Ratsbericht - Konrad-Adenauer-Stiftung

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Ratsbericht - Konrad-Adenauer-Stiftung
Dezember 2020

Ratsbericht
Europabüro Brüssel

Ratspräsidentschaft ermöglicht Kompromiss –
EU einigt sich auf Haushalt und Klimaziele

Europäischer Rat am 10. und 11. Dezember 2020

Dr. Hardy Ostry, Kai Gläser, Ludger Bruckwilder, Sophia Pena Pereira

Das Treffen des Europäischen Rates vom           ein erträgliches Maß abfedern soll, einigen
10. und 11. Dezember 2020 blieb trotz            konnten. Vorausgegangen waren schier end-
der vielen Verhandlungsthemen überra-            lose Verhandlungen, in denen sich – neben
schenderweise im Zeitplan. Pünktlich am          zahlreichen weiteren Konfliktlinien – vor allem
Mittag des zweiten Gipfeltages konnten           die Positionen der südeuropäischen Mitglieds-
Ratspräsident Charles Michel, Kommissi-          staaten und der sogenannten „Sparsamen
onspräsidentin Ursula von der Leyen und          Vier“ (Dänemark, Niederlande, Österreich und
Bundeskanzlerin Angela Merkel weitrei-           Schweden), aus denen im Laufe des Gipfels
chende    Gipfelbeschlüsse   verkünden.          die „Sparsamen Fünf“ (inklusive Finnland)
Nach zähen Verhandlungen einigten sich           wurden, unversöhnlich gegenüberstanden.
die Mitgliedsstaaten einstimmig auf die          Letztlich einigten sich die EU27 auf ein Ge-
Verabschiedung eines Haushalts für die           samtpaket von rund 1,8 Billionen Euro (1,074
Jahre 2021-27 sowie die Festschreibung           Billionen Euro im MFR, 750 Milliarden Euro in
verschärfter Klimaziele für 2030. Des            Next Generation EU) und zeigten sich nach Ab-
Weiteren positionierte sich der Europäi-         schluss des Gipfels trotz harter Verhandlungen
sche Rat in mehreren außenpolitischen            mit dem Ergebnis zufrieden.
Fragen und tauschte sich über die wei-
                                                 Im Anschluss an diesen Verhandlungsmara-
tere Koordinierung der Corona-Maßnah-
                                                 thon wurde die Deutsche Ratspräsidentschaft
men aus. Angela Merkel zeigte sich mit
                                                 damit beauftragt, in Verhandlungen mit dem
den Beschlüssen des letzten Gipfels im
                                                 Europäischen Parlament einzutreten, das dem
Rahmen der Deutschen Ratspräsident-
                                                 Mehrjährigen Finanzrahmen laut EU-Vertrag
schaft sehr zufrieden.
                                                 zustimmen muss, um ihn in Kraft treten zu
                                                 lassen. Bereits unmittelbar nach Ende des
                                                 Ratsgipfels meldeten sich erste Abgeordnete
MFR/NGEU
                                                 zu Wort und betonten, dass der erzielte Kom-
Hintergrund                                      promiss den Ansprüchen des Parlaments nicht
                                                 genüge. Die zwei Hauptkritikpunkte waren,
Groß war die Erleichterung gewesen, als die
                                                 dass die Staats- und Regierungschefs in wich-
Staats- und Regierungschefs sich am 21. Juli
                                                 tigen und zukunftsweisenden Bereichen des
2020 nach einer rekordverdächtigen Mammut-
                                                 MFR zu viele Mittel gekürzt hätten und die Ver-
sitzung des Europäischen Rats auf einen Mehr-
                                                 knüpfung von EU-Mitteln und der Achtung
jährigen Finanzrahmen (MFR) für die Jahre
                                                 rechtsstaatlicher Standards in den Mitglieds-
2021-27 sowie den damit verbundenen Auf-
                                                 staaten nicht ausreichend gewürdigt worden
baufonds („Next Generation EU“), der die wirt-
                                                 sei. Letzteres hatte bereits während des Rats-
schaftlichen Folgen der Corona-Pandemie auf
                                                 gipfels selbst für Verstimmungen bei Polen
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Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Ratsbericht                                                                     Dezember 2020      2

