Bildung und soziale Ungleichheit - Einleitung zum Heftschwerpunkt - SPW

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22                                               Schwerpunkt                                                                                                                                 spw 3 | 2020

                                                 Bildung und soziale Ungleichheit
                                                 Einleitung zum Heftschwerpunkt

                                                 von Max Reinhardt und Stefan Stache
     © Radachynskyi – Getty Images/iStockphoto

                                                    Mit der zeitweisen Schließung von Schu-                                   z.B. Finnland deutlich besser abschnitt. Die
                                                 len und Hochschulen und den Defiziten digi-                                  Beteiligung an höherer Bildung in den zu-
                                                 taler Infrastruktur und Lernformate sind die                                 rückliegenden zwei Jahrzehnten hat sich zwar
                                                 Zusammenhänge von Bildungschancen und                                        insgesamt deutlich verbreitert. Zwischen 2014
                                                 sozialer Ungleichheit wieder in den Vorder-                                  und 2019 ist allerdings ein leichter Rückgang an
                                                 grund politischer Debatten gerückt. Beson-                                   Abiturient*innen und eine leichte Zunahme an
                                                 ders sozial weniger oder nicht privilegierte                                 Jugendlichen ohne Abschluss festzustellen. Im-
                                                 Schüler*innen werden durch jene Defizite                                     merhin 47 Prozent der 12-21-Jährigen besuchen
                                                 benachteiligt. Bereits vor der Corona-Krise                                 laut Shell-Jugendstudie 2019 ein Gymnasium
                                                 hatte die jüngste PISA-Studie abermals belegt,                               und 68 Prozent der 12-21-Jährigen möchten die
                                                 wie eng in Deutschland der Lernerfolg von der                                Hochschulreife erwerben. Haben Väter bereits
                                                 sozialen Herkunft abhängt. In Deutschland                                    einen höheren Schulabschluß erreicht, liegen
                                                 erreichten die Schüler*innen aus sozioökono-                                 die Chancen auf eine Hochschulreife jedoch
                                                 misch bevorteilten Elternhäusern eine weit-                                  im Vergleich zu Jugendlichen doppelt so hoch,
                                                 aus höhere Punktzahl in der Lesekompetenz                                    deren Väter einen niedrigeren Abschluss besit-
                                                 als Schüler*innen aus benachteiligten sozialen                               zen. Weil die Beteiligung an höherer Bildung
                                                 Lagen. Der Abstand zwischen diesen Grup-                                     in den letzen zwei Jahrzehnten in allen Schich-
                                                 pen war gegenüber der letzten PISA-Erhebung                                  ten angestiegen ist, setzt sich die Bildungsunge-
                                                 nicht nur gewachsen, sondern lag über dem                                    rechtigkeit trotz wachsender Chancen fort (Bil-
                                                 Durchschnitt der OECD-Länder, während
                                                                                                                              	 Programme for international students assessment (PISA): PISA 2018. Ergeb-
                                                                                                                                 nisse Deutschland, online: http://www.oecd.org/berlin/themen/pisa-studie/
                                                 	 Max Reinhardt ist Mitglied der spw-Redaktion und Bildungs- und Habitus-      PISA2018_CN_DEU_German.pdf .
                                                    /Milieuexperte.                                                           	 https://www.bildungsbericht.de/de/datengrundlagen/daten-2020
                                                    Stefan Stache ist Chefredakteur der spw und lebt in Hannover.             	 Siehe Andrea Lange-Vester unter Bezug auf Befunde der Shell-Jugendstudie
                                                 	 Siehe das Interview mit Birgit Eickelmann im Heftschwerpunkt.                2019 im Heftschwerpunkt.
spw 3 | 2020                                                                                                                                 Schwerpunkt                  23

