Ufuq.de JUGENDKULTUR, RELIGION UND DEMOKRATIE - Bundeszentrale für politische Bildung
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ufuq.de ufuq.de Nr. 15/Dezember 2009 JUGENDKULTUR, RELIGION UND DEMOKRATIE POLITISCHE BILDUNG MIT JUNGEN MUSLIMEN Nr. 15/Dezember 2009 EDITORIAL Liebe Leserinnen und Leser, in der Berichterstattung zur Bundestagswahl standen die The- men Islam und Integration nicht gerade im Mittelpunkt des Inte- resses. So waren es vor allem muslimische Beobachter, die das Wahlergebnis mit Blick auf den zukünftigen Status von Islam und Muslimen in Deutschland interpretierten. Dabei kamen sie zu unterschiedlichen Schlüssen: Während die einen auf die Fortsetzung des Dialogprozesses hoffen, wie er unter dem ehemaligen Innenminister Wolfgang Schäuble mit der Deutschen Islam Konferenz begonnen wurde, befürchten an- dere unter einer schwarz-gelben Regierung ein Wiederaufleben nationalistischer und kulturalistischer Debatten. Die Diskussion um eine „deutsche Leitkultur“ ist hier noch in schlechter Erinne- rung. (Ein Überblick über verschiedene Stimmen zum Wahler- WELCHER ISLAM? gebnis findet sich in der Sonderausgabe des Newsletters zur Bundestagswahl auf bpb.de.) Die Diskussion um den islamischen Religionsunterricht geht weiter (Seite 2) Deutlich wurde in diesen Reaktionen, dass es unter Muslimen in Deutschland sehr unterschiedliche Sichtweisen und eben auch Parteipräferenzen gibt. Darauf hatte zuletzt auch Navid Kermani INHALT in seinem Buch „Wer ist Wir. Deutschland und seine Muslime“ eindringlich hingewiesen. Darin schrieb er: „Ich bin Muslim. Der HINTERGRUND Satz ist wahr, und zugleich blende ich damit tausend andere Din- · Welcher Islam? Diskussionen um den Religionsunterricht 2 ge aus, die ich auch bin und die meiner Religionszugehörigkeit · IGMG: „Religionsunterricht ist ein Grundrecht“ 5 widersprechen können“. · Beten in der Schule? Zum Berliner Gerichtsurteil 6 Diese Heterogenität spiegelt sich auch in den unterschiedlichen Muslimische, türkische und arabische Stimmen Ansichten wider, die selbst unter sehr religiösen Muslimen zu ge- · „Verfluchte Freiheit“: Hamed Abdel-Samad im Interview 7 sellschaftlichen und politischen Themen und Fragen des Islam · Andalusian.de – Bloggen für ein „zeitgemäßes“ Islamverständnis 8 vertreten werden. Zum Beispiel, wenn es um den Niqab, den Ge- · „Immer dasselbe Gerede“: Die türkische Diva Bülent Ersoy 10 sichtsschleier, oder um den islamischen Religionsunterricht geht · Islamische Diskussion um den Niqab 11 (siehe S. 2 + 11 in diesem Newsletter). PUBLIKATIONEN Entscheidend für die Zukunft des Islam in Deutschland ist aber · Im Kino: „Evet, ich will“ 12 nicht nur, wie Muslime untereinander über die Bedeutung von · Zukunftsforum Islam: Islam und Grundgesetz 13 Religion diskutieren. Nicht weniger bedeutsam ist die Haltung der · Studie: Islam im Schulunterricht 13 nicht-islamischen Mehrheitsgesellschaft. Darauf hat Jörg Lau in · DIK über Förderung von Integration und Imamen 14 einem Beitrag für die Wochenzeitung Die Zeit vor dem Hinter- · Islamkritik und -feindlichkeit 15 grund der Debatten über die Äußerungen von Thilo Sarrazin hin- · Die „dritte deutsche Einheit“ 15 gewiesen: Es sei eine „Kernfrage der Gesellschaftpolitik“, schrieb · Online-Plattform zum Newsletter auf bpb.de 15 Lau, wie sich die Mehrheitsgesellschaft aufstelle gegenüber „den Neuen und ihren Kindern, die hier geboren sind“. Zu diesen Auseinandersetzungen möchten wir mit unserem Newsletter beitragen. Eine Publikation von: In diesem Sinne wünschen wir eine interessante Lektüre, die Redaktion ufuq.de
Nr. 15/Dezember 2009 ufuq.de HINTERGRUND Welcher Islam? Die Diskussion um den islamischen Religionsunterricht geht weiter Einen ordentlichen islamischen Religionsunterricht gibt es in Deutsch- IGMG, die mitgliederstärkste Organisa- land bisher nicht. Unter anderem ist nicht abschließend geklärt, welches tion des Islamrates, steht weiterhin unter Ziel ein solcher Unterricht mit welchen Lehrmaterialien verfolgen soll. Islamismusverdacht und wird durch Ver- Der gegenwärtig ausgetragene innermuslimische Streit um das Schul- fassungsschutzbehörden von Bund und buch Saphir 5/6 (vgl. NL 13/14) zeigt zudem, dass es hier um weit mehr Ländern beobachtet – auch dabei spielt als nur um ein Schulbuch geht: Zur Debatte stehen unterschiedliche und die ideologische Anbindung an türkische miteinander konkurrierende Islamverständnisse. Besonders deutlich wird Organisationen und Parteien eine große dies an einem Beitrag von Harun Behr, einem der Herausgeber von Saphir Rolle (siehe Kasten). Eine weitere wich- 5/6, mit dem dieser auf Kritik seitens der Islamischen Gemeinschaft Milli tige Frage ist die nach den Zielen eines Görüs (IGMG) reagiert. islamischen Religionsunterrichts und ei- ner dementsprechenden Gestaltung der Lehrmaterialien: Wie kann ein Unterricht Die Einführung und Gestaltung eines islami- Islam und die Muslime in Deutschland? aussehen, der islamkundliches Wissen schen Religionsunterrichts an öffentlichen Das heißt in diesem Fall: Welche islami- vermittelt und gleichzeitig islamischer Be- Schulen ist eines der zentralen Themen schen Organisationen können mit den kenntnisunterricht sein soll? für die Zukunft des Islam in Deutschland. staatlichen Stellen in der Ausbildung von Hier geht es um junge deutsche Musli- Religionslehrern, der Bestimmung der In- Dieses Ziel verfolgt das Schulbuch Saphir me, die in den kommenden Jahrzehnten halte des Unterrichts und der Auswahl der 5/6. Religionsbuch für junge Musliminnen den Islam in Deutschland prägen werden. Lehrmaterialien zusammen arbeiten? und Muslime, das im Sommer 2008 er- Noch sind allerdings wesentliche Fragen schienen ist. Herausgeber und verantwort- zum Unterricht offen. So gibt es bis heute Bisher gibt es lediglich einen alevitischen lich für die pädagogische und didaktische in keinem Bundesland einen ordentlichen Religionsunterricht. Vorformen eines sun- Gesamtkonzeption sind die Islamwissen- islamischen Religionsunterricht. Da dieser nitischen Religionsunterrichts werden in schaftler und Religionspädagogen Lamya laut Art. 7 III des Grundgesetzes in Über- Modellversuchen erprobt. Fortwährend Kaddor, Rabeya Müller und Harry Harun einstimmung mit den Grundsätzen der je- umstritten ist dabei die Anerkennung Behr. Über dieses Buch ist unter Muslimen weiligen Religionsgemeinschaft stattfinden einzelner islamischer Organisationen als in Deutschland ein Streit entbrannt, über muss, ist eine Zusammenarbeit mit islami- Religionsgemeinschaft, in deren Verant- den wir in der letzten Ausgabe des News- schen Organisationen unabdingbar. Auch wortung der Religionsunterricht durchzu- letters berichteten. In einer öffentlichen hier stellt sich allerdings jene Frage, die führen wäre. So wird etwa der DITIB vor- Stellungnahme