und Ungarn gesorgt, die sich an den Pranger       Einleitung „Dear citizens of Europe“ begann,
gestellt fühlten und eine unzulässige Einmi-      Polen stelle sich gegen willkürliche und poli-
schung der EU in nationale Angelegenheiten        tisch motivierte Sanktionsmöglichkeiten der
fürchteten. Nach mehreren Monaten und –           EU und führe diese Auseinandersetzung nicht
teils - zähen Verhandlungen präsentierte die      ausschließlich im Eigeninteresse führe. Viel-
Ratspräsidentschaft in der zweiten November-      mehr ginge es seinem Land darum, dafür
woche den Entwurf einer Einigung, die eine        Sorge zu tragen, dass kein Mitgliedsstaat der
Konditionalität zwischen dem Erhalt von EU-       Europäischen Union unrechtmäßig „angegrif-
Geldern und der Einhaltung rechtsstaatlicher      fen“ würde. Auch er sei jedoch zuversichtlich,
Prinzipien festschreiben sollte. Nur zwei Tage    dass die Verhandlungen unter den Staats- und
nach der Einigung kündigten die Regierungen       Regierungschefs den Durchbruch bringen
in Budapest und Warschau jedoch an, den MFR       könnten.
und damit auch den an ihn geknüpften Auf-
                                                  Bereits am Donnerstagabend kurz nach 19 Uhr
baufonds zu blockieren, sollte der genannte
                                                  stand dann fest, dass der von der Ratspräsi-
Passus nicht angepasst oder gänzlich abge-
                                                  dentschaft ausgehandelte Kompromiss die Zu-
schafft werden.
                                                  stimmung aller 27 Mitgliedsstaaten erhalten
Entwicklung                                       hatte und MFR sowie der Aufbaufonds „Next
                                                  Generation EU“ damit verabschiedet wurden.
In den Tagen vor dem Ratsgipfel betonten die
                                                  Mit Blick auf den Rechtsstaatsmechanismus
Ministerpräsidenten von Polen, Mateusz Mora-
                                                  einigten sich die Staats- und Regierungschefs
wiecki, und Ungarn, Viktor Orbán, zwar immer
                                                  auf folgende Kompromissformel: Der Europäi-
wieder, für einen Kompromiss offen zu sein,
                                                  sche Rat nahm den Entwurf, der zwischen
erwarteten jedoch starkes Entgegenkommen
                                                  Ratspräsidentschaft und Europäischen Parla-
der EU. In Brüssel machten unterdessen Ge-
                                                  ment ausgehandelt wurde an, ergänzte ihn je-
dankenspiele die Runde, welche eine Verab-
                                                  doch um eine erläuternde Erklärung. Demnach
schiedung von „Next Generation EU“ durch die
                                                  soll die Kürzung von EU-Mitteln nur dann er-
verbleibenden 25 Mitgliedsstaaten ins Spiel
                                                  folgen können, wenn rechtsstaatliche Stan-
brachte. Unterdessen versuchte die Ratspräsi-
                                                  dards in Bezug auf EU-Gelder verletzt werden,
dentschaft unter Führung von Bundeskanzle-
                                                  nicht aber mit Blick auf allgemeine Standards
rin Merkel, einen Kompromiss zu erarbeiten,
                                                  wie die Pressefreiheit oder den Schutz von