dungsparadox). An den Hochschulen ist eine                                           waren auch in den Jahrzehnten zuvor die Aus-
ähnliche Entwicklung zu beobachten: Zwar                                              nahme. Im Vordergrund standen in beiden
sind seit dem Wintersemester 2008/09 stets                                            Parteiflügeln immer die Verminderung von
über zwei Millionen Studierende eingeschrie-                                          Bildungsungleichheiten und ein Aufstiegsver-
ben, die sozialgruppenspezifischen Anteile der                                        sprechen durch Bildungsöffnungen. Jene Ver-
Beteiligung an Hochschulbildung sind jedoch                                           sprechen gerieten v.a. infolge staatlicher Spar-
ungleich verteilt.                                                                   politik, aber auch einer Phase neoliberalerer
                                                                                      Bildungspolitik (Stichworte: Studiengebühren,
   Seit langem scheinen die Ursachen von                                              Verkürzung der Oberstufe, Teile des Bologna-
Bildungsungerechtigkeiten und solidarische                                            Prozesses) besonders in den 2000er Jahren un-
Politiken für mehr Chancengleichheit auf der                                          ter Druck. Die Befunde der ersten PISA-Studi-
Hand zu legen. In den politischen Debatten der                                        en belebten die innerparteilichen Diskussionen
Linken und den bildungspolitischen Auseinan-                                          und führten teils zu neuen bildungspolitischen
dersetzungen insgesamt bleiben jedoch zentrale                                        Programmen in den Landesparteien, die u.a.
Mechanismen häufig verdeckt, die Ungleich-                                            gemeinsames Lernen, kostenfreie Bildung oder
heiten in der Alltagspraxis reproduzieren. So                                         für alle erreichbare Bildungsstandards einfor-
beeinflusst die durch den familiären Klassenha-                                       derten. Später befeuerte die Ratifizierung der
bitus und das Herkunftsmilieu vermittelte Nähe                                        UN-Behindertenrechtskonvention Schritte zur
oder Ferne zur tonangebenden Kultur höherer                                           Inklusion an Schulen.11
Bildungsinstitutionen den Lernerfolg und die
Bildungsbeteiligung. Quer hierzu liegen die                                             Debatten auf Parteitagen, die sich im wei-
Ungleichheitsdimensionen mit Diskriminie-                                             testen Sinne auf Chancengleichheit beziehen,
rungserfahrungen wie dauerhafte gesundheit-                                           konzentrierten sich im letzten Jahrzehnt weitge-
liche Beeinträchtigungen, Geschlecht und Mig-                                         hend auf materielle und personelle Ressourcen
rationshintergrund sowie sexuelle Identität.10                                       wie z.B. gebührenfreie Bildung oder bedarfs-
                                                                                      gerechte Personalkapazitäten, die Ausweitung
   Die Widersprüche des oben beschriebenen                                            von Ganztagsschulen, Kompetenzerwerb und
Bildungsparadoxes zeigen sich nun wieder                                              lebenslange Qualifizierungsmöglichkeiten, die
deutlicher – auch durch steigende Arbeits-                                            Öffnung für Kooperation zwischen Bund und
losenzahlen und zunehmende Spannungen                                                 Ländern oder das Recht auf Kita-Plätze.12 Jün-
durch Ungleichheiten. Frühere Auseinander-                                            gere Anträge zielen nach den Erfahrungen der
setzungen über Schulstrukturen wurden in                                              Zusammenlegung von Haupt- und Realschule
einigen Bundesländern durch Konsense zwi-                                             zur Sekundarschule sowie der Konzentration
schen den Landesregierungen und der Opposi-                                           benachteiligter Schüler*innen auf bestimmte
tion („Schulfrieden“) entschieden, die z.B. den                                       Schulen und der verstärkten Nachfrage nach
Kommunen frei stellten, neue Gesamtschulen                                            dem Abitur auf eine erhöhte soziale Durch-
einzurichten. Die Entwicklungen bis zur Coro-                                         lässigkeit. Letztere soll u.a. durch Qualitäts-
na-Krise hatten dazu beigetragen, dass grund-                                         entwicklung und strukturelle Teilreformen
legende Diskussionen um Ordnungsvorstellun-                                           erreicht werden. So sollen in Berlin Oberstu-
gen gerechter und emanzipatorischer Bildung                                           fen an möglichst allen Sekundarschulen und
in der SPD eine deutlich untergeordnete Rolle                                         Gemeinschaftsschulen eingerichtet werden.13
spielten. Fundamentale Reformdiskussionen                                             Zudem kritisieren SPD-Landesverbände (z.B.
                                                                                      NRW) die fortbestehenden Bildungsungleich-
	 Ebd. unter Verweis auf Rainer Geißler.
                                                                                      heiten des selektiven Schulsystems und erneu-
	 Ebd. u.a. auf Basis von Daten des Statistischen Bundesamts.
	 Diese komplexen und teils subtilen Zusammenhänge haben Bourdieu und
   Passeron bereits Ende der 60er Jahre untersucht: Pierre Bourdieu/Jean-Clau-        11 Vgl. spw 2016 mit dem Heftschwerpunkt Behinderung und Inklusion (213).
   de Passeron 1971: Die Illusion der Chancengleichheit. Stuttgart.                   12 Vgl. SPD: Anträge zum ordentlichen Bundesparteitag der SPD am 7.-9. De-
	 Vgl. z.B. Heike Solga/Rosine Dombrowski Soziale 2009: Ungleichheiten in               zember 2019 Berlin, online: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Bun-
   schulischer und außerschulischer Bildung. Stand der Forschung und For-                desparteitag_2017/Ordentlicher_BPT/SPD_Antragsbuch_OPT_2017.pdf.
   schungsbedarf, Düsseldorf, online:https://www.boeckler.de/pdf/p_arbp_              13 Vgl. exemplarisch SPD Berlin: Landesparteitag 26.10. 2019. Anträge und
   171.pdf.                                                                              Beschlüsse u.a., online: https://parteitag.spd.berlin/cvtx_antrag/segregation-
10 Siehe z.B. die spw-Debattenreihe Identität und Solidarität (spw 2020, Heft 237).      im-berliner-schulsystem-bekaempfen/.
24   Schwerpunkt                                                                                                               spw 3 | 2020

