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Nr. 15/Dezember 2009

JUGENDKULTUR, RELIGION UND DEMOKRATIE
POLITISCHE BILDUNG MIT JUNGEN MUSLIMEN                                                                     Nr. 15/Dezember 2009

EDITORIAL

Liebe Leserinnen und Leser,

in der Berichterstattung zur Bundestagswahl standen die The-
men Islam und Integration nicht gerade im Mittelpunkt des Inte-
resses. So waren es vor allem muslimische Beobachter, die das
Wahlergebnis mit Blick auf den zukünftigen Status von Islam und
Muslimen in Deutschland interpretierten.

Dabei kamen sie zu unterschiedlichen Schlüssen: Während die
einen auf die Fortsetzung des Dialogprozesses hoffen, wie er
unter dem ehemaligen Innenminister Wolfgang Schäuble mit der
Deutschen Islam Konferenz begonnen wurde, befürchten an-
dere unter einer schwarz-gelben Regierung ein Wiederaufleben
nationalistischer und kulturalistischer Debatten. Die Diskussion
um eine „deutsche Leitkultur“ ist hier noch in schlechter Erinne-
rung. (Ein Überblick über verschiedene Stimmen zum Wahler-           WELCHER ISLAM?
gebnis findet sich in der Sonderausgabe des Newsletters zur
Bundestagswahl auf bpb.de.)                                          Die Diskussion um den islamischen Religionsunterricht geht weiter
                                                                     (Seite 2)
Deutlich wurde in diesen Reaktionen, dass es unter Muslimen in
Deutschland sehr unterschiedliche Sichtweisen und eben auch
Parteipräferenzen gibt. Darauf hatte zuletzt auch Navid Kermani      INHALT
in seinem Buch „Wer ist Wir. Deutschland und seine Muslime“
eindringlich hingewiesen. Darin schrieb er: „Ich bin Muslim. Der     HINTERGRUND
Satz ist wahr, und zugleich blende ich damit tausend andere Din-     · Welcher Islam? Diskussionen um den Religionsunterricht             2
ge aus, die ich auch bin und die meiner Religionszugehörigkeit       · IGMG: „Religionsunterricht ist ein Grundrecht“                     5
widersprechen können“.                                               · Beten in der Schule? Zum Berliner Gerichtsurteil                   6

Diese Heterogenität spiegelt sich auch in den unterschiedlichen      Muslimische, türkische und arabische Stimmen
Ansichten wider, die selbst unter sehr religiösen Muslimen zu ge-    · „Verfluchte Freiheit“: Hamed Abdel-Samad im Interview           7
sellschaftlichen und politischen Themen und Fragen des Islam         · Andalusian.de – Bloggen für ein „zeitgemäßes“ Islamverständnis 8
vertreten werden. Zum Beispiel, wenn es um den Niqab, den Ge-        · „Immer dasselbe Gerede“: Die türkische Diva Bülent Ersoy       10
sichtsschleier, oder um den islamischen Religionsunterricht geht     · Islamische Diskussion um den Niqab                             11
(siehe S. 2 + 11 in diesem Newsletter).
                                                                     PUBLIKATIONEN
Entscheidend für die Zukunft des Islam in Deutschland ist aber       · Im Kino: „Evet, ich will“                                         12
nicht nur, wie Muslime untereinander über die Bedeutung von          · Zukunftsforum Islam: Islam und Grundgesetz                        13
Religion diskutieren. Nicht weniger bedeutsam ist die Haltung der    · Studie: Islam im Schulunterricht                                  13
nicht-islamischen Mehrheitsgesellschaft. Darauf hat Jörg Lau in      · DIK über Förderung von Integration und Imamen                     14
einem Beitrag für die Wochenzeitung Die Zeit vor dem Hinter-         · Islamkritik und -feindlichkeit                                    15
grund der Debatten über die Äußerungen von Thilo Sarrazin hin-       · Die „dritte deutsche Einheit“                                     15
gewiesen: Es sei eine „Kernfrage der Gesellschaftpolitik“, schrieb   · Online-Plattform zum Newsletter auf bpb.de                        15
Lau, wie sich die Mehrheitsgesellschaft aufstelle gegenüber „den
Neuen und ihren Kindern, die hier geboren sind“.

Zu diesen Auseinandersetzungen möchten wir mit unserem
Newsletter beitragen.
                                                                     Eine Publikation von:
In diesem Sinne wünschen wir eine interessante Lektüre,

die Redaktion                                                        ufuq.de
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Nr. 15/Dezember 2009                                                                                                    ufuq.de
HINTERGRUND

Welcher Islam?
Die Diskussion um den islamischen Religionsunterricht
geht weiter

Einen ordentlichen islamischen Religionsunterricht gibt es in Deutsch-                         IGMG, die mitgliederstärkste Organisa-
land bisher nicht. Unter anderem ist nicht abschließend geklärt, welches                       tion des Islamrates, steht weiterhin unter
Ziel ein solcher Unterricht mit welchen Lehrmaterialien verfolgen soll.                        Islamismusverdacht und wird durch Ver-
Der gegenwärtig ausgetragene innermuslimische Streit um das Schul-                             fassungsschutzbehörden von Bund und
buch Saphir 5/6 (vgl. NL 13/14) zeigt zudem, dass es hier um weit mehr                         Ländern beobachtet – auch dabei spielt
als nur um ein Schulbuch geht: Zur Debatte stehen unterschiedliche und                         die ideologische Anbindung an türkische
miteinander konkurrierende Islamverständnisse. Besonders deutlich wird                         Organisationen und Parteien eine große
dies an einem Beitrag von Harun Behr, einem der Herausgeber von Saphir                         Rolle (siehe Kasten). Eine weitere wich-
5/6, mit dem dieser auf Kritik seitens der Islamischen Gemeinschaft Milli                      tige Frage ist die nach den Zielen eines
Görüs (IGMG) reagiert.                                                                         islamischen Religionsunterrichts und ei-
                                                                                               ner dementsprechenden Gestaltung der
                                                                                               Lehrmaterialien: Wie kann ein Unterricht
Die Einführung und Gestaltung eines islami-      Islam und die Muslime in Deutschland?         aussehen, der islamkundliches Wissen
schen Religionsunterrichts an öffentlichen       Das heißt in diesem Fall: Welche islami-      vermittelt und gleichzeitig islamischer Be-
Schulen ist eines der zentralen Themen           schen Organisationen können mit den           kenntnisunterricht sein soll?
für die Zukunft des Islam in Deutschland.        staatlichen Stellen in der Ausbildung von
Hier geht es um junge deutsche Musli-            Religionslehrern, der Bestimmung der In-      Dieses Ziel verfolgt das Schulbuch Saphir
me, die in den kommenden Jahrzehnten             halte des Unterrichts und der Auswahl der     5/6. Religionsbuch für junge Musliminnen
den Islam in Deutschland prägen werden.          Lehrmaterialien zusammen arbeiten?            und Muslime, das im Sommer 2008 er-
Noch sind allerdings wesentliche Fragen                                                        schienen ist. Herausgeber und verantwort-
zum Unterricht offen. So gibt es bis heute       Bisher gibt es lediglich einen alevitischen   lich für die pädagogische und didaktische
in keinem Bundesland einen ordentlichen          Religionsunterricht. Vorformen eines sun-     Gesamtkonzeption sind die Islamwissen-
islamischen Religionsunterricht. Da dieser       nitischen Religionsunterrichts werden in      schaftler und Religionspädagogen Lamya
laut Art. 7 III des Grundgesetzes in Über-       Modellversuchen erprobt. Fortwährend          Kaddor, Rabeya Müller und Harry Harun
einstimmung mit den Grundsätzen der je-          umstritten ist dabei die Anerkennung          Behr. Über dieses Buch ist unter Muslimen
weiligen Religionsgemeinschaft stattfinden       einzelner islamischer Organisationen als      in Deutschland ein Streit entbrannt, über
muss, ist eine Zusammenarbeit mit islami-        Religionsgemeinschaft, in deren Verant-       den wir in der letzten Ausgabe des News-
schen Organisationen unabdingbar. Auch           wortung der Religionsunterricht durchzu-      letters berichteten. In einer öffentlichen
hier stellt sich allerdings jene Frage, die      führen wäre. So wird etwa der DITIB vor-      Stellungnahme hatte die IGMG deutliche
viele Auseinandersetzungen um den Islam          gehalten, zu sehr Interessen der Türkei in    Kritik an der Ausrichtung des Buches ge-
bis heute bestimmt: Wer repräsentiert den        Deutschland im Auge zu haben. Und die         äußert und erklärt, das Buch sei für den
                                                                                               islamkundlichen nur bedingt und für einen
                                                                                               bekenntnisorientierten Unterricht gar nicht
                                                                                               geeignet.

