R Verantwortung und Fürsorge: Das Engagement der Stiftung EVZ für Überlebende des NS-Unrechts

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 Verantwortung und Fürsorge:
 Das Engagement der Stiftung EVZ
 für Überlebende des NS-Unrechts
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Inhalt

1. Für die Überlebenden des Nationalsozialismus: Der Auftrag der Stiftung EVZ ..................................................................................... 3

2. Überlebende der NS-Verfolgung – Menschen mit lebensprägenden Erfahrungen ........................................................................... 3

        2.1. Zwangs- und Sklavenarbeiter:innen .............................................................................................................................................................................................................. 3

        2.2. Individuelle Leistungen an die Überlebenden (2002 bis 2006) ............................................................................................................................... 4

        2.3. Projektorientiertes Engagement für Überlebende .................................................................................................................................................................. 4

        2.4. Nach den Auszahlungen: Wie geht es den Überlebenden seither? ..................................................................................................................... 5

3. Die EVZ-Projektpartner:innen – gemeinsames Engagement für Überlebende ..................................................................................... 6

        3.1. Diverse Bedingungen, ein Ziel: Projektträger in den Schwerpunktländern ........................................................................................... 6

        3.2 Aufbau und Entwicklung: das erste Förderjahrzehnt (2001 bis 2010) .......................................................................................................... 8

        3.3 Weichenstellungen und neue Zielgruppen: die Jahre 2011 bis 2019 .................................................................................................................. 9

       		              3.3.1               Erneutes Leid und humanitäre Aufgaben: Russlands hybrider Krieg
                                           gegen die Ukraine (2014–2021) .................................................................................................................................................................................................. 10

        3.4 Zweifache Zäsur und neue Strategie: Stiftungshandeln in Zeiten
            von Pandemie und Krieg – die Jahre 2020 bis 2022 ................................................................................................................................................................ 11

4 „Wir leben noch!“ – Aufmerksamkeit für Überlebende wecken .............................................................................................................................. 12

5 Arbeiten mit und für Überlebende – welche Angebote sind heute sinnvoll? ........................................................................................... 14

6 Ausblick ......................................................................................................................................................................................................................................................................................... 15

7 Dank ................................................................................................................................................................................................................................................................................................... 17

8 Facts & Figures ...................................................................................................................................................................................................................................................................... 17

9 Literaturverzeichnis ..................................................................................................................................................................................................................................................... 20

        9.1. Quellen ................................................................................................................................................................................................................................................................................................. 20

        9.2. Weiterführende Links .................................................................................................................................................................................................................................................... 23
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1.     Für die Überlebenden des                                   besetzen Gebieten), die Verfolgung mittlerweile „ver-
      ­National­sozialismus: Der Auftrag                          gessener“ Opfergruppen und die unterschiedlichen
       der Stiftung EVZ                                           Sichtweisen auf die Geschichte des Zweiten Weltkrieges
                                                                  in den Ländern Mittel- und Osteuropas.

Seit dem Jahr 2001 fördert die Stiftung EVZ Projekte              Das Engagement war immer wieder von politischen
zur Unterstützung von Überlebenden nationalsozialis-              Verwerfungen geprägt – die sich derzeit in beispiellosem
tischer Verfolgung. Sie engagiert sich für lebendiges             Ausmaß verdichten. Beispiele sind der andauernde
Erinnern und die kritische Auseinandersetzung mit dem             Nahostkonflikt, der die Sicherheit von Überlebenden
Nationalsozialismus und setzt sich für gleiche Würde              der Shoah in Israel bedroht; die zunehmenden Ein-
und Rechte aller Menschen ein. Das Engagement für                 schränkungen zivilgesellschaftlichen Handelns in Russ-
Überlebende insbesondere in Mittel- und Osteuropa,                land (vgl. Fischer, Sabine/Siegert, Jens, 2021) und Belarus
Israel und Deutschland ist Schwerpunkt unseres Han-               (Chulitskaya, Tatsiana, 2021); die Unterdrückung des
delns. 40 Prozent der Fördermittel (rund 3 Millionen              demokratischen Aufbruchs in Belarus und nicht zuletzt
Euro jährlich) fließen seit dem Jahr 2013 in die Unter-           die seit dem Jahr 2020 anhaltende Covid-19-Pandemie.
stützung von NS-Überlebenden und ihrer Nachkommen,                Der von Russland bereits im Jahr 2014 geschürte, wenn
hinzu kommen Spenden und Nachlässe. Insgesamt hat                 auch nicht erklärte Krieg im Osten der Ukraine wurde
die Stiftung EVZ 51,6 Millionen Euro für 1.179 Projekte           am 24. Februar 2022 auf die gesamte Ukraine ausge-
zugunsten von Überlebenden in zwölf Ländern finan-                weitet: Zehntausende Menschen wurden getötet, Häu-
ziert.                                                            ser zerstört, Landstriche verwüstet und mehr als sieben
                                                                  Millionen Menschen wurden außer Landes vertrieben
In den vergangenen 20 Jahren hat die Stiftung ihre För-           (update vom 13.9.22, vgl. UNHCR). Die NS-Überleben-
derstrategie regelmäßig modifiziert, um flexibel auf die          den wurden erneut von den Schrecken eines Krieges
Bedarfe der Überlebenden, auf sozialpolitische Lagen              eingeholt und (re)traumatisiert.
und aktuelle Herausforderungen zu reagieren. Hand-
lungsleitend waren die – seit 2021 in der Zukunfts-               Angesichts all dieser Herausforderungen standen und
agenda aktualisierten und konkretisierten – Ziele: Die            stehen unsere Projektpartner:innen – gemeinnützige
Stiftung EVZ will mit ihrer Förderung sicherstellen,              Vereine, Sozialstationen, Freiwilligenverbände – den
dass Überlebende der NS-Verfolgung psychisch, phy-                hochbetagten Überlebenden der NS-Verfolgung mit
sisch und sozial stabil in Würde altern können. Sie will          Mut, Kreativität und Tatkraft zur Seite. Auch viele der
sie vor Vereinsamung schützen und ihre Biografien und             NS-Überlebenden engagieren sich immer noch selbst
Lebensleistungen würdigen. Sie unterstützt darüber                für ihre Mitmenschen und eine bessere Welt.
hinaus den Struktur- und Kapazitätsaufbau zivilgesell-
schaftlicher Organisationen, die sich der Fürsorge, Hilfs-
tätigkeit und der Betreuung von Überlebenden enga-                2.     Überlebende der NS-Verfolgung –
giert, sensibel und zeitgemäß widmen.                                    ­Menschen mit lebensprägenden
                                                                        ­Erfahrungen
Das Dossier beleuchtet das Stiftungsengagement für
NS-Überlebende im Zeitraum von über zwei Dekaden –                2.1. Zwangs- und Sklavenarbeiter:innen
von 2001 bis 2022. Es waren Jahrzehnte voller Einsich-
ten und Lernerfahrungen aus den Biografien der Über-              Mehr als 26 Millionen Männer, Frauen und Kinder aus
lebenden und ihrer Nachkommen: Über die Dimension                 fast allen Ländern Europas mussten in den Jahren 1939
der NS-Zwangsarbeit und des deutschen Vernichtungs-               bis 1945 für das nationalsozialistische Deutschland
kriegs, über die Gesundheits- und Sozialstrukturen in             Zwangsarbeit leisten. Sie wurden in Rüstungsbetrieben,
den Förderregionen, über den „Holocaust durch Kugeln“             auf Baustellen, in der Landwirtschaft oder im Hand-
(Hinrichtungen von Jüdinnen:Juden und Rom:nja in den              werk und Privathaushalten im Deutschen Reich und
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den deutsch besetzten Gebieten ausgebeutet. Ihre
Sklaven- und Zwangsarbeit sicherte den Lebensstan-
dard der Deutschen im Krieg und war ein wesentliches
Fundament der deutschen Kriegswirtschaft. Sie wurden
gefoltert, erniedrigt, misshandelt, und ihrer menschli-
chen Würde beraubt. Da die Sklavenarbeit, die die Häft-