hatte die IGMG deutliche viele Auseinandersetzungen um den Islam gehalten, zu sehr Interessen der Türkei in Kritik an der Ausrichtung des Buches ge- bis heute bestimmt: Wer repräsentiert den Deutschland im Auge zu haben. Und die äußert und erklärt, das Buch sei für den islamkundlichen nur bedingt und für einen bekenntnisorientierten Unterricht gar nicht geeignet. Bemängelte wurde von Seiten der IGMG vor allem, dass in Saphir zu viel Distanz zum Islam als Religion zum Ausdruck komme. Entgegen den Ansprüchen „der Muslime“ an den Religionsunterricht gehe es den Autoren des Buches nicht um die Verkündung von Glaubenswahrheiten, sondern um die Vermittlung islamkundli- cher Informationen. Ein solcher Unterricht widerspreche sowohl dem „Selbstver- ständnis und den Erziehungszielen der muslimischen Religionsgemeinschaften“ als auch den Vorgaben des Grundgeset- zes. Ein Beispiel für die islamkundliche Ausrichtung des Buches sei die „fehlende Vermittlung der Praxis des Islams“. Über „In Deutschland leben“: Blick in das Schulbuch Saphir 5/6 die Einzelheiten, die „äußere Form“ und die Art und Weise der Verrichtung der Gebete Seite 2
Nr. 15/Dezember 2009 ufuq.de HINTERGRUND: Welcher Islam? Bisher nur als Modellversuch: islamischer Religionsunterricht erführen die Schüler wenig, stattdessen wider. Sie beansprucht, mit ihren Positio- In Behrs Erwiderung wird deutlich, dass stünde „der Aspekt der geistigen Zuwen- nen „die Muslime“ – oder zumindest eine es in dem Streit nicht zuletzt darum geht, dung zu Gott“ im Vordergrund. Es ent- Mehrheit der Muslime in Deutschland – zu wie der Islam in Deutschland zukünftig ge- stünde der Eindruck, so die IGMG, dass vertreten. Dabei betont die IGMG die Be- dacht und gelebt werden soll. Während in „das Gebet letztendlich nur zur seelischen sonderheit des Islam und hebt dement- der Moschee zum Beispiel gelehrt würde, Bindung und Erinnerung an Allah dient sprechend die Unterschiede zu anderen wie man als Muslim fünfmal täglich rich- und die rituelle Form sowie die einzelnen Religionen und der nicht-muslimischen tig bete, ginge es ihm, so Behr, in einem Pflichten dabei nicht von Bedeutung“ Umwelt hervor. Damit zieht sie sich im- bekenntnisorientierten Schulunterricht vor seien. Auch die Darstellung des Islam im mer wieder den Vorwurf zu, einer Integ- allem darum, dass sich die Schüler den Verhältnis zu anderen Religionen wird von ration von Muslimen im Wege zu stehen. Glauben und die religiösen Inhalte in einer der IGMG in diesem Tenor kritisiert: Der Die IGMG selbst verfolgt demgegenüber reflektierenden Form aneignen. Behr zitiert Islam erscheine hier nur als „einer von das Konzept, dass Integration nur auf der dazu den berühmten islamischen Denker vielen Wegen“, wobei die Grenzen zwi- Basis eines ausgeprägten eigenen (religi- Maulana, dem zufolge „die Seele des Ge- schen den Religionen verwischt würden. ösen) Selbstverständnisses gelingen kön- bets“ und der Glaube wichtiger seien als Erst auf der Grundlage eines eigenen re- ne. Mit ihrem Islamverständnis vertritt sie das Gebet selbst. Dementsprechend ste- ligiösen Selbstverständnisses könne aber dabei mehrheitlich konservativ-traditionell he im islamischen Religionsunterricht der aus Sicht der IGMG eine Annäherung an geprägte religiöse Milieus. Hier sind das Muslim als Mensch im Vordergrund. Das andere Religionen erfolgen. Zudem wür- Festhalten an Ritualen, äußeren Formen könne aber nur gelingen, wenn Lehrplä- de in Saphir das „klassisch Islamische“, und Konventionen – etwa beim Gebet, ne und Lehrkräfte keinen Zweifel daran so heißt es in der Erklärung der IGMG, als dem Tragen des Kopftuches oder der Ge- aufkommen ließen, „dass die Menschen „eher unästhetisch“ dargestellt und solle schlechtertrennung beispielsweise in der nicht dazu da sind, Muslime zu werden, offenbar „aus dem öffentlichen Leben ver- Jugendarbeit – oft wichtiger als der Bezug sondern dass der Islam dazu da ist, aus bannt“ werden. Stattdessen würde den auf universelle Werte (mehr zur IGMG s. Menschen wahre Menschen zu machen, Schülern im Kapitel „Muslime in Deutsch- Kasten). auf die die islamischen Kriterien von ‚Reife’ land“ ein „alternatives Islamverständnis“ (kamal) und ‚Güte’ (salah) zutreffen“ (S. 9 und die ehemalige Bundestagsabgeord- Inzwischen hat Harun Behr, Professor für in Behrs Beitrag). nete Lale Akgün (SPD) als Modellfigur vor- islamische Religionslehre an der Universi- gestellt. „Die breite Masse der Muslime“, tät Erlangen-Nürnberg und Mitherausge- Als Muslim, so Behr, reiche es ihm dabei so die IGMG, würde sich hingegen fragen, ber von Saphir, ausführlich auf die Kritik nicht aus, sich auf „Autoritäten zu beru- ob nun ausgerechnet Akgün „die am bes- der IGMG geantwortet. In einem Beitrag fen“. Vielmehr nehme er für sich in An- ten geeignete Person ist, stellvertretend der „Zeitschrift für die Religionslehre des spruch, Dinge nachprüfen und selbst über für die Muslime in Deutschland abgebildet Islam“ wirft er der IGMG in mitunter sehr seinen Umgang mit ihnen entscheiden zu zu werden“. Die Stellungnahme der IGMG ironischem Tonfall eine ideologische Lesart wollen. Der Koran selbst gebe dem Men- zum Religionsunterricht spiegelt den iden- des Buches vor: Ihr Urteil habe schon fest- schen die Freiheit zu der Entscheidung, titätspolitischen Ansatz der Organisation gestanden, bevor man es gelesen habe. „wie er mit Religion verfahren möchte“. Seite 3
Nr. 15/Dezember 2009 ufuq.de HINTERGRUND: Welcher Islam? Auch in ihrer Religiosität sehe er die mus- flussen“ (S. 11). Und in dieser Welt sei die Werte als Orientierung einer individuellen limischen Schüler und Schülerinnen daher Existenz anderer Religionen nun einmal Lebensgestaltung von Muslimen. Bei der „als Individuen mit eigenem Kopf, als Men- ebenso eine Realität wie deren Nähe zu- innermuslimischen Diskussion um Saphir schen mit Herz, als Handelnde“. Die Frage einander. Es gehe in Saphir, so begegnet 5/6 geht es also um weit mehr als um ein nach sozialer Gerechtigkeit, so spitzt Behr Behr der Kritik der IGMG, also gar nicht Schulbuch. Vielmehr ist der Streit Teil ei- seine Aussage zu, sei ihm wichtiger als die um religiöse Inhalte und Glaubenswahrhei- nes Ringens um die Verständigung und nach islamischer Kleidung (S. 7). ten anderer Religionen, sondern um Fra- um die Auseinandersetzung darüber, wie gen von Jugendlichen nach religiöser und Muslime den Islam verstehen und leben Auch aus pädagogischer Sicht habe es kultureller Identität in einer sich ändern- können. Vor diesem Hintergrund ist auch wenig Sinn, den Schülern vorgefertigte den Welt. Und in dieser sei interreligiöse die Replik von Mustafa Yeneroglu, Gene- und abfragbare Wahrheiten über ihre Re- Pluralität bzw. das Zusammenleben auf ralsekretär der IGMG, zu verstehen (siehe ligion vorzusetzen. Lernwirksam sei viel- der