                                                                                               Bemängelte wurde von Seiten der IGMG
                                                                                               vor allem, dass in Saphir zu viel Distanz
                                                                                               zum Islam als Religion zum Ausdruck
                                                                                               komme. Entgegen den Ansprüchen „der
                                                                                               Muslime“ an den Religionsunterricht gehe
                                                                                               es den Autoren des Buches nicht um die
                                                                                               Verkündung von Glaubenswahrheiten,
                                                                                               sondern um die Vermittlung islamkundli-
                                                                                               cher Informationen. Ein solcher Unterricht
                                                                                               widerspreche sowohl dem „Selbstver-
                                                                                               ständnis und den Erziehungszielen der
                                                                                               muslimischen Religionsgemeinschaften“
                                                                                               als auch den Vorgaben des Grundgeset-
                                                                                               zes. Ein Beispiel für die islamkundliche
                                                                                               Ausrichtung des Buches sei die „fehlende
                                                                                               Vermittlung der Praxis des Islams“. Über
„In Deutschland leben“: Blick in das Schulbuch Saphir 5/6                                      die Einzelheiten, die „äußere Form“ und die
                                                                                               Art und Weise der Verrichtung der Gebete

                                                                                                                                 Seite 2
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Nr. 15/Dezember 2009                                                                                                      ufuq.de
HINTERGRUND: Welcher Islam?

Bisher nur als Modellversuch: islamischer Religionsunterricht

erführen die Schüler wenig, stattdessen           wider. Sie beansprucht, mit ihren Positio-    In Behrs Erwiderung wird deutlich, dass
stünde „der Aspekt der geistigen Zuwen-           nen „die Muslime“ – oder zumindest eine       es in dem Streit nicht zuletzt darum geht,
dung zu Gott“ im Vordergrund. Es ent-             Mehrheit der Muslime in Deutschland – zu      wie der Islam in Deutschland zukünftig ge-
stünde der Eindruck, so die IGMG, dass            vertreten. Dabei betont die IGMG die Be-      dacht und gelebt werden soll. Während in
„das Gebet letztendlich nur zur seelischen        sonderheit des Islam und hebt dement-         der Moschee zum Beispiel gelehrt würde,
Bindung und Erinnerung an Allah dient             sprechend die Unterschiede zu anderen         wie man als Muslim fünfmal täglich rich-
und die rituelle Form sowie die einzelnen         Religionen und der nicht-muslimischen         tig bete, ginge es ihm, so Behr, in einem
Pflichten dabei nicht von Bedeutung“              Umwelt hervor. Damit zieht sie sich im-       bekenntnisorientierten Schulunterricht vor
seien. Auch die Darstellung des Islam im          mer wieder den Vorwurf zu, einer Integ-       allem darum, dass sich die Schüler den
Verhältnis zu anderen Religionen wird von         ration von Muslimen im Wege zu stehen.        Glauben und die religiösen Inhalte in einer
der IGMG in diesem Tenor kritisiert: Der          Die IGMG selbst verfolgt demgegenüber         reflektierenden Form aneignen. Behr zitiert
Islam erscheine hier nur als „einer von           das Konzept, dass Integration nur auf der     dazu den berühmten islamischen Denker
vielen Wegen“, wobei die Grenzen zwi-             Basis eines ausgeprägten eigenen (religi-     Maulana, dem zufolge „die Seele des Ge-
schen den Religionen verwischt würden.            ösen) Selbstverständnisses gelingen kön-      bets“ und der Glaube wichtiger seien als
Erst auf der Grundlage eines eigenen re-          ne. Mit ihrem Islamverständnis vertritt sie   das Gebet selbst. Dementsprechend ste-
ligiösen Selbstverständnisses könne aber          dabei mehrheitlich konservativ-traditionell   he im islamischen Religionsunterricht der
aus Sicht der IGMG eine Annäherung an             geprägte religiöse Milieus. Hier sind das     Muslim als Mensch im Vordergrund. Das
andere Religionen erfolgen. Zudem wür-            Festhalten an Ritualen, äußeren Formen        könne aber nur gelingen, wenn Lehrplä-
de in Saphir das „klassisch Islamische“,          und Konventionen – etwa beim Gebet,           ne und Lehrkräfte keinen Zweifel daran
so heißt es in der Erklärung der IGMG, als        dem Tragen des Kopftuches oder der Ge-        aufkommen ließen, „dass die Menschen
„eher unästhetisch“ dargestellt und solle         schlechtertrennung beispielsweise in der      nicht dazu da sind, Muslime zu werden,
offenbar „aus dem öffentlichen Leben ver-         Jugendarbeit – oft wichtiger als der Bezug    sondern dass der Islam dazu da ist, aus
bannt“ werden. Stattdessen würde den              auf universelle Werte (mehr zur IGMG s.       Menschen wahre Menschen zu machen,
Schülern im Kapitel „Muslime in Deutsch-          Kasten).                                      auf die die islamischen Kriterien von ‚Reife’
land“ ein „alternatives Islamverständnis“                                                       (kamal) und ‚Güte’ (salah) zutreffen“ (S. 9
und die ehemalige Bundestagsabgeord-              Inzwischen hat Harun Behr, Professor für      in Behrs Beitrag).
nete Lale Akgün (SPD) als Modellfigur vor-        islamische Religionslehre an der Universi-
gestellt. „Die breite Masse der Muslime“,         tät Erlangen-Nürnberg und Mitherausge-        Als Muslim, so Behr, reiche es ihm dabei
so die IGMG, würde sich hingegen fragen,          ber von Saphir, ausführlich auf die Kritik    nicht aus, sich auf „Autoritäten zu beru-
ob nun ausgerechnet Akgün „die am bes-            der IGMG geantwortet. In einem Beitrag        fen“. Vielmehr nehme er für sich in An-
ten geeignete Person ist, stellvertretend         der „Zeitschrift für die Religionslehre des   spruch, Dinge nachprüfen und selbst über
für die Muslime in Deutschland abgebildet         Islam“ wirft er der IGMG in mitunter sehr     seinen Umgang mit ihnen entscheiden zu
zu werden“. Die Stellungnahme der IGMG            ironischem Tonfall eine ideologische Lesart   wollen. Der Koran selbst gebe dem Men-
zum Religionsunterricht spiegelt den iden-        des Buches vor: Ihr Urteil habe schon fest-   schen die Freiheit zu der Entscheidung,
titätspolitischen Ansatz der Organisation         gestanden, bevor man es gelesen habe.         „wie er mit Religion verfahren möchte“.

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HINTERGRUND: Welcher Islam?

Auch in ihrer Religiosität sehe er die mus-   flussen“ (S. 11). Und in dieser Welt sei die   Werte als Orientierung einer individuellen
limischen Schüler und Schülerinnen daher      Existenz anderer Religionen nun einmal         Lebensgestaltung von Muslimen. Bei der
„als Individuen mit eigenem Kopf, als Men-    ebenso eine Realität wie deren Nähe zu-        innermuslimischen Diskussion um Saphir
schen mit Herz, als Handelnde“. Die Frage     einander. Es gehe in Saphir, so begegnet       5/6 geht es also um weit mehr als um ein
nach sozialer Gerechtigkeit, so spitzt Behr   Behr der Kritik der IGMG, also gar nicht       Schulbuch. Vielmehr ist der Streit Teil ei-
seine Aussage zu, sei ihm wichtiger als die   um religiöse Inhalte und Glaubenswahrhei-      nes Ringens um die Verständigung und
nach islamischer Kleidung (S. 7).             ten anderer Religionen, sondern um Fra-        um die Auseinandersetzung darüber, wie
                                              gen von Jugendlichen nach religiöser und       Muslime den Islam verstehen und leben
Auch aus pädagogischer Sicht habe es          kultureller Identität in einer sich ändern-    können. Vor diesem Hintergrund ist auch
wenig Sinn, den Schülern vorgefertigte        den Welt. Und in dieser sei interreligiöse     die Replik von Mustafa Yeneroglu, Gene-
und abfragbare Wahrheiten über ihre Re-       Pluralität bzw. das Zusammenleben auf          ralsekretär der IGMG, zu verstehen (siehe
ligion vorzusetzen. Lernwirksam sei viel-     der Basis des jeweils eigenen Bekennt-         Kasten). Anlass seines Schreibens war ein
mehr das Unerwartete und im Unterricht        nisses nun einmal eine „Schlüsselfrage         Bericht über die Diskussion zu Saphir 5/6
Reflektierte. Als durch die „Weisungen        des gesellschaftlichen Friedens“ (S. 21).      in der Ausgabe 13/14 dieses Newsletters.
des Islam als Religionslehre“ begleitetes     Hier werden sehr unterschiedliche Zugän-       Es kann wiederum als Antwort auf Harun
„Ringen“ (idschtihad) beschreibt Behr vor     ge zum Glauben deutlich: Während die           Behr gelesen werden.
diesem Hintergrund sein Verständnis von       IGMG die Konstitution von Gemeinschaft
islamischer Religionspädagogik. Er sieht      in den Mittelpunkt rückt, die nicht zuletzt
darin das Bemühen darum, die Verhält-         über die Betonung von Ritualen, gemein-
nisbestimmung von Kindern und der Welt,       samer „äußerer Form“ und „islamischer“
der sie begegnen, „zu beschreiben, zu         Ästethik geprägt wird, geht es Behr um
verstehen, vorauszusehen und zu beein-        die den religiösen Quellen innewohnenden

