Raus aus Hartz IV - nur wohin? - KDA Nordkirche
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14 Raus aus Hartz IV – nur wohin? Langzeiterwerbslose wollen das Hilfe- system verlassen –treffen dabei aber oft auf instabile Jobs und unsichere Zukunftsperspektiven TEXT Maike Hagemann-Schilling Was bedeutet es, nicht zur Gruppe der Erwerbstätigen zu gehören, sondern im sogenannten Hartz-IV-Bezug zu sein? Schließt das Menschen von dem Teil der Gesellschaft aus, wo sie über Erwerbs- tätigkeit Anerkennung und Teilhabe erfahren – oder entlastet es sie von Anforderungen eines von Prekarität gekennzeichneten Arbeitsmarktes? Ein Blick auf die Strategien von erwerbs- losen Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, aber trotzdem selbstverantwortlich handeln und ihre Würde erhalten wollen. Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt
D ie 2005 gestartete Hartz-IV-Reform wird trotz 15 aller Defizite von Politik und Arbeitsmarktfor- scher*innen als insgesamt erfolgreich bewertet. Zugleich ist auch deutlich geworden: Wer einmal ins Hartz-IV-System gerät, kommt so schnell nicht wieder raus. Dies betrifft die Langzeitarbeitslosen ebenso wie die geringverdienenden Alleinerziehenden und die so- genannten Aufstocker*innen, die mit ihrem Niedrig- lohn das Familieneinkommen nicht bestreiten können. In der aktuellen politischen Debatte werden die Defizi- te und der dringende Reformbedarf des Hartz-VI-Ge- setzes mittlerweile von allen Parteien diskutiert. Gleichzeitig halten sich Vorurteile über Hartz-IV- Empfänger*innen in der Gesellschaft hartnäckig und werden fortlaufend aus Klischees und dazu passenden Berichten gespeist. So glaubt noch immer ein Großteil der Deutschen, dass Hartz-IV-Empfänger*innen faul, schlecht ausgebildet und bei der Arbeitssuche zu wählerisch sind und sich deshalb nicht auf den Ar- beitsmarkt begeben.1 Ich möchte anhand von zwei Beispielen Reaktionen von Leistungsempfänger*innen auf die aktuelle Arbeitsmarkt- und gesellschaftliche Situation darstellen. Dabei handelt es sich jeweils um bewusst gewählte Strategien, die entgegen gängigen Vorurteilen gegenüber Erwerbslosen von Eigenverant- 1 Vgl. https://bit. wortlichkeit und dem Versuch geprägt sind, Hand- ly/2HLURdl (Abruf: 28.03.2019). lungsfähigkeit und Würde zu erhalten. Im ersten Teil 2 Vgl. P. Schütt: beziehe ich mich auf eine Studie von Dr. Petra Schütt „Security first“ – eine Handlungsstrategie vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e. V. von erwerbsfähigen (ISF München)2 und im zweiten Teil möchte ich die Erwerbslosen, in: Geschichte von Daniel Blake, einer fiktiven Filmfigur, Arbeit 23/III (2014), S. 179-192. vorstellen, die stellvertretend für viele Erwerbslose 3 „Erklärungsansatz steht. für den erlebten Kontrollverlust in der Situation unfrei- SELBSTVERANTWORTLICH HANDELN KÖNNEN williger Arbeitslosig- Für das Journal des KDA im Jahr 2018, das unter dem keit (z. B. vergebliche Arbeitsplatzsuche). Thema „Angst“ stand, hatte ich mit einer Gruppe von Der erfahrene Kont- langzeitarbeitslosen Frauen und Männern mit der Me- rollverlust bei der thode des Problembaumes zu ihren Ängsten gearbeitet. Gestaltung der eigenen Lebens- Ein zentrales Erleben stellte dabei die gefühlte erlernte umstände begünstigt Hilflosigkeit dar. Daraus resultierte u. a. die Angst vor Erfahrungen der Veränderung: vor der Annahme eines Jobs, einem Enttäuschung und Hilflosigkeit, die