Same Same But Different - Transkulturelle Ergotherapie
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Urheberrechtlich geschütztes Material. Copyright. Schulz-Kirchner Verlag, Idstein. Vervielfältigungen jeglicher Art nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung des Verlags gegen Entgelt möglich. info@schulz-kirchner.de Isabell Kost am Beispiel der pädiatrischen Ergotherapie Same Same But Different – Transkulturelle Ergotherapie Verlag Kirchner Schulz- Kultur- und migrationssensible Behandlung und Beratung
Urheberrechtlich geschütztes Material. Copyright. Schulz-Kirchner Verlag, Idstein. Vervielfältigungen jeglicher Art nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung des Verlags gegen Entgelt möglich. info@schulz-kirchner.de Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi- bliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Besuchen Sie uns im Internet: www.skvshop.de 1. Auflage 2023 ISBN 978-3-8248-1307-0 eISBN 978-3-8248-9855-8 Alle Rechte vorbehalten © Schulz-Kirchner Verlag GmbH, 2023 Mollweg 2, D-65510 Idstein Vertretungsberechtigte Geschäftsführer: Dr. Ullrich Schulz-Kirchner, Martina Schulz-Kirchner Foto Isabell Kost: Roland Schmoll Umschlagfoto: Rawpixel.com – Adobe Stock Fachlektorat: Tom Leidag Lektorat: Doris Zimmermann Umschlagentwurf und Layout: Susanne Koch Druck und Bindung: Plump Druck & Medien GmbH Rolandsecker Weg 33, 53619 Rheinbreitbach Printed in Germany Die Informationen in diesem Buch sind von der Verfasserin und dem Verlag sorgfältig erwogen und geprüft, dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Eine Haftung der Verfasserin bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (§ 53 UrhG) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar (§ 106ff UrhG). Das gilt ins- besondere für die Verbreitung, Vervielfältigungen, Übersetzungen, Verwendung von Abbildungen und Tabellen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung oder Verarbei- tung in elektronischen Systemen. Eine Nutzung über den privaten Gebrauch hinaus ist grundsätzlich kostenpflichtig. Anfrage über: info@schulz-kirchner.de.
Urheberrechtlich geschütztes Material. Copyright. Schulz-Kirchner Verlag, Idstein. Vervielfältigungen jeglicher Art nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung des Verlags gegen Entgelt möglich. info@schulz-kirchner.de Inhalt Grußwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Hinweise zum Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Teil 1 Gesellschaftspolitische Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Allgemeine Daten zur Bevölkerung in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Aufenthaltsgenehmigung, Duldung, Asylverfahren – was bedeutet das alles?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Menschen mit Migrationshintergrund haben Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . 22 „Schwierige Patient:innen?!“ – Berufspolitische Grundlagen und Diskussionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Ergebnisse aus der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Exkurs: Collaborative relationship-focused occupational therapy. . . . . . . . . . 28 Die Geschichte vieler türkeistämmiger Migrant:innen in Deutschland . . . . . . . . 31 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Kultur und Sozialisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Was ist Kultur?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Kulturen im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Akkulturation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Akkulturationsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Kultur und Sprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Sozialisation von migrierten Familien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Sozialisation am Beispiel türkeistämmiger migrierter Familien. . . . . . . . . . . 53 Sozialisation am Beispiel arabischer migrierter Familien. . . . . . . . . . . . . . . 54 Die kindliche Menschzeichnung im kulturellen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . 55 Kulturspezifischer Blick auf Verhaltensauffälligkeiten von Kindern. . . . . . . . . 57 Der Kulturbegriff im ergotherapeutischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Cultural safety . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Diversität und Kultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Das Kawa-Modell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 5
