist die Beschäftigung von PE 648.803 18
Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland Leiharbeitnehmern als Streikbrecher verboten. Diese Änderungen waren eine Reaktion auf die Kritik, Leiharbeitnehmer würden nicht nur als Flexibilitätspuffer, sondern auch für die Bezahlung niedrigerer Löhne, die Einschränkung garantierter Arbeitnehmerrechte und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen gegenüber den Stamm-Mitarbeitern instrumentalisiert. 1.4. Niedriglohnempfänger Laut Verdienststrukturerhebung der Europäischen Union (Eurostat, 2016) lag Deutschland im Jahr 2014 beim Anteil der Niedriglohnempfänger unter 26 EU-Mitgliedstaaten an sechster Stelle (22,5 %) (Durchschnitt 17,5 %). Aus Daten des sozio-oekonomischen Panels (Grabka/Schröder, 2019) geht hervor, dass im Jahr 2017 7,9 Millionen Beschäftigte Niedriglohnempfänger waren (Bruttostundenverdienst in Höhe von zwei Dritteln des Medians aller Beschäftigten), was einem Anstieg von 2,9 Millionen Personen (+46 %) gegenüber 1995 entspricht. Die Mobilität aus dem Niedriglohnsektor heraus ist gering und hat nicht zugenommen. Wie bereits festgestellt, erhalten Frauen häufiger Niedriglöhne als Männer. Außerdem war 2017 ein niedriges Einkommensniveau (Haupttätigkeit) bei Personen, die in den östlichen Bundesländern leben, häufiger anzutreffen (33,3 %) als in den westlichen Bundesländern (20,0 %) für Menschen ohne beruflichen Abschluss (48,8 %), Alleinerziehende (36,5 %) und Arbeitskräfte unter 25 Jahren (53,9 %). Der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund, die einen Niedriglohn erhalten (eigener Migrationshintergrund5 30,3 %), lag ebenfalls deutlich über dem der Niedriglohnempfänger ohne Migrationshintergrund (20,2 % – Grabka/Schröder, 2019). 5 In nationalen Statistiken Deutschlands werden Personen mit Migrationshintergrund unterteilt in solche mit eigenem Migrationshintergrund und solche, deren Mutter oder Vater nach Deutschland eingewandert ist. 19 PE 648.803
IPOL | Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität Abbildung 3: Vollzeitbeschäftigte mit Entgelten unter der Schwelle des unteren Entgeltbereichs nach Staatsangehörigkeit Quelle: Bundestag, 2019a. Nach einer anderen Klassifikation zeigen vom Bundestag veröffentlichte Daten (2019a), dass zwar der Anteil deutscher Staatsangehöriger in Vollzeitbeschäftigung mit einem Verdienst unterhalb der Niedriglohnschwelle von 21,4 % im Jahr 2010 auf 16,7 % im Jahr 2018 gesunken ist, der Anteil von Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit unterhalb der Niedriglohnschwelle im gleichen Zeitraum jedoch von 29,5 % auf 38 % gestiegen ist (Abbildung 3). Oft fallen Niedrigverdienende unter Regelungen für Minijobs (450 EUR Monatsentgelt) und Midijobs (bis 850 EUR Monatsentgelt) (siehe Abschnitt 1.3.2). Wegen günstiger Steuer- und Transfersystemregelungen sehen viele Niedriglohnempfänger davon ab, ihre Arbeitszeiten zu verlängern, da sie dann keinen Anspruch auf die genannten Regelungen mehr hätten (Grabka/Schröder, 2019; Sachverständigenrat, 2019). 1.5. Auswirkungen von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz auf Arbeitsplätze und Kompetenzen 1.5.1. Trends in den Bereichen Digitalisierung und Automatisierung Die Digitalisierung der Wirtschaft hat erhebliche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Dabei lassen sich zwei potenzielle Haupteffekte unterscheiden: i) die Menge an Arbeitsplätzen im Hinblick auf den Verlust von Arbeitsplätzen (Automatisierung) und die Entstehung von Arbeitsplätzen (neue Waren und Dienstleistungen, neue Produktionsprozesse usw.); ii) damit verbunden strukturelle Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, da einige Tätigkeiten verschwinden und andere Tätigkeitsprofile entstehen oder sich verändern werden (siehe z. B. Arntz/Gregory/Zierahn, 2019; Matthes u. a., 2019; Wolter u. a., PE 648.803 20