                                                                                                                            © BUILTIN/Administrators
linge der Konzentrationslager leisten mussten, auch
eine Form der systematischen Vernichtung war, haben
die meisten das Kriegsende nicht mehr erlebt. (vgl.
Spoerer 2005; Wagner 2010: 180ff und Niethammer
2007:13ff)

2.2. Individuelle Leistungen an die Überlebenden                  Professor Felix Kolmer im Jahr 2010
     (2002 bis 2006)

Im Jahr 2000 lebte nur noch ein kleiner Teil dieser Men-          2.3. Projektorientiertes Engagement
schen und war bereit und in der Lage, einen Antrag auf                 für Überlebende
eine humanitäre Zahlung an die Stiftung EVZ zu stellen.
Bis zum Jahr 2006 hat die Stiftung EVZ insgesamt                  Die Projektförderung zur Unterstützung von Überle-
1,665 Millionen Überlebende der Sklaven- und Zwangs-              benden erfolgte ohne den für die individuellen Leis-
arbeit des NS-Regimes in 98 Ländern erreicht und an-              tungen notwendigen Nachweis. Zur Teilnahme einge-
nähernd 4,4 Milliarden Euro an sie ausgezahlt. Die Zahl           laden wurden insbesondere die Personen, die eine
der Anträge auf individuelle Leistungen wegen Zwangs-             Zahlung erhalten hatten, also ehemalige KZ-Häftlinge
arbeit war mit 2,316 Millionen Anträgen deutlich höher.           und Zwangsarbeiter:innen. Viele der ehemaligen „Ost-
Doch Überlebende anderer Opfergruppen, wie z. B. die              arbeiter“ aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion
mehr als 4,6 Millionen Kriegsgefangenen und italieni-             bekannten sich Anfang der 90er Jahre erstmals zu ihrem
schen Militärinternierten, die ebenfalls zur Zwangsar-            Verfolgungsschicksal, da sie Jahrzehnte lang als Vater-
beit herangezogen wurden, erhielten keinen Anspruch               landsverräter stigmatisiert und diskriminiert wurden.
auf individuelle Zahlungen.
                                                                  Die Stiftung EVZ öffnete ihre Projektförderung ebenso
         Der besondere Wert der Arbeit der                        für andere Überlebende, die keinen Anspruch auf eine
                                                                  Leistung hatten: Neben den Überlebenden der Konzen-
         Stiftung EVZ liegt für mich und für
                                                                  trationslager und Ghettos konnten so auch Jüdinnen:
         die Verbände der Opfer darin, dass
                                                                  Juden oder Rom:nja, die den Holocaust in Verstecken
         ­e ndlich die Zwangsarbeiter eine                        oder aufgrund der Evakuierung im sowjetischen Hin-
          ­öffentliche Anerkennung und                            terland überlebten, ehemalige sowjetische Kriegsge-
           ­Aufmerksamkeit in Deutschland                         fangene oder Überlebende der Leningrader Blockade
            und in ­ihren Heimatländern                           an den Projekten teilnehmen. Im Laufe der Jahre bezo-
                                                                  gen wir weitere „vergessene Opfergruppen“ in die Pro-
            erhalten haben.
                                                                  jekte mit ein, wie die Überlebenden von Vergeltungs-
         Felix Kolmer (1922–2022), Physiker,                      maßnahmen der Wehrmacht in Osteuropa (Überleben-
         ­K Z-Überlebender und stellvertretender                  de der „verbrannten Dörfer“) oder die zur Zwangsger-
          ­Vorsitzender des Internationalen Auschwitz­            manisierung geraubten Kinder (vgl. Heinemann, Isabel
         komitees (Online-Nachruf).                               2022). All diese Menschen hatten in jungen Jahren
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grausame Verfolgung erlebt, und sie haben nach der                Es ist uns in unserer Arbeit aber wichtig, diese Men-
Befreiung vielfältige Lebenserfahrungen gemacht: Sie              schen nicht nur als „Opfer“, sondern als Persönlichkei-
bauten ihre im Krieg verwüsteten Länder auf, schlossen            ten mit einem reichen Schatz an Kompetenzen, Wissen
Ausbildungen ab, übten Berufe aus und gründeten                   und Ressourcen anzusehen. Viele der NS-Überleben-
­Familien.                                                        den engagieren sich noch im hohen Alter für ihre Mit-
                                                                  menschen. Sie leiten Vereine, publizieren Erinnerungen
2.4. Nach den Auszahlungen: Wie geht es den                       und setzen sich für bessere Sozialleistungen ein. (vgl.
     Überlebenden seither?                                        Erdmann-Kutnevic, 2010, S.65). Sie unterstützen sich
                                                                  gegenseitig in Selbsthilfegruppen und Besuchsdiens-
Viele Überlebende leiden – neben üblichen altersbe-               ten, organisieren Kultur- und Sportveranstaltungen, und
dingten Einschränkungen und Krankheiten – zusätzlich              geben ihren Erfahrungsschatz an nachfolgende Gene-
an den körperlichen und seelischen Folgen von Haft,               rationen weiter – sei es in Kochkursen oder in Zeitzeu-
Hunger, Zwangsarbeit und Folter. Ihr soziales Netz                gentheatern.
schrumpft und soziale oder kulturelle Aktivitäten sind
nicht oder nur noch mit Unterstützung möglich. Andere             Von Beginn an unterstützte die Stiftung EVZ daher
leben allein und brauchen Hilfe, um im Alter ihren All-           auch den Austausch mit jungen Menschen. Überge-
tag bewältigen zu können. Viele haben erst im Alter               ordnetes Ziel war es jedoch, die körperliche und seeli-
begonnen, über ihre Erfahrungen zu sprechen, manche               sche Gesundheit der Überlebenden zu verbessern und
schweigen bis heute. Traumatische Erinnerungen wir-               ihre Einsamkeit zu lindern. Doch mit Geld allein war
ken bis in ihr hohes Alter und stellen Angehörige und             dies nicht zu schaffen. Die Stiftung EVZ brauchte en-
Pflegende oftmals vor große Herausforderungen im                  gagierte Menschen, die ihre guten Ideen vor Ort in die
Umgang damit (ZWST 2014). Insbesondere in Mittel-                 Tat umsetzen – diese haben wir gesucht – und auch ge-
und Osteuropa fehlten und fehlen den Überlebenden                 funden.
der NS-Verfolgung oft die Mittel für Medikamente
und Dienstleistungen. Bei vielen steht am Ende ihres
Lebens oft große Armut.

         Auch hier, vor unserer Haustür, in
         Deutschland gibt es NS-Opfer, denen

                                                                                                                                © Deutsche Botschaft Kyiv
         es materiell schlecht geht, wie wir es
         beispielsweise bei den russischen
         Kontingentflüchtlingen oder auch im
         Bereich Sinti/Roma sehen. Dort ist ein
         Teil der ehemaligen NS-Verfolgten
                                                                  Anastasija Gulej bei der Verleihung des Verdienstordens der
         von Sozialleistungen abhängig und                        ­B undes­republik Deutschland im Juli 2020 in Kyiv
         ­e rhält lediglich eine Grundsicherung.
          Da sieht man echte Not.
                                                                             Aber was soll man machen? Soll ich
         Interview mit Jost Rebentisch, Leiter des Bundes-                   trinken? Soll ich mich ins Bett legen
         verbands Information und Beratung für NS-­                          und nichts mehr tun? Man muss
         Verfolgte in: Stiftung EVZ (2015), S. 66–67:
         (vgl. auch Informationen der ZWST).
                                                                             ­weiterleben. Das ist der Widerstand.
                                                                              Das ist jetzt meine Aufgabe:
                                                                            ­Weiterleben.