Basis des jeweils eigenen Bekennt- Kasten). Anlass seines Schreibens war ein mehr das Unerwartete und im Unterricht nisses nun einmal eine „Schlüsselfrage Bericht über die Diskussion zu Saphir 5/6 Reflektierte. Als durch die „Weisungen des gesellschaftlichen Friedens“ (S. 21). in der Ausgabe 13/14 dieses Newsletters. des Islam als Religionslehre“ begleitetes Hier werden sehr unterschiedliche Zugän- Es kann wiederum als Antwort auf Harun „Ringen“ (idschtihad) beschreibt Behr vor ge zum Glauben deutlich: Während die Behr gelesen werden. diesem Hintergrund sein Verständnis von IGMG die Konstitution von Gemeinschaft islamischer Religionspädagogik. Er sieht in den Mittelpunkt rückt, die nicht zuletzt darin das Bemühen darum, die Verhält- über die Betonung von Ritualen, gemein- nisbestimmung von Kindern und der Welt, samer „äußerer Form“ und „islamischer“ der sie begegnen, „zu beschreiben, zu Ästethik geprägt wird, geht es Behr um verstehen, vorauszusehen und zu beein- die den religiösen Quellen innewohnenden ISLAMISCHE GEMEINSCHAFT MILLI GÖRÜS (IGMG) Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs wieder sehr positiv über Erbakan berich- der Länder und Kommunen ist die IGMG (IGMG) zählt zu den in Deutschland um- tet, „den Westen“ diffamiert und nicht sel- vielfach Gesprächspartner, wenn es um strittensten islamischen Organisationen. ten auch antisemitische Verschwörungs- Islam und Integration geht. Verfassungsschutzbehörden werfen ihr theorien verbreitet. seit Jahren islamistische Bestrebungen So ergibt sich ein widersprüchliches Bild: vor. Auch der Verfassungschutzbericht In Deutschland und Europa wurde die Auf der einen Seite steht die „alte“, an der 2008 stellt die „verbalen Bekenntnisse IGMG in den 70er Jahren aktiv und ziel- islamistischen Ideologie Erbakans orien- der IGMG zu Demokratie und Rechts- te zunächst vor allem auf die türkischen tierte IGMG, die meist einem sehr tradi- staat“ in Zweifel. Auf der anderen Seite Arbeitsmigranten. Als sich abzeichnete, tionell geprägten Milieu entstammt, sich betont etwa der Soziologe und IGMG- dass diese mit ihren Familien in Deutsch- weiterhin an der Türkei orientiert und von Experte Werner Schiffauer die Integra- land bleiben würden, entwickelte sich starker Abgrenzung gegenüber der nicht- tionsbereitschaft, die insbesondere von die IGMG mehr und mehr zu einer deut- islamischen Umwelt geprägt ist. Auf der jüngeren Mitgliedern der IGMG gezeigt schen Organisation. Einige hundert Mo- anderen Seite findet sich eine neuere werde. scheevereine sowie diverse Jugend-, Generation von IGMG-Repräsentanten, Frauen- und Studentenvereine gehö- viele davon in Deutschland geboren, die Milli Görüs heißt „Nationale Sicht“ und ren zum engeren Umfeld der IGMG. In auf eine Integration von Islam und Mus- geht zurück auf den türkischen islamis- Deutschland gibt sie die zweisprachige limen in Deutschland drängt. Dabei ist tischen Politiker Necmetin Erbakan, der Zeitschrift „IGMG-Perspektive“ heraus, auch diese Generation in der Regel von Anfang der 70er Jahre in der Türkei das die vor allem über politische, kulturelle einem konservativen Islamverständnis politische Ziel der IGMG formulierte: die und religiöse Anliegen deutschtürkischer geprägt, welches sich zum Beispiel in der Bekämpfung der säkularen und die Er- Migranten berichtet. Die IGMG dominiert Geschlechtertrennung in der Jugendar- richtung einer „gerechten Ordnung“ (adil mit dem Islamrat einen der vier großen beit widerspiegelt. düzen) auf strikt islamischer Grundla- muslimischen Dachverbände und ist ge. Sprachrohr der internationalen Milli- über diesen in der vom Bundesinnenmi- Görüs-Bewegung ist die türkische Tages- nisterium einberufenen Deutschen Islam zeitung Milli Gazete, die bis heute immer Konferenz vertreten. Auch auf der Ebene Seite 4
Nr. 15/Dezember 2009 ufuq.de HINTERGRUND Grundrecht Religionsunterricht In der redaktionellen Einleitung zum Beitrag von Jeannette Spenlen zur Debatte um das Islamschulbuch Saphir 5/6 in der Ausga- be 13/14 dieses Newsletters schrieben wir, dass ein Unterricht, der Glaubenswahrheiten vermitteln soll, nicht mit Artikel 7 III GG vereinbar sei. Diese Aussage ist so nicht richtig. Folgt man der Rechtsprechung und der Auffassung vieler Staatsrechtler, bewegte sich ein solcher Unterricht durchaus im Rahmen des Grundgesetzes. Umstritten ist unter Juristen indes, wie weit die Verkündung von Glaubenswahrheiten im Unterricht im Einzelnen gehen kann. Als Reaktion auf unsere Darstellung erreichte uns ein Beitrag von Mustafa Yeneroglu, dem stellvertretenden Generalsekretär der IGMG. Er wies uns zum einen auf den oben genannten Fehler hin. Darüber hinaus legt Yeneroglu dar, wie ein an den Glaubenssätzen des Islam orientierter Religionsunterricht aus Sicht der IGMG aussehen könnte. Wir dokumentieren im Folgenden diesen Text als Beitrag zur Diskussion. Die Redaktion „Religionsunterricht ist ein Grundrecht, kein Mittel der Prävention“ Eine Stellungnahme von Mustafa Yeneroglu (IGMG) Der ordentliche Religionsunterricht nach 74, 244, 252). Der Religionslehrer gestal- die Möglichkeit, sich mit dem Islam zu Art. 7 III GG dient in erster Linie der Grund- tet den Unterricht aus dem Glauben he- beschäftigen. rechtsverwirklichung der Bürger. Mit der raus, nicht aus der Distanz. Er vermittelt, institutionellen Garantie im Grundgesetz was geglaubt werden soll. Ziel ist in erster Der islamische Religionsunterricht in der wird ein subjektives Recht der Schüler, Linie die Stiftung einer positiven Identifi- Schule soll aus dem positiven Bekenntnis der Eltern und der Religionsgemeinschaft kation mit der eigenen Religion. zum Islam an ein selbstkritisch-reflektier- in der Schule gewährleistet. Der Unter- tes islamisches Selbstbewusstsein her- richt soll zur religiösen Entfaltung und Ver- Insofern könnte sich der Religionsunter- anführen. Zudem hat er für Verständnis wirklichung im Leben führen. Insofern ist richt in den Moscheegemeinden mit dem und Toleranz gegenüber Andersdenken- er um der Bürger, nicht um des Staates in der Schule sinnvoll ergänzen: In den den aus dem Kerngedanken des Res- Willen da – auch wenn vom Religionsun- Moscheegemeinden werden vor allem pektes vor der schöpferischen Vielfalt terricht ein Gewinn für das Gemeinwohl in das Rezitieren des Korans und die religiö- beizutragen. Dabei müssen die Heraus- Staat und Gesellschaft erwartet wird. Der se Praxis, insbesondere die gottesdienst- forderungen einer pluralistischen Gesell- Religionsunterricht stellt darüberhinaus lichen Handlungen gelehrt. Dazu gehört schaft durch eine zeitgemäße Religions- eine staatliche Kulturaufgabe dar. auch das Erlernen von Suren aus dem pädagogik und Didaktik aufgenommen Koran und das Einüben des Gebetsri- werden. So müssen im Unterricht die Nach diesen Grundsätzen ist der Reli- tus. Im