 ISLAMISCHE GEMEINSCHAFT MILLI GÖRÜS (IGMG)

 Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs      wieder sehr positiv über Erbakan berich-       der Länder und Kommunen ist die IGMG
 (IGMG) zählt zu den in Deutschland um-       tet, „den Westen“ diffamiert und nicht sel-    vielfach Gesprächspartner, wenn es um
 strittensten islamischen Organisationen.     ten auch antisemitische Verschwörungs-         Islam und Integration geht.
 Verfassungsschutzbehörden werfen ihr         theorien verbreitet.
 seit Jahren islamistische Bestrebungen                                                      So ergibt sich ein widersprüchliches Bild:
 vor. Auch der Verfassungschutzbericht        In Deutschland und Europa wurde die            Auf der einen Seite steht die „alte“, an der
 2008 stellt die „verbalen Bekenntnisse       IGMG in den 70er Jahren aktiv und ziel-        islamistischen Ideologie Erbakans orien-
 der IGMG zu Demokratie und Rechts-           te zunächst vor allem auf die türkischen       tierte IGMG, die meist einem sehr tradi-
 staat“ in Zweifel. Auf der anderen Seite     Arbeitsmigranten. Als sich abzeichnete,        tionell geprägten Milieu entstammt, sich
 betont etwa der Soziologe und IGMG-          dass diese mit ihren Familien in Deutsch-      weiterhin an der Türkei orientiert und von
 Experte Werner Schiffauer die Integra-       land bleiben würden, entwickelte sich          starker Abgrenzung gegenüber der nicht-
 tionsbereitschaft, die insbesondere von      die IGMG mehr und mehr zu einer deut-          islamischen Umwelt geprägt ist. Auf der
 jüngeren Mitgliedern der IGMG gezeigt        schen Organisation. Einige hundert Mo-         anderen Seite findet sich eine neuere
 werde.                                       scheevereine sowie diverse Jugend-,            Generation von IGMG-Repräsentanten,
                                              Frauen- und Studentenvereine gehö-             viele davon in Deutschland geboren, die
 Milli Görüs heißt „Nationale Sicht“ und      ren zum engeren Umfeld der IGMG. In            auf eine Integration von Islam und Mus-
 geht zurück auf den türkischen islamis-      Deutschland gibt sie die zweisprachige         limen in Deutschland drängt. Dabei ist
 tischen Politiker Necmetin Erbakan, der      Zeitschrift „IGMG-Perspektive“ heraus,         auch diese Generation in der Regel von
 Anfang der 70er Jahre in der Türkei das      die vor allem über politische, kulturelle      einem konservativen Islamverständnis
 politische Ziel der IGMG formulierte: die    und religiöse Anliegen deutschtürkischer       geprägt, welches sich zum Beispiel in der
 Bekämpfung der säkularen und die Er-         Migranten berichtet. Die IGMG dominiert        Geschlechtertrennung in der Jugendar-
 richtung einer „gerechten Ordnung“ (adil     mit dem Islamrat einen der vier großen         beit widerspiegelt.
 düzen) auf strikt islamischer Grundla-       muslimischen Dachverbände und ist
 ge. Sprachrohr der internationalen Milli-    über diesen in der vom Bundesinnenmi-
 Görüs-Bewegung ist die türkische Tages-      nisterium einberufenen Deutschen Islam
 zeitung Milli Gazete, die bis heute immer    Konferenz vertreten. Auch auf der Ebene

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Nr. 15/Dezember 2009                                                                                                       ufuq.de
HINTERGRUND

 Grundrecht Religionsunterricht
 In der redaktionellen Einleitung zum Beitrag von Jeannette Spenlen zur Debatte um das Islamschulbuch Saphir 5/6 in der Ausga-
 be 13/14 dieses Newsletters schrieben wir, dass ein Unterricht, der Glaubenswahrheiten vermitteln soll, nicht mit Artikel 7 III GG
 vereinbar sei. Diese Aussage ist so nicht richtig. Folgt man der Rechtsprechung und der Auffassung vieler Staatsrechtler, bewegte
 sich ein solcher Unterricht durchaus im Rahmen des Grundgesetzes. Umstritten ist unter Juristen indes, wie weit die Verkündung
 von Glaubenswahrheiten im Unterricht im Einzelnen gehen kann. Als Reaktion auf unsere Darstellung erreichte uns ein Beitrag von
 Mustafa Yeneroglu, dem stellvertretenden Generalsekretär der IGMG. Er wies uns zum einen auf den oben genannten Fehler hin.
 Darüber hinaus legt Yeneroglu dar, wie ein an den Glaubenssätzen des Islam orientierter Religionsunterricht aus Sicht der IGMG
 aussehen könnte. Wir dokumentieren im Folgenden diesen Text als Beitrag zur Diskussion.

 Die Redaktion

 „Religionsunterricht ist ein Grundrecht,
 kein Mittel der Prävention“

 Eine Stellungnahme von Mustafa Yeneroglu (IGMG)

 Der ordentliche Religionsunterricht nach         74, 244, 252). Der Religionslehrer gestal-     die Möglichkeit, sich mit dem Islam zu
 Art. 7 III GG dient in erster Linie der Grund-   tet den Unterricht aus dem Glauben he-         beschäftigen.
 rechtsverwirklichung der Bürger. Mit der         raus, nicht aus der Distanz. Er vermittelt,
 institutionellen Garantie im Grundgesetz         was geglaubt werden soll. Ziel ist in erster   Der islamische Religionsunterricht in der
 wird ein subjektives Recht der Schüler,          Linie die Stiftung einer positiven Identifi-   Schule soll aus dem positiven Bekenntnis
 der Eltern und der Religionsgemeinschaft         kation mit der eigenen Religion.               zum Islam an ein selbstkritisch-reflektier-
 in der Schule gewährleistet. Der Unter-                                                         tes islamisches Selbstbewusstsein her-
 richt soll zur religiösen Entfaltung und Ver-    Insofern könnte sich der Religionsunter-       anführen. Zudem hat er für Verständnis
 wirklichung im Leben führen. Insofern ist        richt in den Moscheegemeinden mit dem          und Toleranz gegenüber Andersdenken-
 er um der Bürger, nicht um des Staates           in der Schule sinnvoll ergänzen: In den        den aus dem Kerngedanken des Res-
 Willen da – auch wenn vom Religionsun-           Moscheegemeinden werden vor allem              pektes vor der schöpferischen Vielfalt
 terricht ein Gewinn für das Gemeinwohl in        das Rezitieren des Korans und die religiö-     beizutragen. Dabei müssen die Heraus-
 Staat und Gesellschaft erwartet wird. Der        se Praxis, insbesondere die gottesdienst-      forderungen einer pluralistischen Gesell-
 Religionsunterricht stellt darüberhinaus         lichen Handlungen gelehrt. Dazu gehört         schaft durch eine zeitgemäße Religions-
 eine staatliche Kulturaufgabe dar.               auch das Erlernen von Suren aus dem            pädagogik und Didaktik aufgenommen
                                                  Koran und das Einüben des Gebetsri-            werden. So müssen im Unterricht die
 Nach diesen Grundsätzen ist der Reli-            tus. Im schulischen Unterricht ist schon       Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit
 gionsunterricht positiv zu verorten. Sein        aus zeitlichen Gründen kein Platz für die-     Angehörigen anderer Religionen oder
 Sinn liegt nicht darin, angeblich drohen-        se Inhalte. Während in der Moschee der         Weltanschauungen aus der Binnenper-
 de oder bereits bestehende Gefahren              Fokus auf Stärkung und Förderung des           spektive heraus entwickelt und mit dem
 abzuwenden, wie es häufig dargestellt            Glaubens liegt, wird in der Schule neben       Selbstverständnis der anderen Religionen
 wird. Der Religionsunterricht taugt we-          der Vermittlung religiösen Grundwissens        oder Weltanschauungen vergleichend
 der als Präventionsmaßnahme noch als             mehr Wert auf eine reflektierende Her-         vermittelt werden, ohne dass die Unter-
 Mittel, eine bestimmte Form von religiö-         angehensweise gelegt. Eltern, die eine         schiede verschwiegen oder übergangen
 ser Vorstellung zu vermitteln. Er muss „in       fundierte religiöse Erziehung ihrer Kinder     werden. Schließlich darf der Unterricht
 konfessioneller Positivität und Gebunden-        wünschen, werden folglich auf die islami-      die Wertentscheidungen des Grundge-
 heit“ erteilt werden. Und: „Zentraler Ge-        sche Unterweisung in den Moscheege-            setzes nicht negieren und hat vor allem
 genstand sind die grundlegenden Über-            meinden nicht verzichten können. Diese         Themen aus der Lebenswirklichkeit im
 zeugungen der jeweiligen Religion als            Ausbildung kann in der Schule ergänzt          Hinblick auf ein vorbildliches Leben ge-
 Glaubenswahrheit, also die Inhalte des           und reflektiert werden. Kinder, die die        mäß dem eigenen Bekenntnis altersge-
 Bekenntnisses, welche als bestehende             Angebote der Moscheegemeinden nicht            recht zu behandeln.
 Wahrheiten zu vermitteln sind“ (BVerfGE          wahrnehmen, bekommen in der Schule

