Rechtsfragen der Ausforschung vermisster Personen - Diplomarbeit - JKU ePUB
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Eingereicht von Reinhard Nosofsky Angefertigt am Institut für Strafrechtswissenschaften Beurteilerin Univ.-Prof.in Dr.in Lyane Sautner Februar 2021 Rechtsfragen der Ausforschung vermisster Personen Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Magister der Rechtswissenschaften im Diplomstudium Rechtswissenschaften JOHANNES KEPLER UNIVERSITÄT LINZ Altenberger Straße 69 4040 Linz, Österreich www.jku.at DVR 0093696
Eidesstattliche Erklärung Ich erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt bzw die wörtlich oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die vorliegende Diplomarbeit ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument identisch. Reinsberg, 11. Februar 2021 Unterschrift Februar 2021 Reinhard Nosofsky 2
INHALTSVERZEICHNIS Abkürzungsverzeichnis 5 1. Einleitung 7 1.1. Persönlicher Bezug zum Thema 8 1.2. Zielsetzung und Fragestellung 8 2. Definition der vermissten Person 9 3. Gründe für eine Abgängigkeit 10 4. Rechtliche Rahmenbedingungen 11 5. Polizeiarbeit 12 5.1. Zuständigkeit 13 5.2. Vermisstenanzeige 13 5.3. Erhebungen 14 5.4. Fahndung 14 5.5. Fahndungsarten 15 Gezielte Fahndung 15 Großfahndung 15 5.6. Ausschreibung 16 Fahndungssysteme 16 Arten von Ausschreibungen 17 5.7. Statistische Daten 18 5.8. Aufruf an die Öffentlichkeit 18 5.9. Ante-Mortem-Daten 19 5.10. Ende der Fahndung 20 6. Wann wird ein Vermisster für tot erklärt? 21 7. Das Ermittlungsverfahren 22 8. Der Anfangsverdacht 24 9. Berichtspflicht der Kriminalpolizei 27 10. Verfahrensbeteiligte 30 10.1. Der Angezeigte 30 Februar 2021 Reinhard Nosofsky 3
10.2. Der Verdächtige 30 10.3. Der Beschuldigte 31 10.4. Der Zeuge 31 11. Die Angehörigen als Opfer 32 12. Der Beweis 34 13. Indizien 35 14. Instruktionsprinzip 36 15. Die Doppelfunktionalität 36 16. Von der Befürchtung zum Anfangsverdacht 37 17. Von der Vermisstenanzeige zum Ermittlungsverfahren 38 18. Mord ohne Leiche 40 19. Schlussbemerkungen 43 20. Literaturverzeichnis 45 Februar 2021 Reinhard Nosofsky 4
Abkürzungsverzeichnis § Paragraph §§ Paragraphe /-n ABGB Allgemein bürgerliches Gesetzbuch Abs Absatz Art Artikel BlgNR Beilage(-n) zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates BMI Bundesministerium für Inneres BMJ Bundesministerium für Justiz bspw beispielsweise bzw beziehungsweise DNA engl. Desoxyribonucleinacid DVI engl. Disaster Victim Identification ErläutRV Erläuterungen zur Regierungsvorlage etc et cetera (und die übrigen [Dinge]) EvBl Evidenzblatt der Rechtsmittelentscheidungen ff folgend gem gemäß GFI Gemeinsame Fahndungs- und Informationsvorschrift GZ Geschäftszahl Hrsg Herausgeber ICPO International Criminal Police Organization (Interpol) iSd im Sinne des JAB Bericht des Justizausschusses JABl Amtsblatt der österreichischen Justizverwaltung (Jahr/Nummer) KAP Kompetenzzentrum für abgängige Personen LKA Landeskriminalamt LPD Landespolizeidirektion lit lat. Littera mE meines Erachtens NÖ Niederösterreich OGH Oberster Gerichtshof ÖJZ Österreichische Juristenzeitung österr. Österreichisch PFX Personenfahndungsdatei RL Richtlinie Rz Randziffer SIRENE Supplent d'Informations Requis à l'Entrée Nationale (Supplement Information Request at the National Entry) SIS II Schengener Informationssystem II sog sogenannt SPG Sicherheitspolizeigesetz StA Staatsanwaltschaft StAG Staatsanwaltsgesetz StGB Strafgesetzbuch StGG Staatsgrundgesetz StPO Strafprozessordnung TEG Todeserklärungsgesetz Februar 2021 Reinhard Nosofsky 5
ua unter anderem UbG Unterbringungsgesetz udgl und dergleichen vgl vergleiche WK Wiener Kommentar Z Ziffer zB zum Beispiel ZMR Zentrales Melderegister ZPEMRK Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Februar 2021 Reinhard Nosofsky 6
1. Einleitung In Österreich werden pro Jahr etwa 11.000 Vermisstenanzeigen bei der Polizei erstattet, das sind im Durchschnitt 30 Menschen an einem Tag. In den vergangenen vier Jahren wurden 85 Prozent der Vermisstenfälle nach einer Woche und 95 Prozent nach einem Monat geklärt. Die weitaus meisten Vermissten tauchen innerhalb kurzer Zeit wieder auf, und das unversehrt. Mit Juli 2020 waren dennoch 659 Personen, die länger als sechs Monate vermisst und 25 Personen mit dem Vermerk „Verbrechen befürchtet“ zur Fahndung ausgeschrieben. (Quelle Bundeskriminalamt, Kooperationszentrum für Abgängige Personen). Die Staatsanwaltschaft ist zuständig, wenn in einem Vermisstenfall der Verdacht besteht, dass es sich um ein Verbrechen handelt. Solange die Person „nur“ als vermisst gilt, ist das Sicherheitspolizeigesetz anzuwenden und es wird von der Polizei ohne das Zutun der Staatsanwaltschaft gefahndet. Zwischen der Strafprozessordnung (StPO), die mehr Möglichkeiten für die Ermittler bietet, und dem Sicherheitspolizeigesetz (SPG) steht der Anfangsverdacht als Schranke zum Eintritt in ein Ermittlungsverfahren. Nicht immer ist der Verdacht einer Straftat sofort erkennbar. Viele Mordfälle beginnen mit einer Vermisstenanzeige und auch Elisabeth Fritzl oder Natascha Kampusch waren Abgängige, nach denen gefahndet wurde. Dass ein Vermisstenfall bei Bekanntwerden vom Grad her niedriger eingestuft wird als ein Tötungsdelikt mit Tatort und Leiche erklärt sich anhand der Anzeigenhäufigkeit und der daraus resultierenden Polizeiroutine. Eine Vermisstenanzeige stellt per se auch keinen Anfangsverdacht für ein Ermittlungsverfahren dar. Gerade die ersten Wahrnehmungen, Aussagen und Informationen nach dem Verschwinden einer Person sind von enormer Bedeutung in einem möglichen späteren Ermittlungsverfahren. Das Diplomarbeitsvorhaben beschäftigt sich mit den Rechtsfragen, die bei Vermisstenfahndung auftreten einerseits – Wer darf die Anzeige wo und wann erstatten, was sind die Aufgaben der Polizei und wann betrifft es die Justizbehörden? – und andererseits den Spezifikationen, wenn es zu einem Strafverfahren bei ungeklärten Vermisstenfällen – möglicherweise zu einem „Mord ohne Leiche“ – kommt. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 7
