EU-Konditionalität gegenüber Mazedonien und der Ukraine

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EUROPA-UNIVERSITÄT VIADRINA
KULTURWISSENSCHAFTLICHE FAKULTÄT
Master of European Studies
WS 2011/12, 17.01.2012

EU-Konditionalität gegenüber Mazedonien und der Ukraine

   Eine vergleichende Analyse am Beispiel der Visapolitik und der
                             Binnenmarktintegration

                                MASTERARBEIT

                                      vorgelegt von:     Annegret Schneider

                                      Erstgutachterin:   Dr. Anne Faber
                                      Zweitgutachter:    Dr. Nicolai von Ondarza
Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung .............................................................................................................................. 1
   1.1 Fragestellung .................................................................................................................... 1
   1.2 Methodik und Fallauswahl ............................................................................................... 3
   1.3 Thesen .............................................................................................................................. 4
   1.4 Aufbau der Arbeit............................................................................................................. 5

2. Theoretische Grundlagen und Forschungsstand .............................................................. 6
   2.1 Begriffsdefinition: Konditionalität................................................................................... 6
   2.2 EU-Konditionalität als Instrument der externen Europäisierung..................................... 8
   2.3 Konzeptionalisierung von EU-Konditionalität: Das external-incentives-Modell.......... 10
   2.4 Überblick über empirische Arbeiten zur EU-Konditionalität ........................................ 11
   2.5 Zur Vergleichbarkeit von Beitritts- und Nachbarschaftskonditionalität ........................ 15
       2.5.1 Das Konditionalitätsprinzip in ENP und Erweiterungspolitik ................................ 15
       2.5.2 Wissenschaftliche Perzeption der Vergleichbarkeit................................................ 20
       2.5.3 Begründung der Vergleichbarkeit von ENP- und Beitrittskonditionalität .............. 22

3. Die Beziehungen der EU zu Mazedonien und zur Ukraine............................................ 25
   3.1 Entwicklung der europäisch-mazedonischen Beziehungen ........................................... 25
   3.2 Entwicklung der europäisch-ukrainischen Beziehungen ............................................... 27
   3.3 Zwischenfazit: Die Beziehungen der EU zu den beiden Staaten ................................... 29

4. Politikfeld I: Konditionalität in der Visapolitik .............................................................. 29
   4.1 Anreizstruktur in der Visapolitik.................................................................................... 30
       4.1.1 Visapolitische Angebote an Mazedonien................................................................ 31
       4.1.2 Visapolitische Angebote an die Ukraine................................................................. 33
       4.1.3 Ergebnisse des Vergleiches der visapolitischen Anreize ........................................ 35
   4.2 Bedingungen der EU auf dem Gebiet der Visapolitik.................................................... 37
       4.2.1 Die Konditionen auf dem Weg zu Visaerleichterungen.......................................... 37
       4.2.2 Konditionen für den visumfreien Reiseverkehr ...................................................... 40
       4.2.3 Bedingungen der EU in der Visapolitik: Ergebnisse des Vergleichs...................... 43
   4.3 EU-Konditionalität in der Visapolitik: Bewertung der Konsistenz ............................... 44
   4.4 Zwischenfazit: Konditionalität in der Visapolitik.......................................................... 48

                                                                                                                                            ii
5. Politikfeld II: Konditionalität in der Binnenmarktpolitik ............................................. 50
   5.1 Anreizstruktur in der Binnenmarktintegration ............................................................... 51
      5.1.1 Angebote zur Integration Mazedoniens in den Binnenmarkt.................................. 51
      5.1.2 Angebote zur Binnenmarktintegration der Ukraine ................................................ 54
      5.1.3 Anreize zur Binnenmarktintegration: Vergleich der Ergebnisse ............................ 58
   5.2 Bedingungen der EU für die Binnenmarktintegration ................................................... 59
   5.3 EU-Konditionalität in der Binnenmarktintegration: Bewertung der Konsistenz ........... 62
   5.4 Zwischenfazit: Konditionalität in der Binnenmarktintegration ..................................... 64

6. Schlussbetrachtung und Ausblick..................................................................................... 66

Quellen- und Literaturverzeichnis ....................................................................................... 72
   Sekundärliteratur .................................................................................................................. 72
   Primärquellen ....................................................................................................................... 83

Eigenständigkeitserklärung................................................................................................... 92

                                                                                                                                        iii
Verzeichnis der Abkürzungen
ABl. EG   Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften
ABl. EU   Amtsblatt der Europäischen Union
ACAA      Agreements on Conformity Assessment and Acceptance of Industrial Products,
          Abkommen über Konformitätsbewertung und Anerkennung gewerblicher
          Produkte
CARDS     Community Assistance for Reconstruction, Development and Stabilisation,
          Gemeinschaftshilfe für Wiederaufbau, Entwicklung und Stabilisierung
CEE       Central and Eastern Europe, Mittel- und Osteuropa
CEFTA     Central     European      Free      Trade      Agreement,     Mitteleuropäisches
          Freihandelsabkommen
ENP       Europäische Nachbarschaftspolitik
EU        Europäische Union
EWG       Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
EWR       Europäischer Wirtschaftsraum
EUV       Vertrag über die Europäische Union
GATT      General    Agreement     on   Tariffs   and    Trade,   Allgemeines   Zoll-   und
          Handelsabkommen
GUS       Gemeinschaft Unabhängiger Staaten
ICTY      International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, Internationaler
          Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien
IPA       Instrument for Pre-Accession Assistance, Instrument für Heranführungshilfe
ISPA      Instrument for Structural Policies for Pre-Accession, Strukturpolitisches
          Instrument zur Vorbereitung auf den Beitritt
IWF       Internationaler Währungsfonds
JHA       Justice and home affairs, Justiz und Inneres
KOM       Europäische Kommission
NATO      North Atlantic Treaty Organisation, Organisation des Nordatlantikpakts
ÖP        Östliche Partnerschaft
PHARE     Poland and Hungary Assistance for the Reconstructing of the Economy, Polen
          und Ungarn: Hilfe zur Restrukturierung der Wirtschaft
PKA       Partnerschafts- und Kooperationsabkommen
SAA       Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen

                                                                                         iv
SAP     Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess
SEECP   South-East European Cooperation Process, Kooperationsrat für Südosteuropa
SFRJ    Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien
UdSSR   Union der sozialistischen Sowjetrepubliken
VIS     Visa-Informationssystem
WTO     World Trade Organization, Welthandelsorganisation

                                                                                    v
1. Einleitung
Die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) folgt in der inhaltlichen Ausgestaltung in
weiten Teilen der Logik der Beitrittspolitik – mit einem entscheidenden Unterschied: Den
Partnerländern wird keine Beitrittsperspektive eröffnet. Dennoch versucht die EU, gezielte
Anreize mit der Forderung zu verknüpfen, Normen und Werte der EU zu übernehmen. Diese
Strategie der Konditionalität hat sich im Falle der Erweiterungspolitik als sehr erfolgreich
erwiesen, im Rahmen der ENP führt sie nicht zu den erhofften Ergebnissen und gilt bisweilen
sogar als gescheitert. Dies wird in erster Linie durch die fehlende Beitrittsperspektive erklärt,
wodurch eine Annäherung an die EU für die ENP-Staaten zu wenig attraktiv sei. In dieser
Arbeit wird die Anwendung des Konditionalitätsprinzips gegenüber einem ENP-Staat und
einem Beitrittskandidaten untersucht. Ziel ist es, durch den systematischen Vergleich der
Anreize, der Bedingungen und der Umsetzung Unterschiede in der Konditionalitätsstrategie
aufzudecken, die über die Frage der Beitrittsperspektive hinausgehen. Diese Fallstudie kann
keine allgemeingültigen Aussagen über die Konditionalitätsstrategie in der ENP und in der
Erweiterungspolitik machen. Sie kann und soll jedoch einen Beitrag leisten, EU-
Konditionalität aus einer vergleichenden Perspektive neu zu bewerten und aus dieser
Bewertung Handlungsempfehlungen abzuleiten.