                                                                                                                                     Seite 5
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HINTERGRUND

Beten in der Schule?
BERLINER GERICHT ERLAUBT MITTAGSGEBET IN DER
SCHULE – SENAT GEHT IN BERUFUNG

                                                                                                etwa nach dem Hamburger Vorbild: „Wir
                                                                                                empfehlen unseren Lehrern, den Schü-
                                                                                                lern, die beten wollen, den Schlüssel für
                                                                                                gerade leer stehende Klassenräume zu
                                                                                                geben“, erklärte eine Sprecherin der Ham-
                                                                                                burger Schulverwaltung gegenüber der
                                                                                                Berliner Zeitung. Daraus ließe sich fol-
                                                                                                gende Praxis ableiten: Wenn der Schul-
                                                                                                betrieb es erlaubt und religionsmündige
                                                                                                Schüler es explizit wünschen, könnte ge-
                                                                                                meinsam nach einfachen Lösungen ge-
                                                                                                sucht werden, um ihnen das Beten in der
                                                                                                Schule zu ermöglichen. Dafür spricht sich
                                                                                                auch Bülent Ucar, Professor für Islamische
                                                                                                Religionspädagogik, gegenüber der NRZ
                                                                                                aus: „Für das Gebet brauchen Muslime
                                                                                                zur Mittagszeit nur zehn bis 15 Minuten.
                                                                                                Verrichtet werden kann es überall – es
                                                                                                muss nur einen sauberen und ruhigen Ort
 Beten in der Schule: Ein Fall für die Gerichte – oder gibt es andere Lösungen?
                                                                                                geben. Ein leerer Klassenraum reicht völ-
                                                                                                lig für ein Gebet in der Pause.” Allerdings
Die Berliner Schulverwaltung hatte einem          Sprecher der Bundestagsfraktionen von         müsse dies für alle Religionen gleicherma-
muslimischen Schüler das Beten in der             CDU/CSU, den Grünen sowie der FDP.            ßen gelten und grundsätzlich geklärt wer-
Schule untersagt – woraufhin dieser vor           Dagegen sagte der Berliner CDU-Integ-         den, wie viel Platz Religion in einer staatli-
Gericht zog. Ende September erging dann           rationspolitiker Kurt Wansner gegenüber       chen Schule haben solle. Einen konkreten
das Urteil, demzufolge der Schüler das            dem Tagesspiegel, das Urteil befördere        Vorschlag machte dazu der Vorsitzende
Recht hat, sein Mittagsgebet in der Schule        „individualistische Wege (….), die bereits    des Essener Integrationsbeirates Mu-
zu verrichten. Allerdings, so das Verwal-         in der Schule zu Separierung führen“. Öz-     hammet Balaban: Schulen könnten einen
tungsgericht, nur außerhalb der Unter-            can Mutlu, Bildungspolitiker der Grünen in    Raum für alle Religionen gemeinsam ein-
richtszeiten, in einem separaten Raum und         Berlin, sprach im Deutschlandfunk von         richten. Bei Universitäten und in Kranken-
vorausgesetzt, dass damit keine größeren          einem „integrationspolitisch falschen Sig-    häusern „funktioniert das schon lange“,
Beeinträchtigungen des Schulbetriebs              nal“ und äußerte zudem die Befürchtung,       wird Balaban in der NRZ zitiert.
verbunden sind. Ausschlaggebend für die           streng gläubige Schüler könnten ihre nicht-
Entscheidung war dabei die grundgesetz-           betenden Mitschüler unter Druck setzen.       Gerade an Schulen jedoch, so ließe sich
lich verbürgte Religionsfreiheit.                                                               dem hinzufügen, sollten Lehrer und Eltern
                                                  Auch an den Schulen ist die Stimmung          besonders darauf achten, dass es im Fall
Gegen das Beten an der Schule hatte das           uneinheitlich – das zeigen Medienberich-      der Einrichtung eines solchen Gebets-
Land Berlin vor Gericht mit der Verpflich-        te wie Beiträge des Tagesspiegels der         raums nicht zu Konflikten, Ausgrenzungen
tung öffentlicher Schulen zu weltanschau-         Berliner Zeitung sowie Nachfragen der         oder Missionierungsbestrebungen unter
licher und religiöser Neutralität argumen-        Redaktion: Während einige Schulleiter er-     den Schülern kommt.
tiert. Zudem könnten muslimische Schüler,         klären, dass das Beten in der Schule für
die nicht beten wollen, unter Rechtferti-         die muslimischen Schüler gar kein Thema
gungsdruck gesetzt werden – davor seien           sei, fürchten andere nun weitere Klagen
sie zu schützen. Außerdem sei mit weite-          und die Zunahme religiöser Aktivitäten im
ren Klagen muslimischer Schüler zu rech-          Umfeld von Schule. Inzwischen hat der
nen. Während das Urteil vor allem von den         Berliner Senat Berufung gegen das Urteil
Kirchen, den muslimischen Verbänden               eingelegt – somit müssen sich erneut Ge-
aber auch einzelnen Parteivertretern be-          richte mit der Gebetsfrage befassen.
grüßt wurde, stieß es bei anderen Beob-           Abgesehen von der ausstehenden end-
achtern auf entschiedene Kritik. So berich-       gültigen Entscheidung im Berliner Ver-
tete das Portal islam.de über die positiven       fahren könnte sich für die Schulen indes
Stellungnahmen der religionspolitischen           ein pragmatischer Umgang empfehlen –

                                                                                                                                     Seite 6
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Nr. 15/Dezember 2009                                                                                                     ufuq.de
ARABISCHE, TÜRKISCHE UND MUSLIMISCHE STIMMEN

„Verfluchte Freiheit“
EIN GESPRÄCH MIT DEM KULTURWISSENSCHAFTLER
HAMED ABDEL-SAMAD