1.1. Persönlicher Bezug zum Thema Die vorliegende Diplomarbeit zum Thema „Rechtsfragen der Ausforschung vermisster Personen“ entstand aus meiner beruflichen Tätigkeit als Kriminalbeamter. Ich habe als Fahnder und Mordermittler die traurigen Höhepunkte vieler persönlichen und familiären Katastrophen unserer Gesellschaft kennengelernt. Menschen verschwinden, tauchen unter oder nehmen sich eine Auszeit, die Gründe reichen von Stress oder Mobbing in der Schule, Ehekrisen, häuslicher Gewalt, Krankheit, Arbeitsplatzverlust und sozialem Abstieg, Ängsten und vielem mehr - und manchmal geht es um Freiheitsentziehung oder Mord. Das Faszinierende bei der Vermisstenfahndung ist das Agieren in einem nach allen Richtungen völlig offenem Ermittlungsfeld, was jedoch gleichzeitig eine spezielle Herausforderung für Polizei und Justizbehörden darstellt. Wenn die vermisste Person spurlos verschwunden bleibt und sich der Verdacht auftut, dass sich eine Straftat ereignet hat, wird unter Umständen der Vermisstenfall zum Mordfall. Ein Strafverfahren womöglich ohne unmittelbare Beweise stellt eine besondere Herausforderung für die Ermittlungsbehörden dar, anhand von Indizien und einem plausiblen Motiv muss ein Tatverdächtiger überführt werden. 1.2. Zielsetzung und Fragestellung Das Diplomarbeitsprojekt beschäftigt sich mit der Vermisstenfahndung sowie dem Ablauf von der Anzeigeerstattung bis in ein mögliches Strafverfahren. In einer Analyse dieses Prozesses sollen auftretende Rechtsfragen geklärt werden. Der Begriff „Verdacht“ soll mit besonderem Interesse betrachtet werden. Was sind tatsächliche Anhaltspunkte, die für einen Anfangsverdacht erforderlich sind1 und wie werden bloße Vermutungen oder ein „Bauchgefühl“ eingeordnet? 1 Vgl BMJ Erlass BMJ-S578.028/0021-IV 3/2014 eJABl 13/2014. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 8
In der Diplomarbeit sollen einerseits die Besonderheiten der Ausforschung vermisster Personen aufgezeigt sowie mögliche Fehlerrisiken identifiziert und andererseits die Spezifikationen in einem Strafverfahren „Mord ohne Leiche“ diskutiert werden. In derartigen Strafverfahren rücken vor allem der mittelbare Beweis und die Motivsuche ins Zentrum der Ermittlungen. Darüber hinaus soll die Rolle der Angehörigen von vermissten Personen als Opfer wie auch die Möglichkeiten, wenn es darum geht, die Angelegenheiten der vermissten Person endgültig zu regeln, betrachtet werden. 2. Definition der vermissten Person Wenn wir von Vermissten sprechen und sich diesem Thema nähern, ist zunächst ein etymologischer Blick auf das Wort „vermissen“ unumgänglich. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird das Wort vermissen häufiger im übertragenen, als im unmittelbaren Wortsinn verwendet. Die eigentliche Bedeutung wird als „Mit Bedauern bewusst sein, dass jemand, etwas nicht mehr in der Nähe ist, [...] und dies als persönlichen Mangel empfinden“2 beschrieben. Im übertragenen Sinn wird das Wort vermissen regelmäßig auch dann verwendet, wenn das kurzfristige oder auch momentane Fehlen gemeint ist. Man vermisst möglicherweise auch einen nahestehenden Menschen, der nach Amerika ausgewandert oder verstorben ist. Im Kontext dieser Diplomarbeit bezieht sich vermissen immer auf die unmittelbare Bedeutung, es geht um verschwundene Personen, von denen wir nicht wissen, ob sie lebendig oder tot sind, weil wir weder ihren Aufenthaltsort noch ihr Schicksal kennen. 2 Duden, Wörterbuch, https://www.duden.de/node/197034/revision/197070 (abgerufen am 21.10.2020). Februar 2021 Reinhard Nosofsky 9
3. Gründe für eine Abgängigkeit Die Gründe, warum Menschen als abgängig gemeldet werden müssen, sind vielfältig. Probleme in der Schule oder mit dem Studium, Missbrauch, Liebeskummer, aber auch Gewalt innerhalb der Familie, Mobbing und Drogen sind nur demonstrative Beispiele, warum Menschen einfach verschwinden.3 Ein Unfall im alpinen Gelände oder in einem Gewässer sowie ein Suizid an exponierten Orten kommen ebenso in Frage, wie ein verübtes Verbrechen. Drei Sachverhalte aus der Praxis sollen beispielhaft veranschaulichen, wie mannigfaltig die Gründe für eine Abgängigkeit sind. Dem „Hamsterrad“ entfliehen, alles hinter sich lassen wollte der gut situierte Manager und Vater zweier Kleinkinder als er an jenem Tag nach einem Meeting in Wien sein Handy abschaltete, es aus dem Fenster seines SUV warf und direkt etwa 1.700 km bis in ein kleines Fischerdorf nach Südfrankreich gefahren ist. Seine Gattin war davon überzeugt, dass ihr Mann einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, als sie die Vermisstenanzeige machte. Alles deutete auf ein Gewaltverbrechen hin, als der junge Fabrikarbeiter seinen Kollegen kurz vor Beginn der Schicht im Umkleideraum der Firma sagte, dass er noch kurz was von seinem Auto am Parkplatz holen müsse, und nicht zurückkam. Die Annahme war ein Unfall auf dem Firmengelände oder eine Straftat. Niemand ahnte, dass der Mann seinen lang gehegten Wunsch, sein Leben als Frau zu führen, in diesem Moment spontan in die Tat umsetzte. Als der alleinstehende Mitvierziger nicht mehr die Sozialhilfe vom Magistrat abholte und auch in seiner Wohnung in Wien nicht angetroffen werden konnte, wurde angenommen, dass er „auf die Straße“ gegangen sei. Dies hatten die amtliche Abmeldung und Neuvergabe der Wohnung zur Folge, eine Vermisstenanzeige unterblieb jedoch. Als acht Jahre später bei Holzarbeiten im nördlichen NÖ eine unbekannte Leiche gefunden wurde, sollten die Ermittlungen nach erfolgter Identifizierung ergeben, dass der „nicht vermisste“ Mann tatsächlich von seinem psychisch kranken Nachbar erschossen wurde. 3 Vgl BMI, Bundeskriminalamt, Kompetenzzentrum für Abgängige Personen (KAP) https://bundeskriminalamt.at/ 404/files/KAP. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 10
Der Grund für die Abgängigkeit einer Person ist die erste Frage, mit der sich eine Ermittlerin oder ein Ermittler intensiv auseinandersetzen muss. Ist ein Mensch verschwunden, sind zumindest in der Annahme alle denkmöglichen Szenarien als Hypothesen zu bilden und auf ihre Plausibilität und Wahrscheinlichkeit vor dem Hintergrund der Faktenlage zu prüfen. Dieser Prozess ist unstrittig richtungsgebend für die weiteren Maßnahmen. 4. Rechtliche Rahmenbedingungen Der gesetzliche Auftrag der Polizei zur Bearbeitung von Vermisstenfällen resultiert primär auf dem sicherheitspolizeilichen Recht zur Gefahrenabwehr und zur Allgemeinen Hilfeleistung - wenn ein Anfangsverdacht begründet ist - aus der Pflicht zur Strafverfolgung. Das Sicherheitspolizeigesetz (SPG) dient als grundlegende Ermächtigung bei bestimmten Verdachtsmomenten (§ 24 Abs 1 SPG) eine Personenfahndung und damit notwendige Erhebungsmaßnahmen durchzuführen. Die Sicherheitsverwaltung wird von den Sicherheitsbehörden besorgt (§ 2 Abs 1 SPG). Dem Bundesministerium für Inneres (BMI) sind die Landespolizeidirektionen (LPD) in jedem Bundesland unterstellt und in den Ländern Bezirksverwaltungsbehörden nachgeordnet (§ 4 SPG). Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft sind nach der Strafprozessordnung (StPO) verpflichtet, eine mit gerichtlicher Strafe bedrohte Handlung – Voraussetzung dafür ist das Vorliegen eines Anfangsverdachtes gem § 1 Abs 3 StPO – aufzuklären. Die Erfüllung der „Aufgabe Kriminalpolizei“ wird gem § 18 Abs 2 StPO exklusiv den Sicherheitsbehörden übertragen. Demnach werden die Sicherheitsbehörden je nach konkreter Aufgabenstellung, entweder im Rahmen der Sicherheitsverwaltung oder als Kriminalpolizei tätig. „Kriminalpolizei“ ist also als funktionaler Begriff zu verstehen und definiert keine Februar 2021 Reinhard Nosofsky 11