                                                                            Die Überlebende Anastasija Gulej
                                                                            In: Waltraud Schwab (2022).
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3.    Die EVZ-Projektpartner:innen – gemein-                  1951 die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutsch-
      sames Engagement für Überlebende                        land (ZWST) wieder gegründet, um diese wichtige Ar-
                                                              beit fortzusetzen. Ebenfalls seit den 50er Jahren enga-
3.1. Diverse Bedingungen, ein Ziel: Projektträger             gierten sich auch christliche Initiativen wie Aktion Süh-
       in den Schwerpunktländern                              nezeichen – Friedensdienste e. V. (ASF) für die Versöh-
                                                              nung mit den Opfern des Nationalsozialismus. In der
Beim Blick auf die geförderten Organisationen ist es          DDR genoss die bereits 1947 gegründete Vereinigung
notwendig, die unterschiedlichen politischen und his-         der Verfolgten des Nationalsozialismus (VVN-BdA)
Länderübersicht aller bis heute
torischen Voraussetzungen für zivilgesellschaftliches         eine hohe Anerkennung und staatliche Förderung. Seit
geförderten Projekte
Engagement von und für Überlebende der NS-Verfol-             den 80er Jahren etablierten sich in der Bundesrepublik
gung in den Förderregionen in den Blick zu nehmen:            kommunale Partnerschaften, die die ehemaligen NS-
  • Internationale Projekte (bilateral, trilateral): 27       Zwangsarbeiter:innen oder Shoah-Überlebenden zu
In• Deutschland, dem Land
    Operative Projekte     der Täter, haben
                        – Begleitung,         nach Kriegs-
                                      Entwicklung             Begegnungen
                                                      Vernetzung: 53         und Zeitzeugengesprächen an den Ort
ende zunächst internationale jüdische Organisationen          ihrer Verfolgung einluden (Kräutler, Anja: 2004). Ver-
– wie das Joint Distribution Committe (JDC) – die aus         treter:innen von NS-Verfolgtenverbänden, Pax Christi
den Konzentrationslagern befreiten Überlebenden der           und Aktion Sühnezeichen Friedensdienste gründeten
Shoah unterstützt. Überlebende haben dann im Jahr             Ende der 80er Jahre eine Beratungsstelle, aus der 1992

Länderübersicht aller geförderten
­P rojekte für NS-Überlebende
• Internationale Projekte (bilateral, trilateral): 27
• Operative Projekte – Begleitung, Entwicklung, Vernetzung: 53
                                                                                                    Russland 255

                                                                                          Belarus 205

                                   Deutschland 101
                                                                     Polen 93
      Armenien 2
                           Belgien 1                                                               Ukraine 347

                                       Tschechische Republik 22

                                                                         Slowakische Republik 6

                                                                                                   Republik Moldau 6

                                                                                           Rumänien 8

      Israel 43
                                                Bosnien-Herzegowina 1                Serbien 18
                                                                                                       Bulgarien 2

                                                                                                                     Stand 31.12.2021
R Verantwortung und Fürsorge: Das Engagement der Stiftung EVZ für Überlebende des NS-Unrechts
THEMENDOSSIER • Verantwortung und Fürsorge: Das Engagement der Stiftung EVZ für Überlebende des NS-Unrechts                  7

                                                                           Giselle Cychowicz will Zeugin sein
der Bundesverband Information & Beratung für NS-
Verfolgte e. V. (NS-Beratung.de) hervorging. Er infor-                     bis zum Schluss und das auch ihren
miert und unterstützt Überlebende der nationalsozia-                       Leidensgefährten ermöglichen. „Die
listischen Verfolgung bei Wiedergutmachungsfragen                          Welt soll davon erfahren und die
und organisiert seit circa 15 Jahren soziale Projekte für                  ­Patienten sollen spüren, dass sich
Überlebende. Die psychosoziale Unterstützung für die
                                                                            die Welt für sie interessiert.“
Shoah-Überlebenden ist dank des Engagements der
jüdischen Gemeinden und der ZWST, die sich aufgrund                        (vgl. Adler, Sabine: 2017)
der Immigration jüdischer Kontingentflüchtlinge in den
90er Jahren auf eine neue Klientel einstellen mussten,
in Deutschland gut aufgestellt. Für Überlebende des               Die Foundation for the Welfare of Holocaust Victims
Genozids an den Sint:ze und Rom:nja engagiert sich der            organisiert israelweit Pflegedienste und vermittelt
Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Gezieltes bürger-            Freiwillige, Aviv for Holocaust Survivors eröffnet über
schaftliches Engagement für andere Überlebende gibt               juristische Beratungen den Zugang zu Entschädi-
es eher punktuell – z. B. im Hamburger Verein „Psycho-            gungszahlungen. Viele der seit den 90er Jahren aus
soziale Arbeit mit Verfolgten e. V.“ (psychosoz-arbeit.           postsowjetischen Ländern eingewanderten Überle-
org).                                                             benden sind besonders auf diese Unterstützung ange-
                                                                  wiesen, da die Entschädigungsleistungen der Bundes-
         Ich hatte Respekt vor der Begegnung                      republik Deutschland jeweils bestimmte Personen-
                                                                  gruppen berücksichtigen (Leistungen des BMF).
         mit diesen Menschen. Im Hinterkopf
         bildete sich der Gedanke, was für eine
                                                                  In den mittelosteuropäischen Ländern Polen und
         bizarre Situation es eigentlich ist, dass                Tschechien sind Überlebende der NS-Verfolgung, zu
         ich als Deutsche ehemalige Zwangs­                       denen auch die Kämpfer der polnischen Untergrund-
         arbeiter besuche, und wie sie das wohl                   armee gezählt werden, staatlich anerkannt und genie-
         empfinden. Als ich dann allein hinging,                  ßen ein hohes Ansehen in der Gesellschaft. In Tschechien
                                                                  vertritt die Organisation Živá paměť landesweit die
         merkte ich, dass man sich einfach als
                                                                  Interessen der Überlebenden, organisiert Treffpunkte,
         Menschen begegnet, meine Nationalität                    Hausbesuche durch Freiwillige, Konzerte und Gedenk-
         oder ihr Schicksal standen nicht im                      veranstaltungen. In Polen spielt die staatliche Stiftung
         Vordergrund. (…)                                         Polnisch Deutsche Aussöhnung eine ähnliche Rolle. Sie
                                                                  hat bereits bei den Auszahlungen an die ehemaligen
         (Eva Kell, Freiwillige von Aktion Sühnezeichen           Zwangsarbeiter:innen mit der Stiftung EVZ kooperiert
         Friedensdienste bei Živá paměť in Ostrava,               und ihr Engagement für die Erinnerung und Unterstüt-
         ­Tschechische Republik: in Stiftung EVZ 2016,
                                                                  zung der Überlebenden seitdem stetig ausgebaut. In
          S. 69).
                                                                  den Regionen setzen sich Vereine und Sozialverbände
                                                                  für die Interessen der Überlebenden ein.
In Israel sind die Shoah Überlebenden seit den 80er
Jahren gesellschaftlich breit anerkannt. Es ist staatli-          In Belarus, Russland und der Ukraine blühten nach dem
ches Ziel, ihnen einen Lebensabend in Würde zu ermög-             Ende der Sowjetunion in den 90er Jahren die jüdischen
lichen (vgl. Wiener, Stuart (2022)). Seit 1987 bieten die         Gemeinden wieder auf. Mit internationaler Hilfe grün-
psychosozialen Angebote der Organisation AMCHA den                deten sie Kulturvereine und Wohlfahrtszentren, deren
oftmals stark traumatisierten Überlebenden Unter-                 professionelle Sozialarbeit und Pflegedienste für Shoah-
stützung, soziale Teilhabe, psychologische und ehren-             Überlebende in Osteuropa als modellhaft gelten.
amtliche Begleitung. Auch Überlebende wie die Thera-
peutin Gyselle Cychowicz engagieren sich noch im ho-
hen Alter bei AMCHA.
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Auch die ehemals minderjährigen NS-Zwangsarbeiter:­               oder andere internationale – als Beispiel sei hier der
innen in Osteuropa gründeten ab 1988 eigene Verbän-               Partnerverein Wolgograd Köln genannt – organisierten
de, die sich für die Interessen ihrer Mitglieder einsetzten.      Besuchsdienste und Begegnungsreisen. Wohlfahrts-
Sie kooperierten eng mit den staatlichen Stiftungen               verbände wie das Russische Rote Kreuz in Pskow und
„Verständigung und Aussöhnung“, die in den 90er Jahren            der Ukrainische Samariterbund in Charkiw boten den
gegründet wurden, sowie später mit deren Nachfolge­               Überlebenden in ihren Sozialstationen Begegnung,
organisationen, z. B. der ukrainischen Stiftung Ver-              Beratung und häusliche Pflege.
ständigung und Toleranz. Mit staatlicher Unterstützung
konnten die Überlebendenverbände – im Gegensatz
zu den Verbänden der Veteranen des „Großen Vater-
ländischen Kriegs“ – jedoch nur punktuell, vor Gedenk-
tagen oder Wahlen rechnen. Anderen Organisationen
waren die Überlebenden der NS-Verfolgung selten be-
kannt. Eine Ausnahme bildet lediglich die internatio-
nale Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich
auch für die ehemaligen „Ostarbeiter“ engagierte (vgl.
u. a. Irina Scherbakowa, 2019). Viele der oben genann-
ten Organisationen wurden im Laufe der Jahre zu wich-
tigen Partner:innen der Stiftung EVZ in ihrem Engage-
ment für die Überlebenden. Doch mussten diese Be-
ziehungen zunächst gestiftet werden, Vertrauen muss-
te wachsen und die Zusammenarbeit sich entwickeln.