der im Rahmen der EU27 mit Einstimmigkeit
                                                  Minderheiten. Die ausgehandelte Erklärung
verabschiedet werden könnte. Diese Bemü-
                                                  soll zudem zunächst vom Europäischen Ge-
hungen schienen sich auszuzahlen, als am Tag
                                                  richtshof geprüft werden. Dies kann jedoch
vor dem Zusammentreffen der Staats- und
                                                  mehrere Monate Verfahrenszeit in Anspruch
Regierungschefs aus 25 Mitgliedsstaaten (die
                                                  nehmen, sodass eine Umsetzung des neuen
Ministerpräsidenten Estlands und Kroatiens
                                                  Mechanismus daher frühestens Ende 2021 o-
ließen sich aufgrund von Quarantänebestim-
                                                  der 2022 möglich wäre. In der Abschlusserklä-
mungen von anderen Ratsmitgliedern vertre-
                                                  rung des Ratsgipfels wird zudem die Beach-
ten) die Nachricht durchsickerte, dass ein
                                                  tung der nationalen Identität unterstrichen –
Durchbruch erzielt worden sei.
                                                  ein Punkt, der Polen und Ungarn besonders
Bei der Ankunft in Brüssel gaben sich die drei    wichtig war, um EU-Einmischungen in national
Hauptprotagonisten dann auch grundsätzlich        geregelte Politikfelder zu unterbinden.
zuversichtlich, dass eine Einigung erzielt wer-
                                                  Dieser Kompromiss war trotz einiger Schat-
den könne. Angela Merkel sprach davon, dass
                                                  tenseiten auch für die übrigen 25 Staats- und
Deutschland und auch sie persönlich im Vor-
                                                  Regierungschefs vertretbar, sodass das größte
feld des letzten Ratsgipfels innerhalb der
                                                  Finanzpaket in der Geschichte der Europäi-
Deutschen Ratspräsidentschaft „sehr intensiv
                                                  schen Union am 1. Januar 2021 in Kraft treten
daran gearbeitet“ hätten, eine Lösung zu fin-
                                                  kann. Zuvor muss das Europäische Parlament
den, welche die Bedenken Polens und Ungarns
                                                  dem MFR-Kompromiss jedoch noch zustim-
berücksichtige, ohne dabei die Werte der
                                                  men, während die 27 nationalen Parlamente
Staatengemeinschaft preiszugeben. Viktor
                                                  den Eigenmittelbeschluss ratifizieren müssen.
Orbán sprach davon, dass eine Einigung auf
                                                  Dessen ungeachtet twitterte Ratspräsident Mi-
dem Gipfel die Einheit des Kontinents stärken
                                                  chel nach der Einigung, dass man nun damit
würde und man unmittelbar vor einem Durch-
                                                  beginnen könne, die durch die Pandemie stark
bruch stehe. Mateusz Morawiecki betonte in
seinem Eingangsstatement, welches mit der
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Ratsbericht                                                                       Dezember 2020      3