Wechsel des Wohnortes oder einer Veränderung im nach experimentell Fallmanagement. Diese Veränderungen waren und sind gesicherten Beob- achtungen regelhaft im Erleben immer mit Risiken und Fragilität der aktu- mit emotionalen, ellen Lebenssituation verbunden. Das Bild der erlernten kognitiven und Hilflosigkeit passt gut in das in der Gesellschaft vor- motivationalen Defiziten einher- herrschende Bild über erwerbslose und insbesondere gehen (depressive langzeiterwerbslose Menschen.3 Verstimmung, Bei der Recherche für diesen Beitrag bin ich auf eine verringerte Selbst- achtung, herabge- Studie gestoßen, die ein anderes als das gängige Bild setzte Reagibilität, von langzeitarbeitslosen Menschen vermittelt und dem Passivität) – ein Erscheinungsbild, Prinzip der erlernten Hilflosigkeit etwas entgegenstellt. das dem in vielen In der von Petra Schütt durchgeführten Studie wird Studien mit Lang- eine Handlungsstrategie von erwerbsfähigen Erwerbs- zeitarbeitslosen entspricht.“ (T. Kie- losen beschrieben, die „Security first“ genannt wird. selbach/A. Wacker: Sie beschreibt den Umgang mit den Anforderungen an Art. Hilflosigkeit, Selbstverantwortlichkeit und Eigeninitiative unter Be- erlernte, in: Lexikon der Psychologie, o.J., dingungen von zunehmender Unsicherheit. Die Ergeb- https://bit.ly/2Qy6sBq; nisse basieren auf der empirischen Arbeit mit einem Abruf: 28.03.2019). Raus aus Hartz IV – nur wohin?
16 Panel von Langzeitarbeitslosen, die sich überwiegend in einem Arbeitsmarktbereich bewegen, der von pre- kärer Beschäftigung und niedrigem Lohnniveau ge- kennzeichnet ist.4 VOM WOHLFAHRTSSTAAT ZUM AKTIVIERUNGSSTAAT Die Reformierung des Arbeitsmarktes durch die Einfüh- rung von Hartz IV im Jahr 2005 hatte hauptsächlich zwei Ziele. Arbeitslose sollten durch Programme und Maßnahmen möglichst schnell aktiviert und der deut- sche Arbeitsmarkt flexibilisiert werden. Von Arbeitslo- sen wurde erwartet, dass sie sich dem veränderten Arbeitsmarkt anpassen. Für Unternehmen wurden An- reize geschaffen, vor allem Langzeitarbeitslose zu be- schäftigen, indem Leiharbeit und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse erleichtert wurden. Die Re- formen bedeuteten auch eine Rücknahme des Schutz bietenden Wohlfahrtsstaates und eine Entwicklung hin zum fordernden Aktivierungsstaat. Die Botschaften an Langzeitarbeitslose lauteten: Ein Verbleiben in Arbeitslosigkeit wird nicht mehr akzep- Die Ziele der Hartz-IV-Reform tiert, der Arbeitsplatz steht als Garant für Teilhabe und Anerkennung, und die Lebensführung soll komplett auf waren hauptsächlich: Arbeits- Erlangung von Arbeit ausgerichtet sein.5 Sogenannte „Work first Programme“ sollten und sollen dazu bei- lose schnell „aktivieren“ tragen, Arbeitslose möglichst schnell wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. So konnte eine „Zwischen- und den Arbeitsmarkt flexibler zone der Arbeitswelt“ entstehen, in der Erwerbslose zwar am Arbeitsleben teilnehmen, dies allerdings nur gestalten. „periodisch, unregelmäßig und unverbindlich“.6 Durch die Reformen hat sich prekäre und atypische Beschäf- tigung ausbreiten können. Das zeigt sich vor allem bei der Teilzeitbeschäftigung und dem starken Anstieg von Leiharbeit.7 Diese Entwicklungen von Prekarität und In- stabilität bedeuten für Personen im Hartz-IV-Bezug, die durchaus eine Nähe zum Arbeitsmarkt haben, ein Spannungsfeld: Einerseits sollen sie den Ansprüchen des Staates an Flexibilität und Mobilität genügen, an- derseits müssen sie große Unsicherheit bewältigen. ZWISCHEN SCHUTZBEDARF UND SELBSTVERANTWORTUNG 4 Vgl. Schütt 2014. 