Organisation.4 Die Zuständigkeit ergibt sich nach der, im SPG normierten Behördenstruktur der Sicherheitsbehörden. Staatsanwaltschaften oder Gerichte sind nicht direkte Auftraggeber bestimmter Polizeidienststellen oder einzelner Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, die den Sicherheitsbehörden zur Erledigung ihrer Aufgaben zur Verfügung stehen. Es werden formell immer nur die Sicherheitsbehörden in Anspruch genommen. Bei der Besorgung der Aufgabe „Kriminalpolizei“ werden deshalb die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes funktionell als Organe der Sicherheitsbehörde und nicht als unmittelbar der Justiz zurechenbare Organe tätig.5 Die Gemeinsame Fahndungs- und Informationsvorschrift der Bundesministerien für Inneres, Justiz und Finanzen 2020 regelt ua die mit der Ausschreibung von Fahndungen (§ 24 SPG) in Zentralen Informationssammlungen in Zusammenhang stehenden Maßnahmen der Sicherheitsbehörden.6 5. Polizeiarbeit Für gewöhnlich wird die Abgängigkeitsanzeige bei einer Polizeidienststelle dann erstattet, wenn eine Person von einem Angehörigen, vom Arbeitgeber oder einer sonstigen Bezugsperson vermisst wird. Das kann bedeuten, dass eine Person ihren gewohnten Lebenskreis verlassen hat, jedenfalls aber ihr derzeitiger Aufenthalt unbekannt ist. Voraussetzung ist, dass die verschwundene Person zumindest von einer anderen Person „vermisst“ wird. Unter diesem Punkt sollen die Fragen der Zuständigkeit und die Möglichkeiten der polizeilichen Maßnahmen bei der Personenfahndung geklärt, aber auch dem Mythos eine Person erst nach 24 Stunden abgängig zu melden auf den Grund gegangen werden. 4 Vgl Birklbauer, Strafprozessrecht8 (2016), Rz 2/1. 5 Vgl Lepuschitz/Schindler, SPG6 (2012) 7. 6 Vgl Erlass BMI, BMJ, BMF GFI 2020, GZ 2020-0.287.097 (2020) 13. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 12
5.1. Zuständigkeit Ein Vermisstenfall wird grundsätzlich gem § 10 SPG von der örtlich zuständigen Polizeiinspektion bearbeitet. Die Rechtsgrundlage zur Fahndung nach Abgängigen findet sich im § 24 SPG. Fahndungsmaßen können, abhängig von den Umständen des Falles auch von den Landeskriminalämtern durchgeführt werden. Wenn sich die vermisste Person im Ausland aufhalten könnte, wird auch das Bundeskriminalamt als Schnittstelle zu anderen Staaten tätig.7 5.2. Vermisstenanzeige Tatsächlich gibt es keine Definition oder gesetzliche Schranke, wann eine Person als vermisst oder abgängig (österr. Amtssprache) gilt. Die Polizei empfiehlt eine Anzeigeerstattung, sobald sich eine Person entgegen ihren Gewohnheiten nicht mehr meldet oder deren Abwesenheit oder Verspätung unerklärlich oder ungewöhnlich sind und man davon ausgehen kann, dass die Person verschwunden ist.8 Den Mythos, dass eine Anzeige erst nach 24 oder 48 Stunden aufgenommen wird, gibt es demnach nicht. Es existieren keine gesetzlichen Fristen, die einzuhalten sind, bevor eine Vermisstenanzeige erstattet werden kann. Erwachsene haben jedoch, sofern sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind, das verfassungsrechtlich verbriefte Recht ihren Aufenthaltsort frei zu wählen, auch ohne dies ihren Verwandten oder Freunden mitzuteilen (Art 6 Abs 1 StGG; Art 2 Abs 1 4. ZPEMRK). Die Polizei nimmt, basierend auf den Hinweisen und Angaben der anzeigenden Person, sämtliche Daten zur vermissten Person auf. Dazu gehören neben der Personenbeschreibung, der Kleidung und mitgenommenen Gegenständen/Dokumenten natürlich auch mutmaßliche Gründe für die Abgängigkeit sowie Anhaltspunkte für einen Verdacht auf Suizid, Unfall oder Verbrechen. 7 Vgl BMI Bundeskriminalamt, Fahndung & Internationales, https://bundeskriminalamt.at/404/ (abgerufen am 21.10.2020). 8 Vgl oesterreich.gv.at, Abgängigkeitsanzeige, https://www.oesterreich.gv.at/themen/gesundheit_und_ notfaelle/vermisst/Seite.2970010.html (abgerufen am 21.10.2020). Februar 2021 Reinhard Nosofsky 13
5.3. Erhebungen Wird eine Vermisstenanzeige erstattet, starten unverzüglich die polizeilichen Erhebungen und die Fahndung nach der Person. Im Rahmen der sicherheitspolizeilichen Gefahrenerforschung (§ 16 Abs 4 SPG) sowie der Hilfeleistungspflicht (§ 19 SPG) wird eine Nachschau am Ort des letzten Aufenthaltes (Wohnung/Wohnhaus, Keller, Dachboden, Stallungen, etc.) der vermissten Person sowie Erhebungen im Umfeld (Nachbarn, Arbeitsplatz, Vereine, usw.) durchgeführt und eine Funkfahndung eingeleitet. Die Daten der vermissten Person werden mit dem Zentralen Melderegister (ZMR), der Anhaltedatei- Vollzugsverwaltung der Justiz sowie den Evidenzen in Kranken- und Pflegeanstalten, Obdachlosenunterkünften etc abgeglichen, Auskünfte zur Telekommunikation (Verkehrs-, Zugangs- und Standortdaten) eingeholt sowie erkennungsdienstliches Vergleichsmaterial (Ante-Mortem-Daten) von der vermissten Person gesichert. Doch zunächst zur eigentlichen Suche nach der vermissten Person und zu den Möglichkeiten der Fahndung. 5.4. Fahndung Unter Fahndung versteht man die planmäßige gezielte (oder unter Zuhilfenahme der Öffentlichkeit durchgeführte) Suche nach Personen und Gegenständen. Diese erfolgt zum Zweck der Gefahrenabwehr oder der Strafverfolgung.9 Die Polizei leitet gem § 24 SPG eine Fahndung ein, wenn befürchtet wird, dass Suizidgefahr besteht oder die abgängige Person Opfer einer Gewalttat oder eines Unfalls geworden sein könnte, die abgängige Person auf Grund einer psychischen Behinderung hilflos ist oder Leben oder Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet oder wenn es sich um eine Minderjährige oder einen Minderjährigen handelt und ein Ersuchen eines berechtigten Elternteils (§ 162 Abs 1 ABGB) vorliegt. 9 Vgl Möllers (Hrsg.), Wörterbuch der Polizei, München (2001), 541. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 14