schulischen Unterricht ist schon Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit gionsunterricht positiv zu verorten. Sein aus zeitlichen Gründen kein Platz für die- Angehörigen anderer Religionen oder Sinn liegt nicht darin, angeblich drohen- se Inhalte. Während in der Moschee der Weltanschauungen aus der Binnenper- de oder bereits bestehende Gefahren Fokus auf Stärkung und Förderung des spektive heraus entwickelt und mit dem abzuwenden, wie es häufig dargestellt Glaubens liegt, wird in der Schule neben Selbstverständnis der anderen Religionen wird. Der Religionsunterricht taugt we- der Vermittlung religiösen Grundwissens oder Weltanschauungen vergleichend der als Präventionsmaßnahme noch als mehr Wert auf eine reflektierende Her- vermittelt werden, ohne dass die Unter- Mittel, eine bestimmte Form von religiö- angehensweise gelegt. Eltern, die eine schiede verschwiegen oder übergangen ser Vorstellung zu vermitteln. Er muss „in fundierte religiöse Erziehung ihrer Kinder werden. Schließlich darf der Unterricht konfessioneller Positivität und Gebunden- wünschen, werden folglich auf die islami- die Wertentscheidungen des Grundge- heit“ erteilt werden. Und: „Zentraler Ge- sche Unterweisung in den Moscheege- setzes nicht negieren und hat vor allem genstand sind die grundlegenden Über- meinden nicht verzichten können. Diese Themen aus der Lebenswirklichkeit im zeugungen der jeweiligen Religion als Ausbildung kann in der Schule ergänzt Hinblick auf ein vorbildliches Leben ge- Glaubenswahrheit, also die Inhalte des und reflektiert werden. Kinder, die die mäß dem eigenen Bekenntnis altersge- Bekenntnisses, welche als bestehende Angebote der Moscheegemeinden nicht recht zu behandeln. Wahrheiten zu vermitteln sind“ (BVerfGE wahrnehmen, bekommen in der Schule Seite 5
Nr. 15/Dezember 2009 ufuq.de HINTERGRUND Beten in der Schule? BERLINER GERICHT ERLAUBT MITTAGSGEBET IN DER SCHULE – SENAT GEHT IN BERUFUNG etwa nach dem Hamburger Vorbild: „Wir empfehlen unseren Lehrern, den Schü- lern, die beten wollen, den Schlüssel für gerade leer stehende Klassenräume zu geben“, erklärte eine Sprecherin der Ham- burger Schulverwaltung gegenüber der Berliner Zeitung. Daraus ließe sich fol- gende Praxis ableiten: Wenn der Schul- betrieb es erlaubt und religionsmündige Schüler es explizit wünschen, könnte ge- meinsam nach einfachen Lösungen ge- sucht werden, um ihnen das Beten in der Schule zu ermöglichen. Dafür spricht sich auch Bülent Ucar, Professor für Islamische Religionspädagogik, gegenüber der NRZ aus: „Für das Gebet brauchen Muslime zur Mittagszeit nur zehn bis 15 Minuten. Verrichtet werden kann es überall – es muss nur einen sauberen und ruhigen Ort Beten in der Schule: Ein Fall für die Gerichte – oder gibt es andere Lösungen? geben. Ein leerer Klassenraum reicht völ- lig für ein Gebet in der Pause.” Allerdings Die Berliner Schulverwaltung hatte einem Sprecher der Bundestagsfraktionen von müsse dies für alle Religionen gleicherma- muslimischen Schüler das Beten in der CDU/CSU, den Grünen sowie der FDP. ßen gelten und grundsätzlich geklärt wer- Schule untersagt – woraufhin dieser vor Dagegen sagte der Berliner CDU-Integ- den, wie viel Platz Religion in einer staatli- Gericht zog. Ende September erging dann rationspolitiker Kurt Wansner gegenüber chen Schule haben solle. Einen konkreten das Urteil, demzufolge der Schüler das dem Tagesspiegel, das Urteil befördere Vorschlag machte dazu der Vorsitzende Recht hat, sein Mittagsgebet in der Schule „individualistische Wege (….), die bereits des Essener Integrationsbeirates Mu- zu verrichten. Allerdings, so das Verwal- in der Schule zu Separierung führen“. Öz- hammet Balaban: Schulen könnten einen tungsgericht, nur außerhalb der Unter- can Mutlu, Bildungspolitiker der Grünen in Raum für alle Religionen gemeinsam ein- richtszeiten, in einem separaten Raum und Berlin, sprach im Deutschlandfunk von richten. Bei Universitäten und in Kranken- vorausgesetzt, dass damit keine größeren einem „integrationspolitisch falschen Sig- häusern „funktioniert das schon lange“, Beeinträchtigungen des Schulbetriebs nal“ und äußerte zudem die Befürchtung, wird Balaban in der NRZ zitiert. verbunden sind. Ausschlaggebend für die streng gläubige Schüler könnten ihre nicht- Entscheidung war dabei die grundgesetz- betenden Mitschüler unter Druck setzen. Gerade an Schulen jedoch, so ließe sich lich verbürgte Religionsfreiheit. dem hinzufügen, sollten Lehrer und Eltern Auch an den Schulen ist die Stimmung besonders darauf achten, dass es im Fall Gegen das Beten an der Schule hatte das uneinheitlich – das zeigen Medienberich- der Einrichtung eines solchen Gebets- Land Berlin vor Gericht mit der Verpflich- te wie Beiträge des Tagesspiegels der raums nicht zu Konflikten, Ausgrenzungen tung öffentlicher Schulen zu weltanschau- Berliner Zeitung sowie Nachfragen der oder Missionierungsbestrebungen unter licher und religiöser Neutralität argumen- Redaktion: Während einige Schulleiter er- den Schülern kommt. tiert. Zudem könnten muslimische Schüler, klären, dass das Beten in der Schule für die nicht beten wollen, unter Rechtferti- die muslimischen Schüler gar kein Thema gungsdruck gesetzt werden – davor seien sei, fürchten andere nun weitere Klagen sie zu schützen. Außerdem sei mit weite- und die Zunahme religiöser Aktivitäten im ren Klagen muslimischer Schüler zu rech- Umfeld von Schule. Inzwischen hat der nen. Während das Urteil vor allem von den Berliner Senat Berufung gegen das Urteil Kirchen, den muslimischen Verbänden eingelegt – somit müssen sich erneut Ge- aber auch einzelnen Parteivertretern be- richte mit der Gebetsfrage befassen. grüßt wurde, stieß es bei anderen Beob- Abgesehen von der ausstehenden end- achtern auf entschiedene Kritik. So berich- gültigen Entscheidung im Berliner Ver- tete das Portal islam.de über die positiven fahren könnte sich für die Schulen indes Stellungnahmen der religionspolitischen ein pragmatischer Umgang empfehlen – Seite 6