Urheberrechtlich geschütztes Material. Copyright. Schulz-Kirchner Verlag, Idstein. Vervielfältigungen jeglicher Art nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung des Verlags gegen Entgelt möglich. info@schulz-kirchner.de I NHALT Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Was ist Migration? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Pull- und Push-Faktoren der Migration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Das Modell der Transnationalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Der Migrationsprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Modell der Anpassungsleistungen und Ressourcen von Migrant:innen. . . . . . . 86 Religion und Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Migration und Gesundheit/Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Psychiatrische Krankheitsbilder im kulturellen Kontext. . . . . . . . . . . . . . . . 97 Exkurs: Trauma bei geflüchteten und migrierten Kindern. . . . . . . . . . . . . . 104 Migration und Betätigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .110 Die Bindungstheorie von Bowlby unter kulturellen Aspekten . . . . . . . . . . . . 111 Entwicklung und allgemeine Grundlagen der Bindungstheorie . . . . . . . . . . . 111 Typisierung und Entwicklung von Bindungsstilen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Die Bindungstheorie im kulturellen Kontext. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Bindung und Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Bindung und Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .145 Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Die Begriffe „Rasse“ und „Rassismus“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Rassismus in und durch Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Rassismus in Deutschland nach 1945 bis heute. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Rassismus und Sprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .155 Diskriminierung im therapeutischen Setting. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Auswirkungen von Rassismus auf People of Color . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Institutioneller Rassismus in der Psychiatrie und Psychologie. . . . . . . . . . . 163 Rassismus in der Ergotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Wie kann der Umgang mit Rassismus erlernt werden? . . . . . . . . . . . . . . . 168 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .172 Islamismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .173 Historie des Islamismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .173 Gesellschaftspolitische Hintergründe des Islamismus . . . . . . . . . . . . . . . .174 Warum wenden sich Jugendliche mit Migrationshintergrund Gewalt zu? . . . . . 176 Salafismus verhindert Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
Urheberrechtlich geschütztes Material. Copyright. Schulz-Kirchner Verlag, Idstein. Vervielfältigungen jeglicher Art nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung des Verlags gegen Entgelt möglich. info@schulz-kirchner.de I NH A LT Ursachen und Entwicklung der islamistischen Radikalisierung . . . . . . . . . . . 180 Prävention islamistischer Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Transkulturelle Ergotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Begriffsklärung Interkulturalität versus Transkulturalität. . . . . . . . . . . . . . .191 Der Erwerb transkultureller Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Fünf Kompetenzelemente in ihrer praktischen Anwendung . . . . . . . . . . . . . 205 Transkulturelle Kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Transkulturelle Reflexion/Selbstanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Transkulturelle Methodenkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Exkurs: Arbeit mit Geflüchteten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .217 Existiert die Notwendigkeit einer kulturell- und migrationssensiblen Beratung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Die systematische Fallanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Same Same But Different?! Unterscheidung zwischen Ergotherapie mit migrierten und nicht-migrierten Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Allgemeine Grundlagen für die ergotherapeutische Beratung migrierter Familien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Ansätze einer bindungsorientierten ergotherapeutischen Behandlung und Beratung migrierter Familien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Teil 2 „Think about Thinking!“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Clinical und Professional Reasoning . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Denkweisen des Clinical Reasonings. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Falldarstellung I: „Meine Gefühle sind manchmal zu viel und dann kann ich halt nicht mehr“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Telefonischer Erstkontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Zusammenfassung der Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Reflexion des Anamnesegesprächs unter den den Neuansiedlungsprozess beeinflussenden Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Kontaktaufnahme und Diagnostikphase mit dem Kind. . . . . . . . . . . . . . . 269