gebeutelten EU-Volkswirtschaften wiederauf-        bereits vollmundig als Sieg über die EU. Rich-
zubauen. Bundeskanzlerin Angela Merkel             tig ist, dass die EU es geschafft hat, den gro-
zeigte sich ebenfalls erleichtert und sprach in    ßen Eklat zu verhindern und sich in einem ent-
der im Anschluss an das Gipfeltreffen stattfin-    scheidenden Moment auf einen gemeinsamen
denden Pressekonferenz davon, dass ihr „ein        Nenner zu verständigen. Ob dieser Nenner
Stein vom Herzen gefallen“ sei, als in einer ge-   den hohen Anforderungen und Erwartungen,
meinsamen Kraftanstrengung Haushalt und            die an ihn gestellt werden, gerecht wird, zeigt
Recovery Fund der EU verabschiedet werden          sich dann ab dem 1. Januar 2021.
konnten. Gemischte Reaktionen kamen dage-
gen aus dem Europäischen Parlament. Wäh-
rend sich einige Abgeordnete am vom Rat ver-       Klimaziele
abschiedeten Zusatzprotokoll stören, bewer-
                                                   Hintergrund
teten Daniel Caspary und Angelika Niebler, die
beiden Vorsitzenden der CDU/CSU-Gruppe in          Die Zeit drängt - bis zum Ende des Jahres
der EVP-Fraktion die Beschlüsse positiv und        müssen die nationalen Klimapläne dem Klima-
betonten, dass die EU in ihrer schwersten          sekretariat der Vereinten Nationen (UNFCCC)
Krise zusammenstehe und zum Kompromiss             übermittelt werden. Bereits 2015 hatte man
fähig sei. Sie unterstrichen zudem, dass die       sich darauf geeinigt, die nationalen Klimapläne
Einigung ein Erfolg für das Europäische Parla-     alle fünf Jahre nachzubessern, da die bisheri-
ment sei, welches auf die Einführung eines         gen Klimaschutzambitionen nicht ausreichen
Rechtstaatsmechanismus bestanden hätte.            würden, um die Erderwärmung deutlich unter
                                                   zwei Grad zu begrenzen. Die EU hatte bereits
Kommentar
                                                   letztes Jahr angekündigt, bis 2050 Klimaneut-
Die Verabschiedung des neuen EU-Haushalts          ralität erreichen zu wollen, China strebt das
und des milliardenschweren Aufbaufonds             Jahr 2060 an, und Japan und Südkorea haben
„Next Generation EU“ kann guten Gewissens          sich ebenfalls das Ziel gesetzt, bis Mitte des
als historisch bezeichnet werden. Noch nie in      Jahrhunderts klimaneutral zu sein. Den inter-
ihrer über 60-jährigen Geschichte hat die EU       nationalen Klimaschutzbemühungen werden
derartig große Summen bewegt, um die Fol-          sich nächstes Jahr aller Voraussicht nach auch
gen einer Krise abzufedern. Zudem nimmt die        die Vereinigten Staaten unter dem neuen US-
Union erstmals gemeinsame Schulden auf, ein        Präsidenten, Joe Biden, wieder anschließen.
Schritt, gegen den sich nicht zuletzt Deutsch-
                                                   Im Windschatten der Haushaltsverhandlungen
land über Jahre und Jahrzehnte gewehrt hatte.
                                                   stand bei diesem Ratsgipfel die endgültige Ei-
Mit Blick auf den viel thematisierten Rechts-
                                                   nigung auf das neue EU-Klimaziel für 2030 auf
staatsmechanismus mussten jedoch Zuge-
                                                   der Agenda. Der im September veröffentlichte
ständnisse gegenüber Polen und Ungarn ge-
                                                   Kommissionsvorschlag sah vor, das Europäi-
macht werden. Die Tatsache, dass der Kom-
                                                   sche Klimagesetz zu verschärfen, indem das
promiss sich ausschließlich auf die Bereiche
                                                   55-Prozent-Ziel für 2030 in das Europäische
bezieht, in denen EU-Mittel missbraucht wer-
                                                   Klimagesetz als Zwischenziel eingebaut wer-
den und andere Bereiche wie den Minderhei-
                                                   den sollte. Anfang Oktober stimmte das Euro-
tenschutz und die Pressefreiheit gänzlich un-
                                                   päische Parlament mit knapper Mehrheit für
berührt lässt, wird je nach Perspektive des Be-
                                                   eine CO2-Minderung um 60 Prozent und er-
trachters unterschiedlich bewertet. Was einige
                                                   höhte damit den Druck auf die Kommission
Beobachter als logische Konsequenz bewer-
                                                   und den Rat. Beim kurz darauffolgendem
ten, sehen andere wiederum als ein Einkni-
                                                   Ratsgipfel kam es jedoch zu keiner Einigung.
cken vor Budapest und Warschau, da sich die
                                                   Mit deutlichem Widerstand aus Bulgarien,
aktuell geführten Debatten zwischen Brüssel
                                                   Tschechien und Polen und weiterem Ge-
und den beiden Hauptstädten in erster Linie
                                                   sprächsbedarf verschob man die Entscheidung
um diese Bereiche drehen. Ob der Recht-
                                                   auf den jetzigen Ratsgipfel.
staatsmechanismus tatsächlich ein geeignetes
Mittel ist, die problematischen Entwicklungen      Entwicklung
in Polen und Ungarn, perspektivisch möglich-
                                                   Vor dem letzten Gipfel unter Leitung der deut-
erweise aber auch in anderen Mitgliedsstaaten
                                                   schen Ratspräsidentschaft warb Bundeskanz-
zu ahnden, darf bezweifelt werden. Die beiden
                                                   lerin Angela Merkel noch einmal gemeinsam
genannten Staaten feierten den Kompromiss
                                                   mit ihrem französischen Kollegen Emmanuel
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Ratsbericht                                                                      Dezember 2020      4