3.2 Aufbau und Entwicklung: das erste
    ­Förderjahrzehnt (2001 bis 2010)

Im Jahr 2001 förderte die Stiftung EVZ zunächst starke
Organisationen aus Deutschland und Israel, die auf                Freizeitaktivitäten in Belarus.
langjährige Erfahrungen in der Unterstützung von NS-              © Kiryl Prepliaska

Überlebenden zurückblickten und schnell Projekte
umsetzen konnten. Dies waren z. B. die Organisation               Zum Ende der ersten Förderdekade war das Förder­
AMCHA in Israel oder Versöhnungsinitiativen wie das               volumen der Stiftung EVZ für Projekte zu Gunsten von
Maximilian-Kolbe-Werk. Ab dem Jahr 2002 wurden                    NS-Überlebenden von jährlich einer auf über drei Mil-
weitere Projekte identifiziert, die psychosoziale und             lionen Euro angewachsen. Die Stiftung EVZ hatte nach-
medizinische Unterstützung für NS-Opfer leisteten.                haltige Beziehungen zu Projektpartner:innen aufgebaut:
                                                                  Jüdische Wohlfahrtsverbände qualifizierten das Netz-
In Mittel- und Osteuropa realisierten die nationalen              werk mit ihren langjährigen Erfahrungen in der Pflege
Versöhnungsstiftungen, die guten Zugang zu den Über-              und Begleitung von Holocaust-Überlebenden. Die na-
lebenden hatten, Kuraufenthalte oder Apotheken für                tionalen Versöhnungsstiftungen (bzw. ihre Nachfolge-
Überlebende. Doch wollte die Stiftung EVZ von Beginn              organisationen) in Belarus, Polen, Russland, Tschechien
an auch kleineren Vereinen aus Deutschland, Israel,               und der Ukraine setzten sich engagiert für „ihre“ ehe-
Mittel- und Osteuropa eine Förderung ermöglichen:                 maligen NS-Zwangsarbeiter:innen ein. Angesichts der
Vorreiter waren der regionale „Verband der ehemals                wachsenden Bedarfe der alten Menschen und der unter-
minderjährigen NS-Häftlinge“ im ukrainischen Dnipro-              finanzierten Sozialsysteme (insbesondere in den Nach-
petrowsk (heute Dnipro) und die Filiale „Dolja“ des bela-         folgestaaten der Sowjetunion) stellte sich die Stiftung
russischen Häftlingsverbands. Städtepartnerschaften               EVZ jedoch folgende Fragen:
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1. Wie können wir – insbesondere in Osteuropa –
   ­zivilgesellschaftliche Organisationen zu mehr
    ­Engagement für die Überlebenden motivieren
     und niedrigschwellig fördern?
2. Wie können wir dazu beitragen, dass die alten
     Menschen, die bereits in Projekten betreut
     ­wurden, weiterhin in Würde altern können?
3. Wie können wir die Überlebenden des Genozids
      an den Rom:nja besser erreichen?
4. Wie können– angesichts der immensen Bedarfe –
      die begrenzten Fördermittel wirksam und nach-
      haltig eingesetzt werden?