1.1 Fragestellung
Den ENP-Staaten bietet die EU anstatt der Vollmitgliedschaft langfristig die Integration in
den Binnenmarkt und die Teilnahme an diversen Politiken der EU, wobei ihnen die politische
Mitbestimmung und -gestaltung verwehrt bleiben. Der Forderungskatalog zur Erreichung
dieses Maximalziels ist aber ähnlich umfassend wie die Kopenhagener Kriterien für einen
Beitritt. Die dementsprechend hohen Kosten scheinen den Nutzen aus der Partnerschaft nicht
aufzuwiegen. Misst man den Erfolg der ENP an der Erweiterungspolitik, sind die Ergebnisse
dürftig. Die ‚europäischen Werte’ Demokratie, Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit
werden, wenn überhaupt, nur halbherzig oder sehr langsam umgesetzt. Der EU ist es kaum
gelungen, auf regionale Konflikte (z.B. im Nahostkonflikt, im Südkaukasus oder
Transnistrien) stabilisierend oder gar klärend einzuwirken. Auch die Übernahme von Normen
aus dem acquis communautaire erfolgt zögerlich, mit sektorspezifischen Unterschieden.
Dennoch gibt es erkennbare Fortschritte, vor allem in den europäischen Staaten der ENP (mit
Ausnahme von Belarus). So verhandelt beispielsweise die Ukraine, der ‚best performer‘ der
ENP,    gegenwärtig    über   ein   vertieftes   Freihandels-   und   Assoziierungsabkommen,

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Visumfreiheit wurde in Aussicht gestellt. Doch obwohl die Ukraine nachdrücklich auf eine
Beitrittsperspektive drängt und laut EU-Vertrag auch ein Antragsrecht hat, wird ihr diese
Option nicht offiziell eingeräumt.
    Demgegenüber          gilt   die   Erweiterungspolitik      beinahe      uneingeschränkt      als
Erfolgsgeschichte. Die strikte Konditionalität, also die Verknüpfung von Anreizen und
Forderungen, hat die Entwicklung der Kandidatenländer beflügelt. Auf diese Weise haben die
postsozialistischen Staaten Mittelosteuropas eine eindrucksvolle Transformationsleistung
vollbracht. Für die südosteuropäischen Staaten, die unter die Kategorie „Westbalkan“1 gefasst
werden, muss diese Dynamik jedoch mit Einschränkung betrachtet werden. Am Beispiel der
ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien (im Folgenden Mazedonien) zeigt sich,
dass der Anreiz des Beitritts an Glaubwürdigkeit verloren hat. Bereits seit 2005 genießt das
Land offiziellen Kandidatenstatus, ohne dass formelle Beitrittsverhandlungen begonnen
wurden, geschweige denn ein ‚Fahrplan’ für den Weg zum Beitritt entwickelt wurde.
Dennoch wurden die Beziehungen zur EU vertieft, zuletzt durch die Befreiung der
Visumpflicht am 19.12.2009.
    Ein Vergleich von Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik ist schon deshalb
aussichtsreich, weil kurz- und mittelfristig ganz ähnliche Anreize in Aussicht gestellt werden,
z.B. die zunehmende Integration in den Binnenmarkt, Visaerleichterungen oder die
Teilnahme an EU-Programmen. Anhand dieser gleichen „Integrationsschritte“ in bestimmten
Politikbereichen lässt sich untersuchen, wie sich ENP und Erweiterungspolitik in ihrer
strategischen Umsetzung unterscheiden. Auf diese Weise können Faktoren aufgezeigt
werden, die den Erfolg der Konditionalität befördern oder hemmen.
    Im    Zuge      der      vorliegenden    Arbeit    soll    aufgezeigt     werden,      wie    die
Nachbarschaftskonditionalität im Vergleich zur Beitrittskonditionalität tatsächlich angewandt
wird. Folglich wird als abhängige Variable die Umsetzung des Konditionalitätsprinzips
definiert. Es wird erwartet, dass die Frage der Beitrittsperspektive nicht der einzige
bedeutende Unterschied ist. Die Frage zielt nicht allein auf die strategische Konzipierung von
ENP und Erweiterungspolitik. Sie bleibt auch nicht auf die outcomes, die Ergebnisse der
beiden Politiken begrenzt. Vielmehr geht es darum, die Konditionalitätsstrategie der EU als
Prozess zu begreifen, diesen Prozess detailliert zu analysieren und ihn für die Erweiterungs-
und Nachbarschaftspolitik zu vergleichen. Es soll der Nachweis geführt werden, dass sich

1
  „Westbalkan“ ist eine Sammelbezeichnung für Albanien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Serbien,
Kroatien, Kosovo und Montenegro. Der Kunstbegriff wurde von der EU geprägt (Europäischer Rat 1997) und
hat sich mittlerweile auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung durchgesetzt.

                                                                                                    2
Beitritts- und Nachbarschaftskonditionalität in zentralen Merkmalen unterscheiden, die nicht
genuin mit der Frage der Beitrittsperspektive in Zusammenhang stehen.
   Natürlich ist eine umfassende Analyse, die generalisierende Aussagen zulässt, kaum
umzusetzen. Stattdessen beschränkt sich diese Arbeit auf eine vergleichende Fallstudie. Als
Untersuchungsgegenstand werden ein europäisches ENP-Land und ein Beitrittskandidat
ausgewählt: die Ukraine und Mazedonien. Die Fragestellung muss zum Zwecke der
Untersuchung spezifiziert werden: Wie wendet die EU das Konditionalitätsprinzip gegenüber
Mazedonien (als Beitrittskandidat) und gegenüber der Ukraine (als ENP-Staat) an? Um
aussagekräftige und vergleichbare Ergebnisse zu erzielen, ist eine weitere Einschränkung
nötig. Deshalb werden, um die EU-Konditionalität fassbar zu machen, zwei konkrete
Politikbereiche ausgewählt.

1.2 Methodik und Fallauswahl
Die Wahl fällt auf zwei Politikfelder, die zugleich die wichtigsten mittelfristigen Anreize der
EU sowohl gegenüber den Beitrittskandidaten als auch gegenüber den ENP-Staaten sind: die
Integration in den Binnenmarkt und die Visapolitik (Solonenko 2010: 7). Der Binnenmarkt
gilt als wichtigstes und am stärksten vergemeinschaftetes Politikfeld, ein Großteil des acquis
communautaire und damit auch der Beitrittsverhandlungen bezieht sich auf den gemeinsamen
Markt. Die Visapolitik ist interessant, weil sie einerseits als Teil der Innenpolitik inhärent
wertegeleitet ist. Andererseits verfolgt die EU mit der Verknüpfung von Visa-, Migrations-
und Grenzschutzfragen sehr starke Eigeninteressen (Knelangen 2007a, b). Das könnte dazu
führen, dass die EU zugunsten eigener Ziele von einer konsistenten Konditionalitätspolitik
abweicht.
   Die Zusammenarbeit in beiden Politikfeldern soll exemplarisch an zwei Staaten
untersucht werden. Diese geringe Fallzahl ermöglicht es, das Konditionalitätsprinzip in
Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik sehr eingehend für beide Politikfelder zu
untersuchen. Eine large-n-Studie mit einer größeren Fallzahl erlaubt zwar in der Regel
weiterreichende Schlussfolgerungen und eine größere Generalisierung der Ergebnisse.
Allerdings könnten lediglich weniger komplexe, vereinfachte Einflussfaktoren einbezogen
werden. Die Untersuchung komplexer Prozesse wäre nur mit sehr großem Aufwand möglich.
Im Rahmen einer Einzelfallstudie wiederum müsste auf die vergleichende Komponente
verzichtet werden. Einzig die detaillierte, vergleichende Untersuchung der beiden Fälle lässt
es zu, den prozesshaften Charakter der Konditionalitätsstrategie zu berücksichtigen. (Rohlfing
2009: 149).