Macron für das 55-Prozent-Ziel. Um auf inter-     staaten bereitstellen. Die Höhe der Aufsto-
nationaler Bühne die oft betonte Vorreiterrolle   ckung ist noch nicht bekannt. In den Gipfel-
in Sachen Klimaschutz zu übernehmen, ist          schlussfolgerungen heißt es, eine neue
eine Einigung zwingend erforderlich. „Das wird    Rechtsvorschrift werde das Problem von Un-
von Europa erwartet“, sagte Macron vor Be-        gleichgewichten für die Begünstigten des Mo-
ginn der Verhandlungsrunden. Die Verhand-         dernisierungsfonds bei ausbleibenden Einnah-
lungen über das Klimaziel begannen am frü-        men adressieren.
hen Abend des ersten Gipfeltages, wurden je-
                                                  Die EU-Kommission ist außerdem aufgefor-
doch schnell unterbrochen und schließlich erst
                                                  dert, zu prüfen, inwiefern die jeweiligen Wirt-
beim Abendessen wiederaufgenommen. Ein
                                                  schaftssektoren am besten zur Erreichung des
zähes Ringen begann. Es kam zu erneuten Un-
                                                  verschärften Klimaziels beitragen können und
terbrechungen, da der Entwurf überarbeitet
                                                  entsprechende Vorschläge zu unterbreiten.
wurde. Polen, Tschechien und Polen forderten,
                                                  Dabei geht es unter anderem um die Stärkung
dass sie durch finanzielle und regulatorische
                                                  des europäischen Emissionshandelssystems,
Unterstützungsmaßnahmen abgesichert wer-
                                                  Maßnahmen zur Entwicklung klimaneutraler
den.
                                                  Technologien und einen Vorschlag für CO2-
Nachdem die Verhandlungen schließlich die         Grenzausgleichsmaßnahmen, um die Verlage-
ganze Nacht angedauert hatten, verkündete         rung von CO2-Emmission (carbon leakage) zu
Ratspräsident Charles Michel am frühen Mor-       vermeiden.
gen auf Twitter, dass sich die Staats- und Re-
                                                  In den Schlussfolgerungen des Ratsgipfels
gierungschefs auf die Verschärfung des Klima-
                                                  heißt es zudem, dass das Recht über den
ziels für 2030 verständigt hätten. Die Mit-
                                                  Energiemix den Mitgliedsstaaten obliege und
gliedsstaaten einigten sich demnach auf eine
                                                  somit auch Übergangstechnologien wie Gas
Reduktion von Treibhausgasen um mindes-
                                                  zur Erreichung des Klimaziels für 2030 einge-
tens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 – bislang
                                                  setzt werden dürfen. Die Atomenergie als Teil
galt das Ziel von 40 Prozent. Auch bei diesem
                                                  des Energiemixes wurde im Text nicht explizit
Gipfelthema zahlte sich Angela Merkel Ver-
                                                  genannt, obwohl die Forderungen der drei be-
handlungsgeschick aus. Eine Einigung war ein-
                                                  sagten Länder auch die Nutzung von Atom-
gangs des Gipfels unsicher, da zunächst der
                                                  energie beinhaltet. Das Thema Atomkraft als
Haushaltsstreit gelöst werden musste, um ei-
                                                  grüner Strom löste 2019 beim Dezember-
nen Klimabeschluss überhaupt zu ermögli-
                                                  Ratsgipfel eine hitzige Debatte aus zwischen
chen. Letztlich konnte so quasi im Windschat-
                                                  den von kohleabhängigen Viségrad-Staaten
ten des auch medial alles überlagernden
                                                  und den Atomkraftgegnern wie Luxemburg,
Haushaltskompromisses ein Klimaziel verab-
                                                  Österreich und Deutschland. Es ist davon aus-
schiedet werden, das historische ambitioniert
                                                  zugehen, dass das Thema Kernenergie in spä-
ist.
                                                  teren Verhandlungen noch einmal aufkommen
Bei den fast achtstündigen Verhandlungen mit      wird.
den zentraleuropäischen Ländern Polen,
                                                  Kommentar
Tschechien und Ungarn, blockierte zuletzt nur
noch Polen die Einigung. Der polnische Regie-     Es ist zu erwarten, dass Kommissionspräsi-
rungschef Mateusz Morawiecki forderte wei-        dentin Ursula von der Leyen das neue 2030-
tere finanzielle Zusicherungen. Die 30 Prozent    Ziel heute auf dem UN-Klimagipfel zum 5. Jah-
des beschlossenen 1,85 Billionen-Haushaltes,      restag des Pariser Klimaabkommens bekannt
die zur Umsetzung der Klimaziele genutzt wer-     geben wird. Sollte sie es heute der ganzen
den sollen, reichten ihm zufolge nicht aus. Die   Welt verkünden, bringt sie damit das Europa-
stark von Kohle abhängige Wirtschaft Polens       parlament in eine schwierige Verhandlungspo-
benötige zusätzliches Geld im Rahmen des          sition. Die Staats- und Regierungschef fordern
Modernisierungsfonds zur Erreichung des Kli-      das Europäische Parlament und die Kommis-
maziels, so die Forderung polnischer Diploma-     sion auf, das neue Ziel im Rahmen des Euro-
ten. Der Modernisierungsfond wird aus dem         päischen Klimagesetzes anzunehmen. Die Re-
EU-Emissionshandel finanziert und bis 2030        aktionen ließen jedoch nicht lange auf sich
ungefähr 14 Milliarden Euro für die Moderni-      warten, Klimaschützer fordern bereits Nach-
sierung der Energiesysteme in den zentraleu-      besserung in den bevorstehenden Verhand-
ropäischen und den drei baltischen Mitglieds-     lungen mit der Kommission und dem Europäi-
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Ratsbericht                                                                       Dezember 2020      5