3.3 Weichenstellungen und neue Zielgruppen:
    die Jahre 2011 bis 2019

Auf diese Fragen und Herausforderungen reagierte die              Gute Gespräche bei einer Tasse Tee helfen gegen Einsamkeit
                                                                  © Russisches Rotes Kreuz Pskow
Stiftung EVZ mit regional unterschiedlichen Förder-
strategien und gezielten Angeboten für schwer erreich-
bare Zielgruppen.                                                 auch in Kleinstädten und ländlichen Regionen. Sie be-
                                                                  rieten die Antragsteller in den Landessprachen und
So wurde die gute Zusammenarbeit mit Projektträgern               setzten sich vor Ort für die Interessen der Überleben-
aus Israel, Polen, Tschechien und Deutschland verste-             den ein. Mit Weiterbildungen stärkten sie Vereine, Wohl-
tigt. Ihnen wurden ermöglicht, den von ihnen betreuten            fahrtsverbände und Freiwilligenorganisationen ihres
Menschen eine verlässliche Perspektive zu bieten. Sie             Landes und stifteten neue Kooperationen. So entstan-
konnten Personal und Ehrenamtliche an sich binden                 den landesweite und gut funktionierende Hilfsnetzwerke
und ihre Angebote von Projekt zu Projekt den Bedarfen             für die Überlebenden. In enger Abstimmung mit den
anpassen. Sukzessive identifizierte die Stiftung EVZ              Kolleg:innen der jeweiligen Programmträger entwickelte
weitere Projekte mit ähnlich wirkungsorientierten For-            das Stiftungsteam sukzessive sein Förderangebot wei-
maten. Diese richteten ihre Hilfen auch zunehmend an              ter, immer orientiert an sich an wandelnden Bedarfen
Child Survivors, die als Kinder die NS-Verfolgung über-           und den Rahmenbedingungen der jeweiligen Länder.
lebt hatten. (vgl. ZWST (2014) Die von der ZWST und
AMCHA organisierten „Treffpunkte für Überlebende“                 Im Zeitraum 2001 bis 2005 hatte die Stiftung EVZ der
waren zudem Vorbilder für ein neues Programm in                   Internationalen Organisation für Migration (IOM)
Osteuropa:                                                        24 Millionen DM für Nothilfeprojekte zu Gunsten der
                                                                  Überlebenden des Genozids an den Rom:nja bereitge-
In Belarus, Russland und der Ukraine identifizierte die           stellt (IOM: 2005). Eine direkte Förderung von Romani
Stiftung EVZ Kooperationspartner:innen, die in ihren              Selbstorganisationen gelang hingegen nur vereinzelt.
Ländern das Programm „Treffpunkt Dialog“ koordi-                  Ab 2012 hat die Stiftung daher gezielt Organisationen
nierten und neue Akteure zum Engagement für die ehe-              gesucht, die vor dem Mai 1945 geborene Rom:nja un-
maligen KZ-Häftlinge und „Ostarbeiter“ motivierten. Mit           terstützten. Diese leben häufig in großer Armut und
dieser strategischen Weichenstellung übergab die Stif-            ohne Unterstützung durch staatliche Hilfestrukturen.
tung EVZ mehr Verantwortung an Programmträger in                  In dreizehn Projekten wurden materielle Hilfen verteilt
Kiew, Minsk und Moskau, um vor Ort wirksamer und                  und Beratungen angeboten, um ihre Not zu lindern.
flächendeckender zu fördern. Die Programmträger för-              Mit dem Programm „Latscho Diwes“ („Guten Tag“ auf
derten vor Ort niedrigschwellig Kleinprojekte, erstmals           Romanes) gelang es, die Romani Selbstorganisationen
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gezielter anzusprechen und sie in ihrem Engagement                men im September 2014 und Februar 2015 eingedämmt,
zu stärken, den Überlebenden direkt zu helfen und ih-             doch wurden die vereinbarten Waffenstillstandsab-
nen den Zugang zu staatlichen Leistungen zu eröffnen.             kommen immer wieder verletzt. (vgl. OSCE Special
Hierfür stellte die Stiftung EVZ zwischen 2016 bis 2021           Monitoring Mission to Ukraine)
ca. 3.24 Millionen EUR für soziale Projekte in Mittel-,
Ost- und Südosteuropa zur Verfügung. (vgl. auch The-              Viele der Überlebenden in der Konfliktzone und den
mendossier Antiziganismus)                                        Separatisten-Gebieten hatten keine Chance, sich in Si-
                                                                  cherheit zu bringen. Teilweise waren ihre Häuser be-
         (…) „Latscho Diwes“ erleichtert den                      schädigt, andere hatten keinen Zugang zu Trinkwasser,
                                                                  Strom und Heizmaterial. Die Preise für Lebensmittel
         Überlebenden ihren Lebensabend
                                                                  und Medikamente stiegen drastisch. Viele lebten in Ar-
         und verschafft ihnen Aufmerksamkeit.
                                                                  mut, Angst und Hoffnungslosigkeit. Bei den Überleben-
         Auch stärkt es die lokalen und regiona-                  den rief der Krieg die Erinnerung an die erlebte Verfol-
         len Communitys in ihrem Engagement.                      gung wach und führte zu neuen Traumatisierungen.
         Deshalb ist es wünschenswert, dass
         dieses Format von der Stiftung EVZ                       Die EVZ-Projektpartner reagierten schnell, flexibel und
                                                                  couragiert auf die „humanitäre Katastrophe“ (Andrij
         weitergeführt wird, weil nur mit dem
                                                                  Waskowicz, Leiter der Caritas Ukraine, am 10.6.2015
         Wissen vor Ort die Überlebenden                          im Deutschen Bundestag). Das Kuratorium bewilligte
         ­e rreicht werden können. Dennoch ist                    zusätzlich 465.000 Euro für zehn Nothilfeprojekte.
          festzuhalten: Eine humanitäre Unter-                    Unter teils hohen Risiken für ihre Gesundheit fuhren die
          stützungsleistung kann eine individu-                   Helfer:innen in die umkämpften Gebiete, verteilten
                                                                  Lebensmittel, Decken und Hygieneartikel oder repa-
          elle Entschädigung, die das Verfol-
                                                                  rierten zerstörte Wohnungen und Wasserleitungen der
          gungsleid anerkennt, nicht ersetzen.                    Überlebenden. Freiwillige kümmerten sich um geflüch-
                                                                  tete Überlebende, die in benachbarten Gebieten Zu-
         (Vgl. UKA Bericht (2021), S. 111).
                                                                  flucht suchten. Mitarbeitende von vier laufenden Pro-
                                                                  jekten in den Separatisten-Gebieten versorgten noch
3.3.1 Erneutes Leid und humanitäre Aufgaben:                      bis Januar 2016 ihre Klienten mit Nothilfen, dann muss-
      Russlands hybrider Krieg gegen die Ukraine                  ten sie ihre Arbeit einstellen, ebenso ein Projekt auf
      (2014–2021)                                                 der Krim. Das Büro eines Vereins in Stanica Luhanska
                                                                  wurde von Artillerie beschossen, alle Unterlagen und
Im Jahr 2014 wurden die hoch betagten Überlebenden                die Einrichtung zerstört. Das Engagement für die vom
in der Ukraine erneut mit Krieg, Flucht und Gewalt                Krieg betroffenen Überlebenden prägte auch die fol-
konfrontiert. Die völkerrechtswidrige Annexion der                genden Jahre. Die Stiftung EVZ entwickelte das aus-
Halbinsel Krim durch russische Streitkräfte erschüt-              schließlich auf die Ukraine ausgerichtete Programm
terte im März 2014 den demokratischen Aufbruch der                „My Porutsch! – Wir sind Da!“
Ukrainer:innen. In den ostukrainischen Regionen rie-
fen von Russland unterstützte prorussische Milizen die                     Am Anfang unseres Lebens war das
sogenannten „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk
                                                                           Leid und nun erfahren wir es wieder.
aus. Millionen Menschen suchten Zuflucht in anderen
Gebieten des Landes. Der von Russland geschürte re-                        Projektbegünstigte aus der Ostukraine, 2015.
gionale Konflikt wurde zwar mit den Minsker Abkom-
THEMENDOSSIER • Verantwortung und Fürsorge: Das Engagement der Stiftung EVZ für Überlebende des NS-Unrechts                   11

         Der Anblick der alten Menschen (in                       Die Stiftung EVZ stellte Fördermittel für Nothilfen in
                                                                  der Ukraine und Russland bereit, die dank der landes-
         den Separatisten-Gebieten) ruft
                                                                  weit gut ausgebauten Hilfsnetzwerke zügig umgesetzt
         ­starke Emotionen hervor. Sie sehen
                                                                  wurden. So ist es den Projektpartnern gelungen, ihre
          schrecklich aus, sind abgemagert, aber                  Angebote im Rahmen ihrer Möglichkeiten flexibel an
          ihre geistige Verwirrung ist noch er-                   ständig wechselnde Situationen anzupassen, den Kon-
          schreckender. Sie verstehen nicht, was                  takt zu den Überlebenden zu halten und ihre soziale
          geschieht, wo sie sind und in welcher                   Isolation zu lindern.