Hamed Abdel-Samad kam Mitte der 90er Jahre als junger Student aus                               zu trennen, die ich im Koffer mit nach
Ägypten nach Deutschland. Heute ist er als Kulturwissenschaftler am                             Deutschland geschleppt hatte. Religiö-
Institut für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität München tätig.                      se Pflichten und Vorstellungen sind dafür
In seinem Buch „Mein Abschied vom Himmel“ berichtet Abdel-Samad                                 da, dem Menschen Halt zu bieten und
von seiner anfänglichen Orientierungslosigkeit in Deutschland, die bei                          ihm Trost zu spenden, aber wenn diese
ihm dazu führte, dass er zeitweise radikale Deutungen des Islam vertrat.                        aus dem Menschen einen Paranoiden
Im Gespräch mit ufuq.de schildert Abdel-Samad seine Erfahrungen und                             machen, der seiner Umgebung nur noch
formuliert Thesen, wie der Orientierungslosigkeit vieler junger Migranten                       misstraut, dann muss man sich von ihnen
zu begegnen wäre.                                                                               lösen – und genau das habe ich getan.
                                                                                                Ich hörte auf, die Welt in Gläubige und
Herr Abdel-Samad, In Ihrem Buch be-                                                             Ungläubige zu teilen und bestimmte mein
schreiben Sie Ihre Versuche, als ägyp-                                                          Benehmen nicht mehr nach den Regeln
tischer Student in Deutschland Fuß zu                                                           des Koran. Die Religion benutzte ich nicht
fassen. Sie zeichnen das Bild eines ‚dop-                                                       mehr als Schutzschild, und meinen Mit-
pelt befreiten’ jungen Mannes: befreit von                                                      menschen gegenüber trat ich nicht mehr
Schranken und Zwängen, die Sie aus der                                                          als Muslim, sondern als Mensch auf. Ich
ägyptischen Gesellschaft gewohnt waren,                                                         verstand, dass nichts heiliger ist als der
aber auch befreit von sozialen Bindungen                                                        Mensch, seine Würde und seine Freiheit.
und Gewissheiten, die Ihnen zuvor Orien-
tierung gaben. Können Sie erklären, worin                                                       Sie bewegten sich selbst eine Zeit lang
genau die zwei Seiten der ‚neuen Freiheit’                                                      in islamistischen Milieus. Nun wird zuletzt
bestanden?                                                                                      vermehrt darüber diskutiert, wie Ausstei-
Ich komme aus einem Land, in dem es ein                                                         gerprogramme für radikale Islamisten aus-
ungeschriebenes Abkommen zwischen                                                               sehen könnten. Als Vorbild gelten dabei
dem Individuum und der Gesellschaft                                                             Programme, wie es sie schon länger für
gibt: Du akzeptierst die Regeln, aber auch       Hamed Abdel-Samad, Mein Abschied               Rechtsextremisten gibt. Wo könnten diese
die Zwänge der Kollektivgesellschaft und         vom Himmel. Aus dem Leben eines Muslims        Programme ansetzen, um junge extremis-
stellst sie nicht infrage und kannst dafür       in Deutschland, Köln: Fackelträger 2009,       tische Muslime zu einer kritischen Ausei-
                                                 320 S., EUR 19,95
mit der Solidarität und Anerkennung aller                                                       nandersetzung mit starren Denkstrukturen
rechnen. Bei jeder Entscheidung steht dir       konsumiert, oder ich zog mich in die Mo-        und rigiden Deutungen der Religion anzu-
entweder der Vater, der Lehrer, der Imam        schee zurück und wurde noch religiöser          regen?
oder ein Vers aus dem Koran zur Seite.          als früher in Ägypten, um mich vor dieser       Aussteiger suchen immer ein Ort ihres Ver-
Man ist nie alleine, im positiven wie im        ‚verfluchten Freiheit‘ zu schützen! Später      trauens. Deutsche Behörden oder Vereine
negativen Sinne. Die Individualität wird für    dachte ich daher, Freiheit sei wie ein Wa-      können ihnen dieses Vertrauen nicht bie-
Geborgenheit und Halt aufgegeben. Dann          gen, den man nur fahren sollte, wenn man        ten. Effektiver als Aussteigerprogramme
kam ich nach Deutschland und stellte fest,      einen Führerschein hat. Heute denke ich,        wäre ein grundlegender Wandel der Mo-
dass es auch hier ein ungeschriebenes           sie ist wie kaltes Wasser, man stürzt sich      scheevereine. Junge Muslime fühlen sich
Abkommen gibt: ‚Du kannst machen was            hinein und hofft darauf, irgendwann die         zu militanten Gruppen hingezogen, weil
du willst, aber nerv uns nicht damit. Du bist   Balance zu finden.                              sie ihnen Anerkennung und Nestwärme
auf dich allein gestellt, kein Big Brother,                                                     bieten und das Gefühl geben, Teil eines
kein Ratgeber, viel Spaß!‘ Auch wenn der        Was half Ihnen, diese Balance zu finden?        Projektes zu sein. Dagegen wird ihnen so-
Wunsch nach Freiheit und Selbstbestim-          Viele haben versucht mir zu helfen, aber        wohl von der deutschen Gesellschaft als
mung der Grund war, warum ich mich              ich war in meinen starren Denkstrukturen        auch von den traditionellen islamischen
auf den Weg nach Deutschland machte,            gefangen. Später erkannte ich, dass ich         Organisationen das Gefühl vermittelt,
kam mir diese Freiheit am Anfang eher wie       mit mir selbst über meine Welt- und Ge-         ein Problem zu sein. Moscheen könnten
eine Last vor. Welche Seminare ich an der       sellschaftsbilder neu verhandeln muss.          wichtige Orte der Integration sein, wo jun-
Uni besuche, was verboten oder erlaubt          Mir wurde klar, dass mich diese schizo-         ge Muslime lernen können, dass es kein
ist – das entschieden plötzlich nicht mehr      phrene Art zu leben und zu denken iso-          Widerspruch ist, gleichzeitig deutsch und
andere für mich, sondern ich alleine hat-       liert und letztlich dazu führt, dass ich alle   Muslim zu sein. Das geht aber nur, wenn
te die Qual der Wahl. Das führte zunächst       meine Ängste, Versäumnisse und Un-              Imame hierzulande ausgebildet werden
zu Konfusion und moralischer Desorien-          zulänglichkeiten auf Deutschland proji-         und mehr über die deutsche Gesellschaft
tierung: Entweder habe ich die ‚verbote-        ziere. Ich machte eine Art Inventur und         erfahren. Moscheen wären dann nicht nur
nen Früchte des Abendlandes’ exzessiv           beschloss, mich von vielen Vorstellungen        Orte, an denen radikalisierte Muslime zu-

                                                                                                                                  Seite 7
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Nr. 15/Dezember 2009                                                                                                   ufuq.de
ARABISCHE, TÜRKISCHE UND MUSLIMISCHE STIMMEN

rück in die Gesellschaft finden – sie wür-     ten Moscheen und Vereine stehen vor der      Moscheen als einen möglichen Vermitt-
den auch dazu beitragen, dass Jugendli-        Herausforderung, die Extremisten an den      ler zwischen einem potentiellen Ausstei-
che erst gar nicht soweit abdriften. Dabei     Rändern der Gemeinden zu integrieren         ger und den deutschen Institutionen: der
ist Gegenseitigkeit wichtig: Die deutschen     und sie davon zu überzeugen, dass die        Polizei, den Arbeits- und Sozialämtern
Behörden erleichtern den Bau von reprä-        Moscheen die besseren Alternativen sind.     oder Jugendeinrichtungen. Die Erwartung,
sentativen Moscheen, während sich die                                                       dass ein Aussteiger aus der islamistischen
Moscheen verpflichten, offene Orte zu          Ist es nicht problematisch, hier vor allem   Szene sich direkt an deutsche Behörden
sein, wo Missionierung und das aggressi-       auf Moscheen zu setzen? Werden Mo-           und Einrichtungen wendet, ist zu optimis-
ve Werben um junge Muslime keinen Platz        scheen dabei nicht als pädagogische Ak-      tisch. Auch säkulare Emigrantenvereine
haben. Wenn Transparenz und Vertrauen          teure aufgewertet, während gleichzeitig      wären überfordert, denn ihnen fehlt es an
herrschen, können Moscheevereine mit           nicht-konfessionelle Einrichtungen immer     Kenntnissen, Infrastruktur und am Zugang
der Polizei kooperieren, um extremisti-        größere Schwierigkeiten haben, ihrer Rolle   zum Betroffenen. Moscheen sind dage-
schen Aktivitäten vorzubeugen und Aus-         gerecht zu werden – gerade auch vor dem      gen sichtbarer und stellen keine Hürde
steiger zurück in die Gesellschaft zu holen.   Hintergrund von Kürzungen im Sozial- und     dar. Gerade in ihrem informellen Charakter
Es reicht nicht, Extremisten zu verstoßen,     Jugendbereich?                               liegt der Vorteil, wenn es darum geht, radi-
denn dann würden sie untertauchen und          Sicherlich können Moscheen das Prob-         kalisierte Jugendliche zu binden.
sich erst recht radikalisieren. Die modera-    lem nicht alleine bewältigen. Ich sehe die