schen Parlament. Grüne Abgeordnete des Eu-         welche die Delegationen Zyperns und Grie-
ropäischen Parlaments kündigten ebenfalls          chenlands nicht zu akzeptieren gedachten.
an, diese Entscheidung nicht einfach hinzu-        Griechenlands Premierminister Kyriakos Mit-
nehmen. Die Tatsache, dass zum ersten Mal          sotakis ermahnte seine Kolleginnen und Kolle-
auch der CO2-Abbau durch Wälder und andere         gen eingangs des Gipfels, dass die Glaubwür-
Landnutzungen berücksichtigt wurde, wurde          digkeit der EU auf dem Spiel stehe. Er erin-
zudem massiv kritisiert.                           nerte an die Beschlüsse des letzten Gipfels
                                                   und forderte: „Pacta sunt servanda.“ – Ver-
Die Einigung lässt sich als zweiter große Erfolg
                                                   träge sind einzuhalten.
der deutschen Ratspräsidentschaft werten –
nicht zuletzt dank Angela Merkels Verhand-         Entwicklung
lungsgeschick. Die EU hat damit bewiesen,
                                                   Die Staats- und Regierungschefs wandten sich
dass sie ihre eigenen Klimapläne und das UN-
                                                   auf diesem Gipfel in Sachen Außenpolitik zu-
Klimaabkommen ernst nimmt. „Es gibt nun ei-
                                                   nächst positiven Entwicklungen zu. Sie disku-
nen klaren Weg hin zu Klimaneutralität", sagte
                                                   tierten mit Blick auf die Wahl Joe Bidens zum
die Kommissionspräsidentin im Anschluss an
                                                   nächsten US-Präsidenten das transatlantische
die Verhandlungen und hatte mit der Einigung
                                                   Verhältnis und fassten im Konsens eine von
gleich doppelten Grund zu feiern. Denn genau
                                                   Optimismus geprägte Schlussfolgerung, die
vor einem Jahr, am 11. Dezember 2019, prä-
                                                   die Wichtigkeit einer starken und strategi-
sentierte sie Europa und der ganzen Welt die
                                                   schen transatlantischen Partnerschaft unter-
nachhaltige Wachstumsstrategie, die den Eu-
                                                   streicht, welche auf gemeinsamen Interessen
ropäischen Kontinent bis zum Jahr 2050 zur
                                                   und Werten beruhe. Die EU freue sich auf die
Klimaneutralität zu führen soll. Der European
                                                   Zusammenarbeit und stehe bereit, mit dem
Green Deal scheint nun ein Jahr später nicht
                                                   neuen Präsidenten gemeinsame Prioritäten zu
nur für den Klimawandel, sondern auch für die
                                                   besprechen.
wirtschaftliche Erholung nach der Corona-Pan-
demie den Maßstab zu setzen.                       Weit weniger Konsens und Optimismus
                                                   herrschte jedoch den Vorzeichen zu Beginn
                                                   des Gipfels entsprechend beim Thema Türkei.
Außenpolitische Themen                             Neben den bereits im Vorfeld vorgetragenen
                                                   nachdrücklichen Forderungen Griechenlands
Hintergrund
                                                   und Zyperns erhöhte eine weitere neue Nach-
In außenpolitischer Hinsicht war eines der         richt den Druck auf den Ratsgipfel. Die Nach-
zentralen Themen für die EU zuletzt das Ver-       richt, dass die USA Sanktionen gegenüber der
hältnis zur Türkei. Bereits bei den vergange-      Türkei ankündigten für die Anschaffung des
nen EU-Ratsgipfeln stand der Umgang der EU         russischen S-400 Raketenabwehrsystems ver-
mit Ankara immer wieder auf der Tagesord-          fehlte ihre Wirkung auf den Europäischen Rat
nung. Im Kern geht es um das Verhalten der         nicht. Ein Signal der Schwäche hätte man sich
Türkei im Mittelmeerraum hinsichtlich der Er-      nun noch weniger leisten können. Neben Grie-
schließung eines dort entdeckten Gasfeldes         chenland und Zypern haben auch Frankreich
und um Grenzkonflikte auf der Insel Zypern,        und Österreich eine sehr klare Haltung für ei-
die de facto in die Republik Zypern und die        nen schärferen Kurs gegenüber Ankara. Eine
türkische Republik Nordzypern geteilt ist. Die     Reihe anderer EU-Mitglieder, darunter allen
bisherigen Beschlüsse des Europäischen Rates       voran Deutschland, übt sich eher in Zurück-
waren als eine Art Doppelstrategie im Sinne        haltung und betont die strategische Wichtig-
von Zuckerbrot und Peitsche interpretiert wor-     keit der Türkei als Partner in der NATO und
den. Bislang ist aber kein Kurswechsel als Re-     beim Thema Migration. Es bedurfte längerer
aktion darauf durch den türkischen Präsident       Verhandlungen und mehrerer Formulierungs-
Recep Tayyib Erdoğan erkennbar. Im Gegen-          vorschläge, bis man sich auf eine gemeinsame
teil: Mitte November sorgte Erdoğan mit sei-       Linie verständigen konnte. Tatsächlich einigte
nem Besuch im zyprischen Küstenort Varosha,        man sich letztlich auf Sanktionen, auch wenn
der in der entmilitarisierten Pufferzone liegt,    diese vergleichsweise mild ausfallen. Praktisch
für eine weitere Provokation. Die Regierungs-      werden Einzelpersonen oder Firmen „restrik-
chefs Griechenlands und Zyperns drängen im-        tive Maßnahmen angesichts der nicht geneh-
mer wieder auf härtere Maßnahmen seitens           migten Bohrtätigkeiten der Türkei im östlichen
der EU. Auch im Vorfeld dieses Gipfels zirku-      Mittelmeer“ zu befürchten haben, so die ver-
lierten Beschlussvorlagen zum Thema Türkei,        öffentlichten Schlussfolgerungen. Gleichzeitig
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Ratsbericht                                                                        Dezember 2020      6