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Es ist nicht Ziel der Arbeit, kausale Zusammenhänge über Erfolg oder Scheitern des
Konditionalitätsprinzips aufzuzeigen. Das wäre im Rahmen einer small-n-Analyse mit zwei
Fällen kaum möglich. Vielmehr sollen durch den empirischen Vergleich Unterschiede
herausgearbeitet werden, wovon Impulse für die weitere Forschung zu erwarten sind. Für
diese Zielstellung sind vergleichende Fallstudiendesigns besonders geeignet (Blatter et al.
2007: 126f.).
   Nach dem Prinzip des most-similiar-systems-design wurde je ein Zielland der
Erweiterungspolitik und der Nachbarschaftspolitik ausgewählt, die sich abgesehen von den zu
untersuchenden Variablen möglichst ähnlich sind. Als Beitrittskandidat fiel die Wahl auf
Mazedonien. Als Beispiel für die ENP-Länder wird die Ukraine näher betrachtet. Die beiden
postsozialistischen Staaten erklärten im Zuge des Zerfalls der UdSSR und Jugoslawiens ihre
Unabhängigkeit und schafften einen weitgehend friedlichen Regimewechsel (im Gegensatz zu
anderen Staaten des Westbalkans oder etwa des Kaukasus). Wie der damalige
Erweiterungskommissar Olli Rehn feststellt, ist Mazedonien „the only functioning multi-
ethnic state in the Balkans“ (Rehn 2006: 68). Auch die Staatlichkeit der Ukraine seit der
Unabhängigkeit kann als weitgehend solide betrachtet werden. Beide Länder gelten heute als
die stabilsten und am weitesten entwickelten Staaten ihrer Gruppe. Sichtbar wird dies etwa,
wenn man die Platzierung der beiden Staaten im Bertelsmann Transformation Index
vergleicht. Bezogen auf den politischen Index erreichen beide Länder seit 2003 die höchsten
Werte ihrer Gruppe (Bertelsmann-Stiftung 2003, 2006, 2008, 2010). Außerdem sind eine
enge Zusammenarbeit mit der EU und sogar der Beitritt zur Union erklärte außenpolitische
Ziele der Regierungen beider Staaten. Da beide eindeutig europäische Staaten sind, besteht
auch für die Ukraine zumindest die hypothetische Möglichkeit einer künftigen EU-
Mitgliedschaft. Damit unterscheiden sich die Ukraine und die übrigen Staaten der Östlichen
Partnerschaft (ÖP) elementar von den nordafrikanischen Staaten, die ebenfalls unter dem
Dach der ENP gefasst sind. Warum Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik in Bezug auf die
Konditionalitätsstrategie überhaupt vergleichbar sind, soll in einem gesonderten Kapitel (2.5)
ausführlicher diskutiert werden.

1.3 Thesen
Um die leitende Fragestellung, wie die EU das Konditionalitätsprinzip gegenüber
Mazedonien als Beitrittskandidat und gegenüber der Ukraine als ENP-Staat anwendet, zu
beantworten, werden drei Thesen aufgestellt und getestet. Die theoretische Basis bietet das
external-incentives-Modell (Schimmelfennig/Sedelmeier 2004, Schimmelfennig/Schwellnus

                                                                                            4
2006). Es besagt, dass Konditionalität umso erfolgreicher ist, je größer und glaubwürdiger die
Anreize sind, je konsistenter die Konditionalität angewandt wird und je bestimmter die
Bedingungen formuliert sind. Zwar soll in der folgenden Fallanalyse nicht der jeweilige
Erfolg der Konditionalität bewertet werden. Dennoch eignet sich das Modell, um Kriterien zu
definieren, anhand derer ein Vergleich vorgenommen werden kann.
   Dem external-incentives-Modell entsprechend werden drei unabhängige Variablen in
Betracht gezogen: Die Realisierung der Konditionalitätsstrategie soll verglichen werden nach
(1) der Größe und der Glaubwürdigkeit des Anreizes, (2) der Bestimmtheit der formulierten
Bedingungen und (3) der konsistenten oder nicht konsistenten Anwendung des
Konditionalitätsprinzips.
   Erstens wird davon ausgegangen, dass der Ukraine im Vergleich zu Mazedonien geringere
und weniger glaubwürdige Anreize in Aussicht gestellt werden. Die Bedingungen, um diese
Anreize zu erhalten, sind zweitens weniger bestimmt formuliert. An dritter Stelle steht die
Annahme, dass das Konditionalitätsprinzip gegenüber der Ukraine weniger konsistent
angewandt wird. Mit anderen Worten: Die Beitrittskonditionalität gegenüber Mazedonien
verknüpft eindeutigere Forderungen mit größeren und glaubwürdigeren Anreizen, die
konsistenter angewandt werden als in den Beziehungen zur Ukraine im Rahmen der ENP.
   Anhand dieser drei Thesen wird die Konditionalität in Visa- und Binnenmarktpolitik
gegenüber der Ukraine und Mazedonien verglichen. Sie sind möglichst konkret gefasst, damit
sie im Rahmen der Untersuchung abschließend behandelt werden können. Damit erfüllen sie
die Funktion, ein theorie- und thesengeleitetes Vorgehen sicherzustellen. Sie sind darüber
hinaus aber auch das Mittel, den Nachweis für eine übergeordnete These zu führen. Diese
übergeordnete These greift die Frage nach dem Vergleich von Beitritts- und
Nachbarschaftskonditionalität im Allgemeinen auf. Durch die vergleichende Fallstudie soll
gezeigt werden, dass sich die Konditionalität in der Nachbarschaftspolitik von der
Beitrittskonditionalität unterscheidet und dass diese Verschiedenheit nicht allein in der Frage
der Beitrittsperspektive liegt.