          Zeit sie leben. Manche glauben, der
                                                                           Dieses zweite Jahr der Covid-19-­
          Große Vaterländische Krieg würde
                                                                           Epidemie hat auch für unsere Kli-
          ­immer noch andauern.
                                                                           ent:innen und Therapeut:innen in AM-
         Galina Poljakowa, (2015), Leiterin der NGO Turbota                CHA eine große Herausforderung dar­
         pro Litnih v Ukraini“ nach ihrem Besuch in Separa-
                                                                           gestellt. Wir mussten immer wieder
         tisten-Gebieten: (Vgl. Stiftung EVZ (2015) S.61).
                                                                           ­unsere Aktivitäten neu adjustieren
                                                                            und den Beschränkungen und Vor-
                                                                            schriften der Gesundheitsbehörden
3.4 Zweifache Zäsur und neue Strategie:
    ­Stiftungshandeln in Zeiten von Pandemie und                            anpassen. Das bedeutete ­G espräche
     Krieg – die Jahre 2020 bis 2022                                        am Telefon, Videotreffen, Hausbesu-
                                                                            che und manchmal eine ­Mischung
Die Covid-19-Pandemie stellte die Stiftung EVZ und                          mehrerer Formen. So war es möglich,
ihre Projektpartner in allen Förderländern vor nicht ge-
                                                                            mit der großen Mehrheit der Pati-
kannte Herausforderungen. War es bis zum Jahr 2020
ein Kernanliegen zahlreicher Projekte, den hochbetag-
                                                                            ent:innen und Sozialklubmitglieder den
ten Überlebenden gesellige Treffen und Freizeitaktivi-                      ständigen Kontakt aufrechtzuerhalten
täten zu bieten, saßen diese nun als Teil einer Hochrisi-                   und zu gewährleisten. Eine ­zusätzliche
kogruppe isoliert in ihren Wohnungen. Nun bewährten                         Dimension waren neue ­Angebote von
sich die in vielen Jahren aufgebauten Beziehungen. Die                      Kriseninterventionen und Kurzzeit-
Helfer:innen begleiteten die plötzlich isolierten alten
                                                                            therapien für Menschen, die wegen
Menschen mit regelmäßigen Anrufen, leisteten psycho-
logische Unterstützung und organisierten im Bedarfs-                        der Epidemie emotionale Hilfe benö-
fall Transporte ins Krankenhaus. Sie lieferten Masken,                      tigten. Ein zusätzlicher Stressfaktor
Desinfektionsmittel und Einkäufe an die Haustüre und                        war eine Sicherheitskrise mit Raketen-
informierten über Schutzmaßnahmen. Nicht selten wa-                         beschuss und Kampfhandlungen vor
ren sie rund um die Uhr für die Menschen erreichbar.
                                                                            einem Jahr, die zu einer ­Reaktivierung
Die Programmträger in Belarus und Russland warben
Spenden für Nothilfen ein, organisierten Online-Fort-
                                                                            von Traumata führte. ­
bildungen und Vernetzungstreffen und stellten Lehr-
                                                                           Dr. Martin Auerbach Psychotherapeut und
filme für Überlebende und Angehörige ins Netz. Digi-                       ­Klinischer Direktor, AMCHA – israelisches
tale Formate wurden zunehmend für den internatio-                           ­Zentrum für Überlebende des Holocaust und der
nalen fachlichen Austausch genutzt.                                          zweiten Generation: (Stiftung EVZ (2021), S.7)
THEMENDOSSIER • Verantwortung und Fürsorge: Das Engagement der Stiftung EVZ für Überlebende des NS-Unrechts                12

         Wir verstanden, dass wir eine sehr                       In der Nacht zum 24. Februar 2022 änderte der An-
         große, sozial bedeutsame Arbeit                          griffskrieg Russlands auf die Ukraine die Leben der
                                                                  Überlebenden und die Projektpartner:innen erneut
         ­machen. Die alten Menschen
                                                                  drastisch. Wieder mussten hochbetagte, oftmals nicht
          ­brauchen uns, das haben wir in der
                                                                  mehr mobile Überlebende der NS-Verfolgung um ihr
           Pandemie verstanden.                                   Leben fürchten. Manchen gelang die Flucht in den
                                                                  Westen des Landes oder ins benachbarte Ausland. Die
         Projektteilnehmende aus Russland (nicht
                                                                  jüdischen Gemeinden halfen bei der Evakuierung von
         ­veröffentlichter Verwendungsnachweis an
          die Stiftung EVZ 2022)                                  Überlebenden, in Deutschland sammelt das, von der
                                                                  Stiftung EVZ im Aufbau unterstützte, Hilfsnetzwerk für
                                                                  NS-Verfolgte in der Ukraine Spenden, die über ehren-
Noch unter Pandemiebedingungen erarbeitete und ver-               amtliche Akteure im Land direkt an die ehemaligen NS-
abschiedete die Stiftung EVZ im Jahr 2021 ihre Strategie          Zwangsarbeiter:innen gehen. Unsere zivilgesellschaft-
für das dritte Förderjahrzehnt. In digitalen Round-Table-         lichen Partner passten ihre laufenden Projekte an die
Gesprächen mit Partner:innen und Expert:innen, mit                Kriegssituation an oder beantragten neue Nothilfe-
Hilfe von Bedarfsanalysen und Fokusgruppen über-                  projekte. Sie halfen den Überlebenden und ihren Ange-
prüfte die Stiftung ihre bisherige Arbeit. Die Hand-              hörigen mit dem Nötigsten: Lebensmittel, Medika-
lungsfelder wurden neu strukturiert und die Zukunfts-             mente und Hygieneartikel, evakuierten sie aus umkämpf-
agenda entwickelt, die Mitarbeitenden und externen                ten Gebieten und riskierten dabei oftmals Gesundheit
Begleiter:innen in der laufenden Dekade Orientierung              und Leben. Nicht nur für die Selbstorganisationen der
gibt. Wir haben die Themen, Ziele, Methoden und For-              Rom:nja waren diese Nothilfen oftmals überlebens-
mate für das Cluster „Handeln für Überlebende natio-              wichtig. Aufgrund der guten Arbeitsbeziehungen zu
nalsozialistischer Verfolgung“ überprüft, weiterent-              den Partnern in der umkämpften Ukraine konnte die
wickelt und punktuell angepasst. In diesem Zuge ga-               Stiftung EVZ den Menschen vor Ort helfen und inner-
ben wir unter anderem der Stärkung der Nachkommen                 halb von sieben Monaten mehr als 1,57 Millionen Euro
von Verfolgten erstmals explizit ihren Platz in der pro-          für 42 Nothilfeprojekte bereitstellen.
grammatischen Agenda der Stiftung. An erster Stelle
im Mission Statement der Stiftung EVZ steht jedoch
weiterhin das Engagement für die Überlebenden nati-               4     „Wir leben noch!“ – Aufmerksamkeit für
onalsozialistischer Verfolgung.                                         Überlebende wecken

                                                                  Seit Februar 2022 sensibilisiert die Stiftung EVZ im
                                                                  Licht der akuten Ausnahmesituation verstärkt die Öf-
                                                                  fentlichkeit für die Notlagen der Überlebenden und das
                                                                  vielfältige Unterstützungsangebot der Projekte, ins-
                                                                  besondere in der Ukraine. Die Kolleg:innen unseres
                                                                  Förderbereichs und das Kommunikationsteam vermit-
                                                                  telten diese in den Medien, berieten Projektpartner in
                                                                  der Öffentlichkeitsarbeit und stellten Ukraine-Updates
                                                                  für Antragsteller:innen, Geflüchtete, Stiftungen und
                                                                  Spender:innen auf der Internetseite oder den EVZ-­
                                                                  Social Media-Kanälen bereit. Dabei auch die Biografien
                                                                  und Botschaften der Überlebenden würdigend in den
                                                                  Blick zu nehmen, bleibt ebenfalls ein fundamentales
                                                                  Anliegen.