beauftragt der Rat aber auch den Hohen Ver-         rer Kolleginnen und Kollegen. Ohne die Kom-
treter der EU, Josep Borrell, bis zum nächsten      plexität der Lage zu ignorieren, dass man auf
Ratsgipfel einen Bericht über die Entwicklun-       die Türkei als Partner in der NATO und beim
gen der EU-Beziehungen zur Türkei anzuferti-        Thema Migration angewiesen bleiben wird, ist
gen. Dabei wird Borrell explizit aufgefordert,      der wachsende Frust und die zunehmende
mögliche „Instrumente und Optionen für das          Sorge Zyperns und Griechenlands absolut ver-
weitere Vorgehen […] zur Beratung vorzule-          ständlich. Ändert Erdogan nicht seinen Kurs,
gen“. Somit sind härtere und weitreichender         wird die EU sich nicht mehr viel länger vor der
Sanktionen gegenüber der Türkei also keines-        Frage nach einer wirklichen Kursverschärfung
wegs vom Tisch.                                     drücken können. Möglicherweise kann die EU
                                                    hierbei auf ein abgestimmtes Verhalten mit
Leichter taten sich die Staats- und Regie-
                                                    der neuen US-Regierung setzen.
rungschefs damit, die Sanktionen gegen Russ-
land erneut zu verlängern. Diese hält die EU
seit der Annexion Russlands der ukrainischen
                                                    Weitere Gipfelthemen
Krim und der aktiven Unterstützung des
Kriegs in der Ostukraine aufrecht.
                                                    Corona-Pandemie
Kommentar
                                                    Das Thema Corona stand selbstverständlich
Sanktionen sind derzeit das meistdiskutierte        auch auf der Agenda. Die Staats- und Regie-
Werkzeug in der EU-Außenpolitik. Gegenüber          rungschefs begrüßten die erfolgreiche Ent-
Russland sind sich alle Mitgliedsstaaten einig      wicklung wirksamer Impfstoffe und betonten
und verlängern das bestehende Sanktionsre-          die Notwendigkeit von nationalen Impfstrate-
gime bereits seit mehreren Jahren beinahe           gien. In der Schlussfolgerung heißt es zudem,
routiniert. Aber schon bei der Frage ob und         dass die Impfung als „weltweites öffentliches
wenn ja, welche Sanktionen die EU im Fall von       Gut“ behandelt werden soll und, dass die Mit-
Belarus verhängen kann und möchte, tat sich         gliedsstaaten die COVAX-Fazilität für die welt-
die EU jüngst ausgesprochen schwer. Immer-          weite Bekämpfung der Corona-Pandemie un-
hin einen Hoffnungsschimmer gab es in au-           terstützen. Angela Merkel nutzte diese Gele-
ßenpolitischer Hinsicht zuletzt. Hinsichtlich der   genheit, um noch einmal eindringlich vor dem
Wahl Joe Bidens und des Verhältnisses zu den        Anstieg der Infektionszahlen während der
USA zeigte man sich auf diesem Gipfel opti-         Weihnachtszeit zu warnen.
mistisch, ein neues Kapitel im transatlanti-
                                                    Brexit
schen Verhältnis aufschlagen zu können. Der
Optimismus kann aber nicht darüber hinweg-          Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
täuschen, dass in den EU-USA-Beziehungen            berichtete dem Europäischen Rat von dem
große Herausforderungen bestehen bleiben            letzten Stand der Brexit-Verhandlungen und
werden. Die US-Sanktionen gegen das auch            ihrem Dinner mit dem Premierminister des
innerhalb der EU höchst umstrittene Nord            Vereinigten Königreichs, Boris Johnson, am
Stream 2-Projekt ist nur eine davon. Dass die       Vorabend des Ratsgipfels. Leider konnte sie
USA nun auch vor harten Sanktionen gegen-           keine guten Nachrichten verkünden. Das
über dem NATO-Partner Türkei nicht zurück-          Brexit-Dinner verdeutlichte nur einmal mehr,
schrecken, setzt die EU angesichts ihres ohne-      dass die Positionen trotz des immer kürzer
hin angespannten Verhältnisses zu Ankara zu-        werdenden Zeitfensters weit auseinanderlie-
sätzlich unter Druck. Die auf diesem Gipfel von     gen. Man wolle noch bis Sonntag, den 13. De-
den Staats- und Regierungschefs beschlosse-         zember 2020, weiterverhandeln, um dann zu
nen Sanktionen sind ein erster Schritt. Aber        entscheiden, ob ein Abkommen vielleicht doch
reicht dieser aus? Dafür wirken die Sanktionen      möglich ist. Zum Zeitpunkt des Ratsgipfels
zu harmlos und werden den Präsident der Tür-        sprach mehr für einen No-Deal-Brexit als da-
kei wohl kaum beeindrucken. Eine Abkehr vom         gegen.
konfrontativen Kurs gegenüber Zypern und            Sicherheit
Griechenland - und damit gegenüber der ge-
samten Europäischen Union - zeichnet sich           Ein weiteres Gipfelthema war innere Sicher-
nicht ab. Die Regierungschefs der beiden Mit-       heit und Terrorismusabwehr. Als Reaktion auf
telmeerstaaten reagieren zunehmend mit Un-          die jüngsten Anschläge in Frankreich und Ös-
geduld und Unverständnis auf die Haltung ih-        terreich drückte der Rat erneut seine Solidari-
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Ratsbericht                                                                      Dezember 2020      7