An der Stelle ist anzuführen, dass § 24 SPG eine reine Aufgabennorm darstellt, und der Polizei nach dieser Bestimmung keine Eingriffsrechte hinsichtlich der Fahndungs- maßnahmen selbst oder danach zusteht. Die Fahndung darf grundsätzlich nur mit Mitteln durchgeführt werden, die nicht in die Rechte des Menschen eingreifen (§ 28 Abs 2 SPG). Die sicherheitspolizeilichen Maßnahmen zur Durchführung der Fahndung nach einer vermissten Person sind stets vor dem Hintergrund der Verhältnismäßigkeit (§ 29 SPG) zu betrachten. 5.5. Fahndungsarten Im Folgenden werden die gezielte Fahndung sowie die Großfahndung als Methoden der operativen „aktiven“ Fahndung nach vermissten Personen dargestellt. Gezielte Fahndung Dabei handelt es sich um örtlich begrenzte Fahndungsmaßnahmen aufgrund konkreter Anhaltspunkte über den Aufenthalt einer gesuchten Person unter Annahme, dass dem Zweck der Fahndung unmittelbar entsprochen werden kann.10 Ein konkreter Hinweis zum Aufenthaltsort einer vermissten Person an einem bestimmbaren, abgrenzbaren Ort würde demnach eine „gezielte Fahndung“ auslösen. Großfahndung Wenn die Gefahr besteht, dass ein Vermisster Selbstmord begehen könnte oder Opfer einer Gewalttat oder eines Unfalles geworden ist (§ 24 Abs 1 Z 2 SPG) und die Bedeutung des Falles den Aufwand rechtfertigt ist eine Großfahndung - die Suche in einem bestimmten begrenzten Gebiet durch Konzentration von Einsatzkräften - einzuleiten. Großfahndungen sind durch die, für das betroffene Gebiet örtlich zuständige Sicherheitsbehörde anzuordnen.11 10 Vgl Erlass BMI/BMJ/BMF, GFI 2020, GZ 2020-0.287.097 (2020) 8. 11 Vgl Erlass BMI, Besondere Fahndungsmaßnahmen, GZ 2020-03.22.623 (2020) 2. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 15
Bei derartigen Fahndungen sind orientiert an der Zweckmäßigkeit der Einsatz von Suchmannschaften, Diensthunde, Hubschrauber und Wärmebildkameras denkbar. 5.6. Ausschreibung Wir wollen uns nun der „passiven“ Fahndungsmethode, nämlich der Ausschreibung der Person zuwenden. Sobald eine Anzeige erstattet wird und die geforderten Kriterien (§ 24 SPG) vorliegen, erfolgt eine Speicherung der Personendaten in den nationalen und internationalen elektronischen Fahndungssystemen. Damit wird „per Knopfdruck“ eine nationale, wie europaweite Fahndung und bei Hinweisen, dass sich die vermisste Person im außereuropäischen Raum aufhält, zusätzlich eine weltweite Fahndung eingeleitet. Fahndungssysteme Die Daten von abgängigen Personen werden in der österreichischen zentralen Informationssammlung (PFX)12 sowie im gemeinsamen elektronischen 13 Fahndungssystem der Schengen-Staaten (SIS II) gespeichert. Das SIS II wird in 26 europäischen Ländern verwendet, nämlich in 22 EU Mitgliedstaaten (Bulgarien, Irland, Kroatien, Rumänien und Zypern sind derzeit nicht mit dem SIS II verbunden) sowie Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz. Die Fahndungsdaten aus den Mitgliedstaaten werden in die Zentraleinheit in Straßburg eingespeist. In jedem Mitgliedstaat existiert ein SIRENE-Büro als Ansprechstelle für nationale Behörden und Kontaktstelle zu den anderen Staaten.14 Das SIRENE-Büro Österreich ist im Bundesministerium für Inneres, Bundeskriminalamt eingerichtet. Zu den Interpol-Fahndungen zählen alle Fahndungsmaßnahmen, die über den Bereich von Schengen hinausgehen. Hier werden die Daten der vermissten Person den Interpol Mitgliedstaaten übermittelt. Die ICPO wurde 1923 in Wien gegründet und ist heute eine weltweite kriminalpolizeiliche Organisation mit derzeit 194 Mitgliedstaaten15 mit dem 12 Vgl § 57 SPG. 13 Vgl VO (EG) Nr. 1987/2006 Art 1. 14 Vgl M. Zwerenz, Das Schengener Informationssystem, JAP 2005/2006/33, (204). 15 Vgl BMI Bundeskriminalamt, Fahndung & Internationales, https://www. bundeskriminalamt.at/ 402/start.aspx. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 16
Zweck des koordinierten und strukturierten Austausches personenbezogener Daten in Fahndungs- und /oder Ermittlungsfällen. Bei vermissten Personen in Österreich werden grundsätzlich erst bei konkretem Auslandsbezug durch das Bundeskriminalamt als nationales Zentralbüro (NZB) ein Auslandsschriftverkehr auf dem Interpol Kanal eingeleitet.16 Die Prüfung auf Rechtmäßigkeit der durchzuführenden Speicherung und die Richtigkeit der zu speichernden Daten haben die Behörden und Dienststellen vor der Veranlassung der Ausschreibung vorzunehmen und nach erfolgter Speicherung deren Richtigkeit durch eine Abfrage zu überprüfen.17 Arten von Ausschreibungen Bei der Ausschreibung von vermissten Personen ist zwischen Fahndungsgründen mit und ohne Freiheitsentziehung zu unterscheiden. Entwichene Personen, die nach dem UbG untergebracht sind sowie abgängige Minderjährige, wenn ein Selbstmord, eine Gewalttat oder ein Unfall befürchtet wird oder ein Ersuchen eines berechtigten Elternteiles (§ 162 Abs 1 ABGB) vorliegt, werden gem § 57 iVm § 24 SPG zur Festnahme ausgeschrieben. Abgängige psychisch beeinträchtigte Personen und Volljährige werden in den Fahndungssystemen zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben. Ebenso verhält es sich bei Minderjährigen, sofern kein Fahndungsgrund gem § 24 Abs 1 Z 2 SPG vorliegt oder kein Ersuchen eines berechtigten Elternteiles (§ 162 Abs 1 ABGB).18 Die Ausschreibung der vermissten Person in den Fahndungssystemen ist unverzüglich zu veranlassen, wenn „gezielte Fahndungen“ oder sonstige Fahndungsmaßnahmen zu keinem Erfolg geführt haben.19 16 Vgl Erlass BMI/BMJ/BMF, GFI 2020, GZ 2020-0.287.097 (2020) 57. 17 Vgl Erlass BMI/BMJ/BMF, GFI 2020, GZ 2020-0.287.097 (2020) 13. 18 Vgl Erlass BMI/BMJ/BMF, GFI 2020, GZ 2020-0.287.097 (2020) 56. 19 Vgl Erlass BMI/BMJ/BMF, GFI 2020, GZ 2020-0.287.097 (2020) 38. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 17
5.7. Statistische Daten Eine Auswertung20 der gespeicherten Daten in der österreichischen zentralen Informationssammlung (PFX) zeigte mit Stand Juli 2020 folgendes Bild: VERMISSTE PERSONEN ANZAHL insgesamt 807 länger als sechs Monate 659 Suizid befürchtet 79 Unfall befürchtet 138 Verbrechen befürchtet 25 Minderjährige 292 Sonstige Fahndungsgründe 273 5.8. Aufruf an die Öffentlichkeit Die Sicherheitsbehörden können selbst (z.B.: Internet) oder unter Zuhilfenahme von Medienunternehmen (zB: Rundfunk, Fernsehen, Print- und elektronische Medien, Infoscreen, etc) durch Veröffentlichung die Bevölkerung um Bekanntgabe zweckdienlicher Hinweise ersuchen.21 Die Bekanntgabe personenbezogener Daten ist zulässig, wenn bei abgängigen Minderjährigen ein entsprechendes Ersuchen gem § 162 Abs 1 ABGB des Erziehungsberechtigten sowie dessen Zustimmung zur Veröffentlichung vorliegt. Im Falle eines erwachsenen Abgängigen kann ein Aufruf an die Öffentlichkeit nur dann durchgeführt werden, wenn ein betrauter Sachwalter oder Abwesenheitskurator der Übermittlung zugestimmt hat.22 20 BMI Bundeskriminalamt, Auswertung der Vermisstendatenbank im Kompetenzzentrum für abgängige Personen. 21 Vgl Erlass BMI, GZ 2020-03.22.623 (2020) 5. 22 Vgl Erlass BMI, GZ 2020-03.22.623 (2020) 6. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 18