Therapie- und Beratungsangebote im Frankfurter Treffpunkt für
­Shoah-Überlebende der Zentralwohlfahrtstelle der Juden in
 ­Deutschland e. V. (ZWST) © Rafael Herlich
THEMENDOSSIER • Verantwortung und Fürsorge: Das Engagement der Stiftung EVZ für Überlebende des NS-Unrechts                                 13

Bereits seit dem Jahr 2010 war es ein strategisches Ziel
der Stiftung, die Lebenserfahrungen der NS-Verfolg-
ten aktiv zu würdigen und auf ihre soziale Situation auf-
merksam zu machen. Hier seien nur einige Beispiele für
dieses Engagement genannt: Für die Ausstellung „Be-
drängte Existenz“ portraitierte die Fotografin Birgit
Meixner Überlebende Rom:nja aus der Ukraine. Die
Wanderausstellung wurde zwischen 2012 und 2015 in
vielen Städten Deutschlands und der Ukraine gezeigt.
Im Film Das Zelig aus dem Jahr 2020 begleitet die Re-
gisseurin Tanja Cummings Shoah-Überlebende aus
München, die sich regelmäßig in einem Münchner Café
treffen. Leben nach dem Überleben heißt eine Aus-
stellung mit Fotos von Helena Schätzle, die sich Shoah-
Überlebenden aus Israel und deren Nachkommen wid-
met. EVZ-Projektpartner in Belarus, Russland und der               Mit einer landesweiten Aktion zum Pflanzen von Bäumen in städtischen
                                                                   Parks haben die ukrainischen Dialogprojekte im Jahr 2018 viel Aufmerk-
Ukraine präsentierten von 2013 bis 2016 die Wander-
                                                                   samkeit für ihre Arbeit bekommen. Rechts im Bild die Überlebende Na-
ausstellung „… wie das Atmen frischer Luft“, für die Lesya         deshda Slesareva. © Lesya Kharchenko
Kharchenko Überlebende aus Osteuropa mit ihren
unterschiedlichen Verfolgungsgeschichten interviewt
hatte.                                                                      Was mich persönlich etwas überrascht
                                                                            hat, war das bereits zu Beginn der
Verantwortung und Fürsorge in                                               ­Projekte erkennbare Ausmaß der Soli-
verschiedenen ­Formaten
                                                                             darität zwischen den Generationen und
Zur Weiterentwicklung und Evaluation ihrer Programme                         der erlebten Verantwortung der
hat die Stiftung EVZ in den vergangenen 20 Jahren diver-                     ­ä lteren Menschen für die Entwicklung
se Studien in Auftrag gegeben. So wurden im Jahr 2012                         der jüngeren Generationen und der
die Ergebnisse des Forschungsprojektes „Gesellschaft­                         Gesellschaft.
liche Teilhabe und Verantwortung in Osteuropa“ des
Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg                       Prof. Dr. phil Eric Schmidt, Institut für
auf Fachtagungen in Kiew, Minsk und Moskau präsen-                          ­Gerontologie der Universität Heidelberg in:
tiert. Wissenschaftler:innen aus Belarus, Deutsch­land,                      ­Stiftung EVZ (2011), S. 65.
Russland und der Ukraine hatten über 300 Teilnehmen-
de des Programms „Treffpunkt Dialog“ zwei Jahre lang              Die Förderung und Stärkung der Strukturen von Pro-
begleitet und regelmäßig befragt. Die Forscher bestä-             jektträgern durch fachlichen Austausch und Vernetzung
tigten ihre Annahme, dass intergenerationelle Kontak-             war und ist ein strategisches Ziel der Stiftung EVZ. Wäh-
te und gesellschaftliche Teilhabe sich positiv auf die Le-        rend der Pandemie begleitete beispielsweise ein Bera-
benszufriedenheit von Überlebenden der NS-Verfol-                 terinnenteam ukrainische Projektpartner mit Web­inaren
gung auswirken. (Schmidt, Eric et al. (2015). Auf diesen          und digitalen Vernetzungstreffen sowie individueller
Konferenzen warb die Stiftung EVZ dafür, Verantwor-               Organisationsberatung. Wichtiger Impulsgeber ist die
tung für das Wohlergehen der Menschen zu überneh-                 Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, die
men, die die NS-Verfolgung erlebt und nach dem Zweiten            auf internationalen Fachtagungen regelmäßig Mitar-
Weltkrieg ihr Land wiederaufgebaut hatten.                        beitende und Ehrenamtliche in der psychosozialen Ar-
                                                                  beit mit Überlebenden, Kind-Überlebenden und deren
                                                                  Nachkommen schult.
THEMENDOSSIER • Verantwortung und Fürsorge: Das Engagement der Stiftung EVZ für Überlebende des NS-Unrechts                    14

In der Kampagne „Ich lebe noch – Überlebende der NS-              Formate insbesondere gefördert, wenn Projektträger
Verbrechen“ organisierte die Stiftung im April 2015               das notwendige Know-How mitbrachten, Eigenmittel
Zeitzeugengespräche und warb mit einer Wanderaus-                 einbrachten und ihre Angebote sich an die prioritäre
stellung sowie auf digitalen Litfaßsäulen um Spenden              Zielgruppe der Überlebenden von Zwangsarbeit, Kon-
für Überlebende. Insgesamt hat die Stiftung in den                zentrationslager oder Gettos richteten. Die anfängliche
letzten 21 Jahren mehr als dreizehn Millionen Euro an             Erwartung, dass solche „Modellprojekte“ in eine staat-
Spenden und Nachlässen zur Förderung zusätzlicher                 liche Finanzierung überführt werden könnten, hat sich
humanitärer Projekte erhalten.                                    leider nicht erfüllt.

                                                                  Niedrigschwelliger und flächendeckender waren Pro-
                                                                  jekte, die Überlebenden soziale und kulturelle Ange-
                                                                  bote machten. Diese Treffpunkte ermöglichten mobi-
                                                                  len Überlebenden, ihren Alltag aktiv zu gestalten und
                                                                  sich gegenseitig zu unterstützen. Oftmals konnten die
                                                                  Träger ehrenamtliche Helfer:innen, insbesondere aktive
                                                                  Senior:innen, für ein nachhaltiges Engagement an sich
                                                                  binden. So erfuhren weniger mobile NS-Verfolgte ge-
                                                                  sellschaftliche Teilhabe und praktische Unterstützung,
                                                                  ihre Einsamkeit wurde gelindert und sie fühlten sich
                                                                  umsorgt. Verbände von Überlebenden in Osteuropa
                                                                  nahmen die Förderung aus Deutschland lange Zeit als
                                                                  Anerkennung ihres Leids wahr, die dazu beitrug, dass
Kampagnenmotiv aus dem Jahr 2015                                  sie auch in ihrer Heimatregion stärker wahrgenommen
                                                                  wurden.