5 Ebd. Die Studie beleuchtet nun das Handeln von Langzeit- 6 Zit. n. Schütt 2014, arbeitslosen in eben diesem Spannungsfeld zwischen S. 182. Selbstverantwortlichkeit und Unterstützungsbedürftig- 7 „In Abgrenzung zu Normalarbeitsver- keit. Beschrieben wird hier eine Gruppe, die trotz län- hältnissen definiert gerer Arbeitslosigkeit ihre Orientierung hin zum das Statistische Bundesamt sog. Arbeitsmarkt nicht verloren hat. Diese Gruppe hat bei atypische Beschäf- großer Eigeninitiative und Selbstverantwortung den tigungsverhältnisse. Wunsch, aus dem Hilfebezug herauszukommen, agiert Dazu werden Leih- arbeit/Zeitarbeit, dabei aber sehr vorsichtig und ergreift nicht jede Gele- geringfügige Be- genheit, um diesen Schritt zu gehen. Konkret ist ihr schäftigungsverhält- Wunsch, einer Arbeit nachgehen zu können, von der sie nisse, Teilzeitbe- schäftigung und gut leben können, die ein existenzsicherndes Einkom- befristete Beschäfti- men, Unabhängigkeit vom Jobcenter und Planbarkeit gungsverhältnisse gezählt.“ (Definition für ihr Leben gewährleistet. Als ein weiteres Merkmal der Bundeszentrale dieser Gruppe beschreibt Petra Schütt die geschwächten für politische Ressourcen, die aus unterschiedlichsten, auch biogra- Bildung: https://bit. ly/2t9vlWc, Abruf: fisch bedingten Problemen resultieren. Das sind z. B. 28.03.2019). schwierige Verhältnisse in der Herkunftsfamilie, psychi- Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt
17 Ausgabestelle der Frankfurter Tafel im Jahr 2018: Bedürftige können hier gegen Vorlage eines Nachweises Lebensmittel bekommen. sche Erkrankungen, Bildungsdefizite usw. Aufgrund die- sichere Basis sein soll, wird als wenig stabilisierend und ser eingeschränkten Ressourcen nehmen die Personen sichernd wahrgenommen und ist immer mit Anforde- die Grundsicherung durch den Wohlfahrtsstaat als rungen und dem Verlust von Autonomie verbunden. wichtigen und stabilisierenden Faktor in ihrem Leben Auf der anderen Seite des Spannungsfeldes stehen wahr. die Erfahrungen der Betroffenen mit Beschäftigungs- Die Feststellung der Grundsicherung aber ist ein verhältnissen, die vor allem Prekarität und Unsicherheit sich alle sechs Monate wiederholendes Verfahren, das bieten. Hier sehen die Betroffenen sich konfrontiert mit wiederum mit großen Unsicherheitsgefühlen und Arbeitgeber*innen, die nur über instabile Geschäfts- Ängsten einhergeht, denn ein stockendes Verfahren grundlagen verfügen, wo Insolvenz droht, Löhne spät oder der Ausfall von Leistungen kann kaum ausgegli- oder gar nicht gezahlt werden, Absprachen nicht ein- chen werden und führt zu existenzbedrohenden Situ- gehalten und Arbeitsverhältnisse vorzeitig beendet ationen. Zusätzlich stellen mögliche Anforderungen an werden. Bei vielen Arbeitslosen aus dieser Gruppe ent- die räumliche und berufliche Mobilitätsbereitschaft stand der Eindruck, dass sie von vornherein nur als spätestens bei Nichteinhaltung ein zusätzliches Risiko kurzfristige Aushilfen eingeplant waren. Dies führt für Sanktionen in Form von Kürzungen und/oder Strei- dauerhaft zu einem Gefühl des Ausgenutztwerdens und 8 Vgl. Schütt 2014, chungen von Zahlungen dar.8 Was also eigentlich eine der Nichtwürdigung ihrer Anstrengungen und Bemü- S. 184. Raus aus Hartz IV – nur wohin?