Exkurs zum Abwesenheitskurator Nur mit einer Vollmacht ausgestattete Personen oder eine vom Gericht bestellte gesetzliche Vertreterin/ ein vom Gericht bestellter gesetzlicher Vertreter, sogenannte Abwesenheitskuratoren (§ 276 ABGB) können Rechtshandlungen (z.B. Zahlung von Schulden, Abgabe von Steuererklärungen, Zugriff auf Konten und Sparbücher) für die vermisste Person setzen. Der Abwesenheitskurator muss die unauffindbare Person vertreten und wird dabei vom Gericht kontrolliert.23 5.9. Ante-Mortem-Daten Sicherheitsbehörden sind gem § 65a SPG ermächtigt, erkennungsdienstliche Daten eines Menschen zu ermitteln, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, dass dieser Selbstmord begangen hat, Opfer einer Gewalttat oder eines Unfalls geworden ist. Liegt eine Straftat, also eine mit gerichtlicher Strafe bedrohte Handlung vor und ist eine bestimmte Person verdächtig, gelten ausschließlich die Bestimmungen der StPO als Regelwerk für das Strafverfahren (§ 1 Abs 1 StPO). Davon unberührt bleiben ua jedoch die Bestimmungen über den Erkennungsdienst sowie die Verarbeitung dieser Daten (§ 22 Abs 3 SPG).24 Bei erkennungsdienstlichen Daten handelt es sich um biometrische oder genetische Daten, wie Papillarlinienabdrücke, DNA, Abbildungen, Messungen sowie Stimmproben, äußerliche körperliche Merkmale und Schriftproben eines Menschen mit dem Zweck der Wiedererkennung (§ 64 Abs 2 SPG). In der Praxis wird bspw bei der Vermisstenanzeige ein Lichtbild der abgängigen Person übergeben. Ebenso kann DNA-Material auf Zahnbürsten und Rasierer gesichert werden. Auf dem Büchereinband oder dem Musikinstrument der vermissten Person können Fingerabdruckspuren abgenommen und die zahnmedizinischen Daten in Form von Röntgenbildern oder Gebissabdrücken ermittelt werden.25 Ist dabei die Mitwirkung von 23 Vgl OGH 06.07.2016, 7 Ob 51/16z. 24 Vgl Kroschl in Schmölzer/Mühlbacher (Hrsg.), StPO Praktikerkommentar zu § 1 Rz 7 (2015). 25 Vgl ErläutRV 1138 BlgNr XXI GP 33; vgl BMI Bundeskriminalamt, Kriminalistischer Leitfaden, http://www.bk.bmi.intra.gv.at/Krim-Navigator/Tatortleitfaden/SitePages/Homepage.aspx. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 19
Angehörigen (sog Dritte) erforderlich, ist auf den amtlichen Charakter der Ermittlungen und auf die Freiwilligkeit der Mitwirkung hinzuweisen.26 Die rechtliche Grundlage hierfür findet sich in § 65a letzter Satz SPG. Diese Ante-Mortem-Daten werden durch das Bundeskriminalamt national und international mit Post-Mortem-Daten von unbekannten Leichen abgeglichen.27 Das DNA-Profil, die Fingerabdrücke und die Zahnschemata einer Person gelten in einem, nach Interpolstandards geführten Identifizierungsprozess als primäre Identifizierungskriterien („Primary Identifiers“).28 Das Löschen von erkennungsdienstlichen Daten erfolgt nicht nur auf Antrag der Betroffenen (§ 74 Abs 3 SPG) sondern auch nach den Bestimmungen des § 73 SPG von Amts wegen. Erkennungsdienstliche Daten von Vermissten, die gem § 65a SPG ermittelt wurden sind demnach von Amts wegen, nach Auffindung des Betroffenen oder im Falle der Feststellung des Todes nach fünf Jahren zu löschen (§73 Abs 4 SPG). Dieser Umstand kann nicht nur zu kollidierenden Interessen bei den Angehörigen von vermissten Personen führen, sondern ebenso die Identifizierung einer später aufgefundenen unbekannten Leiche verhindern. 5.10. Ende der Fahndung Wird eine gefahndete Person aufgegriffen, ist der Fahndungserfolg eingetreten und demnach die Ausschreibung unverzüglich zu widerrufen.29 Handelt es sich um eine volljährige, geistig gesunde Person, wird lediglich deren Aufenthaltsort festgestellt. Minderjährige und zwingend unter 14-jährige (Unmündige) werden zum Erziehungsberechtigten gebracht und übergeben. 26 Vgl VwGH 07.10.2003, 2003/01/0191. 27 Vgl Erlass BMI/BMJ/BMF, GFI 2020, GZ 2020-0.287.097 (2020) 58. 28 Vgl Interpol, DVI Guide (2018) 17. 29 Vgl Erlass BMI/BMJ/BMF, GFI 2020, GZ 2020-0.287.097 (2020) 59. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 20
Bei gerichtlicher Todeserklärung einer vermissten Person, werden die Fahndung und deren Ausschreibung in den Fahndungssystemen PFX und SIS II nicht widerrufen.30 6. Wann wird ein Vermisster für tot erklärt? Eine besonders schwere Frage, mit der sich Angehörige einer verschwundenen Person früher oder später konfrontiert sehen, weil nicht zuletzt deren Angelegenheiten eines Tages endgültig erledigt werden müssen. Nach dem Todeserklärungsgesetz (TEG) können unter gewissen Voraussetzungen die Todeserklärung (§§ 3 bis 7 TEG) bzw die Beweisführung des Todes (§ 21 TEG) angestrebt werden. Beide Verfahren erfolgen immer nur aufgrund eines Antrages, niemals wird von Amts wegen wird ein Verfahren über eine Todeserklärung eröffnet.31 Die Verschollenheit einer Person stellt die Grundvoraussetzung der Todeserklärung dar.32 Eine Person gilt als verschollen, wenn ihr Aufenthaltsort allgemein nicht feststellbar ist, es über längere Zeit keinerlei „Lebenszeichen“ von der verschollenen Person gibt und für den Tod dieser Person eine „hohe Wahrscheinlichkeit“ spricht.33 Die Prüfung der Voraussetzungen für eine Verschollenheit unterliegen einem strengen Maßstab.34 Ab wann eine Person für tot erklärt werden kann, hängt von der Art des Verschwindens ab. Handelt es sich um ein bestimmbares, bekanntes Ereignis, sinkt die Verschollenheitsfrist, die abgelaufen sein muss, ehe eine Person für tot erklärt werden kann. Passagiere eines verunglückten Flugzeuges können bereits nach drei Monaten für tot erklärt werden. Bei Seefahrenden liegt die Frist bei sechs Monaten und in allen anderen Unglücksfällen muss zunächst ein Jahr gewartet werden. Personen unter fünfundzwanzig Jahren dürfen nicht für tot erklärt werden, wenn ihr Verschwinden nicht erkennbar mit einem Unfall in Zusammenhang steht. Personen über fünfundzwanzig 30 Vgl Erlass BMI/BMJ/BMF, GFI 2020, GZ 2020-0.287.097 (2020) 58. 31 Vgl G. Aichinger, Die Todeserklärung österreichischer Flutopfer, ÖJZ 2006/01 1. 32 Vgl Ferrari/Guggenberger, Todeserklärung (Stand 01.3.2020, Lexis Briefings in lexis360.at). 33 Vgl § 1 TEG, OGH 28.11.1991, 8 Ob 599/90, RZ 1993/63. 34 Vgl OGH 06.10.1961, 3 Ob 209/61, EvBl 1961/313. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 21