 materialheft Andi 2 – Den Islamismus vom Islam trennen

 „Andi 2 – Den Islamismus vom Islam tren-
 nen“ heißt ein Materialheft, das der Isla-
 mismusprävention dienen soll. Es wendet
 sich vor allem an muslimische Schüler ab
 der 9. Jahrgangsstufe. Die Unterrichts-
 einheit mit Arbeitsblättern und weite-
 ren Informationen kann kostenlos auf
 Lehrer-Online heruntergeladen werden.
 Verfasst wurde die Materialsammlung
 von den Islamkundelehrern Ahmed Ars-
 lan und Duran Terzi. Das Heft greift den
 Comic „Andi 2“ und die dazugehörige
 Handreichung für den Politikunter-
 richt „Demokratie – Islam – Islamis-
 mus“ auf, die vom Innenministerium in
 Nordrhein-Westfalen      herausgegeben        verbunden“, schreiben die Autoren. „Da-      mente auf, mit denen Vertretern radikaler
 wurden.                                       mit das auch künftig so bleibt, sollte vor   Vorstellungen begegnet werden kann.
                                               allem die muslimische Jugend in ihrer        Dazu gehören auch Hinweise auf religi-
 „Die große Mehrheit der in Deutschland        Position psychologisch und kognitiv ge-      öse Quellentexte, die sich als Bekennt-
 verwurzelten Muslime lehnt jegliche Ge-       stärkt werden.“ Die Übungen informieren      nisse zu religiöser Freiheit und politischen
 walt im Namen der Religion ab und fühlt       über die ideologischen Hintergründe des      Rechten lesen lassen.
 sich dem freiheitlichen Verfassungsstaat      Islamismus und zeigen religiöse Argu-

ARABISCHE, TÜRKISCHE UND MUSLIMISCHE STIMMEN

Andalusian.de – Bloggen für ein
„zeitgemäßes“ Islamverständnis
In seinem Weblog plädiert Hakan Turan für ein Islamverständnis, dass                        Beispiel für die Auseinandersetzung mit
mit dem heutigen Alltag vereinbar ist. Dabei setzt er sich für eine kritische               diesem Thema ist der junge deutsch-tür-
Auseinandersetzung mit traditionellen religiösen Vorstellungen ein, die                     kische Blogger Hakan Turan. In seinem
er nicht zuletzt auch aus theologischer Sicht für überkommen hält.                          Weblog beschäftigt er sich mit Fragen, die
                                                                                            sich Muslimen in alltäglichen wie auch in
Islam ist nicht gleich Islam – gerade un-      terschiedliche Vorstellungen darüber, wie    politischen Auseinandersetzungen stel-
ter jungen Muslimen bestehen sehr un-          sich der Islam im Alltag leben lässt. Ein    len. Besonders interessant ist dabei, dass

                                                                                                                                Seite 8
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ARABISCHE, TÜRKISCHE UND MUSLIMISCHE STIMMEN

er dies aus explizit religiöser Perspektive      den Glaubensabfall gar nicht zur Debatte.      Konzept deutscher Leitkultur beschrieben
tut: Er zeigt Wege für ein Verständnis des       Ebenfalls mit religiösen Argumenten plä-       sind. (…)
Islam auf, das der Lebenswirklichkeit jun-       diert er vielmehr für einen zeitgemäß ver-
ger religiöser Muslime in Deutschland ent-       standenen Islam. Dabei macht er deutlich,      Um plakativ zu werden: Ich meine junge
spricht – auch wenn dies zu Konflikten mit       wie stark sich das Glaubensverständnis         Frauen mit Kopftüchern, die beruflich auf-
der Elterngeneration führen kann.                junger religiöser Muslime, von dem ihrer       steigen wollen, sich in Gesellschaft und
                                                 Eltern und von dem des klassischen is-         Wissenschaft engagieren und problemlos
Der Name des erst im Sommer ge-                  lamischen Rechts unterscheiden und der         und selbstbewusst mit Männern umgehen
gründeten      Weblogs      ist    Programm:     Islam trotzdem wesentlicher Bestandteil        können. Und ich meine junge Frauen mit
Andalusian.de verweist auf die Blütezeit ei-     ihrer Identität bleiben kann. Wir dokumen-     T-Shirt und ohne Kopftuch, die das rituelle
nes offenen Islamverständnisses im mittel-       tieren im Folgenden einen Ausschnitt aus       Gebet verrichten und im Ramadan fasten
alterlichen Spanien. So ist es kein Zufall,      seinen Überlegungen: „Im Türkischen sagt       – diese Identitäten werden in keiner reinen
dass sich Turan, der auch im Zukunftsfo-         man, dass die Zeit der beste Koranexeget       Theorie wirklich erfasst, was im Übrigen
rum Islam der Bundeszentrale für politi-         sei (‚zaman en iyi müfessirdir’). Diese hat    ein Hinweis auf die Weltfremdheit jener
sche Bildung aktiv ist, in einem seiner teils    unsere Väter und Mütter nach Deutsch-          Theorien ist. Und doch hat die Zeit gezeigt,
essayistischen Beiträge mit einer Frage          land geführt. Sie hat hier für einen Neuan-    dass solche Identitäten möglich sind – viel-
beschäftigt, die Muslimen immer wieder           fang in ihrem Leben gesorgt. Sie ist dafür     leicht unter Abstrichen in manchen traditi-
gestellt wird – der Frage nach der Apos-         zuständig, dass wir in einem deutsch-tür-      onellen Tugenden, aber dafür unter Zuge-
tasie, dem Abfall vom Glauben, der nach          kischen Umfeld sozialisiert wurden. Und        winn und Stärkung anderer, nicht minder
klassischer islamischer Rechtslehre, dem         sie ist letztlich auch dafür verantwortlich,   wertvoller Tugenden. Ich glaube, dass der
fiqh, streng zu bestrafen ist. Viele Gelehrte,   dass sich dadurch unsere Wahrnehmung           Kern des Islam flexibel und universal ge-
wie der auch unter jungen europäischen           von Religion und Tradition oftmals dras-       nug ist um in all dem Wandel im Gläubigen
Muslimen sehr populäre Scheich Yusuf al-         tisch von der unserer Eltern unterscheidet.    eine bleibende islamische Grundessenz zu
Qaradawi, halten sogar an der Todesstrafe        Ich meine damit nicht die jungen Leute, die    ermöglichen.“
für dieses „Verbrechen“ fest und begrün-         sich von ihrer Religion ohnehin distanziert
den dies aus den religiösen Quellen. Für         haben. Ich meine damit jene Muslime, die
Turan hingegen steht sowohl aus theolo-          ebenso islamisch wie westlich leben wol-
gischer Sicht, nicht zuletzt aber auch aus       len und Synthesen hervorbringen, die in
„Vernunftgründen“ eine Bestrafung für            keinem Lehrbuch der Fiqh oder in einem

 OFFENER BRIEF AN BEKKAY HARRACH

 Im Weblog andalusian.de (siehe oben-                                                           über der Mehrheitsgesellschaft auf eine
 stehenden Artikel) findet sich auch ein                                                        würdige und glaubhafte Weise repräsen-
 offener Brief, den Hakan Turan an Bek-                                                         tieren. Zahllose Muslime aller Schichten
 kay Harrach geschrieben hat. Dessen                                                            arbeiten hart dafür, ein anständiges Le-
 Drohbotschaften aus Afghanistan sorg-                                                          ben zu führen und das Zusammenleben
 ten kurz vor den Bundestagswahlen für                                                          mit der Mehrheitsgesellschaft zu verbes-
 große mediale Aufmerksamkeit: In Vide-                                                         sern. Sie übernehmen gesellschaftliche
 os hatte der junge Deutsch-Marokkaner                                                          Verantwortung in allen Bereichen und
 Anschläge in Deutschland angekündigt,                                                          schicken sich an, ihrer Jugend vorzule-
                                                  Der Deutsch-Marokkaner Bekkay Harrach
 sollte die Bundesregierung ihre Haltung          drohte vor den Bundestagswahlen in einem      ben, wie man als Muslim in Deutschland
 zum Krieg in Afghanistan nicht ändern.           Video mit Anschlägen in Deutschland.          zu einem produktiven Mitglied der Ge-
 Dabei appellierte Harrach ausdrücklich           youtube.com                                   sellschaft wird. Ihr hingegen stellt genau
 auch an die Muslime in Deutschland.                                                            das Gegenteil einer solchen gelingenden
 Darauf reagierte Turan mit seinem of-           wollen, wie sie im Falle eines Anschlags       Existenz dar. Nur wer gar keinen anderen
 fenen Brief, der von anderen Bloggern           vorgehen sollen, als blanke Anmaßung           Weg gefunden hat, seinem Leben einen
 aufgegriffen und verbreitet wurde. Tur-         und Unverschämtheit. Die islamische            Sinn und das Gefühl von Bedeutsamkeit
 ans Abrechnung mit dem radikalen Isla-          Jugend in Deutschland will einen guten         zu geben, würde in hoffentlich sehr selte-
 mismus sprach ihnen offenbar aus der            Schulabschluss, einen guten Beruf und          nen Fällen der Versuchung erliegen, diese
 Seele. Turan schrieb an Bekkay Harrach:         aufsteigen. Sie will ihre Familien stolz ma-   Bedeutung als lebende Bombe für terro-
                                                 chen und ihnen ein besseres Leben er-          ristische Zwecke zu erlangen. Der Islam
 „Ich empfinde deinen Versuch, die islami-       möglichen – ja, sie will leben und leben       ist besser als das. Der Islam braucht das
 sche Jugend in Deutschland anzuspre-            lassen, nicht sterben und töten! Und sie       nicht.“
 chen und ihnen Anweisungen geben zu             will ihren Glauben und ihre Kultur gegen-