Die Beschäftigungssituation und die soziale Lage in Deutschland 2019). Deutschland weist die höchste Roboterintensität im Verarbeitenden Gewerbe 6 in Europa auf, und im OECD-Vergleich liegt die Roboterintensität nur in Korea7 und Japan höher (OECD, 2017a). Während die Automatisierung in hohem Maße die Fertigungsprozesse direkt beeinflusst, wird erwartet, dass Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) und andere neue IT-bezogene Technologien erhebliche Auswirkungen auf die Aufgaben und Qualifikationsinhalte von Tätigkeiten haben. Schon jetzt zeichnet sich eine Tendenz zur Hybridisierung von Tätigkeiten ab, beispielsweise eine steigende Nachfrage nach IKT-Fachkräften mit interdisziplinären Fertigkeiten (z. B. in den Bereichen Mechanik, Biologie, Unternehmensführung) oder nach Nicht-IKT-Kräften mit spezifischen IKT-Kompetenzen. Arntz/Gregory/Zierahn (2018) unterscheiden zwischen selbststeuernden 4.0-Technologien (automatisierte Produktionsanlagen, intelligente Fabriken (Smart Factories), cyberphysikalische Systeme, Internet der Dinge) und IT-integrierte 4.0-Technologien (Big Data, Cloud Computing, Internetplattformen). Selbststeuernde 4.0-Technologien, die die Automatisierung von Fertigungsprozessen ermöglichen, gehören zu den Haupttriebkräften der Digitalisierung. Die IAB-ZEW-Betriebsbefragung zur Arbeitswelt 4.0 (Arntz u. a., 2016; Arntz u. a., 2018) vermittelt Einblicke in den Automatisierungs- und Digitalisierungsgrad der Arbeitsmittel in deutschen Unternehmen von 2011 bis 2016. Dieser Befragung zufolge haben sich 31,4 % der Unternehmen noch nicht mit der Nutzung von Industrie-4.0-Technologien beschäftigt; 15,0 % haben begonnen, sich über Industrie-4.0-Technologien zu informieren; 2,1 % planen ihren Einsatz; 33,9 % nutzen diese Technologien bereits; und 17,6 % der Unternehmen gaben an, dass die Nutzung dieser Technologien zentraler Bestandteil ihres Geschäftsmodells ist. Die Bundesregierung bemüht sich um eine Beschleunigung des Digitalisierungsprozesses in der Wirtschaft. Für Schlüsselindustrien ergeben sich besondere Herausforderungen; so hat etwa die Förderung des automatisierten Fahrens erhebliche Auswirkungen auf die deutsche Kraftfahrzeugbranche. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat vor kurzem zwei Studien in Auftrag gegeben, mit denen die künftigen Auswirkungen der Digitalisierung auf den deutschen Arbeitsmarkt untersucht werden sollen. In der Arbeitsmarktprognose für 2030, die 2016 von Economix (Vogler-Ludwig u. a., 2016) erstellt wurde, werden ein Basisszenario und ein Szenario der beschleunigten Digitalisierung zugrunde gelegt. Beim Digitalisierungsszenario wird davon ausgegangen, dass Akteure in Wirtschaft und Politik einer intensiven Nutzung digitaler Technologien Priorität einräumen. Die Prognose zeigt, dass es möglich sein wird, durch eine beschleunigte Digitalisierung zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen (263 000 zusätzliche Stellen bis 2030 gegenüber dem Basisszenario), allerdings mit erheblichen strukturellen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Im Digitalisierungsszenario (Wirtschaft 4.0) der neuesten Prognose des Bundesinstituts für Berufsbildung (BiBB) und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Auftrag gegebenen und 2019 veröffentlicht wurde (Zika u. a. 2019), wird geschätzt, dass bis 2035 nur 300 000 Arbeitnehmer durch neue Technologien ersetzt werden. Insgesamt werden 3,3 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen und 4 Millionen – vor allem aus demografischen Gründen – verschwinden. Die Verfasser erwarten einen erhöhten Bedarf an beruflicher Anpassung, wobei ein Missverhältnis zwischen vorhandenen und benötigten Qualifikationen die Situation erschweren wird. 6 Der Bestand an Industrierobotern geteilt durch die Wertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe. 7 Die Roboterintensität in Korea ist immer noch doppelt so hoch wie in Deutschland. 21 PE 648.803