Jahren nach zehn Jahren und Personen über achtzig, nach fünf Jahren. Gem § 13 TEG ist jenes Bezirksgericht zur Todeserklärung zuständig, in dessen Sprengel die verschollene Person ihren letzten gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte, subsidiär das Bezirksgericht Innere Stadt Wien. Der Beschluss begründet die Vermutung des Todes und bewirkt den Eintritt der Rechtsfolgen des Todes.35 7. Das Ermittlungsverfahren Das Strafverfahren gem § 1 Abs 2 StPO beginnt, sobald Kriminalpolizei oder Staatsanwaltschaft zur Aufklärung eines Anfangsverdachts nach den Bestimmungen der §§ 91 ff. StPO ermitteln. Viele Verfahren beginnen auch damit, dass eine Anzeige gegen einen (un)bekannten Täter erstattet wird, aufgrund welcher von der Staatsanwaltschaft oder der Kriminalpolizei Ermittlungen durchgeführt werden. Das Ermittlungsverfahren ist durch die Zusammenarbeit der Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei gekennzeichnet.36 Auch wenn das Verfahren „so weit wie möglich“ im Einvernehmen mit der Kriminalpolizei („Kooperationsprinzip“) zu führen ist, liegen die Verantwortlichkeiten klar auf Seiten der Staatsanwaltschaft,37 die auch in ihrer Leitungsbefugnis verbindliche Anordnungen an die Kriminalpolizei erteilen kann.38 Das Ziel des Ermittlungsverfahrens ist, Tatverdacht und Sachverhalt soweit zu klären, dass die Staatsanwaltschaft über eine Anklage, Rücktritt von der Verfolgung oder die Einstellung des Verfahrens entscheiden kann (Ermittlungs- und 39 Entscheidungsfunktion). Im Fall der Anklage bilden die Ergebnisse des 35 Vgl G. Aichinger, Die Todeserklärung österreichischer Flutopfer, ÖJZ 2006/01 1. 36 Vgl Vogl in Fuchs/Ratz, WK StPO § 98 Rz 2 (Stand 11.5.2020, rdb.at); vgl Bertel in Bertel/Venier (Hrsg), StPO: Kommentar (2012) zu § 98 Rz 1. 37 Vgl Birklbauer, Strafprozessrecht8 (2016) Rz 9/1. 38 Vgl § 98 Abs 1 StPO; Nimmervoll in Nimmervoll (Hrsg), Das Strafverfahren2 (2017) Rz 39; vgl Bertel in Bertel/Venier (Hrsg), StPO: Kommentar (2012) zu § 98 Rz 1. 39 Vgl Vogl in Fuchs/Ratz, WK-StPO (Stand: 1.11.2019, rdb.at) § 91 Rz 2; vgl ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 118f; vgl Koller in Schmölzer/Mühlbacher, StPO I1.02 (Stand April 2015, lexisnexis.at) § 91 StPO Rz 2; vgl Koenig/Pilnacek, ÖJZ 2008/3 12; vgl Pilnacek/Pleischl, Das neue Vorverfahren (2004) Rz 364ff. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 22
Ermittlungsverfahrens die Grundlage für die Durchführung der Hauptverhandlung. (Sicherungsfunktion).40 Eine Ermittlung iSd § 91 Abs 2 StPO ist: „jede Tätigkeit der Kriminalpolizei, der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts, die der Gewinnung, Sicherstellung, Auswertung oder Verarbeitung einer Information zur Aufklärung des Verdachts einer Straftat steht.“41 Ermittlungen iSd § 91 Abs 2 StPO sind entweder als Erkundigung (§ 151 Z 1 StPO) oder als Beweisaufnahme (§§ 109 ff StPO) zu führen.42 Die Erkundigung als Vorbereitung auf die eigentliche Beweisaufnahme durch Vernehmung steht am Beginn des Verfahrens und ist die Befragung von Personen (formlos), regelmäßig zu einem Zeitpunkt, in dem die Rolle dieser Person noch nicht feststeht.43 Davon strikt zu trennen ist die Beweisaufnahme mit dem Zweck der Beweissicherung.44 Die „Bestimmungen über die Vernehmung des Beschuldigten und von Zeugen“ dürfen durch Erkundigungen, bei sonstiger Nichtigkeit nicht umgangen werden.45 Gerade bei der Auswahl von Art und Taktik bei Erkundigungen und Beweisaufnahmen sollte die Erfahrung und Ermittlungskompetenz der Kriminalpolizei jedenfalls in die juristische Entscheidung mit einfließen.46 Obwohl das amtliche Wahrnehmen eines Sachverhalts oder das bloße zur Kenntnisnehmen des Verdachts einer Straftat aufgrund einer Anzeige zu einem Tätigwerden verpflichten, wird das Ermittlungsverfahren allein dadurch jedenfalls noch 40 Vgl Vogl in Fuchs/Ratz, WK StPO (Stand 1.11.2019, rdb.at) § 91 Rz 4; vgl ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 119; vgl Koller in Schmölzer/Mühlbacher, StPO I1.02 § 91 StPO Rz 3 (Stand April 2015, lexisnexis.at); vgl Koenig/Pilnacek, ÖJZ 2008/3 12; vgl Pilnacek/Pleischl, Das neue Vorverfahren (2004) Rz 364. 41 Vgl ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 119; vgl Vogl in Fuchs/Ratz, WK StPO § 91 Rz 5 (Stand 1.11.2019, rdb.at). 42 Vgl Pilnacek/Stricker in Fuchs/Ratz, WK StPO § 104 Rz 5 (Stand 13.11.2017, rdb.at). 43 Vgl Birklbauer, Strafprozessrecht8 Rz 7/5; vgl Bertel in Bertel/Venier (Hrsg), StPO: Kommentar (2012) zu § 152 Rz 1. 44 Vgl Kirchbacher in Fuchs/Ratz, WK StPO § 151 Rz 4 ff (Stand 1.10.2013, rdb.at). 45 Vgl Kirchbacher in Fuchs/Ratz, WK StPO § 152 Rz 1 (Stand 1.10.2013, rdb.at). 46 Vgl Vogl in Fuchs/Ratz, WK StPO § 91 Rz 7 (Stand 1.11.2019, rdb.at). Februar 2021 Reinhard Nosofsky 23
nicht in Gang gesetzt.47 So auch bei einer Vermisstenanzeige alleine, wenngleich auch die Gefahr besteht, dass ein Vermisster Selbstmord begehen könnte oder Opfer einer Gewalttat oder eines Unfalles geworden ist (§ 24 Abs 1 Z 2 SPG). Um Ermittlungen durchführen zu können, muss zumindest ein Anfangsverdacht vorliegen.48 Liegt hingegen ein solcher Anfangsverdacht nicht vor, ist von der StA auch kein Ermittlungsverfahren zu führen.49 8. Der Anfangsverdacht Ein Anfangsverdacht liegt gem § 1 Abs 3 StPO dann vor, wenn aufgrund bestimmter Anhaltspunkte angenommen werden kann, dass eine Straftat begangen worden ist. Spekulationen, vage Hinweise oder ein „Bauchgefühl“ reichen nicht für einen Anfangsverdacht. Vielmehr muss das Gesamtbild in Zusammenschau mit kriminalistischer Erfahrung das Vorliegen einer Straftat möglich erscheinen lassen.50 Die Grundlage ist also ein Sachverhalt, der in Richtung eines Geschehens deutet, das unter einem Tatbestand des materiellen Strafrechts subsumierbar ist.51 Zunächst wird der Sachverhalt nur auf der Sachebene betrachtet, also ob überhaupt eine Straftat begangen wurde. Es könnte sich später noch immer herausstellen, dass nicht ein Mensch, sondern eine Naturgewalt bspw Ursache für eine Beschädigung an einem Gebäude ist.52 Ein Ermittlungsverfahren wird auch erst gegen unbekannte Täter oder Verdächtige geführt, wenn noch kein konkreter Tatverdacht gegen eine bestimmte Person vorliegt.53 47 Vgl Kroschl in Schmölzer/Mühlbacher, StPO I 1.02 (Stand April 2015, lexisnexis.at) § 1 Rz 2a; vgl Vogl in Fuchs/Ratz, WK StPO § 19 Rz 9 (Stand 1.11.2019, rdb.at). 48 Vgl Vogl in Fuchs/Ratz, WK StPO § 91 Rz 9 (Stand 1.11.2019, rdb.at). 49 Vgl Vogl in Fuchs/Ratz, WK StPO § 91 Rz 5 (Stand 1.11.2019, rdb.at). 50 Vgl BMJ Erlass BMJ-S578.028/0021-IV 3/2014 5 1.2.1; vgl Markel in Fuchs/Ratz, WK StPO § 1 Rz 26 (Stand 1.9.2015, rdb.at); vgl Voppichler, Verdächtige und Beschuldigte im Strafverfahren (Stand 11.9.2019, Lexis Briefings in lexis360.at). 51 OGH 1Präs.2690-2113/12i RIS-Justiz RS0127791 = EvBl 2012/100 (Ratz) = JBl 2012, 671 (Venier), ua. 52 Vgl Johannes Oberlaber, Der Verdacht, ÖJZ 2018/8 63. 53 Vgl BMJ Erlass BMJ-S578.028/0021-IV 3/2014 eJABl 13/2014 13 2.1. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 24