Urheberrechtlich geschütztes Material. Copyright. Schulz-Kirchner Verlag, Idstein. Vervielfältigungen jeglicher Art nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung des Verlags gegen Entgelt möglich. info@schulz-kirchner.de I NHALT Das Ökologische Modell des Clinical Reasonings. . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Diagnostikgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Schulbesuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Ergotherapeutisches Elterngespräch I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Verlauf der ergotherapeutischen Sitzungen mit Eren . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Ergotherapeutisches Elterngespräch II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Runder Tisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Konzentrationstraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Evaluation des Therapieprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Abschließende Bemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Falldarstellung II: „Wir sind eine fröhliche Familie“. . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Telefonischer Erstkontakt und sich daraus ergebende erste Hypothesen. . . . . 299 Ergebnisse aus dem Anamnesegespräch mit beiden Eltern. . . . . . . . . . . . . 306 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Diagnostikgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .317 Die Elternberatung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Adressen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Infoboxen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Selbstreflexion zur kulturellen Kompetenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Leitfaden zur kulturellen Exploration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378
Urheberrechtlich geschütztes Material. Copyright. Schulz-Kirchner Verlag, Idstein. Vervielfältigungen jeglicher Art nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung des Verlags gegen Entgelt möglich. info@schulz-kirchner.de Grußwort Die Mehrheitsgesellschaft bestimmt, welches gesellschaftliche Verhalten als richtig und falsch interpretiert wird. Meine transkulturellen Erfahrungen, die ich während meiner Zeit im Ausland gesammelt habe, zeigten mir, wie stark kulturelle Prägungen meine Wahrnehmung und somit mein Handeln lenken. Jeder Mensch hat kulturell geprägte Denk- und Wahrnehmungsmuster, die bei nicht reflektiertem Umgang zu Missverständnissen und Konflikten führen. Eine Zeit lang arbeitete ich als Ergotherapeutin an einer kleinen Schule in Ecuador. Ich war für die Förderung verschiedener Kinder in unterschiedlichen Klassen zuständig. Um mehr Informationen über die Kinder zu erhalten, plante ich einen Elternsprechtag. Die Gesprächstermine organisierte ich, wie in der ergotherapeutischen Praxis in Deutschland, in der ich vorher gearbeitet hat- te, streng in 60-minütigen Zeitfenstern. An dem entsprechenden Tag kam die erste Mutter fast zwei Stunden nach dem von mir anberaumten Termin – in freudiger Erwartung auf das gemeinsame Gespräch und ohne ein Wort der Ent- schuldigung bezüglich der zeitlichen Verspätung. Ich war verärgert und fühlte mich und meine Arbeit nicht wertgeschätzt. Jedoch schluckte ich meinen Ärger herunter (froh, dass überhaupt jemand erschienen war) und begann, um die zeitliche Verzögerung zumindest ein Stück weit zu kompensieren, direkt damit, der interessierten Mutter meine Beobachtungen bezüglich ihrer Tochter mitzu- teilen. Ich erläuterte ihr ausführlich, welche Ressourcen und Schwierigkeiten ihr Kind im schulischen Alltag zeigte und welche Ideen mir zur Anpassung der Situationen gekommen seien. Als Reaktion darauf schilderte die Mutter in ei- ner nicht klagenden, sondern beschreibenden Weise sehr detailliert das Le- ben in ihrem Dorf und ihre Anreise zum heutigen Termin an der Schule. Als sie anschließend, um ihre Dankbarkeit und Freude über die therapeutische Be- gleitung ihrer Tochter kundzutun, unter ihren Rock griff und mir als Geschenk ein zum Grillen vorbereitetes totes Meerschweinchen auf den Tisch legte – und das auch noch auf meine fein säuberlich vorbereiteten Unterlagen – da war das transkulturelle Missverständnis perfekt. Dieses kleine Beispiel zeigt, wie schnell eine Person, die aus einer zeitlich linear ge- prägten kontextarmen Kultur stammt, in einer relativ banal wirkenden Situation in einem anderen kulturellen Kontext an ihre Grenzen stößt. In zeitlich linear geprägten kontextarmen Kulturen wird das Leben unter anderem nach Uhrzeiten ausgerichtet und gute Kommunikation zum Beispiel in Form von einfachen, präzise und verbal ge- 9