Nr. 15/Dezember 2009 ufuq.de ARABISCHE, TÜRKISCHE UND MUSLIMISCHE STIMMEN „Verfluchte Freiheit“ EIN GESPRÄCH MIT DEM KULTURWISSENSCHAFTLER HAMED ABDEL-SAMAD Hamed Abdel-Samad kam Mitte der 90er Jahre als junger Student aus zu trennen, die ich im Koffer mit nach Ägypten nach Deutschland. Heute ist er als Kulturwissenschaftler am Deutschland geschleppt hatte. Religiö- Institut für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität München tätig. se Pflichten und Vorstellungen sind dafür In seinem Buch „Mein Abschied vom Himmel“ berichtet Abdel-Samad da, dem Menschen Halt zu bieten und von seiner anfänglichen Orientierungslosigkeit in Deutschland, die bei ihm Trost zu spenden, aber wenn diese ihm dazu führte, dass er zeitweise radikale Deutungen des Islam vertrat. aus dem Menschen einen Paranoiden Im Gespräch mit ufuq.de schildert Abdel-Samad seine Erfahrungen und machen, der seiner Umgebung nur noch formuliert Thesen, wie der Orientierungslosigkeit vieler junger Migranten misstraut, dann muss man sich von ihnen zu begegnen wäre. lösen – und genau das habe ich getan. Ich hörte auf, die Welt in Gläubige und Herr Abdel-Samad, In Ihrem Buch be- Ungläubige zu teilen und bestimmte mein schreiben Sie Ihre Versuche, als ägyp- Benehmen nicht mehr nach den Regeln tischer Student in Deutschland Fuß zu des Koran. Die Religion benutzte ich nicht fassen. Sie zeichnen das Bild eines ‚dop- mehr als Schutzschild, und meinen Mit- pelt befreiten’ jungen Mannes: befreit von menschen gegenüber trat ich nicht mehr Schranken und Zwängen, die Sie aus der als Muslim, sondern als Mensch auf. Ich ägyptischen Gesellschaft gewohnt waren, verstand, dass nichts heiliger ist als der aber auch befreit von sozialen Bindungen Mensch, seine Würde und seine Freiheit. und Gewissheiten, die Ihnen zuvor Orien- tierung gaben. Können Sie erklären, worin Sie bewegten sich selbst eine Zeit lang genau die zwei Seiten der ‚neuen Freiheit’ in islamistischen Milieus. Nun wird zuletzt bestanden? vermehrt darüber diskutiert, wie Ausstei- Ich komme aus einem Land, in dem es ein gerprogramme für radikale Islamisten aus- ungeschriebenes Abkommen zwischen sehen könnten. Als Vorbild gelten dabei dem Individuum und der Gesellschaft Programme, wie es sie schon länger für gibt: Du akzeptierst die Regeln, aber auch Hamed Abdel-Samad, Mein Abschied Rechtsextremisten gibt. Wo könnten diese die Zwänge der Kollektivgesellschaft und vom Himmel. Aus dem Leben eines Muslims Programme ansetzen, um junge extremis- stellst sie nicht infrage und kannst dafür in Deutschland, Köln: Fackelträger 2009, tische Muslime zu einer kritischen Ausei- 320 S., EUR 19,95 mit der Solidarität und Anerkennung aller nandersetzung mit starren Denkstrukturen rechnen. Bei jeder Entscheidung steht dir konsumiert, oder ich zog mich in die Mo- und rigiden Deutungen der Religion anzu- entweder der Vater, der Lehrer, der Imam schee zurück und wurde noch religiöser regen? oder ein Vers aus dem Koran zur Seite. als früher in Ägypten, um mich vor dieser Aussteiger suchen immer ein Ort ihres Ver- Man ist nie alleine, im positiven wie im ‚verfluchten Freiheit‘ zu schützen! Später trauens. Deutsche Behörden oder Vereine negativen Sinne. Die Individualität wird für dachte ich daher, Freiheit sei wie ein Wa- können ihnen dieses Vertrauen nicht bie- Geborgenheit und Halt aufgegeben. Dann gen, den man nur fahren sollte, wenn man ten. Effektiver als Aussteigerprogramme kam ich nach Deutschland und stellte fest, einen Führerschein hat. Heute denke ich, wäre ein grundlegender Wandel der Mo- dass es auch hier ein ungeschriebenes sie ist wie kaltes Wasser, man stürzt sich scheevereine. Junge Muslime fühlen sich Abkommen gibt: ‚Du kannst machen was hinein und hofft darauf, irgendwann die zu militanten Gruppen hingezogen, weil du willst, aber nerv uns nicht damit. Du bist Balance zu finden. sie ihnen Anerkennung und Nestwärme auf dich allein gestellt, kein Big Brother, bieten und das Gefühl geben, Teil eines kein Ratgeber, viel Spaß!‘ Auch wenn der Was half Ihnen, diese Balance zu finden? Projektes zu sein. Dagegen wird ihnen so- Wunsch nach Freiheit und Selbstbestim- Viele haben versucht mir zu helfen, aber wohl von der deutschen Gesellschaft als mung der Grund war, warum ich mich ich war in meinen starren Denkstrukturen auch von den traditionellen islamischen auf den Weg nach Deutschland machte, gefangen. Später erkannte ich, dass ich Organisationen das Gefühl vermittelt, kam mir diese Freiheit am Anfang eher wie mit mir selbst über meine Welt- und Ge- ein Problem zu sein. Moscheen könnten eine Last vor. Welche Seminare ich an der sellschaftsbilder neu verhandeln muss. wichtige Orte der Integration sein, wo jun- Uni besuche, was verboten oder erlaubt Mir wurde klar, dass mich diese schizo- ge Muslime lernen können, dass es kein ist – das entschieden plötzlich nicht mehr phrene Art zu leben und zu denken iso- Widerspruch ist, gleichzeitig deutsch und andere für mich, sondern ich alleine hat- liert und letztlich dazu führt, dass ich alle Muslim zu sein. Das geht aber nur, wenn te die Qual der Wahl. Das führte zunächst meine Ängste, Versäumnisse und Un- Imame hierzulande ausgebildet werden zu Konfusion und moralischer Desorien- zulänglichkeiten auf Deutschland proji- und mehr über die deutsche Gesellschaft tierung: Entweder habe ich die ‚verbote- ziere. Ich machte eine Art Inventur und erfahren. Moscheen wären dann nicht nur nen Früchte des Abendlandes’ exzessiv beschloss, mich von vielen Vorstellungen Orte, an denen radikalisierte Muslime zu- Seite 7
Nr. 15/Dezember 2009 ufuq.de ARABISCHE, TÜRKISCHE UND MUSLIMISCHE STIMMEN rück in die Gesellschaft finden – sie wür- ten Moscheen und Vereine stehen vor der Moscheen als einen möglichen Vermitt- den auch dazu beitragen, dass Jugendli- Herausforderung, die Extremisten an den ler zwischen einem potentiellen Ausstei- che erst gar nicht soweit abdriften. Dabei Rändern der Gemeinden zu integrieren ger und den deutschen Institutionen: der ist Gegenseitigkeit wichtig: Die deutschen und sie davon zu überzeugen, dass die Polizei, den Arbeits- und Sozialämtern Behörden erleichtern den Bau von reprä- Moscheen die besseren Alternativen sind. oder Jugendeinrichtungen. Die Erwartung, sentativen Moscheen, während sich die dass ein Aussteiger aus der islamistischen Moscheen verpflichten, offene Orte zu Ist es nicht problematisch, hier vor allem Szene sich direkt an deutsche Behörden sein, wo Missionierung und das aggressi- auf Moscheen zu setzen? Werden Mo- und Einrichtungen wendet, ist zu optimis- ve Werben um junge Muslime keinen Platz scheen dabei nicht als pädagogische Ak- tisch. Auch säkulare Emigrantenvereine haben. Wenn Transparenz und Vertrauen teure aufgewertet, während gleichzeitig wären überfordert, denn ihnen fehlt es an herrschen, können Moscheevereine mit nicht-konfessionelle Einrichtungen immer Kenntnissen, Infrastruktur und am Zugang der Polizei kooperieren, um extremisti- größere Schwierigkeiten haben, ihrer Rolle zum Betroffenen. Moscheen sind dage- schen Aktivitäten vorzubeugen und Aus- gerecht zu werden – gerade auch vor dem gen sichtbarer und stellen keine Hürde steiger zurück in die Gesellschaft zu holen. Hintergrund von Kürzungen im Sozial- und dar. Gerade in ihrem informellen Charakter Es reicht nicht, Extremisten zu verstoßen, Jugendbereich? liegt der Vorteil, wenn es darum geht, radi- denn dann würden sie untertauchen und Sicherlich können Moscheen das Prob- kalisierte Jugendliche zu binden. sich erst recht radikalisieren. Die modera- lem nicht alleine bewältigen. Ich sehe die materialheft Andi 2 – Den Islamismus vom Islam trennen „Andi 