18 hungen.9 Der Arbeitsmarkt scheint ihnen nicht zugäng- lich und die eigenen Handlungsmöglichkeiten begrenzt. „SICHERHEIT ZUERST“ – EINE NEUE STRATEGIE Hier setzt nun die Strategie „Security first“, entgegen der Strategie „Work first“, als Handlungsmodell ein. Sie resultiert aus den o. g. Erfahrungen und nimmt den Hilfebezug als wichtigen Stabilitätsfaktor wahr. Ziel die- ser Strategie ist in erster Linie, offene Zukunftsszenarien sowie damit verbundene Instabilität weitestgehend zu vermeiden. Die Protagonisten dieser Strategie setzen ihre Ziele anders: „‘Security first‘-Verfechter verfolgen nicht eine möglichst schnelle, sondern eine möglichst stabile In- tegration ins Erwerbssystem.“10 Sie versuchen, schon auf dem prekären Arbeitsmarkt zu bestehen, nehmen dabei aber eine eigene Priorisierung vor, die an erster Stelle die individuelle Sicherheit setzt und die Risiken eben dieses Arbeitsmarktes begrenzt. Hier wird die Ei- geninitiative und Eigenverantwortlichkeit eingesetzt, um eine selbstbestimmte Lebensführung zu erhalten und dies bei gleichzeitigem Bezug von Hilfeleistungen. Der Verbleib im bestehenden System, ohne rauszu- gehen aus der ökonomischen Abhängigkeit von Leis- „‘Security first‘-Verfechter tungen, geschieht also nicht vorrangig aufgrund einer Haltung der Hilflosigkeit oder des Fehlens von Wahl- verfolgen nicht eine möglichst möglichkeiten, sondern mit dem Ziel, einen individu- ellen sicheren Rahmen für sich zu schaffen oder zu schnelle, sondern eine erhalten. Im Zentrum des Handelns dieser Gruppe steht nicht Autonomie, sondern die Begrenzung von Hetero- möglichst stabile Integration nomie. Der Wunsch nach Arbeit besteht, aber nicht um jeden Preis!11 ins Erwerbssystem.“ Das von dieser Gruppe gezeigte Verhalten liefert eine neue Sicht, die keineswegs dem Prinzip der er- lernten Hilflosigkeit entspricht, sondern im Rahmen der tatsächlich vorhandenen Wahlmöglichkeiten – sei die- ser Rahmen noch so gering – ein hohes eigenverant- wortliches Handeln zeigt. Diese neue Sicht könnte ein Zugang zu einer ver- änderten Haltung gegenüber erwerbslosen Menschen in unserer Gesellschaft sein. Nicht zufällig adressiert Petra Schütt als Zielgruppe u. a. Praktiker*innen in der sozialen Arbeit, der Arbeitsvermittlung, Träger der freien Wohlfahrtspflege sowie weitere kommunale Ak- teure, die in Beschäftigungs- und Qualifizierungs- maßnahmen mit Langzeitarbeitslosen arbeiten.12 Eine veränderte Haltung gegenüber Leistungsemp- fänger*innen und Menschen, die in das soziale Hilfe- system geraten, fordert auch der englische Filmemacher Ken Loach in seinem Film „Ich, Daniel Blake“. 9 Vgl. Schütt 2014, S. 185ff. 10 So in einer Presse- ABSTIEGSANGST ALS SPIELFILM-THEMA mitteilung des ISF Das Thema des Ausschlusses von sozialen Gruppen ist München: „Arbeit ja, aber nicht um jeden brandaktuell. Das zeigt sich nicht nur an der dringend Preis – Security first!“ notwendigen Hinterfragung der Sanktionskultur im (2014; https://bit. ly/2WuGb5K; Abruf: Zusammenhang mit Hartz IV. Die SPD erkennt an, dass 28.03.2019). das bisherige Verfahren so nicht mehr würdevoll und 11 Vgl. Schütt 2014, angemessen ist, eine Gesellschaft es sich nicht leisten S. 189f. 12 Vgl. Pressemitteilung kann, in Arme und Reiche gespalten zu sein. Zusätz- ISF 2014. lich herrscht in weiten Kreisen eine große Angst vor Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt
dem sozialen Abstieg vor. Diese hat geradezu kafka- angetastet. Dieser abstrakten, bürokratischen, sich hin- 19 eske Züge. ter Verfahrensvorschriften versteckenden Unmensch- „Bis in die Mitte der Gesellschaft hinein herrscht lichkeit des Systems setzt der Film den Appell an die durch Hartz IV Furcht, in eine Armutssituation hinein- Menschlichkeit und Solidarität entgegen.16 zugeraten. Denn man ist ja häufig nur eine schwere Krankheit oder eine Kündigung von der Armut entfernt. DIE HALTUNG VERÄNDERN Selbst dann, wenn man sich gegenwärtig noch in einer Die aufgeführten Beispiele zeigen Überlebensstrategien relativ günstigen und möglicherweise auch scheinbar für Leistungsempfänger*innen und Hilfebedürftige in- gesicherten materiellen Situation befindet.“ Dies stellt nerhalb eines Systems, das von Unsicherheit und Christoph Butterwege in „Hartz IV und die Folgen – Auf Wechsel geprägt ist. Die Studie „Security first. Erwerbs- dem Weg zu einer anderen Republik?“ fest.13 lose im Spannungsfeld zwischen Hilfebezug und pre- Auch die Filmwelt hat sich dieses Themas ange- kärem Arbeitsmarkt“ zeigt: Das Bedürfnis nach nommen. Sehr eindrücklich beschreibt Ken Loach in Sicherheit ist die Intention für das Handeln. Der oben seinem Film „Ich, Daniel Blake“ die Geschichte von beschriebene Film fokussiert das Bedürfnis nach Erhalt einem Zimmermann, der aufgrund gesundheitlicher der (Menschen-)Würde. Die Sicherheit ist ein essenziel- Probleme in die Abhängigkeit des sozialen Systems in les Grundbedürfnis des Menschen (A. Maslow) und die England gerät. Die Figur des Daniel Blake steht in die- Würde ein Grundrecht (Artikel 1 Grundgesetz). Das Stre- sem Film stellvertretend für die Gruppe steuerzahlender ben nach beidem geschieht aus einem existenziellen Durchschnitts-Engländer, bis er in die Mühle von Zu- Bedürfnis heraus sowie dem Wunsch der Zugehörigkeit. ständigkeiten, Antragsformularen und nicht nachvoll- Wer in unserer Gesellschaft dazugehört und wer ziehbaren Bestimmungen gerät. Dieses System zwingt nicht, wird noch immer hauptsächlich an der Erwerbs- ihn schließlich in die Knie und in eine existenzielle tätigkeit festgemacht. Hartz-IV-Empfänger*innen be- Notsituation. Der Film zeigt auf geradezu bedrückende finden sich im System der Arbeitslosen, der sozial Weise, wie jemand von heute auf morgen raus aus der Schwachen und Förderungsbedürftigen. Maßnahmen Erwerbstätigkeit ist und in die Abhängigkeit des Sozial- und Programme des Staates sollen zu einer Wiederein- staates gerät. gliederung in den Arbeitsmarkt beitragen. Im Film stellt sich Daniel dem britischen Sozialsys- Die Erfahrungen von 14 Jahren Hartz IV zeigen je- tem entgegen und verteidigt Menschlichkeit gegen bü- doch, dass Leistungsempfänger*innen, die das Hilfe- rokratische Kälte. Er lässt sich seine Würde von den system verlassen, sich nicht automatisch in einer Behörden nicht nehmen. Das geht schließlich soweit, sicheren Lebenssituation befinden. Der Wechsel von dass der Protagonist sich in letzter Konsequenz ent- einem in das andere