1.4 Aufbau der Arbeit
Zur Beantwortung der Forschungsfrage soll folgendermaßen vorgegangen werden: Nachdem
die Fragestellung hinreichend eingegrenzt und die Thesen erläutert wurden, wird im
folgenden Kapitel (2.) der Stand der Forschung erarbeitet. Der recht umfassenden Literatur
über die Beitrittskonditionalität werden jene Arbeiten zur Konditionalität in der ENP
gegenübergestellt. Dabei wird die Forschungslücke deutlich: der direkte Vergleich des

                                                                                             5
Konditionalitätsprinzips in Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik. An dieser Stelle wird
eingehend erörtert, warum ein solcher Vergleich möglich und sinnvoll ist. Hierfür wird die
Stellung des Konditionalitätsprinzips in ENP und Erweiterungspolitik diskutiert. Außerdem
wird die relevante Sekundärliteratur auf die Frage der Vergleichbarkeit hin überprüft.
   Bevor mit der empirischen Analyse der beiden Politikfelder wird eine kurze Beschreibung
der Beziehungen vorangestellt, die die EU zu Mazedonien und zur Ukraine unterhält (3.).Die
Kapitel 4 und 5 beinhalten den Kern der Arbeit. In den beiden ausgewählten Politikfeldern
Visapolitik (4.) und Binnenmarkt (5.) werden die drei Thesen getestet. Die jeweilige
Anreizstruktur, die Konditionen und die Konsistenz der Anwendung für Mazedonien und die
Ukraine werden nacheinander untersucht und miteinander verglichen. Wichtigste Grundlage
sind die allgemeinen Strategiepapiere der EU, die vereinbarten Aktionspläne (zwischen der
EU auf der einen und Mazedonien bzw. der Ukraine auf der anderen Seite) und die
monitoring-Berichte der Kommission. Ein Fazit (6.) fasst die auf diese Weise gewonnen
Erkenntnisse zusammen, beantwortet die leitende Fragestellung und gibt einen knappen
Ausblick.

2. Theoretische Grundlagen und Forschungsstand
Es folgt nun ein Überblick über den Stand der Forschung. Dabei wird erarbeitet, welche
theoretischen und empirischen Arbeiten zur Beitritts- bzw. Nachbarschaftskonditionalität
bereits vorliegen. Besonders die theoretischen Ansätze werden aufgegriffen, um die später
folgende empirische Analyse einzubetten. Am Anfang steht aber zunächst eine Einordnung
des Begriffes „Konditionalität“.

2.1 Begriffsdefinition: Konditionalität
Im allgemeinen Sprachgebrauch meint Konditionalität, dass eine versprochene oder
tatsächliche Leistung verknüpft ist mit einer geforderten Gegenleistung. Bestimmte
Konditionen müssen notwendigerweise erfüllt werden, um eine Belohnung zu erhalten.
   Im politischen Kontext stammt das Konditionalitätsprinzip ursprünglich aus der
Entwicklungszusammenarbeit (und ist dem privaten Kreditwesen entlehnt). Sowohl nationale
Regierungen als auch internationale Finanzinstitutionen knüpfen die Zahlung von
Entwicklungsgeldern oder auch Schuldenerlasse an wirtschaftliche und zunehmend auch
politische Bedingungen (vgl. Dreher 2009, Montinola 2010, Weltbank 2005). In diesem
traditionellen Sinn kann folgende Definition angeführt werden: „Conditionality is the practice
of giving financial assistance contingent on the implementation of specific policies“ (Dreher

                                                                                            6
2009: 233). Der Anreiz (finanzielle Zuwendungen) wird verknüpft mit Reformversprechen
(meist im wirtschaftspolitischen Bereich) der Empfängerstaaten. Problematisch ist die
zeitliche Abfolge, denn die Auszahlung der Gelder erfolgt als Vorleistung für vertraglich
vereinbarte Reformpläne (Grabbe 1999: 4, Mosley 1987).2
    Seit den 90er Jahren wenden auch internationale Organisationen wie die WTO oder die
NATO das Konditionalitätsprinzip an, etwa wenn es um den Beitritt weiterer Staaten geht
(Kelley 2004: 454). Auf die EU trifft diese Entwicklung in besonderem Maße zu.
Entsprechend muss eine allgemeingültige Definition breiter gefasst sein. Eine solche bietet
Checkel (2000: 1), wenn er Konditionalität als „the use of incentives to alter a state’s behavior
or policies as a basic strategy through which international institutions promote compliance by
national governments“ beschreibt.
    Die EU hat das Konditionalitätsprinzip zu einem wichtigen Bestandteil ihrer Beziehungen
zu Drittstaaten gemacht. Sie geht in Anwendungsbereich und Zielstellung der Konditionalität
weit über die anderer internationaler Organisationen hinaus. Eine EU-spezifische Definition
könnte lauten:

    „Die politische Konditionalität der EU besteht darin, dass sie den Zielstaaten Belohnungen anbietet, die
    sie im Gegenzug zur Erfüllung politischer Bedingungen gewährt“ (Schimmelfennig/Schwellnus 2006:
    273).

Konditionalität als Mittel der Außenpolitik hat sich damit gewandelt. Die Konditionalität der
ersten Generation hatte vor allem zum Ziel, neoliberal geprägte wirtschaftliche Reformen in
Entwicklungsländern anzuregen (Hughes et al. 2004: 15). Seit Beginn der 90er Jahre wurden
die Absichten erweitert, mit der Konditionalitätspolitik der zweiten Generation sollten
zunehmend ein Werteexport und demokratische Reformen erreicht werden. Es ging nicht
mehr vorrangig um finanzielle Zuwendungen sondern um eine engere Zusammenarbeit, z.B.
in internationalen Organisationen. Die EU hat das Konditionalitätsprinzip entscheidend
ausgedehnt und zum Grundprinzip ihrer Erweiterungspolitik erklärt. Entsprechend wurde vor
allem die europäische Dimension von Konditionalität von der politikwissenschaftlichen
Forschung aufgegriffen. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen im Folgenden herausgearbeitet
werden.

2
  Der Erfolg traditioneller Konditionalität wird allgemein als gering betrachtet. Deshalb setzen internationale
Finanzinstitute seit den 90er Jahren zunehmend auf ergänzende Strategien, z.B. stärkere Eigenverantwortung der
Empfängerstaaten (ownership, Weltbank 2005:8).

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2.2 EU-Konditionalität als Instrument der externen Europäisierung
Eine theoretische Einordnung findet die EU-Konditionalität als Form der externen
governance bzw. als Strategie der externen Europäisierung. Europäisierung wird als Begriff
in der Integrationsforschung inflationär verwendet, bleibt aber oft unscharf in seiner Kontur.
Den Gegenstand der Europäisierungsforschung bildeten zunächst Prozesse innerhalb der EU,
nämlich die Auswirkungen der europäischen Integration auf politics, policies und polity der
Mitgliedstaaten (Fedorová 2011: 20)3. Veränderungen in den Mitgliedstaaten werden mithilfe
zweier konkurrierender Ansätze erklärt. Dem rationalen Institutionalismus entsprechend
findet ein Wandel nationaler Politik statt, weil die EU durch neu geschaffene Regeln einen
Anpassungsdruck auf die Mitgliedstaaten ausübt. Der Druck ist umso größer, je „weniger
kompatibel die nationale Politik mit den europäischen Vorgaben ist, je größer also der
‚misfit’“ ist (Auel 2005: 304). Alternativ dazu beziehen sich Theorien des soziologischen
(oder konstruktivistischen) Institutionalismus auf horizontale Mechanismen. Hier basiert

    „die Politikformulierung nicht auf der hierarchischen Rechtsetzung der EU, sondern auf ‚soft framing
    mechanisms’ […], d.h. auf Diskursen und Prozessen der Diffusion von Ideen, auf Lern- und
    Sozialisationsprozessen“ (Auel 2005: 307).