Urheberrechtlich geschütztes Material. Copyright. Schulz-Kirchner Verlag, Idstein. Vervielfältigungen jeglicher Art nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung des Verlags gegen Entgelt möglich. info@schulz-kirchner.de G RUSSWO RT äußerten Botschaften gelebt. Hingegen wird in zeitlich flexiblen und kontextreichen Kulturen gelungene Kommunikation an zwischen den Zeilen mitgeteilten, nuancier- ten und vielschichtigen Botschaften festgemacht. Zeitliche Dimensionen orientieren sich unter anderem an relevanten Ereignissen. Diese Kulturgebundenheit tragen wir in uns. Menschen mit unterschiedlichsten Migrationsgeschichten bringen diese mit und bereichern dadurch das Leben in Deutschland. Jedoch werden diese Personen von der Mehrheitsgesellschaft häufig nicht als Gewinn, sondern als Belastung wahr- genommen. Dies führt zu Stigmatisierung und Rassismus, was als bedeutsamer Aus- löser für gesundheitliche Probleme beschrieben wird. Deshalb ist gerade für therapeutische Professionen die Auseinandersetzung mit den hier im Buch vorgestellten Themen von besonderer Bedeutung. Der Autorin gelingt es, im Wechsel von theoretischen Kapiteln, praxisbezogenen Fallbeispielen und zu- sätzlichen reflexiven Fragen Leser:innen eindrucksvoll dabei zu unterstützen, die ei- gene soziale Stellung innerhalb der Gesellschaft und deren Auswirkungen auf die therapeutische Beziehung zu reflektieren sowie kulturelle Prägungen zu erkennen. Dies ist eine wesentliche Grundlage, um eine wirklich partnerschaftliche, therapeu- tische Beziehung einzugehen und das Gegenüber anzunehmen und zu verstehen. Seit dem oben beschriebenen Beispiel aus meiner praktischen Tätigkeit im Aus- land sind einige Jahre vergangen. In der Zwischenzeit habe ich mich verstärkt mit transkulturellen Prägungen auseinandergesetzt und blicke amüsiert auf die damali- ge Situation zurück. Jedoch begreife ich die Reflexion der eigenen Kulturgebunden- heit als lebenslangen Prozess, der immer wieder Herausforderungen mit sich bringt. Ich freue mich sehr, dass Isabell Kost den Schritt gewagt hat und ihre Erkenntnisse und Erfahrungen in diesem wertvollen Werk präsentiert und mit allen interessierten Leser:innen teilt. Sie gibt uns somit eine Hilfestellung bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Kulturgebundenheit im Kontakt zu Klient:innen mit auf den Weg, die wir in einer Profession, die in Deutschland von überwiegend weißen, aus der Mittel- schicht stammenden Therapeut:innen dominiert wird, dringend benötigen. Helen Strebel 10
Urheberrechtlich geschütztes Material. Copyright. Schulz-Kirchner Verlag, Idstein. Vervielfältigungen jeglicher Art nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung des Verlags gegen Entgelt möglich. info@schulz-kirchner.de Vorwort Die Idee zu dem Ihnen vorliegenden Buch entstand aus dem steten Austausch mit Kolleg:innen aus unterschiedlichen Disziplinen und der gemeinsamen Erfahrung, dass transkulturelles Arbeiten eine Herausforderung darstellt. Im Rahmen meines Masterstudiums zur Ehe-, Familien- und Lebensberatung an der Katholischen Hochschule zu Köln beschäftigte ich mich intensiv mit den unterschied- lichen psychotherapeutischen Therapieformen und der von Bowlby begründeten Bin- dungstheorie. Insbesondere der bindungstheoretische Ansatz hat mich beeindruckt und die daraus resultierende Haltung beeinflusste nicht nur meine Arbeit mit den Kindern in der pädiatrischen Ergotherapie, sondern auch die Elternberatungen. Das Thema der Masterthesis „Same Same But Different – Bindungsorientierte Bera- tung von Familien mit Migrationshintergrund“ entwickelte sich zu einer Zeit, in der ich in meiner praktischen Arbeit in einem sozialen Brennpunkt Kölns mit Kindern kon- frontiert wurde, die radikal-islamistisch anmutende Äußerungen oder Verhaltenswei- sen zeigten. In einem Fall erlebte ich, wie Eltern, die wegen der Aussagen ihres Soh- nes besorgt waren, kompetent handelten. In einem anderen Fall äußerte eine Mutter die Sorge, dass ihr Sohn sich zu