Nähert man sich der Frage, diesen Verdacht einer Straftat einer bestimmten Person zuzuordnen, begibt man sich auf die Personenebene.54 Insofern gewinnt auch die Frage nach der Schuld Bedeutung und man gelangt vom „Verdacht einer Straftat“ zum „Verdacht einer strafbaren Handlung“.55 Es können durchaus mehrere Personen einer Straftat verdächtigt werden, auch wenn objektiv nur eine der Personen die strafbare Handlung verübt hat.56 Wenn eine Person in den Fokus der Ermittlungen rückt, ist auch der „Grad des Tatverdachts“57 zu bestimmen. Werden von der Kriminalpolizei „Vorfeldermittlungen minderer Intensität“ (§ 91 Abs 2 S 2 StPO) also lediglich Erkundungen zur Klärung, ob ein Anfangsverdacht vorliegt, durchgeführt oder nur Informationsquellen genutzt, sind das keine Ermittlungen und begründen daher auch nicht den Beginn des Strafverfahrens.58 Eine Erkundigung, also (nur) das Verlangen einer (freiwilligen) Auskunft und die Entgegennahme einer Mitteilung ist in § 151 Z 1 StPO definiert.59 Daraus ergibt sich eine klare Grenze zu Ermittlungstätigkeiten (§ 91 Abs 2 StPO). Die Bestimmungen über die Vernehmung des Beschuldigten und von Zeugen (§§ 153 ff StPO) dürfen durch Erkundigungen, bei sonstiger Nichtigkeit nicht umgangen werden.60 Jene Informationen, die durch Erkundigungen erlangt wurden, sind gem § 152 Abs 3 StPO in einem Amtsvermerk festzuhalten.61 Bei den Informationsquellen unterscheidet das Gesetz zwischen allgemein zugänglichen Informationsquellen wie Internet, Telefon sowie öffentliche Register (zB Grund- und Firmenbuch, Gewerbe- und Personenstandsregister) und sogenannten 54 Vgl Johannes Oberlaber, Der Verdacht, ÖJZ 2018/8 63. 55 Vgl Nimmervoll, Die polizeiautonome Festnahme (2012) 19 mwN. 56 Dies schadet der Annahme eines Verdachts nicht: Vgl Bertel in Bertel/Venier (Hrsg), StPO-Kommentar § 48 Rz 1. 57 BMJ Erlass BMJ-S578.028/0021-IV 3/2014 eJABl 13/2014 6 1.2.1. 58 Vgl Vogl in Fuchs/Ratz, WK StPO § 91 Rz 10 (Stand 1.11.2019, rdb.at); vgl Nimmervoll in Nimmervoll (Hrsg), Das Strafverfahren2 (2017) Ermittlung – keine Ermittlung 65 Rz 208; vgl Markel in Fuchs/Ratz, WK StPO § 1 Rz 26 (Stand 1.9.2015, rdb.at); vgl ErläutRV 181 BlgNR 25. GP 2f. 59 OGH 15 Os 20/19h. 60 Vgl BMJ Erlass BMJ-S578.028/0021-IV 3/2014 eJABl 13/2014 6, vgl Koller in Schmölzer/Mühlbacher (Hrsg.), StPO Praktikerkommentar (2013) zu § 152 StPO. 61 Vgl Kirchbacher in Fuchs/Ratz, WK StPO § 152 Rz 4 (Stand 1.10.2013, rdb.at), vgl Koller in Schmölzer/Mühlbacher (Hrsg.), StPO Praktikerkommentar (2013) zu § 152 StPO. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 25
behördeninternen Informationsquellen (§ 91 Abs 2 StPO).62 Die Frage, welche Quellen als „behördenintern“ anzusehen sind, wird unterschiedlich beantwortet. Die Gesetzesmaterialien, der Einführungserlass des BMJ, ein Senat des OGH und Teile der Literatur stellen auf den „Verantwortlichen“ iSd Art 4 Z 7 DSGV oder des § 36 Abs 2 Z 8 DSG, also jeweils die einzelne StA bzw das einzelne Gericht ab. Demnach würde ausschließlich die Einsichtnahme bspw in den VJ-Bereich oder dem Polizei- Aktenprotokollierungs- und Dokumentationssystem (PAD) der eigenen Behörde (Dienststelle) „keine Ermittlungen“ iSd § 91 Abs 2 letzter Satz StPO darstellen.63 Nach Ansicht eines anderen Senats des OGH sind alle Aufzeichnungen oder Speicherungen von Informationen, die bereits Gegenstand der Datenverarbeitung irgendeiner Behörde waren Informationsquellen. Der Senat begründete, dass es auf die, für den Angezeigten möglichst rasche und schonende Abklärung ankomme, um dadurch allenfalls einen Anfangsverdacht ausschließen zu können.64 Art, Umfang und Ergebnis der Nutzung von Informationsquellen sind iSd § 152 Abs 3 StPO in einem Amtsvermerk (§ 95 StPO) festzuhalten.65 Die Kriminalpolizei hat einen Bericht iSd 100 Abs 3a StPO an die StA wegen deren Leitungsbefugnis (§ 98 Abs 1 StPO) zu erstatten, wenn sie Vorfeldermittlungen minderer Intensität zur Klärung, ob überhaupt ein Anfangsverdacht vorliegt, durchführt hat. Also nicht nur, wenn die Kriminalpolizei Zweifel am Vorliegen eines Anfangsverdachts hat, sondern auch wenn aus ihrer Sicht gar kein Anfangsverdacht vorliegt, sie aber dennoch den Sachverhalt aufgenommen hat.66 Diese Berichtspflicht ist vor allem bei Vermisstenfälle ein wirkvolles Kontrollinstrument67. 62 Vgl BMJ Erlass BMJ-S578.028/0021-IV 3/2014 eJABl 13/2014 6; vgl Vogl in WK-StPO § 91 Rz 12. 63 Vgl EBRV StPRÄG 2014, 3; OGH 15 Os 20/19h; vgl Erlass des BMJ vom 12. 12. 2014, BMJ- S 578.028/0021-IV 3/2014, 7; vgl Kroschl in Schmölzer/Mühlbacher, StPO 1 § 1 Rz 2c, 2d; vgl Vogl § 91 Rz 11 (2015); vgl Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 7.5; vgl Nimmervoll in Nimmervoll (Hrsg), Das Strafverfahren2 (2017) Ermittlung – keine Ermittlung 65 Rz 209; vgl Stricker, Probleme 12, erachtet darüber hinaus auch die Abfrage aus dem Strafregister für zulässig; vgl kritisch Tipold, JSt 2014, 102. 64 Vgl Vogl in Fuchs/Ratz, WK StPO § 91 Rz 11/2 (Stand 1.11.2019, rdb.at); OGH 14 Os 21/19y. 65 Vgl Nimmervoll in Nimmervoll (Hrsg), Das Strafverfahren2 (2017) Ermittlung – keine Ermittlung 65 Rz 210; vgl Vogl in Fuchs/Ratz, WK StPO § 91 Rz 12 (Stand 1.11.2019, rdb.at). 66 Vgl Vogl in Fuchs/Ratz, WK StPO § 91 Rz 13 (Stand 1.11.2019, rdb.at). 67 Vgl Ratz, Vom Übergang in ein Ermittlungs- und Hauptverfahren (FN 1), ÖJZ 2020/48 356. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 26