Die Erforschung von Europäisierungsprozessen blieb jedoch nicht auf die EU-interne Politik
beschränkt. Seit Beginn der 90er Jahre hat sich die EU zunehmend als außenpolitische
Akteurin, vor allem auf dem europäischen Kontinent, etabliert. Um den Einfluss der EU auf
andere    Staaten,     namentlich      auf   die    Beitrittskandidaten      Mittel-    und     Osteuropas,
wissenschaftlich fassen zu können, wurde das Konzept der Europäisierung aufgegriffen und
um eine externe Komponente erweitert (Sedelmeier 2006: 4). Externe Europäisierung
beschreibt dabei einen „increasingly demanding, externally driven, and coercive process of
domestic and regional change brought about by the EU“ (Anastasakis 2005: 77).
    Auch um Wege der externen Europäisierung zu erklären, werden Ansätze des rationalen
jenen des soziologischen Institutionalismus gegenüber gestellt (Sedelmeier 2006: 10). Um
ihre Ziele in Drittstaaten durchzusetzen, nutzt die EU einerseits ihre hegemoniale Stellung
und übt Druck auf diese Staaten aus.4 Sie setzt das Mittel der Konditionalität ein, um die
Partnerstaaten zur Übernahme von Werten und Normen zu bewegen. Aus Sicht der

3
  Für einen Überblick über Definitionen, theoretische Ansätze und Perspektiven vgl. Auel 2005, Radaelli 2000,
Börzel/Risse 2000, Olsen 2002.
4
  Die EU als internationale Akteurin verzichtet zwar in ihrem Selbstverständnis als normative Macht auf offene
Zwangsmaßnahmen, z.B. militärischer Art. Vor allem in ihrem näheren Einflussbereich, nämlich gegenüber
Beitrittskandidaten und Nachbarstaaten, verfolgt sie verstärkt eine machtbasierte, hegemoniale Politik (Hyde-
Price 2008: 31, Haukkala 2007, zum Konzept der normative power vgl. Manners 2008).

                                                                                                            8
Drittstaaten werden im Sinne des rationalen Paradigmas die Kosten gegen die Nutzen
abgewogen. Diesen Weg des Regeltransfers beschreibt das external-incentives-Modell
(Schimmelfennig/Sedelmeier 2004, genauere Ausführungen folgen im nächsten Kapitel).
Andererseits finden normengeleitete Sozialisierungsprozesse statt, die mit Ansätzen des
soziologischen Institutionalismus zu erklären sind. Infolge von sozialen Lernprozessen (social
learning) übernehmen Drittstaaten die Werte und Normen der EU aus Überzeugung, nicht aus
strategischem Kalkül. Eine Zwischenform zwischen dem external-incentives-Modell und dem
des social learning bildet der Mechanismus des lesson-drawing. Demnach greifen
Drittstaaten auch dann EU-Regeln auf, wenn ohnehin ein Regelungsbedarf besteht und die
EU für diesen Fall ein geeignetes Lösungskonzept bereithält (ebd.). Der lesson-drawing-
Ansatz beschreibt also gewissermaßen einen rationalen Lernprozess.
      Social learning und lesson drawing sind für die EU nur schwer oder gar nicht zu steuern
und hängen stark von internen Faktoren des jeweiligen Landes ab. Es können allenfalls
günstige Bedingungen wie geeignete Kommunikations- und Kooperationsstrukturen
geschaffen werden. Empirisch sind diese Formen der Einflussnahme auf Drittstaaten schwer
zu fassen. Sozialisierungsprozesse sind langfristig angelegt, die Auswirkungen sind nach
einem relativ kurzen Zeitraum schwer nachweisbar. Im Gegensatz zum social learning nimmt
die EU bei der Anwendung von Konditionalität (wie im Rahmen des external-incentives-
Modells     beschrieben)   eine   aktive,   gestaltende   Rolle     ein.   Die   asymmetrischen
Verhandlungsbeziehungen und die zum größten Teil top-down-orientierten Interaktionen
werden außerdem gut widergespiegelt.
      Die vorliegende Arbeit nimmt das politische Konzept der EU gegenüber Beitritts- und
Nachbarstaaten in den Blick. In der Erweiterungspolitik ist das Instrument der Konditionalität
vorherrschend, es hat sich als sehr erfolgreich erwiesen. Die Nachbarschaftspolitik greift diese
Strategie erneut auf. Social learning und lesson-drawing mögen für beide Politiken ebenfalls
relevant sein. Sie werden aber in der folgenden Untersuchung nicht weiter berücksichtigt, da
sie nicht im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen, das sich explizit auf die
Anwendung der EU-Konditionalität konzentriert. Im Folgenden wird deshalb lediglich auf
das      external-incentives-Modell   eingehend      Bezug        genommen       und   so   der
Untersuchungsrahmen abgesteckt.

                                                                                              9
2.3 Konzeptionalisierung von EU-Konditionalität: Das external-
incentives-Modell
Das      external-incentives-Modell      (Schimmelfennig/Sedelmeier     2004,   Schimmelfennig/
Schwellnus 2006, Sasse 2008: 300) leistet einen wichtigen Beitrag zur Konzeptualisierung der
Beitrittskonditionalität. Als ein Instrument der Erweiterungspolitik soll Konditionalität den
Regeltransfer in das nationale politische System der Beitrittsaspiranten bewirken. Der Export
von Werten und Normen ist demnach umso erfolgreicher,
   a. je größere Anreize in Aussicht gestellt werden und je glaubwürdiger diese erscheinen,
   b. je konsistenter das Konditionalitätsprinzip angewandt wird,
   c. je bestimmter die Bedingungen formuliert werden und letztendlich
   d. je niedriger die Kosten der Regelübernahme erscheinen und je weniger Veto-Spieler
         vorhanden sind.
Was die Anreizstruktur (a.) betrifft, ist die Frage der Beitrittsoption entscheidend. Wenn diese
grundsätzlich gegeben ist, muss bewertet werden, mit welcher Glaubwürdigkeit und mit
welcher zeitlichen Perspektive der Beitritt eingeräumt wird. Außerdem kann es für die
Beitrittskandidaten Anreize geben, die eher ein Nebeneffekt als gezielte Maßnahme der EU
sind.    Dazu     zählen   vor   allem    ökonomische   Faktoren      wie   höhere   ausländische
Direktinvestitionen oder günstigere Kreditkonditionen im Zuge des Beitrittsverfahrens (Bronk
2002).
   Konditionalität wird dann konsistent angewandt (b.), wenn nach Erfüllung der
Bedingungen, und nur dann, umgehend und zuverlässig die versprochenen Anreize gewährt
werden. Zu unterscheiden ist positive und negative Konditionalität. Erstere wirkt über die
Gewährung oder Verweigerung von versprochenen Vorteilen. Bei letzterer kommen
Sanktionen zum Einsatz, wenn die Bedingungen nicht erfüllt werden. Bei EU-Konditionalität
handelt es sich vorrangig um positive Konditionalität: „It uses ‚carrots’ rather than ‚sticks’ –
rewards rather than punishment or assistance“ (Schimmelfennig 2009: 12). Außerdem ist es
maßgeblich, ob die Anreize ex ante im Gegenzug für versprochene Reformen gewährt werden
(wie in der Entwicklungszusammenarbeit üblich) oder ob die Zielländer in Vorleistung gehen
müssen, um ex post die versprochenen Anreize zu erhalten. Letztere Strategie wird von der
EU favorisiert.
   In Bezug auf die Bedingungen (c.) unterscheiden Schimmelfennig und Sedelmeier (2004)
zwischen demokratischer und acquis-Konditionalität. Erstere zielt auf die allgemeinen Werte
der EU ab, wie sie in den Verträgen aufgeführt werden:

                                                                                              10
„[…] Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die
   Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören“ (Art
   2 I EUV).