2 – Den Islamismus vom Islam tren- nen“ heißt ein Materialheft, das der Isla- mismusprävention dienen soll. Es wendet sich vor allem an muslimische Schüler ab der 9. Jahrgangsstufe. Die Unterrichts- einheit mit Arbeitsblättern und weite- ren Informationen kann kostenlos auf Lehrer-Online heruntergeladen werden. Verfasst wurde die Materialsammlung von den Islamkundelehrern Ahmed Ars- lan und Duran Terzi. Das Heft greift den Comic „Andi 2“ und die dazugehörige Handreichung für den Politikunter- richt „Demokratie – Islam – Islamis- mus“ auf, die vom Innenministerium in Nordrhein-Westfalen herausgegeben verbunden“, schreiben die Autoren. „Da- mente auf, mit denen Vertretern radikaler wurden. mit das auch künftig so bleibt, sollte vor Vorstellungen begegnet werden kann. allem die muslimische Jugend in ihrer Dazu gehören auch Hinweise auf religi- „Die große Mehrheit der in Deutschland Position psychologisch und kognitiv ge- öse Quellentexte, die sich als Bekennt- verwurzelten Muslime lehnt jegliche Ge- stärkt werden.“ Die Übungen informieren nisse zu religiöser Freiheit und politischen walt im Namen der Religion ab und fühlt über die ideologischen Hintergründe des Rechten lesen lassen. sich dem freiheitlichen Verfassungsstaat Islamismus und zeigen religiöse Argu- ARABISCHE, TÜRKISCHE UND MUSLIMISCHE STIMMEN Andalusian.de – Bloggen für ein „zeitgemäßes“ Islamverständnis In seinem Weblog plädiert Hakan Turan für ein Islamverständnis, dass Beispiel für die Auseinandersetzung mit mit dem heutigen Alltag vereinbar ist. Dabei setzt er sich für eine kritische diesem Thema ist der junge deutsch-tür- Auseinandersetzung mit traditionellen religiösen Vorstellungen ein, die kische Blogger Hakan Turan. In seinem er nicht zuletzt auch aus theologischer Sicht für überkommen hält. Weblog beschäftigt er sich mit Fragen, die sich Muslimen in alltäglichen wie auch in Islam ist nicht gleich Islam – gerade un- terschiedliche Vorstellungen darüber, wie politischen Auseinandersetzungen stel- ter jungen Muslimen bestehen sehr un- sich der Islam im Alltag leben lässt. Ein len. Besonders interessant ist dabei, dass Seite 8
Nr. 15/Dezember 2009 ufuq.de ARABISCHE, TÜRKISCHE UND MUSLIMISCHE STIMMEN er dies aus explizit religiöser Perspektive den Glaubensabfall gar nicht zur Debatte. Konzept deutscher Leitkultur beschrieben tut: Er zeigt Wege für ein Verständnis des Ebenfalls mit religiösen Argumenten plä- sind. (…) Islam auf, das der Lebenswirklichkeit jun- diert er vielmehr für einen zeitgemäß ver- ger religiöser Muslime in Deutschland ent- standenen Islam. Dabei macht er deutlich, Um plakativ zu werden: Ich meine junge spricht – auch wenn dies zu Konflikten mit wie stark sich das Glaubensverständnis Frauen mit Kopftüchern, die beruflich auf- der Elterngeneration führen kann. junger religiöser Muslime, von dem ihrer steigen wollen, sich in Gesellschaft und Eltern und von dem des klassischen is- Wissenschaft engagieren und problemlos Der Name des erst im Sommer ge- lamischen Rechts unterscheiden und der und selbstbewusst mit Männern umgehen gründeten Weblogs ist Programm: Islam trotzdem wesentlicher Bestandteil können. Und ich meine junge Frauen mit Andalusian.de verweist auf die Blütezeit ei- ihrer Identität bleiben kann. Wir dokumen- T-Shirt und ohne Kopftuch, die das rituelle nes offenen Islamverständnisses im mittel- tieren im Folgenden einen Ausschnitt aus Gebet verrichten und im Ramadan fasten alterlichen Spanien. So ist es kein Zufall, seinen Überlegungen: „Im Türkischen sagt – diese Identitäten werden in keiner reinen dass sich Turan, der auch im Zukunftsfo- man, dass die Zeit der beste Koranexeget Theorie wirklich erfasst, was im Übrigen rum Islam der Bundeszentrale für politi- sei (‚zaman en iyi müfessirdir’). Diese hat ein Hinweis auf die Weltfremdheit jener sche Bildung aktiv ist, in einem seiner teils unsere Väter und Mütter nach Deutsch- Theorien ist. Und doch hat die Zeit gezeigt, essayistischen Beiträge mit einer Frage land geführt. Sie hat hier für einen Neuan- dass solche Identitäten möglich sind – viel- beschäftigt, die Muslimen immer wieder fang in ihrem Leben gesorgt. Sie ist dafür leicht unter Abstrichen in manchen traditi- gestellt wird – der Frage nach der Apos- zuständig, dass wir in einem deutsch-tür- onellen Tugenden, aber dafür unter Zuge- tasie, dem Abfall vom Glauben, der nach kischen Umfeld sozialisiert wurden. Und winn und Stärkung anderer, nicht minder klassischer islamischer Rechtslehre, dem sie ist letztlich auch dafür verantwortlich, wertvoller Tugenden. Ich glaube, dass der fiqh, streng zu bestrafen ist. Viele Gelehrte, dass sich dadurch unsere Wahrnehmung Kern des Islam flexibel und universal ge- wie der auch unter jungen europäischen von Religion und Tradition oftmals dras- nug ist um in all dem Wandel im Gläubigen Muslimen sehr populäre Scheich Yusuf al- tisch von der unserer Eltern unterscheidet. eine bleibende islamische Grundessenz zu Qaradawi, halten sogar an der Todesstrafe Ich meine damit nicht die jungen Leute, die ermöglichen.“ für dieses „Verbrechen“ fest und begrün- sich von ihrer Religion ohnehin distanziert den dies aus den religiösen Quellen. Für haben. Ich meine damit jene Muslime, die Turan hingegen steht sowohl aus theolo- ebenso islamisch wie westlich leben wol- gischer Sicht, nicht zuletzt aber auch aus len und Synthesen hervorbringen, die in „Vernunftgründen“ eine Bestrafung für keinem Lehrbuch der Fiqh oder in einem OFFENER BRIEF AN BEKKAY HARRACH Im Weblog andalusian.de (siehe oben- über der Mehrheitsgesellschaft auf eine stehenden Artikel) findet sich auch ein würdige und glaubhafte Weise repräsen- offener Brief, den Hakan Turan an Bek- tieren. Zahllose Muslime aller Schichten kay Harrach geschrieben hat. Dessen arbeiten hart dafür, ein anständiges Le- Drohbotschaften aus Afghanistan sorg- ben zu führen und das Zusammenleben ten kurz vor den Bundestagswahlen für mit der Mehrheitsgesellschaft zu verbes- große mediale Aufmerksamkeit: In Vide- sern. Sie übernehmen gesellschaftliche os hatte der junge Deutsch-Marokkaner Verantwortung in allen Bereichen und Anschläge in Deutschland angekündigt, schicken sich an, ihrer Jugend vorzule- Der Deutsch-Marokkaner Bekkay Harrach sollte die Bundesregierung ihre Haltung drohte vor den Bundestagswahlen in einem ben, wie man als Muslim in Deutschland zum Krieg in Afghanistan nicht ändern. Video mit Anschlägen in Deutschland. zu einem produktiven Mitglied der Ge- Dabei appellierte Harrach ausdrücklich youtube.com sellschaft wird. Ihr hingegen stellt genau auch an die Muslime in Deutschland. das Gegenteil einer solchen gelingenden Darauf reagierte Turan mit seinem of- wollen, wie sie im Falle eines Anschlags Existenz dar. Nur wer gar keinen anderen fenen Brief, der von anderen Bloggern vorgehen sollen, als blanke Anmaßung Weg gefunden hat, seinem Leben einen aufgegriffen und verbreitet wurde. Tur- und Unverschämtheit. Die islamische Sinn und das Gefühl von Bedeutsamkeit ans Abrechnung mit dem radikalen Isla- Jugend in Deutschland will einen guten zu geben, würde in hoffentlich sehr selte- mismus sprach ihnen offenbar aus der Schulabschluss, einen guten Beruf und nen Fällen der Versuchung erliegen, diese Seele. Turan schrieb an Bekkay Harrach: aufsteigen. Sie will ihre Familien stolz ma- Bedeutung als lebende Bombe für terro- chen und ihnen ein besseres Leben er- ristische Zwecke zu erlangen. Der Islam „Ich empfinde deinen Versuch, die islami- möglichen – ja, sie will leben und leben ist besser als das. Der Islam braucht das sche Jugend in Deutschland anzuspre- lassen, nicht sterben und töten! Und sie nicht.“ chen und ihnen Anweisungen geben zu will ihren Glauben und ihre Kultur gegen- Seite 9