tät aus und kündigte an, Extremismus mit ei-       Sicherheitsstandards entspricht. Um dem Si-
ner koordinierten Strategie gesamteuropäisch       cherheitsinteresse der direkten Nachbarn
bekämpfen zu wollen. Dies müsse insbeson-          Rechnung zu tragen, beauftragte der Europäi-
dere auch online geschehen, weshalb der Rat        sche Rat die Kommission, mögliche Maßnah-
die Kommission um einen ambitionierten Vor-        men zu prüfen, um den Stromimport aus
schlag bittet, Online-Plattformen im Rahmen        Kraftwerken wie Astrawez zu verhindern, die
des Gesetzes über digitale Dienste bei illega-     nicht über ein von der EU anerkanntes Sicher-
len Online-Inhalten in die Pflicht zu nehmen.      heitsniveau verfügen.

Südliche Nachbarschaft                             Globale Sanktionsregelung der EU im Be-
                                                   reich der Menschenrechte
Die Schlussfolgerungen des Gipfels griffen
auch die Südliche Nachbarschaft der EU auf.        Bei den globalen Sanktionsregelungen im Be-
25 Jahre nach Einleitung des Barcelona-Pro-        reich der Menschenrechte handelt es sich um
zesses unterstrichen die EU-Mitgliedsstaaten,      eine Initiative, die anlässlich des Tags der
die strategische Partnerschaft neu beleben,        Menschenrechte am 10. Dezember von der EU
verstärken und weiterentwickeln zu wollen.         angenommen wurde. Sie gilt weltweit und ist
Man werde eine neue Agenda für den Mittel-         ausdrücklich nicht länderspezifisch. Durch sie
meerraum entwickeln, die auf gemeinsamen           können in der ganzen Welt schwere Men-
Prioritäten beruhe und einen Schwerpunkt auf       schenrechtsverletzungen und -verstöße ge-
spezifische Lösungen für den Mittelmeerraum        ahndet werden, auch grenzüberschreitender
lege. In Bezug auf Libyen ruft der Rat alle Ak-    Art. Der Europäische Rat begrüßte die Einfüh-
teure dazu auf, im Einklang mit den Grunds-        rung dieser Sanktionsregelung in den Schluss-
ätzen des Berlin-Prozesses zu handeln.             folgerungen des Gipfels. Weltweit bekannt ist
                                                   bisher der sogenannte „Magnitsky Act“, den
Kernkraftwerk Astrawez in Belarus
                                                   die USA 2012 einführten und 2016 global aus-
Das belarussische Kernkraftwerk Astrawez           weiteten. Bereits seit langem bestanden die
geht in naher Zukunft ans Netz. Es ist liegt nur   Forderungen, dass auch die Europäische Union
wenige Kilometer von der litauischen Grenze        ein solches Werkzeug einführt, um Menschen-
entfernt, bis zur Hauptstadt Vilnius sind es we-   rechtsverletzer weltweit persönlich bestrafen
niger als 50 Kilometer. Das Kraftwerk ist          zu können.
höchst umstritten, da es nicht den gängigen

Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.
Dr. Hardy Ostry
Leiter
Europabüro Brüssel
www.kas.de/bruessel

hardy.ostry@kas.de

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