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ARABISCHE, TÜRKISCHE UND MUSLIMISCHE STIMMEN

„Immer dasselbe Gerede“
Debatten um die Popsängerin Bülent Ersoy

Sie ist ebenso prominent wie provokant: Die türkische Sängerin Bülent                           deren scharf angegriffen. So bezeichnete
Ersoy nutzt ihre Popularität, um gesellschaftliche und politische Tabus                         ein Nutzer des deutsch-türkischen Inte-
anzusprechen. Auch in Deutschland stößt sie damit Diskussionen an.                              netforums „Turkdunya“ die Sängerin als
                                                                                                „verabscheuungswürdige Kreatur“. Und
Bülent Ersoy ist ein Star – in der Türkei        Krieg der Anderen würde ich mein Kind          auf „turkish-talk.de“ beschrieb ein Nutzer
ebenso wie unter deutschtürkischen Ju-           nicht unter die Erde schicken. Das wird        die Aussagen der Sängerin als „geistiger
gendlichen. Wegen ihrer sexuellen Identi-        doch alles von Leuten am grünen Tisch          Müll“, wobei Ersoys Sexualität auch hier
tät ist die Sängerin und Komponistin von         bestimmt, die dann entscheiden, dass ein       Anlass für weitere Beschimpfungen bot.
Arabeskmusik allerdings sehr umstritten.         paar Kinder sterben sollen“, erklärte die      Auf der anderen Seite erntet Ersoy auch

 Popstar Bülent Ersoy: „Blut, Tränen, Tote ... und dann immer diese Klischees.“

Die als Mann geborene Künstlerin ließ be-        Sängerin in der Fernsehshow „Popstar           viel Zuspruch. Als Sängerin „mit einer un-
reits 1980 eine Geschlechtsumwandlung            Alaturka“, in der sie als Jurorin mitwirkte.   glaublichen Stimme“ wird sie von einem
vornehmen. Das damalige Militärregime            Von der in der Türkei hoch angesehenen         Nutzer des Forums beschrieben: „Es
verweigerte der schon zu diesem Zeit-            Armee hält sie hingegen gar nichts: „Im-       wäre echt schade, wenn sie wegen dieser
punkt sehr erfolgreichen Sängerin darauf-        mer dasselbe Gerede. Kinder sterben, es        dummen Anklage ins Gefängnis müsste“.
hin über acht Jahre jeglichen öffentlichen       gibt Blut, Tränen, Tote ... und dann immer     Zustimmung kommt auch von kurdischen
Auftritt. Ersoy verließ die Türkei und leb-      diese Klischees.“                              Migranten. So werden die Äußerungen Er-
te in dieser Zeit vorübergehend auch in                                                         soys in Online-Foren kurdischer Jugend-
Deutschland.                                     Diese Aussagen sorgten für einen Eklat,        licher anerkennend zur Kenntnis genom-
                                                 schließlich gilt die Kritik am Militär noch    men: „Spätestens seit dem Ausbruch des
Auch danach war Ersoys Transsexualität           heute für viele Türken als Vaterlandsverrat.   Vulkans namens Bülent Ersoy ist auch
immer wieder Grund für Anfeindungen vor          Ersoy selbst musste sich für ihre Aussa-       das türkische Militär nicht mehr jenseits
allem aus dem nationalistischen Lager.           gen vor Gericht verantworten, schließlich      von Kritik“, heißt es zum Beispiel in einem
1989 wurde sie auf offener Bühne ange-           habe sie, so der Vorwurf der Staatsanwalt-     Beitrag bei „kurdmania.com“. In diesen
schossen und schwer verletzt. Ihre Fan-          schaft, den Ruf der Armee geschadet. Erst      Auseindersetzungen ist es nicht zuletzt die
gemeinde konnte Ersoy trotzdem halten            im Dezember 2008 wurde sie schließlich         Popularität Ersoys, die der Sängerin einen
– ebenso wir ihre Vorliebe für provokative       freigesprochen.                                gewissen Schutz bietet und ihr das offene
politische Positionen. So rief sie im ver-                                                      Bekenntnis zur Transsexualität und zu pro-
gangenen Jahr während einer Militäroffen-        Die Sängerin polarisiert allerdings nicht      vokativen politischen Positionen leichter
sive gegen die kurdische PKK im Nordirak         nur im Heimatland. Auch unter Migran-          macht. Das gilt in der Türkei ebenso wie in
die türkischen Mütter dazu auf, ihre Söhne       ten türkischer Herkunft in Deutschland         Deutschland.
nicht zum Militär zu lassen: „Für diesen         wird sie von den einen verehrt, von an-

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ARABISCHE, TÜRKISCHE UND MUSLIMISCHE STIMMEN

 ISLAMISCHE DISKUSSION UM DEN NIQAB

 Der Niqab ist eine Form der Verschlei-
 erung, die nur einen Augenschlitz offen
 lässt. In Deutschland ist der Niqab sehr
 selten. Dennoch gilt er auch einigen
 deutschen Muslimen als einzig akzep-
 table Form der Bedeckung.

 In Ägypten hat nun im Oktober der
 oberste Islamgelehrte des Landes,
 Scheich Muhammad Tantawi, eine De-
 batte angestoßen, in der sehr unter-
 schiedliche Vorstellungen darüber deut-
 lich werden, wie religiöse Vorschriften
 zu interpretieren sind und wie eine „kor-
 rekte“ Verhüllung auszusehen hat. Tan-
 tawi hatte sich nach dem Besuch einer
 Schulveranstaltung, bei der er auch ein
 Niqab-tragendes Mädchen anwesend
 war, gegen den Niqab ausgesprochen.
 Dieser sei eine traditionalistische Beklei-
 dungsform aus, wie er sagt, vorislami-
 scher Zeit und deshalb „unislamisch“.

 Das Kopftuch hingegen betrachtet er           „Nicht ohne meinen Schleier“: Video-Reportage auf faz.de über die deutsche
 – und mit ihm wohl die meisten Mus-           Muslimin Attia Nuur Ahmad-Hübsch
 lime – als religiöse Pflicht. Das sehen
 auch viele Frauen und Mädchen so,             den Erwerb von Bildung gewährleistet.        sogar von sehr religiösen Muslimen ver-
 die selbst kein Kopftuch tragen. Den-         Im Gegensatz zu solch liberaler Inter-       standen werden. Zu Wort melden sich
 noch gehen die Meinungen auch über            pretation hält Scheich Tantawi am Kopf-      dabei keineswegs nur islamische Ge-
 das Kopftuch weit auseinander. Das            tuch fest. Den Niqab jedoch würde er in      lehrte. In Diskussionsrunden im Fernse-
 gilt sogar für die islamischen Gelehrten:     öffentlichen Einrichtungen am liebsten       hen und in zahlreichen Weblogs kom-
 Zwar ist das Kopftuch für die Mehrheit        verboten wissen. Dafür erntet er nun         men auch andere Stimmen zu Wort,
 der Gelehrten ein wichtiger Teil des Is-      heftige Kritik von islamischen Gelehr-       die auf die grundsätzliche Bedeutung
 lam – obwohl der Koran selbst dazu nur        ten, die dem besonders strengen und          dieser Frage aufmerksam machen.
 sehr vage Formulierungen bereithält.          vor allem in Saudi-Arabien dominieren-       Auch in Frankreich oder Dänemark
 Dagegen erklären andere Gelehrte wie          den wahhabitischen Islamverständnis          gab es in den vergangenen Monaten
 etwa der ehemalige Mufti von Marseille,       folgen. Sie sehen in der Ganzkörper-         Diskussionen darüber, ob Niqab und
 Soheib Bensheikh, dass es bei der Aus-        verhüllung den Ausdruck einer beson-         Burka grundsätzlich verboten werden
 legung der islamischen Quellen weniger        ders ergebenen Haltung gegenüber             sollten. In Saudi-Arabien hat Tantawi
 um den Wortlaut als um die Intention          Gott. Ganz zu schweigen von radikal-         mit seinem Vorstoß dagegen auch jene
 des Verses gehen müsse: Sinn der ko-          islamistischen Strömungen wie den Ta-        Stimmen auf den Plan gerufen, die den
 ranischen Aufforderung, die Frauen mö-        liban, denen selbst der Niqab noch zu        Islam in Bedrängnis sehen und umso
 gen Tücher über sich bzw. „ihre Brust“        freizügig ist.                               entschiedener auf eine rigide Auslegung
 ziehen (Koran 33:59 und 24:31), sei                                                        seiner Quellen drängen.
 der Schutz der Frauen gewesen. Diese          Deutlich wird an dieser durch Tantawi
 Funktion, so Bensheikh, werde heute           in Ägypten angestoßenen Debatte, wie
 weniger durch die Bekleidung als durch        unterschiedlich die islamischen Quellen