einem späteren Zeitpunkt der Terrorgruppe des so- genannten Islamischen Staates anschließen könnte. Eine Sorge, die im Team und von den pädagogischen Fachkräften der Schule geteilt wurde. Gleichwohl handelte diese Mutter in dieser Hinsicht wenig erziehungskompetent, der Vater war nicht verfügbar. Die Prognose war zu diesem Zeitpunkt sehr ungünstig. Ein dritter Fall zeigte einen emotional hochgradig verzweifelten Jungen, der aus Hilflosigkeit heraus wiederkeh- rend radikale Aussagen in der Schule und der Ergotherapie traf, mit Eltern, die sich der Beratung entzogen und, so die Vermutung des therapeutischen und kinder- und jugendpsychiatrischen Teams, salafistische Tendenzen aufwiesen. Zudem motivierte mich die von Professor:innen vielfach zitierte Aussage von Fuchs (2012): „Als Kind geliebte Menschen fangen keine Kriege an“. In seiner wissenschaft- lichen Arbeit kommt er zu dem Schluss, dass Krieg und Terror, aber auch Extremismus durch Kinderschutz und Kinderfürsorge reduzierbar sind. Er stellt dar, dass Biografien über Diktatoren sowie politisch ähnlich Agierende – sofern hinreichend biografisches Material vorlag – keine Hinweise auf nachweisbar erfahrene Liebe und Fürsorge, aber auch gewaltfreie Erziehung geben ( Kap. Gesellschaftspolitische Hintergründe des Islamismus). Auch führt er aus, dass Terrorist:innen keine intakten Elternhäuser er- lebt hätten. Gleichwohl lässt sich argumentieren, dass auch Eltern von Terrorist:innen ihre Kinder sicherlich geliebt haben und es ihnen aus verschiedensten Gründen nicht möglich gewesen sein mag, ihren Kindern hinreichende Fürsorge und Befriedigung 11
Urheberrechtlich geschütztes Material. Copyright. Schulz-Kirchner Verlag, Idstein. Vervielfältigungen jeglicher Art nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung des Verlags gegen Entgelt möglich. info@schulz-kirchner.de VORWORT des Bindungsbedürfnisses zukommen zu lassen ( Kap. Entwicklung und allgemei- ne Grundlagen der Bindungstheorie). Während der Auseinandersetzung mit dem Thema veränderte sich sukzessive meine therapeutische Haltung und in der Folge meine Arbeit mit migrierten Familien. Viele Verhaltensweisen, Schwierigkeiten in Elternberatungen oder bereits in der Anamne- se wurden mir verständlich und ich fand häufiger zu einem gemeinschaftlichen/part- nerschaftlichen Arbeiten mit den Familien. Dazu ist zu sagen, dass ich primär mit Kindern und Familien aus dem arabisch-isla- mischen Kulturkreis arbeite, weswegen dieser Kulturkreis hier vorrangig beschrieben wird. Grundlegende Theorien zur Kultur, Migration und Bindung unterscheiden sich wenig innerhalb der Kulturen, weswegen reflektierte Leser:innen zu einer grundle- genden transkulturellen Kompetenz bzw. Erweiterung ihrer Kompetenz befähigt wer- den. Ich beziehe mich in dem Buch auf die von den Ergotherapeutinnen Black und Wells (2007) formulierten Grundannahmen: Alle Menschen haben multikulturelle Einflüsse erfahren. Jeder Mensch ist beeinflusst und geprägt von mehr als einer Kultur und kann so- mit als „multicultural being“ bezeichnet werden. Kulturell kompetentes Handeln unterliegt einem lebenslangen Lernprozess. Transkulturelle Kompetenz unterliegt einer professionellen und ethischen Ver- pflichtung. Transkulturelle Kompetenz führt zu einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsver- sorgung. Der japanische Ergotherapeut Iwama forderte wiederholt, die westlich geprägten er- gotherapeutischen Theorien und Modelle einschließlich ihrer Assessments und der daraus abzuleitenden Interventionen transkulturell zu betrachten, statt sie den nicht- westlichen Kulturen aufzudrängen (Iwama, 2005b). Gleichwohl ist in der aktuellen ergotherapeutischen deutschsprachigen Fachliteratur wenig dazu zu finden. Das vorliegende Buch soll also einen Beitrag zur transkulturellen Ergotherapie leis- ten. Da ich derzeit ausschließlich mit Kindern und Familien arbeite, beziehen sich die Beispiele auf den Bereich Pädiatrie. Das grundlegende theoretische Wissen über Kul- tur und Sozialisation, Migration und Bindungstheorie sowie der Erwerb von transkul- tureller Kompetenz wiederum erscheint mir übertragbar auf andere Fachbereiche wie beispielsweise die ergotherapeutische Psychiatrie, auf andere Disziplinen wie z. B. die Logopädie oder auf Bildungseinrichtungen wie Kindergärten und Grundschulen. Die „Anregungen zur Selbstreflexion“ unter vielen Subkapiteln und der im Anhang 12