5     Arbeiten mit und für Überlebende –                          Wichtig für die Zivilgesellschaft in Belarus, Russland
      welche Angebote sind heute sinnvoll?                        und der Ukraine sind die Advocacy-, Vernetzungs- und
                                                                  Kommunikationsaktivitäten, die die Stiftung EVZ für
Mit welchen Formaten können wir Überlebende so                    die Treffpunkt Dialog Projekte initiierten: Die Interna-
unterstützen, so dass sie sich bis zum Lebensende kör-            tionale gesellschaftliche Vereinigung „Verständigung“
perlich und seelisch stabil, sicher und gut umsorgt füh-          in Minsk hat sich landesweit als Ansprechpartnerin und
len? Diese Frage begleitet die Stiftung und ihre Partner          Advokatin für „ihre“ uzniki (Häftlinge) etabliert. Sie ist
seit Beginn ihres Engagements. Schnell wurde klar, dass           in der Zivilgesellschaft hoch angesehen und kann ihre
die Ausgabe von Medikamenten, die Finanzierung ei-                wertvolle Arbeit noch immer fortsetzen, auch wenn der
ner Kur oder eines Lebensmittelpaketes kurzfristig Er-            politische Druck nach der Niederschlagung der bela-
leichterung bringt, aber die Lebensqualität der Über-             russischen Demokratiebewegung steigt. In Moskau
lebenden nicht nachhaltig verbessert. Angesichts aku-             organisiert die Wohltätige Stiftung zur Entwicklung der
ter Krisen – wie etwa der Covid-19-Pandemie und des               Philantrophie in den geförderten Projekten digitale Ver-
aktuellen Krieges in der Ukraine – ist diese humanitäre           netzungstreffen oder Webinare zu Biographiearbeit
Nothilfe jedoch ein wichtiges Mittel, um die Projekt-             und Musiktherapie. In der Ukraine ist „Turbota pro Lit-
teilnehmenden schnell und wirksam zu unterstützen.                nih v Ukraini“ (Age Concern Ukraine) seit 2010 An-
                                                                  sprechpartnerin für viele der Überlebendenverbände
Einige Verbände haben Sozialstationen, Tageszentren               und organisiert Fortbildungen zu Demenz oder Sicher-
und Pflegedienste für Überlebende aufgebaut. Die Stif-            heit im Alter, sowie – seit Kriegsbeginn – erneut Not-
tung hat solche personalintensiven und langfristigen              hilfen für die Überlebenden.
THEMENDOSSIER • Verantwortung und Fürsorge: Das Engagement der Stiftung EVZ für Überlebende des NS-Unrechts                             15

                                                                                       6     Ausblick

                                                                                       Das Engagement für Überlebende der nationalsozialis-
                                                                                       tischen Verfolgung – künftig zumeist hochbetagte
                                                                                       Child-Survivors – werden wir auch in der dritten Förder-
                                                                                       dekade fortführen. Zumeist werden sie nicht mehr als
© Lesya Kharchenko

                                                                                       Zeitzeuginnen wirken können. Dabei wissen wir nicht,
                                                                                       wie lange wir diejenigen, die auf Unterstützung ange-
                                                                                       wiesen sind, über Projektförderungen noch erreichen
                                                                                       können. Insbesondere in Osteuropa leben viele Über-
                                                                                       lebende weit verstreut und zunehmend vereinzelt. Di-
                                                                                       gitale Plattformen zur Beratung der Angehörigen oder
                              Unsere Treffen sind für mich sehr                        zur Vermittlung von Pflegediensten spielen bereits jetzt
                                                                                       eine wachsende Rolle. Angesichts dieser Herausforde-
                              wichtig. Aber es kommen nur noch
                                                                                       rungen setzt die Stiftung zunehmend auf professio-
                              ­wenige. Von den einst 2.500 „Ost­
                                                                                       nelle und überregional agierende Träger.
                               arbeitern“, die nach dem Krieg nach
                               Stolin zurückkehrten, leben noch 478.                             Die Pandemie hat uns geholfen zu
                               Die Hilfebedürftigsten haben wir in                               ­verstehen, wie wichtig es ist, dass wir
                               ein Pflegeheim vermittelt. Viele von                               uns die neuen Technologien aneignen.
                               uns können nur noch mit Unter­                                     Jetzt haben wir Warteschlangen für
                               stützung aus dem Haus. Daher freue                                 die Schulung zur Nutzung von
                               ich mich, hier auf der Konferenz ehe-                              ­Mobiltelefonen und Tablet.
                               malige Leidensgenossen zu treffen.
                                                                                                 Galina Shkolnik, Memorial St. Petersburg
                              Nina Kelenikowna Tarasewitsch, 85, Vorsitzende                     (SVN KAF 2022)
                              des Verbands der minderjährigen Zwangsarbeiter
                              in Stolin, Gebiet Brest (Stiftung EVZ (2016),
                              S. 59).

                     Rückblickend zeigt sich, dass vor allem solche Projekte
                     gut und nachhaltig wirkten, in denen Mitarbeitende und
                     Ehrenamtliche zunächst Vertrauen zu den Überleben-
                     den aufbauten, um dann auf deren individuelle Bedürf-
                     nisse zugeschnittene Angebote zu machen. Niedrig-
                     schwellige Aktivitäten im Kreise von Vertrauten wie Tee-
                     trinken, Ausflüge oder Hobbygruppen werden sukzes-
                     sive ergänzt durch individuelle Sozialberatung, die Ver-
                     mittlung von staatlichen Leistungen, ehrenamtlichen
                     Hilfen oder psychologische bzw. medizinische Ange-
                     bote – auch für pflegende Angehörige. Hausbesuche
                     durch Freiwillige und wohnortnahe Treffpunkte für                 Projektkoordinatorin Yulia Ermolenko hilft Sofia Titovna Abramtseva
                                                                                       beim Umgang mit dem Mobiltelefon: so wird Vereinsamung entgegen-
                     wenig mobile Überlebende wurden in den letzten Jahren
                                                                                       gewirkt – insbesondere während der Pandemie (Projekt in Belarus)
                     immer wichtiger. Jede Organisation setzte dabei eigene            © Vladimir Aleksandronez
                     Schwerpunkte und baute von Projekt zu Projekt ihr
                     Engagement weiter aus.
THEMENDOSSIER • Verantwortung und Fürsorge: Das Engagement der Stiftung EVZ für Überlebende des NS-Unrechts                 16

Mit dem Ableben der Überlebenden wird sich der Um-                Wir werden uns dabei auf Grundlage des Stiftungsge-
fang dieses Engagements im nächsten Jahrzehnt all-                setzes stets aufs Neue befragen, was das Vermächtnis
mählich verringern und im Sinne ihres Vermächtnisses              der Überlebenden in künftigen gesellschaftlichen Her-
in anderen Handlungsfeldern der Stiftung fortgeführt.             ausforderungen für das Handeln der Stiftung bedeuten
                                                                  kann:
Die 2021 beschlossene Zukunftsagenda der Stiftung                     • in der Erinnerung an die Bedrohung durch
hat bereits Herausforderungen identifiziert, in denen                   ­totalitäre Systeme angesichts von zunehmen-
es künftig gilt, das Engagement zu verstärken. Wir                       der Geschichtsvergessenheit den Testimonies
werden jene Communities wirksam unterstützen, in                         der Überlebenden in der digitalen Welt Stimme
denen Nachfahren der Opfer leben und die noch heute                      und Reichweite geben;
gefährdet sind.                                                       • im internationalen Jugendaustausch angesichts
    • Roma Communities in Mittel- und Osteuropa                          populistischer nationaler Egoismen junge
      werden wir fördern, ihre Rechte einzufordern,                      ­Menschen transnational für unsere europäi-
      gegen Rassismus einzutreten und die Geschichte                      schen Werte zusammenarbeiten lassen;
      des Genozids an den Rom:nja den Mehrheits­                      • in der internationalen humanitären Zusam-
      gesellschaften zu vermitteln.                                       menarbeit angesichts von Hass, Terror oder
    • Mit und für die jüdischen Communities werden                        Krieg die davon Betroffenen so engagiert
      wir unser Engagement gegen Antisemitismus                           ­unterstützen, wie es die Überlebenden zu ihrer
      verstärken und nachhaltiger gestalten, z. B.                         Zeit von ihren Mitmenschen erwartet hätten.
      durch die Förderung institutioneller Vorkeh-
      rungen zur Bekämpfung von Antisemitismus in
      unseren Gesellschaften.
    • Wir werden Nachfahren unterstützen, die
      ­Botschaften ihrer verfolgten Eltern und
       ­Großeltern in die Zukunft zu tragen.

Zeitzeuge Alexander Demidow mit Anna Krutschkowa © M. Bogdan
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