Die acquis- oder technische Konditionalität meint die für einen Beitritt zur EU nötige
Übernahme des gemeinsamen Besitzstands, also aller Rechtsnormen, die in den Verträgen,
Verordnungen, Richtlinien und anderen Rechtsakten der EU niedergelegt sind. Grabbe (1999)
stellt fest, dass weder die demokratischen noch die acquis-Bedingungen eindeutig und
determiniert sind. Stattdessen sind sie offen für Interpretationen und geben der EU die
Möglichkeit, die ‚Spielregeln’ zu verändern. Diese können in verschiedenen Beitrittsrunden
und gegenüber unterschiedlichen Beitrittskandidaten durchaus variieren.
   Aus den Kriterien (a.-c.) ergibt sich schließlich eine Kosten-Nutzen-Kalkulation (d.). Ein
Beitrittskandidat wird die Konditionen der EU nur dann erfüllen, wenn er die Kosten geringer
einschätzt als den Nutzen. Dieser Aspekt ist weniger EU-zentrisch, sondern greift die
Innenperspektive des Ziellandes auf.
   Der rational-bargaining-Ansatz des external-incentives-Modells ist insofern interessant,
da er mehrere, voneinander unterscheidbare Kriterien definiert, nach denen die
Konditionalität einer Politik (bzw. ihr Erfolg) analysiert werden kann. Anhand dieser
Kriterien ist sowohl ein Vergleich der EU-Außenbeziehungen zu verschiedenen Drittstaaten
als auch ein zeitlicher Vergleich möglich. Außerdem bleibt das Modell nicht auf die
Erweiterungspolitik beschränkt, sondern ist auch auf die ENP-Konditionalität anwendbar.

2.4 Überblick über empirische Arbeiten zur EU-Konditionalität
Empirische Arbeiten, die sich auf die Beitrittskonditionalität konzentrieren, sind breit
gefächert. Sie können danach unterschieden werden, ob sie die Auswirkungen der
Konditionalität betrachten (impact), oder die Anwendung des Konditionalitätsprinzips selbst
(application) als Untersuchungsgegenstand wählen. Im ersten Fall fungiert die Konditionalität
als unabhängige Variable (neben anderen), deren Ausprägung den Erfolg des Politiktransfers
erklärt. Dabei wird der Regeltransfer in ausgewählten Politikfeldern thematisiert, zum
Beispiel in der Innen- und Justizpolitik. In der Visapolitik (Trauner 2007) ist erkennbar, wie
Konditionalität auf verschiedenen Ebenen der Politikgestaltung (macro-level vs. project-level
conditionality) differieren kann (vgl. auch Feijen 2007). Sehr vereinzelt wird der Erfolg des
Regeltransfers in verschiedenen Politikfeldern verglichen. Genannt sei hier eine Studie über
die Slowakei, die die Europäisierung der Gesundheits- Regional- und Agrarpolitik vergleicht
(Fedorová 2011). Am weitesten verbreitet sind Betrachtungen über Konditionalität als Mittel

                                                                                                         11
der      Demokratisierung        in     den         Kandidatenländern          (für      Ostmitteleuropa:
Schimmelfennig/Schwellnus 2006, Hughes et al. 2004, Vachudová 2001; für Rumänien und
Bulgarien: Spendzharova 2003; für Rumänien: Pridham 2006; für die baltischen Staaten:
Gelazis 2000). Hervorzuheben ist die vergleichende Arbeit von Kneuer (2007), die die
Demokratisierungsstrategien gegenüber Spanien und der Slowakei gegenüberstellt.
      Diese   ergebnisbezogenen       Arbeiten      nehmen     sehr    stark    die    Perspektive    der
Beitrittskandidaten ein. Die Politik der EU, also die Beitrittskonditionen in Verbindung mit
entsprechenden Anreizen, ist nur der erste Schritt der Untersuchungen. Im Fokus steht die
Frage, welche Forderungen der EU tatsächlich in nationalen Politiken formuliert und
implementiert werden. Ob der erwünschte Politiktransfer gelingt, gibt nicht zwingend
Auskunft darüber, wie das Konditionalitätsprinzip angewandt wird. Insofern finden sich in
diesen Arbeiten widersprüchliche Annahmen über die konsistente (z.B. Vachudová 2001: 32
noch wo?) oder inkonsistente Anwendung (z.B. Glencorse/Lockhart 2010: 8) der EU-
Konditionalität.
      Vereinzelt steht die Beschaffenheit bzw. die Anwendung der Konditionalität als
abhängige      Variable     im   Zentrum      des     Interesses.     Smith     (2003)     zeichnet   die
Entwicklungsgeschichte der EU-Konditionalität nach. Konditionalität ist dabei kein statisches
Faktum, sondern ein von übergeordneten Zielen und politischem Willen abhängiges
Instrument. Haughton (2007) definiert drei Phasen, in denen die transformative power der EU
durch die Konditionalitätspolitik jeweils unterschiedlich stark wirkt. Ihm zufolge ist ihre
Wirkung nach der Phase der Heranführung, aber noch vor dem Beginn von
Beitrittsverhandlungen am deutlichsten sichtbar. In dieser zweiten und demnach
bedeutendsten Phase wird entschieden, ob Verhandlungen aufzunehmen sind oder nicht.
Steunenberg und Dimitrova (2007: 6) verweisen in diesem Zusammenhang auf das
Gefangenendilemma: Für den Beitrittskandidaten lohnen sich Reformanstrengungen vor
allem, so lange es kein festes Beitrittsdatum gibt. Nach diesem Fixpunkt verliert die
Konditionalität rapide an Wirkung (ebd.: 9). Dementsprechend lohnt es sich für die EU, den
Weg zum Beitritt möglichst lang offen zu halten, wodurch jedoch die Glaubwürdigkeit der
Beitrittsperspektive eingeschränkt wird. Neben diesen taktischen Überlegungen, die den
Willen der Beitrittsaspiranten betreffen, können interne Faktoren (z.B. Mangel an
Souveränität    oder      demokratischer   Qualität)     die    Kapazität      der    Beitrittskandidaten
einschränken, EU-Regeln umzusetzen (Noutcheva 2006a, b).
      Die Anwendung der EU-Konditionalität in der Erweiterungspolitik erfolgte oft nicht
konsistent. Es zeigt sich, dass die EU nicht als bürokratische Akteurin auftritt, wenn es um die

                                                                                                      12
Einlösung        versprochener       Anreize      geht.    Stattdessen      ist     die    Anwendung        des
Konditionalitätsprinzips derart politisiert, dass es nicht selten zu Abweichungen kommt
(Kochenov 2008, Veebel 2009, Zuokui 2010: 94, Anastasakis/Bechev 2003: 9, Smith 2003:
110f.). Herausragend in diesem Zusammenhang ist die vergleichende Fallstudie der EU-
Beziehungen zu den Westbalkanstaaten von Luckau (2011). Sie untersucht, ob die
fortschreitenden vertraglichen Beziehungen auf dem Weg zur Mitgliedschaft mit den
Fortschritten des jeweiligen Beitrittsaspiranten korrelieren. Wird der Anreiz dann (und nur
dann) gewährt, wenn die Konditionen der EU erfüllt wurden? Diese Frage muss aus ihrer
Sicht verneint werden.
      Nicht nur die Konsistenz der Anwendung ist eine politische Entscheidung und damit kein
Automatismus, sondern auch die Bedingungen selbst werden von der EU variabel
interpretiert:

      „The criteria applied to CEE have changed as the EU’s very general Copenhagen conditions have been
      elaborated and interpreted in several stages, resulting [i]n an increasingly detailed policy agenda for
      applicants. Conditionality for membership is complicated by the EU’s role as both player and referee in
      the accession process“ (Grabbe 1999: 30).