System ist aufgrund der veränder- scheidet, keine weiteren Leistungen anzunehmen, ten Arbeitsmarktbedingungen und trotz aller Anstren- sondern in den Widerspruch zu gehen und damit aus gungen nur schwer möglich. Raus aus dem dem System der Unterstützungsleistungen ausgeschlos- Hartz-IV-System heißt noch lange nicht, im System der sen ist. Er verliert alles, bis es endlich zur Anhörung Gesellschaft zu sein, das eine Teilhabe am gesellschaft- seines Widerspruches kommt – für ihn jedoch zu spät, lichen, kulturellen und politischen Leben gewährleistet. weil er kurz zuvor an den Folgen seiner Erkrankung Die Gesetzgebung allein reicht auch nicht aus, um die- gestorben ist. se Teilhabe zu gewährleisten. Dies wird in der aktuellen Diesen Film haben wir im Rahmen des EU-Projektes politischen Diskussion und der Forderung nach Re- SEMPRE14 bei einer Veranstaltung mit langzeitarbeits- formen, die ein menschenwürdiges Leben unter losen Frauen und Männern gezeigt. In der anschlie- angemessenen materiellen Bedingungen für Leistungs- ßenden Diskussion wurde deutlich, dass viele der im bezieher*innen sichern, deutlicher denn je. Film gezeigten Situationen auf das deutsche Sozialsys- Darüber hinaus brauchen wir einen anderen Blick tem übertragbar sind. Alle Teilnehmenden kannten die auf das System der Leistungsempfänger*innen. Eine im Film gezeigten Schlüsselszenen aus ihrem eigenen grundsätzlich veränderte Haltung der Akteure in der Erleben als Hilfeempfänger*innen. Insbesondere die Politik, in der Verwaltung, im sozialen und bürokrati- 13 Zit. n. A. Arp: Wie von Schamhaftigkeit und dem Verlust der Würde ge- schen System, die das essenzielle Bedürfnis nach Si- Hartz IV Deutschland verändert hat, prägten Szenen, wie z. B. das Gefühl des Hungerns, und cherheit und Erhalt der Würde anerkennt und Deutschlandfunk, Situationen im Jobcenter, in denen sie sich wie Bitt- berücksichtigt. Denn das Handeln und Verhalten dieser 01.01.2015 (https:// steller*innen fühlten. Akteure hat unmittelbaren Einfluss auf die Bürger*in- bit.ly/2WuODSw, Ab- ruf: 28.03.2019). „‘Ich, Daniel Blake‘ ist die wütende Anklage eines nen, es dient als Vorbild und Orientierung. Ein verän- 14 Nähere Informatio- politischen Filmemachers, der sich mit sozialer Unge- derter Blick an diesen Schnittstellen, der die nen zum Projekt auf der KDA-Homepage: rechtigkeit und den Folgen für unsere Gesellschaft nicht Mitmenschlichkeit als Basis unseres Zusammenlebens https://www. abfinden kann“15 und er macht betroffen. Ein von Miss- wieder mehr im Fokus hat, kann im zweiten Schritt kda-nordkirche.de/ trauen geprägtes System, das sozial Schwache pauschal auch zu einem Diskurs und einer veränderten Haltung beitrag/18 (Abruf: 28.03.2019). verdächtigt, den Staat betrügen, Krankheit vortäuschen in der Gesellschaft beitragen. 15 Institut für Kino und und nicht arbeiten zu wollen, gibt die Basis für unser Filmkultur e. V.: soziales Zusammenleben und die Mitmenschlichkeit Film-Heft zu „Ich, Daniel Blake“ (o.O.) auf. Damit wird die Würde der Betroffenen und auch 2016, S. 4f. der potenziell Betroffenen letztendlich von uns allen 16 Vgl. ebd. Raus aus Hartz IV – nur wohin?
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