Nr. 15/Dezember 2009 ufuq.de ARABISCHE, TÜRKISCHE UND MUSLIMISCHE STIMMEN „Immer dasselbe Gerede“ Debatten um die Popsängerin Bülent Ersoy Sie ist ebenso prominent wie provokant: Die türkische Sängerin Bülent deren scharf angegriffen. So bezeichnete Ersoy nutzt ihre Popularität, um gesellschaftliche und politische Tabus ein Nutzer des deutsch-türkischen Inte- anzusprechen. Auch in Deutschland stößt sie damit Diskussionen an. netforums „Turkdunya“ die Sängerin als „verabscheuungswürdige Kreatur“. Und Bülent Ersoy ist ein Star – in der Türkei Krieg der Anderen würde ich mein Kind auf „turkish-talk.de“ beschrieb ein Nutzer ebenso wie unter deutschtürkischen Ju- nicht unter die Erde schicken. Das wird die Aussagen der Sängerin als „geistiger gendlichen. Wegen ihrer sexuellen Identi- doch alles von Leuten am grünen Tisch Müll“, wobei Ersoys Sexualität auch hier tät ist die Sängerin und Komponistin von bestimmt, die dann entscheiden, dass ein Anlass für weitere Beschimpfungen bot. Arabeskmusik allerdings sehr umstritten. paar Kinder sterben sollen“, erklärte die Auf der anderen Seite erntet Ersoy auch Popstar Bülent Ersoy: „Blut, Tränen, Tote ... und dann immer diese Klischees.“ Die als Mann geborene Künstlerin ließ be- Sängerin in der Fernsehshow „Popstar viel Zuspruch. Als Sängerin „mit einer un- reits 1980 eine Geschlechtsumwandlung Alaturka“, in der sie als Jurorin mitwirkte. glaublichen Stimme“ wird sie von einem vornehmen. Das damalige Militärregime Von der in der Türkei hoch angesehenen Nutzer des Forums beschrieben: „Es verweigerte der schon zu diesem Zeit- Armee hält sie hingegen gar nichts: „Im- wäre echt schade, wenn sie wegen dieser punkt sehr erfolgreichen Sängerin darauf- mer dasselbe Gerede. Kinder sterben, es dummen Anklage ins Gefängnis müsste“. hin über acht Jahre jeglichen öffentlichen gibt Blut, Tränen, Tote ... und dann immer Zustimmung kommt auch von kurdischen Auftritt. Ersoy verließ die Türkei und leb- diese Klischees.“ Migranten. So werden die Äußerungen Er- te in dieser Zeit vorübergehend auch in soys in Online-Foren kurdischer Jugend- Deutschland. Diese Aussagen sorgten für einen Eklat, licher anerkennend zur Kenntnis genom- schließlich gilt die Kritik am Militär noch men: „Spätestens seit dem Ausbruch des Auch danach war Ersoys Transsexualität heute für viele Türken als Vaterlandsverrat. Vulkans namens Bülent Ersoy ist auch immer wieder Grund für Anfeindungen vor Ersoy selbst musste sich für ihre Aussa- das türkische Militär nicht mehr jenseits allem aus dem nationalistischen Lager. gen vor Gericht verantworten, schließlich von Kritik“, heißt es zum Beispiel in einem 1989 wurde sie auf offener Bühne ange- habe sie, so der Vorwurf der Staatsanwalt- Beitrag bei „kurdmania.com“. In diesen schossen und schwer verletzt. Ihre Fan- schaft, den Ruf der Armee geschadet. Erst Auseindersetzungen ist es nicht zuletzt die gemeinde konnte Ersoy trotzdem halten im Dezember 2008 wurde sie schließlich Popularität Ersoys, die der Sängerin einen – ebenso wir ihre Vorliebe für provokative freigesprochen. gewissen Schutz bietet und ihr das offene politische Positionen. So rief sie im ver- Bekenntnis zur Transsexualität und zu pro- gangenen Jahr während einer Militäroffen- Die Sängerin polarisiert allerdings nicht vokativen politischen Positionen leichter sive gegen die kurdische PKK im Nordirak nur im Heimatland. Auch unter Migran- macht. Das gilt in der Türkei ebenso wie in die türkischen Mütter dazu auf, ihre Söhne ten türkischer Herkunft in Deutschland Deutschland. nicht zum Militär zu lassen: „Für diesen wird sie von den einen verehrt, von an- Seite 10
Nr. 15/Dezember 2009 ufuq.de ARABISCHE, TÜRKISCHE UND MUSLIMISCHE STIMMEN ISLAMISCHE DISKUSSION UM DEN NIQAB Der Niqab ist eine Form der Verschlei- erung, die nur einen Augenschlitz offen lässt. In Deutschland ist der Niqab sehr selten. Dennoch gilt er auch einigen deutschen Muslimen als einzig akzep- table Form der Bedeckung. In Ägypten hat nun im Oktober der oberste Islamgelehrte des Landes, Scheich Muhammad Tantawi, eine De- batte angestoßen, in der sehr unter- schiedliche Vorstellungen darüber deut- lich werden, wie religiöse Vorschriften zu interpretieren sind und wie eine „kor- rekte“ Verhüllung auszusehen hat. Tan- tawi hatte sich nach dem Besuch einer Schulveranstaltung, bei der er auch ein Niqab-tragendes Mädchen anwesend war, gegen den Niqab ausgesprochen. Dieser sei eine traditionalistische Beklei- dungsform aus, wie er sagt, vorislami- scher Zeit und deshalb „unislamisch“. Das Kopftuch hingegen betrachtet er „Nicht ohne meinen Schleier“: Video-Reportage auf faz.de über die deutsche – und mit ihm wohl die meisten Mus- Muslimin Attia Nuur Ahmad-Hübsch lime – als religiöse Pflicht. Das sehen auch viele Frauen und Mädchen so, den Erwerb von Bildung gewährleistet. sogar von sehr religiösen Muslimen ver- die selbst kein Kopftuch tragen. Den- Im Gegensatz zu solch liberaler Inter- standen werden. Zu Wort melden sich noch gehen die Meinungen auch über pretation hält Scheich Tantawi am Kopf- dabei keineswegs nur islamische Ge- das Kopftuch weit auseinander. Das tuch fest. Den Niqab jedoch würde er in lehrte. In Diskussionsrunden im Fernse- gilt sogar für die islamischen Gelehrten: öffentlichen Einrichtungen am liebsten hen und in zahlreichen Weblogs kom- Zwar ist das Kopftuch für die Mehrheit verboten wissen. Dafür erntet er nun men auch andere Stimmen zu Wort, der Gelehrten ein wichtiger Teil des Is- heftige Kritik von islamischen Gelehr- die auf die grundsätzliche Bedeutung lam – obwohl der Koran selbst dazu nur ten, die dem besonders strengen und dieser Frage aufmerksam machen. sehr vage Formulierungen bereithält. vor allem in Saudi-Arabien dominieren- Auch in Frankreich oder Dänemark Dagegen erklären andere Gelehrte wie den wahhabitischen Islamverständnis gab es in den vergangenen Monaten etwa der ehemalige Mufti von Marseille, folgen. Sie sehen in der Ganzkörper- Diskussionen darüber, ob Niqab und Soheib Bensheikh, dass es bei der Aus- verhüllung den Ausdruck einer beson- Burka grundsätzlich verboten werden legung der islamischen Quellen weniger ders ergebenen Haltung gegenüber sollten. In Saudi-Arabien hat Tantawi um den Wortlaut als um die Intention Gott. Ganz zu schweigen von radikal- mit seinem Vorstoß dagegen auch jene des Verses gehen müsse: Sinn der ko- islamistischen Strömungen wie den Ta- Stimmen auf den Plan gerufen, die den ranischen Aufforderung, die Frauen mö- liban, denen selbst der Niqab noch zu Islam in Bedrängnis sehen und umso gen Tücher über sich bzw. „ihre Brust“ freizügig ist. entschiedener auf eine rigide Auslegung ziehen (Koran 33:59 und 24:31), sei seiner Quellen drängen. der Schutz der Frauen gewesen. Diese Deutlich wird an dieser durch Tantawi Funktion, so Bensheikh, werde heute in Ägypten angestoßenen Debatte, wie weniger durch die Bekleidung als durch unterschiedlich die islamischen Quellen Seite 11