Die EU hat das Konditionalitätsprinzip nach der erfolgreichen Erprobung im Zuge der
Erweiterungen 2004/07 auch in die Nachbarschaftspolitik übernommen. Die Konzeption wird
deshalb im Lichte der Beitrittskonditionalität untersucht (Kelley 2006, Sasse 2008). Im
Vergleich zur Erweiterungspolitik nimmt Konditionalität in der ENP weniger Raum ein. Sie
wird auch in der Literatur als eines unter mehreren Elemente betrachtet. Denn ergänzend setzt
die ENP stärker auf das horizontale Instrument der Sozialisierung: „As with enlargement, the
EU is therefore trying to strike a balance between conditionality and soft diplomatic
socialization“ (Kelley 2006: 35f.). Die Nachbarschaftskonditionalität ist weniger ein Mittel
zur     Durchsetzung        von     EU-Regeln,       sondern     vielmehr         ein   loser   Rahmen      für
Sozialisierungsprozesse (Sasse 2008: 296), der den Partnerstaaten Orientierungshilfe auf dem
Weg zu Reformen bietet. Sozialisierungsprozesse, vor allem in Form von Netzwerken,
erhalten größere Bedeutung. Damit soll die fehlende Beitrittsperspektive kompensiert werden
(Lavenex 2008, Lavenex et al. 2007). Folglich verschwimmt die klare Grenze zwischen den
beiden Europäisierungsstrategien.
      Daneben finden sich vereinzelte Fallstudien über die Auswirkungen der ENP-
Konditionalität. Für die Ukraine bestätigt sich die These, dass die ENP eher einen „external
reference point“ für innenpolitische Reformen bildet, als dass man ihr zwingenden

                                                                                                                13
Reformdruck zurechnen könnte (Wolczuk 2009: 188). Dass die ENP unter bestimmten
Umständen dennoch gewisse Reformen in den ENP-Staaten bewirkt, weist eine vergleichende
Fallstudie für die Felder Energiepolitik und innere Sicherheit nach (Weber 2011).
   Es finden sich aber nur wenige Arbeiten, die eine vergleichende empirische Analyse von
ENP- und Beitrittskonditionalität versuchen. Diese beziehen sich in erster Linie auf die
externe Demokratieförderung der EU (Kochenov 2008, ders. 2006, Schimmelfennig/Scholtz
2007, Smolnik 2008). Dabei kommt Kochenov (2008) zu dem Schluss, dass das
Konditionalitätsprinzip außerhalb des acquis communautaire weder in der Beitritts- noch in
der Nachbarschaftspolitik Erfolg hatte. Er beschreibt ein „non-transparent and truly byzantine
labyrinth of conditionality“ (ebd.: 7, vgl. auch Kochenov 2006)). Zwischen den
Mitgliedstaaten der EU sowie zwischen den EU-Institutionen (besonders zwischen Rat und
Kommission) besteht Uneinigkeit darüber, welche konkreten Bedingungen und Ziele in den
Kandidatenländern erreicht werden sollen. Noch deutlicher tritt dieses Problem in den
Beziehungen zu den ENP-Staaten zu Tage. Für beide Ländergruppen gilt, dass

   „those candidate countries not reforming certain sectors at all were left alone, while others, trying to
   follow the recommendations from the Commission ended up being constantly criticised“ (Kochenov
   2008: 7).

Dieser Umstand schmälert die Bereitschaft der Zielländer, den schwammigen EU-Standards
zu entsprechen. Ein Vergleich der EU-Demokratieförderung in Mazedonien und Georgien
(Smolnik 2008) kommt zu einem gegensätzlichen Ergebnis. Demnach gelingt es der EU
durchaus, Demokratie und Rechtstaatlichkeit in Beitrittskandidaten zu fördern. Für den ENP-
Staat Georgien gilt hingegen, dass „Anreize unterhalb der Beitrittsperspektive keinen
nennenswerten Einfluss hatten und eine Übernahme von EU-Regeln nicht veranlassen
konnten“ (ebd.: 82).
   Es zeigt sich also dreierlei: Erstens sind empirische Arbeiten über die Einsatz und
Beschaffenheit von EU-Konditionalität vor allem in der Nachbarschaftspolitik dünn gesät.
Die Anwendung des Konditionalitätsprinzips als politischer Prozess blieb als black box
weitgehend außerhalb des Forschungsinteresses. Zweitens kommen die Autoren sowohl in
den Betrachtungen über die Anwendung der Konditionalität als auch bei der Einschätzung
ihres   Erfolgs      zu     widersprüchlichen        Ergebnissen.        Ein     Vergleich,      wie      das
Konditionalitätsprinzip in verschiedenen (acquis-) Politikfeldern und unterschiedlichen
Ländergruppen (Beitrittskandidaten vs. ENP-Staaten) implementiert wird, ist drittens kaum
Gegenstand der Forschung. Genau diese Frage nach der Anwendung von Konditionalität

                                                                                                              14
drängt sich jedoch auf. Warum und inwiefern ein solcher Vergleich von Beitritts- und
Nachbarschaftskonditionalität möglich und sinnvoll ist, erörtert das folgende Kapitel.

2.5 Zur Vergleichbarkeit von Beitritts- und Nachbarschaftskonditio-
nalität
Die Vergleichbarkeit von Beitritts- und ENP-Konditionalität ist nicht ohne weiteres nahe
liegend. Auf den ersten Blick erscheint eine vergleichende Betrachtung sogar unsinnig, da
sich die beiden Politiken in ihrer Zielrichtung maßgeblich unterscheiden: Der konditionierte
Transfer von Werten und Normen im Rahmen der Erweiterungspolitik ist notwendige
Bedingung für die Aufnahme eines Staates in die EU. Der EU-Beitritt soll hingegen durch die
ENP gerade umgangen werden. Der Zielpunkt ist eine möglichst enge Kooperation ohne
Mitgliedschaft. Der graduelle Regeltransfer ist somit nur in gewissem Maße intendiert.
   Zunächst soll deshalb betrachtet werden, welchen Stellenwert die Konditionalität in
Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik hat. Hier ist die Sichtweise der EU selbst
entscheidend. Im Anschluss daran wird der politikwissenschaftliche Diskurs zu dieser Frage
dargestellt. Abschließend werden die Argumente zusammengefasst und bewertet sowie die
Relevanz der Arbeit begründet.

2.5.1 Das Konditionalitätsprinzip in ENP und Erweiterungspolitik
Eine ausdifferenzierte Erweiterungspolitik wurde erst nach Fall des Eisernen Vorhangs auf
den Weg gebracht. Zwei entscheidende Veränderungen machten eine strategische
Herangehensweise an Erweiterungen nötig: Erstens gab es nach den friedlichen Revolutionen
in Mittelosteuropa schlagartig eine große Anzahl beitrittswilliger Staaten. Diese hatten
angesichts der dreifachen Transformation von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft eine lange
Wegstrecke bis zur Beitrittsfähigkeit zurückzulegen (Nugent 2004: 43). Zweitens führte der
Maastricht-Vertrag zu einer qualitativen Vertiefung der Integration. In der Folgezeit haben,
für die Beitrittsaspiranten von großer Bedeutung, Umfang und Komplexität des acquis stetig
zugenommen (Maresceau 2003: 10f.).
   Die Entwicklung einer ausdifferenzierten Erweiterungspolitik trägt dem Bestreben
Rechnung, die Eigendynamik der Erweiterung politisch kontrollierbar zu machen und
gleichzeitig an möglichst objektiven Kriterien auszurichten (Kohler-Koch et al. 2004: 306).
Seit 2006 können die Prinzipien der Erweiterungsstrategie unter dem Schlagwort der „drei K“
zusammengefasst werden (KOM 2005b: 13): Konsolidierung der Erweiterungspolitik, eine
verbesserte Kommunikationsstrategie und das Prinzip der Konditionalität.