9. Berichtspflicht der Kriminalpolizei Ein zwischen Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei gemeinsam, einheitlich geführtes Ermittlungsverfahren setzt eine gegenseitige umfassende Information voraus und in der StPO ist eine umfassende Berichtspflicht normiert (§ 100 StPO).68 Die Kriminalpolizei hat ihre Ermittlungen zu dokumentieren, Anlass, Durchführung und Ergebnis ihrer Tätigkeiten im Verfahren müssen nachvollzogen werden können.69 Daher sind alle wesentliche Ermittlungsschritte in schriftlichen Berichten festzuhalten, wenngleich auch die Kommunikation mit der StA persönlich, per E-Mail oder Telefon erfolgt.70 Anfallsbericht (§100 Abs 2 Z1 StPO) – unverzüglich immer dann, wenn die Kriminalpolizei Kenntnis „vom Verdacht eines schwerwiegenden Verbrechens oder einer sonstigen Straftat von besonderem öffentlichem Interesse“ erlangt. Ein schwerwiegendes Verbrechen liegt in diesem Kontext vor, wenn objektiv besonders wichtige Rechtsgüter verletzt werden, wie dies typischerweise bei Tötungsdelikte, Vergewaltigung, schwerer Kindesmisshandlung, Brandstiftung, Drogenhandel, bewaffneter Raub udgl der Fall ist oder die Straftat mit einer mehr als fünfjährigen Freiheitsstrafe bedroht ist.71 Das besondere öffentliche Interesse wird anzunehmen sein, wenn der Verdächtige oder das Opfer Personen des öffentlichen Lebens (zB Politiker, Sportler, Künstler) sind oder die Straftat im Zusammenhang mit Sachen, an denen öffentliches Interesse besteht (zB Denkmäler, Kunstwerke, öffentliche Einrichtungen) verübt wurde.72 Das besondere öffentliche Interesse wird vor allem durch dementsprechender medialer Berichterstattung gegeben sein.73 Bei schwerwiegenden 68 Vgl Vogl in Fuchs/Ratz, WK StPO § 100 Rz 1 ff (Stand 11.5.2020, rdb.at). 69 Vgl Fabrizy, StPO12 § 100 Rz 2; Pilnacek/Pleischl, Vorverfahren Rz 407; ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 132; vgl Vogl in Fuchs/Ratz, WK StPO § 100 Rz 4 (Stand 11.5.2020, rdb.at). 70 Vgl Koller in Schmölzer/Mühlbacher (Hrsg.), StPO Praktikerkommentar (2013) zu § 152 StPO 480 Rz 4. 71 Vgl ErläutRV 25 BlgNR 22. GP 131 ff; vgl Koller in Schmölzer/Mühlbacher, StPO I1.02 § 100 StPO Rz 8; vgl Vogl in Fuchs/Ratz, WK StPO § 100 Rz 12 (Stand 11.5.2020, rdb.at). 72 Vgl Pilnacek/Pleischl, Vorverfahren § 100 Rz 408; vgl Birklbauer/Dillinger/Keplinger, Strafprozessordnung11 § 100 Anm 6; vgl Fabrizy, StPO13 § 100 StPO Rz 4; vgl St. Seiler, StPO18 Rz 637; vgl Schick, ZÖR 2010, 597. 73 Vgl Birklbauer/Dillinger/Keplinger, Strafprozessordnung11 § 100 Anm 7; Schick, ZÖR 2010, 597. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 27
Verbrechen ist ein Anfallsbericht auch dann zu erstatten, wenn die Ermittlungen gegen unbekannte Täter geführt werden.74 Zwischenbericht (§ 100 Abs 2 Z 3 StPO) – nach Ablauf von drei Monaten nach der ersten Ermittlungshandlung gegen eine bestimmte Person, wenn in der Zwischenzeit kein anderer Bericht erfolgt ist oder seit dem letzten Bericht drei Monate vergangen sind.75 Bei Ermittlungen gegen unbekannte Täter ist ein Zwischenbericht nicht zwingend vorgesehen.76 Abschlussbericht (§ 100 Abs 2 Z 4 StPO) – wenn aus Sicht der Kriminalpolizei Sachverhalt und Tatverdacht soweit geklärt sind oder keine weiteren zielführenden Ermittlungsansätze vorhanden sind - die Staatsanwaltschaft über ihre weitere Vorgehensweise im konkreten Fall entscheiden kann.77 Der Staatsanwaltschaft ist es unbenommen auch nach einem Abschlussbericht weitere Ermittlungsschritte anzuordnen, falls sie das für notwendig hält.78 Anlassbericht (§ 100 Abs 2 Z 2 StPO) – wenn eine Anordnung oder Genehmigung der Staatsanwaltschaft oder eine Entscheidung des Gerichts erforderlich oder zweckmäßig ist oder die Staatsanwaltschaft von sich aus einen Bericht verlangt.79 Wenn die Kriminalpolizei Zweifel am Vorliegen eines Anfangsverdachts hat oder nach deren Auffassung gar kein Anfangsverdacht vorliegt, hat sie den aufgenommenen Sachverhalt ebenso mit Anlassbericht (§ 100 Abs 3a StPO) der Staatsanwaltschaft mitzuteilen.80 Vorerhebungen hat die Kriminalpolizei grundsätzlich in allen Fällen der Staatsanwaltschaft zu berichten. In diesem Fall hat die StA darüber zu entscheiden, ob sie die Ansicht der Kriminalpolizei teilt und von der Einleitung eines 74 Vgl Vogl in Fuchs/Ratz, WK StPO § 100 Rz 13 (Stand 11.5.2020, rdb.at). 75 Vgl Vogl in Fuchs/Ratz, WK StPO (Stand 11.5.2020, rdb.at) § 100 Rz 20; vgl Koller in Schmölzer/Mühlbacher (Hrsg.), StPO Praktikerkommentar (2013) zu § 100 481 Rz 13, vgl ErläutRV zu BGBl 2004/19 BlgNR 22. GP 131 ff. 76 Vgl Birklbauer/Dillinger/Keplinger, Strafprozessordnung11 (2018) § 100 Anm 11. 77 Vgl Koller in Schmölzer/Mühlbacher (Hrsg), StPO Praktikerkommentar (2015) § 100 482 Rz 15. 78 Vgl Koller in Schmölzer/Mühlbacher (Hrsg), StPO Praktikerkommentar (2015) § 100 482 Rz 16. 79 Vgl Koller in Schmölzer/Mühlbacher (Hrsg), StPO Praktikerkommentar (2015) § 100 481 Rz 10. 80 Vgl Vogl in Fuchs/Ratz, WK StPO (Stand 11.5.2020, rdb.at) § 100 Rz 16. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 28
Ermittlungsverfahrens gem § 35c StAG absieht.81 Diese Möglichkeit hat die StA nicht mehr, auch wenn sie keinen Anfangsverdacht erkennen kann, wenn bereits Ermittlungen durch die Kriminalpolizei erfolgt sind.82 Prüfschema83: 81 Vgl Vogl in Fuchs/Ratz, WK StPO (Stand 1.11.2019, rdb.at) § 91 Rz 13. 82 Vgl ErläutRV 181 BlgNR 25. GP 22; Bertel/Venier, Strafprozessrecht8 (2017) Rz 390a. 83 BMJ Erlass BMJ-S578.028/0021-IV 3/2014 eJABl 13/2014 11 1.2.3. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 29
10. Verfahrensbeteiligte Die prozessuale Stellung einer Person in einem Strafverfahren – Verfahren zur Aufklärung von Straftaten (§ 1 Abs 1 StPO) – ist nicht von einem Formalakt (zB Einleitung der Voruntersuchung) abhängig, sondern ergibt sich automatisch, sobald die notwendigen Voraussetzungen vorliegen ex lege.84 10.1. Der Angezeigte Solange die Staatsanwaltschaft das Vorliegen eines Anfangsverdachts iSd § 1 Abs 3 StPO oder auch eines konkreten Verdachts gegen eine bestimmte Person nicht abschließend geprüft hat und gegen diese Person - mit Ausnahme von Erkundigungen - noch nicht iSd StPO ermittelt bzw Zwang ausgeübt wurde, hat gegen diese Person noch kein Ermittlungsverfahren begonnen.85 Eine dieserart von einer Anzeige (§ 80 StPO) betroffene Person ist weder Verdächtiger noch Beschuldigter, sondern wird ausgehend von § 35c StAG, der auf den „Anzeiger“ Bezug nimmt, daher als „angezeigte Person“ oder „Angezeigter“ tituliert.86 10.2. Der Verdächtige Wird „gegen jemand“ ermittelt, weil bestimmte Tatsachen dafürsprechen, dass die Straftat von der Person begangen wurde oder sie daran beteiligt war, wird diese Person zum Verdächtigen (§ 48 Abs 1 Z 1 StPO). Die Phase der Ermittlungen bis zur Konkretisierung des Verdachts bedeuten noch keine „Beschuldigung“. Dies ergibt sich durch die Definition des Anfangsverdachts (§ 1 Abs 3 StPO) als Voraussetzung für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens.87 84 Vgl Nimmervoll, Strafverfahren1 (2014) 128. 85 Vgl Kroschl in Schmölzer/Mühlbacher, StPO I 1.02 § 1 StPO Rz 2i (Stand April 2015, lexismexis.at). 86 Vgl Voppichler, Verdächtige und Beschuldigte im Strafverfahren (Stand 11.9.2019, Lexis Briefings in lexis360.at); vgl Nimmervoll, Das Strafverfahren, Kap. II, VI, Rz 131; vgl BMJ Erlass BMJ-S578.028/0021- IV 3/2014 eJABl 13/2014 12 1.2.4. 87 Vgl ErläutRV 181 BlgNR 25. GP 3. Februar 2021 Reinhard Nosofsky 30
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