Nr. 15/Dezember 2009 ufuq.de FILMTIPP „Evet, ich will“ Komödie mit pädagogischem Wert „Aber meine Eltern dürfen nichts wissen“: Szene aus dem Film Evet, ich will Der Film „Evet, ich will“ spielt bewusst mit Klischees – und ist gerade oder nationaler Grenzen möglich werden, deswegen unverkrampft und erhellend. Ein Besuch mit Schulklassen ohne dass es zum großen Bruch mit der und Jugendgruppen eignet sich als Einstieg in die Diskussion. jeweiligen Gemeinschaft kommen muss. Natürlich ist diese Darstellung angesichts Zwei „gemischte“ Hochzeiten, ein solche Heirat zu verhindern, sperrt er sei- der vielen realen Konflikte, die derzeit de- deutsch-türkisches schwules Pärchen, ne Tochter sogar ein. Undenkbar auch, battiert werden, allzu harmonisch – das ein türkischer Möchtegern-Bräutigam dass Dirks öko-feministische Mutter dem soll sie aber auch sein. „Ja, ich will“ ist und eine in die Jahre gekommene „wilde“ heiratsbedingten Übertritt ihres Sohns ein charmantes Bekenntnis zum deutsch- deutsche Ehe – dies ist das Setting der zum Islam etwas Positives abgewinnen türkischen Selbstverständnis und ein Plä- Komödie „Evet, ich will“ von Regisseur Si- kann. Bis sich auch der Vater gleich mit doyer dafür, dass hier in den kommenden nan Akkus, die gerade in den Kinos läuft. beschneiden lässt – wenngleich aus eher Generationen doch bitteschön zusam- Auf ihrer Suche nach dem Glück ecken sexuellen als religiösen Motiven. menwachsen möge, was inzwischen eh die jungen deutschen, türkischen und zusammen gehört. Sehr symbolträchtig deutsch-türkischen Verliebten permanent Bevor sich alles irgendwie und ganz prag- endet denn auch der Film, der sich gut für an: Die Traditionen, Religionen, Ressenti- matisch zum Guten fügt, muss jeder ein- einen Besuch mit der Schulklasse oder der ments und politischen Überzeugungen der mal über seinen Schatten springen. Und Jugendgruppe eignet: Die Kamera folgt ei- Eltern und Großeltern stellen ihre Liebe auf das macht den Film auf angenehm unan- nem älteren türkischen Ehepaar, dessen die Probe. gestrengte Weise pädagogisch wertvoll. abendlicher Heimweg sie am Deutschen Neben der humoresken Vorführung ver- Historischen Museum in Berlin Mitte vor- Undenkbar erscheint es zum Beispiel dem schiedenster und wechselseitiger kultu- bei führt. altlinken türkischen Vater, seine liberal er- reller oder nationalen Klischees zeigt der zogene Tochter könne den Sohn traditio- Film, wie privates Glück und individuelle nalistischer Kurden heiraten. Die könnten Freiheit durch kleine Überschreitungen ja „nicht einmal richtig deutsch.“ Um eine kultureller, politischer, religiöser, familiärer Seite 12
Nr. 15/Dezember 2009 ufuq.de DOKUMENTATION Zukunftsforum Islam: Islam und Grundgesetz „Wie können Muslime und Nicht-Muslime Auch der Psychologe Haci-Halil Uslucan die Zukunft auf Grundlage des Grund- ging ausführlich auf das Thema Bildung gesetzes gemeinsam gestalten?“ Diese und Erziehung ein. In seinem Vortrag „Is- Frage stand im Mittelpunkt der Veranstal- lamisches Leben im Alltag: Familie, Er- tung „60 Jahre Grundgesetz: Muslime im ziehung und Schule“ fasste er wichtige demokratischen Verfassungsstaat“, die im Merkmale der Werterziehung in religiösen Mai 2009 vom Zukunftsforum Islam, einer Familien zusammen und beschrieb unter- Initiative der Bundeszentrale für politische schiedliche Sozialisationserfahrungen von Bildung/bpb, organisiert wurde. Kindern, deren Eltern besonderen Wert auf eine religiöse Erziehung legen. Zwar In den jetzt online veröffentlichten Vorträ- gebe es auch hier sehr unterschiedliche gen der Islamwissenschaftler und muslimi- Vorstellungen darüber, was im Einzelnen schen Referenten ging es unter anderem unter islamischen Werten verstanden wird. auch um Fragen der politischen Bildungs- Für religiöse Eltern und Kinder, so Uslu- arbeit mit jungen Muslimen. So machte can, stelle der Islam jedoch eine wichtige Prof. Jamal Malik auf die Herausforderun- Orientierung im Alltag dar. gen aufmerksam, die sich in der Bildungs- arbeit aus den „vielfältigen Formen einer Eine ausführliche Dokumentation der neuen Religiosität“ unter Jugendlichen Veranstaltung finden Sie auf der Website ergäben. Gleichzeitig warnte er davor, der bpb. die Bedeutung der Religion als Faktor der Identität zu überschätzen. Die „Überisla- misierung“ der Migrationsdebatte begüns- tige letztlich einen Rückzug der Migranten auf eine gemeinsame islamische Identität, die nicht selten auch mit religiösem Puris- mus einhergehe. STUDIE Islam im Schulunterricht Mit dem Stand der Diskussionen um den den vergangenen Jahren in verschiedenen Islamunterricht in der Schule beschäftigen Bundesländern durchgeführt wurden. Die sich die beiden Islamwissenschaftler Irka- Auswertung von Lehrplänen, Unterrichts- Christin Mohr und Michael Kiefer in ihrer beobachtungen und Lehrergesprächen aktuellen Studie „Islamunterricht, Islami- bietet dabei die Grundlage, um Perspek- scher Religionsunterricht, Islamkunde“. tiven für eine bundesweite Einführung des Zwar sind sich fast alle Akteure mittlerweile Islamunterrichts entwickeln zu können. darüber einig, dass es einen islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen Irka-Christin Mohr/Michael Kiefer (Hg.), geben soll. Islamunterricht, Islamischer Religions- unterricht, Islamkunde. Viele Titel – ein Unterschiedliche Vorstellungen bestehen Fach?, Bielefeld: Transcript 2009, 240 S., jedoch unter anderem darüber, wer den EUR 24,80 Unterricht (Ausbildung der Lehrenden) mit welchem Lernziel (islamkundlich oder be- kenntnisorientiert) auf der Grundlage wel- cher Materialien (Schulbücher) durchfüh- ren soll. Vor diesem Hintergrund gibt das Buch einen Überblick über die bisherigen Schulversuche und Modellprojekte, die in Seite 13
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