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FILMTIPP

„Evet, ich will“
Komödie mit pädagogischem Wert

 „Aber meine Eltern dürfen nichts wissen“: Szene aus dem Film Evet, ich will

Der Film „Evet, ich will“ spielt bewusst mit Klischees – und ist gerade                             oder nationaler Grenzen möglich werden,
deswegen unverkrampft und erhellend. Ein Besuch mit Schulklassen                                    ohne dass es zum großen Bruch mit der
und Jugendgruppen eignet sich als Einstieg in die Diskussion.                                       jeweiligen Gemeinschaft kommen muss.
                                                                                                    Natürlich ist diese Darstellung angesichts
Zwei    „gemischte“     Hochzeiten,      ein     solche Heirat zu verhindern, sperrt er sei-        der vielen realen Konflikte, die derzeit de-
deutsch-türkisches schwules Pärchen,             ne Tochter sogar ein. Undenkbar auch,              battiert werden, allzu harmonisch – das
ein türkischer Möchtegern-Bräutigam              dass Dirks öko-feministische Mutter dem            soll sie aber auch sein. „Ja, ich will“ ist
und eine in die Jahre gekommene „wilde“          heiratsbedingten Übertritt ihres Sohns             ein charmantes Bekenntnis zum deutsch-
deutsche Ehe – dies ist das Setting der          zum Islam etwas Positives abgewinnen               türkischen Selbstverständnis und ein Plä-
Komödie „Evet, ich will“ von Regisseur Si-       kann. Bis sich auch der Vater gleich mit           doyer dafür, dass hier in den kommenden
nan Akkus, die gerade in den Kinos läuft.        beschneiden lässt – wenngleich aus eher            Generationen doch bitteschön zusam-
Auf ihrer Suche nach dem Glück ecken             sexuellen als religiösen Motiven.                  menwachsen möge, was inzwischen eh
die jungen deutschen, türkischen und                                                                zusammen gehört. Sehr symbolträchtig
deutsch-türkischen Verliebten permanent          Bevor sich alles irgendwie und ganz prag-          endet denn auch der Film, der sich gut für
an: Die Traditionen, Religionen, Ressenti-       matisch zum Guten fügt, muss jeder ein-            einen Besuch mit der Schulklasse oder der
ments und politischen Überzeugungen der          mal über seinen Schatten springen. Und             Jugendgruppe eignet: Die Kamera folgt ei-
Eltern und Großeltern stellen ihre Liebe auf     das macht den Film auf angenehm unan-              nem älteren türkischen Ehepaar, dessen
die Probe.                                       gestrengte Weise pädagogisch wertvoll.             abendlicher Heimweg sie am Deutschen
                                                 Neben der humoresken Vorführung ver-               Historischen Museum in Berlin Mitte vor-
Undenkbar erscheint es zum Beispiel dem          schiedenster und wechselseitiger kultu-            bei führt.
altlinken türkischen Vater, seine liberal er-    reller oder nationalen Klischees zeigt der
zogene Tochter könne den Sohn traditio-          Film, wie privates Glück und individuelle
nalistischer Kurden heiraten. Die könnten        Freiheit durch kleine Überschreitungen
ja „nicht einmal richtig deutsch.“ Um eine       kultureller, politischer, religiöser, familiärer

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DOKUMENTATION

Zukunftsforum Islam: Islam und Grundgesetz
„Wie können Muslime und Nicht-Muslime           Auch der Psychologe Haci-Halil Uslucan
die Zukunft auf Grundlage des Grund-            ging ausführlich auf das Thema Bildung
gesetzes gemeinsam gestalten?“ Diese            und Erziehung ein. In seinem Vortrag „Is-
Frage stand im Mittelpunkt der Veranstal-       lamisches Leben im Alltag: Familie, Er-
tung „60 Jahre Grundgesetz: Muslime im          ziehung und Schule“ fasste er wichtige
demokratischen Verfassungsstaat“, die im        Merkmale der Werterziehung in religiösen
Mai 2009 vom Zukunftsforum Islam, einer         Familien zusammen und beschrieb unter-
Initiative der Bundeszentrale für politische    schiedliche Sozialisationserfahrungen von
Bildung/bpb, organisiert wurde.                 Kindern, deren Eltern besonderen Wert
                                                auf eine religiöse Erziehung legen. Zwar
In den jetzt online veröffentlichten Vorträ-    gebe es auch hier sehr unterschiedliche
gen der Islamwissenschaftler und muslimi-       Vorstellungen darüber, was im Einzelnen
schen Referenten ging es unter anderem          unter islamischen Werten verstanden wird.
auch um Fragen der politischen Bildungs-        Für religiöse Eltern und Kinder, so Uslu-
arbeit mit jungen Muslimen. So machte           can, stelle der Islam jedoch eine wichtige
Prof. Jamal Malik auf die Herausforderun-       Orientierung im Alltag dar.
gen aufmerksam, die sich in der Bildungs-
arbeit aus den „vielfältigen Formen einer       Eine ausführliche Dokumentation der
neuen Religiosität“ unter Jugendlichen          Veranstaltung finden Sie auf der Website
ergäben. Gleichzeitig warnte er davor,          der bpb.
die Bedeutung der Religion als Faktor der
Identität zu überschätzen. Die „Überisla-
misierung“ der Migrationsdebatte begüns-
tige letztlich einen Rückzug der Migranten
auf eine gemeinsame islamische Identität,
die nicht selten auch mit religiösem Puris-
mus einhergehe.

STUDIE

Islam im Schulunterricht
Mit dem Stand der Diskussionen um den                                                        den vergangenen Jahren in verschiedenen
Islamunterricht in der Schule beschäftigen                                                   Bundesländern durchgeführt wurden. Die
sich die beiden Islamwissenschaftler Irka-                                                   Auswertung von Lehrplänen, Unterrichts-
Christin Mohr und Michael Kiefer in ihrer                                                    beobachtungen und Lehrergesprächen
aktuellen Studie „Islamunterricht, Islami-                                                   bietet dabei die Grundlage, um Perspek-
scher Religionsunterricht, Islamkunde“.                                                      tiven für eine bundesweite Einführung des
Zwar sind sich fast alle Akteure mittlerweile                                                Islamunterrichts entwickeln zu können.
darüber einig, dass es einen islamischen
Religionsunterricht an öffentlichen Schulen                                                  Irka-Christin Mohr/Michael Kiefer (Hg.),
geben soll.                                                                                  Islamunterricht, Islamischer Religions-
                                                                                             unterricht, Islamkunde. Viele Titel – ein
Unterschiedliche Vorstellungen bestehen                                                      Fach?, Bielefeld: Transcript 2009, 240 S.,
jedoch unter anderem darüber, wer den                                                        EUR 24,80
Unterricht (Ausbildung der Lehrenden) mit
welchem Lernziel (islamkundlich oder be-
kenntnisorientiert) auf der Grundlage wel-
cher Materialien (Schulbücher) durchfüh-
ren soll. Vor diesem Hintergrund gibt das
Buch einen Überblick über die bisherigen
Schulversuche und Modellprojekte, die in

                                                                                                                             Seite 13
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