IPOL | Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität 1.5.2. Neue Arbeitsformen Diskussionen über die Folgen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt mündeten im Dialogprozess Arbeiten 4.0. Dieser Prozess wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) im April 2015 eingeleitet und im November 2016 abgeschlossen. Ein Ziel dieser Initiative war es, durch eine Förderung der Zusammenarbeit zwischen Akteuren aus Wirtschaft und Industrie, von Gewerkschaften, der Zivilgesellschaft und der Forschung sowie aus der Politik die Herausforderungen auf dem künftigen Arbeitsmarkt (in Bezug auf Gewinne und Verluste an Arbeitsplätzen infolge der Digitalisierung, sich verändernde Qualifikationsanforderungen, Arbeitsbedingungen, Unternehmensstrukturen und Arbeitsorganisation) zu ermitteln. Im Rahmen des Prozesses wurden mehrere spezifische Veranstaltungen und Maßnahmen durchgeführt, wozu auch die Veröffentlichung wissenschaftlicher Studien und die Organisation von Gipfeltreffen gehörten. Im Ergebnis des Prozesses wurde 2016 das Weißbuch Arbeiten 4.0 veröffentlicht (siehe BMAS, 2017), in dem die notwendigen Reformen (z. B. Verbesserung der sozialen Sicherung für Solo-Selbstständige) aufgeführt und Empfehlungen für politische Maßnahmen gegeben werden. Der Prozess setzte eine Debatte über die Arbeitsbedingungen und soziale Sicherung von Selbstständigen ohne Angestellte und – in Bezug auf den Sektor Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) – über die Arbeitsbedingungen insbesondere von Crowdworkern8 in Gang. Allerdings liegen keine offiziellen Daten zur Anzahl der sogenannten Clickworker in Deutschland vor. Die Gewerkschaft IG Metall beteiligte sich an der Frankfurter Erklärung zu plattformbasierter Arbeit, einer Aufforderung zur „transnationalen Zusammenarbeit von Beschäftigten, Arbeitnehmerorganisationen, Plattformkunden, Plattformbetreibern und Regulierungsstellen, um faire Arbeitsbedingungen und die Einbeziehung der Arbeitnehmer in die Regulierung der wachsenden Welt digitaler Arbeitsplattformen zu gewährleisten“. Technologische Innovationen erleichtern den Arbeitsmarktzugang für Sektoren wie die Personenbeförderung oder das Hotel- und Gaststättengewerbe, z. B. durch die Automatisierung von Buchungsvorgängen. Dies hat in Deutschland zur wachsenden Popularität von Plattformen wie Uber oder Airbnb geführt. Der erleichterte Zugang führte bei den angestammten Akteuren in diesen Sektoren, die sich von diesen neuen Geschäftsmodellen bedroht fühlen, zu Kritik und Forderungen nach Regulierung. Diese angestammten Akteure wurden zum Teil von Parteien in Deutschland unterstützt. So schloss sich beispielsweise 2019 die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) offenbar den Taxifahrern bei deren Widerstand gegen Uber an. Das Recht auf Telearbeit, die Rolle von Arbeitszeitregelungen in Zeiten größerer Verfügbarkeit infolge der Digitalisierung am Arbeitsplatz und das Recht auf Nichterreichbarkeit werden in Deutschland und auf europäischer Ebene intensiv diskutiert9. So vertraten etwa Arbeitgeberverbände im Dialogprozess Arbeiten 4.0 (BMAS, 2017, siehe oben) die Auffassung, dass das Arbeitszeitrecht bei den Regelungen zur Höchstarbeitszeit flexibler sein sollte und dass gesetzliche Ruhezeiten geändert werden sollten, um den Bedarfen von Betrieben besser gerecht zu werden. Die Gewerkschaften betonten das Recht auf Nichterreichbarkeit und das Recht auf Telearbeit und wiesen auf Defizite bei der Kontrolle der Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes hin 10. Ein Beispiel für Initiativen auf Unternehmensebene liefert Volkswagen, dessen interne Server die Weiterleitung von E-Mails an individuelle Konten in der Zeit von 18.15 Uhr bis 7.00 Uhr in Deutschland abschalten; inzwischen haben sich viele weitere Unternehmen diesem Vorgehen angeschlossen. 8 Das sind Selbstständige ohne Angestellte, die (oft digital) Dienstleistungen auf Online-Arbeitsplattformen wie Clickworker oder Amazon Mechanical Turk anbieten. 9 Der Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europäischen Parlaments plant einen Bericht zu diesem Thema. PE 648.803 22
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