Urheberrechtlich geschütztes Material. Copyright. Schulz-Kirchner Verlag, Idstein. Vervielfältigungen jeglicher Art nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung des Verlags gegen Entgelt möglich. info@schulz-kirchner.de VO RWO RT angefügte bzw. zum Downloaden angebotene Fragebogen: „Selbstreflexion zur kul- turellen Kompetenz“ gibt Ihnen die Möglichkeit, sich selbst kritisch zu hinterfragen und Ihre Haltung zunehmend transkulturell zu gestalten. Das Buch wurde geschrieben für vergleichsweise junge Ergotherapeut:innen, die noch wenig Berufserfahrung haben, sowie für „alte Hasen“, die sich stetig weiter- entwickeln wollen. Durch die vielen praktischen Beispiele werden die Theorien leich- ter verständlich und nachvollziehbar, sodass Inhalte auch in der Ausbildung von Ergotherapeut:innen Anwendung finden können. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen des Buches und in der persönlichen Wei- terentwicklung durch die Anwendung der Selbstreflexion. Isabell Kost 13
Urheberrechtlich geschütztes Material. Copyright. Schulz-Kirchner Verlag, Idstein. Vervielfältigungen jeglicher Art nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung des Verlags gegen Entgelt möglich. info@schulz-kirchner.de Hinweise zum Buch Das Buch ist in zwei Teile gegliedert: Teil I ist der theoretische Teil und vermittelt Wissen über Kultur, Migration, die Bin- dungstheorie nach Bowlby, Rassismus und Islamismus sowie transkulturelle Kompe- tenz. Wissen wird als wichtiger, jedoch nicht wichtigster Baustein in der transkulturel- len Kompetenz erachtet, weswegen die theoretischen Hintergründe flankiert sind von Fallbeispielen und Anregungen zur Selbstreflexion. Teil II ist praxisbezogen und stellt einen ergotherapeutischen und einen Familienbe- ratungsprozess dar. In beiden Falldarstellungen finden Sie Verweise auf die dem Fall zugrunde liegenden theoretischen Hintergründe. Auch wird das Clinical Reasoning angewendet, um Entscheidungsgrundlagen transparent zu machen. Die in allen Fallbeispielen getroffenen Hypothesen sind als Annahmen zu begrei- fen. Hypothesen sind grundsätzlich nicht zu bewerten und noch weniger sind sie dogmatisch zu betrachten. Sie können jederzeit fallen gelassen oder im Prozess weiter verfolgt werden. Sie bilden sich auf der Grundlage beruflicher Erfahrungen von (Ergo-)Therapeut:innen und dem, was Klient:innen mitteilen. Unterschiedliche Therapeut:innen kommen zu unterschiedlichen Hypothesen, wodurch sich insbe- sondere die Prozesse in der Elternberatung anders gestalten – anders und somit nicht „richtiger“ oder weniger „richtig“. Wichtig ist, dass sich Hypothesen begründen lassen – also warum man zu einer Hypothese kommt. Werden Klient:innen Hypo- thesen, unter der Einhaltung von wertschätzender und respektvoller Kommunikati- on, mitgeteilt, so werden diese möglicherweise angenommen oder auch abgelehnt. Klient:innen bleiben Expert:innen ihrer persönlichen Angelegenheiten und aus be- rufsethischen Gründen ist dies zu respektieren. Im Buch werden Begrifflichkeiten erläutert, die mehr oder weniger reflektiert im All- tag Verwendung finden. Begriffe sind als theoretische Konstrukte zu verstehen, die notwendig sind, um Belange zu besprechen und zu beschreiben. Gleichwohl unter- liegen sie einem beständigen Wandel und werden unter Umständen diskriminierend respektive stigmatisierend erlebt – beispielsweise wird mit dem Begriff „Mensch mit Migrationshintergrund“ eher eine Person mit muslimischem Hintergrund als eine Per- son aus Schweden oder Frankreich assoziiert. 14
Urheberrechtlich geschütztes Material. Copyright. Schulz-Kirchner Verlag, Idstein. Vervielfältigungen jeglicher Art nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung des Verlags gegen Entgelt möglich. info@schulz-kirchner.de H I NW E I SE ZU M B U CH Obwohl in der transkulturellen Annahme die Untrennbarkeit von Kulturen postuliert wird und dem Konzept eine integrative Vorstellung zugrunde liegt, stelle ich zunächst Kulturen gegenüber. Dies hat etwas Trennendes, so wie Sprache aus pragmatischen Gründen immer etwas Trennendes hat, gleichwohl können Dinge, Situationen und Annahmen jedoch erst dadurch überhaupt besprechbar werden. Sprache reduziert also komplexe Sachverhalte und macht sie dadurch erst besprechbar. Dennoch blei- ben Kulturen komplex und in der Regel uneindeutig; es gibt nicht die eine Kultur! Haltung wird in der transkulturellen Kompetenz als wichtiger Baustein erachtet und steht über dem rein kognitiven Wissen. In diesem Sinne hoffe ich, Ihnen beim Er- werb oder der Erweiterung Ihrer transkulturellen Kompetenz und einer damit einher- gehenden Änderung oder Weiterentwicklung Ihrer beruflichen Haltung gegenüber Klient:innen mit Migrationshintergrund Unterstützung zu geben. 15
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