                                                                                         15
Der Weg eines Landes zum Beitritt ist ein langer Prozess, der in fünf Abschnitte unterteilt
werden kann (Lippert/Umbach 2005). Zunächst werden die bilateralen Beziehungen zu dem
Beitrittsaspiranten etwa durch Handels- und Kooperationsabkommen formalisiert. Das Land
erhält   zudem    Zugang     zu   Fördermitteln     (z.B.    PHARE).    Der    Abschluss     von
Assoziierungsabkommen markiert den Übergang in die zweite Phase, Voraussetzung ist die
Verwirklichung der politischen und wirtschaftlichen Kopenhagen-Kriterien (Europäischer Rat
1993: 13). Mit der dritten Phase beginnt die offizielle Heranführungsstrategie. Sie zielt im
Wesentlichen auf eine schrittweise Übernahme des acquis und insbesondere auf die
„Anpassung der Verwaltungsstrukturen“, um Primär- und Sekundärrecht der EU auch
tatsächlich umsetzen zu können (Europäischer Rat 1995, Smith 2003: 115). Am Beginn der
offiziellen Beitrittsverhandlungen (Phase vier) steht das screening. Es wird systematisch
überprüft, inwieweit der in Kapitel unterteilte acquis communautaire implementiert ist.
Jährliche Berichte weisen auf Fortschritte und verbleibende Aufgaben hin. Um die
Beitrittskandidaten bestmöglich zu fördern, werden Beitrittspartnerschaften geschlossen. In
mehrjährigen Programmen sind kurz- und mittelfristige Ziele formuliert. Jedes Jahr
veröffentlicht die Kommission Fortschrittsberichte, in denen sie die Ergebnisse bewertet, die
Programme aktualisiert und Empfehlungen für die künftige Politikgestaltung gibt. Nach
Abschluss der Verhandlungen und Unterzeichnung der Beitrittsverträge gibt es meist (und in
zunehmendem Maße) einen zeitlichen Puffer, bis die Verträge in Kraft treten (Phase fünf).
Daneben werden häufig Übergangsfristen für einzelne Bereiche des acquis (z.B.
Arbeitnehmerfreizügigkeit) ausgehandelt. Beides soll gewährleisten, dass der gemeinsame
Besitzstand möglichst vollständig umgesetzt ist, bevor das Land Vollmitglied der EU wird.
    Als Bedingung für die Vollmitgliedschaft wurde ein immer komplexerer Kriterienkatalog
entwickelt. Hervorzuheben sind zunächst die Kopenhagener Kriterien, die Demokratie und
Rechtstaatlichkeit, marktwirtschaftliche Prinzipien und die Übernahme des acquis einfordern.
Dem wurde 2002 die Erweiterungsfähigkeit der EU selbst hinzugefügt (Lang/Schwarzer
2007). Speziell von den Westbalkanstaaten wird die uneingeschränkte Kooperation mit dem
UN-Kriegsverbrechertribunal       (ICTY)      und      die    Einhaltung      der    politischen
                                                5
Sonderübereinkommen für einzelne Staaten            verlangt. In Zusammenhang damit sind
ernsthafte Möglichkeiten zur Rückkehr von Flüchtlingen zu schaffen. Außerdem wurde die

5
  Dies betrifft den UN-Sicherheitsratsbeschluss für das Kosovo, die Dayton-Abkommen für Bosnien-
Herzegowina, das Rahmenabkommen von Ohrid für Mazedonien und das Abkommen von Belgrad für Serbien
und Montenegro (Altmann 2005: 22).

                                                                                              16
Vertiefung regionaler Kooperationen als Ziel für die Westbalkanstaaten stärker betont
(Mazrreku 2009: 115).6
    Die Mitgliedschaft in der EU ist jedoch nicht der einzige Anreiz, der den
Beitrittsaspiranten geboten wird. Den Kandidatenländern sollen schon während des
Beitrittsprozesses Angebote vertiefter Beziehungen zur EU gemacht werden. Wichtige
Integrationsschritte sind hier etwa die Liberalisierung des Reiseverkehrs und zunehmende
Integration in den Binnenmarkt. Außerdem ist der Beitrittsprozess begleitet durch weit
reichende finanzielle Förderung durch das Instrument für Heranführungshilfe (IPA). All diese
Leistungen werden ebenfalls an Bedingungen geknüpft. Das Konditionalitätsprinzip wird
somit nicht bei der Verhandlung des Beitritts angewandt, sondern erstreckt sich auch auf
Integrationsschritte während des Beitrittsprozesses.
    Die einzigen Voraussetzungen, die die EU-Verträge für eine Mitgliedschaft formulieren,
sind die Achtung und Förderung der gemeinsamen Werte und die Eigenschaft als
europäischer Staat (Art. 49 i.V.m. Art. 2 EUV). Damit besteht auch für die Ukraine eine
zumindest hypothetische Beitrittsperspektive, die vonseiten der EU bisher auch nicht
ausdrücklich ausgeschlossen wurde. Es ist aber höchst zweifelhaft, ob sich die EU dauerhaft
dem Beitrittswillen einiger europäischer ENP-Staaten wird verwehren können (Lippert 2007:
69f.). Für den Moment gilt jedoch, dass sich die EU „mit neuen Zusagen zurückhaltend“
verhält (KOM 2006c: 3).
    Vorerst stehen die Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten daher unter dem Dach der
ENP. Sie wurde als Reaktion auf die Osterweiterungen auf den Weg gebracht, um eine
umfassende Strategie gegenüber den neuen Nachbarstaaten im Osten zu gestalten und dabei
neue Trennlinien in Europas Osten zu vermeiden. Stattdessen wird die Verbreitung von
Sicherheit, Stabilität und Wohlstand als Ziel definiert (KOM 2004b: 3, Piehl 2010: 335,
Fröhlich 2008: 245ff.). Die Mittelmeeranrainer und die Staaten des südlichen Kaukasus
wurden 2004 in die ENP einbezogen, so dass sie nunmehr 16 Staaten7 umfasst. Vor allem auf
Initiative Polens und als Antwort auf die Gründung der Union für das Mittelmeer wurde mit
der ÖP ein Konzept entwickelt, das innerhalb der ENP die Besonderheiten der östlichen
Nachbarn stärker in den Blick nimmt (Vobruba 2007: 7ff., Piehl 2010, Böttger 2010).

6
  Eingebettet ist dieser Regionalansatz in den multilateralen Stabilitätspakt für Südosteuropa und ab 2008 in
dessen Nachfolgeorganisation, den Regionalen Kooperationsrat für Südosteuropa (SEECP).
7
  Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Israel, Palästinensische Autonomiegebiete, Jordanien, Syrien,
Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldova, Ukraine, Belarus, wobei mit Belarus und mit Libyen unter der
Herrschaft Gaddafis keine offiziellen Beziehungen bestehen bzw. bestanden.

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