     ern das Ziel einer gemeinsamen, integrativen                                    durch transparente Lernmittel und offen agie-
     und inklusiven Schule für alle. Dies wird auf                                   rende Lehrende unterstützt werden. Letztere, so
     dem Wege einer schrittweisen Reduzierung der                                    stellt der Autor klar, könnten jedoch nicht alle
     Schulformen angestrebt. Im Mittelpunkt des                                      Probleme lösen, die gesellschaftspolitisch auf
     politischen Programms stehen wiederum die                                       der Makroebene bearbeitet werden müssten.
     Investitionen in auskömmliche und erweiterte
     Ressourcen für individuelle Förderung, Schul-                                      Das Schulsystem in Deutschland ist, wie
     sozialarbeit, Lehrpersonal und kostenfreie An-                                  Dietrich Scholle feststellt, selektiv. Diese Selek-
     gebote etc. Eine gerechtere Bildungsbeteiligung                                 tion verlaufe nicht in einem kontinuierlichen,
     soll zudem u.a. durch bessere individuelle Lehr-                                auch immer wieder korrigierbaren Prozess,
     angebote, Lernbegleitung, mehr Zeit für indivi-                                 sondern habe vor allem institutionalisierte
     duelle Lernprozesse, offenere Lernsituationen,                                  Schnittstellen, an denen über die Passung zwi-
     die Abschaffung des Sitzenbleibens und der                                      schen Schüler*innen und Schulform entschie-
     Abschulung ermöglicht werden. Ein Nachho-                                       den werde. Er empfiehlt die Schaffung eines
     len von Abschlüssen jeder Stufe solle jederzeit                                 Schulsystems, in dem es nur noch Schulformen
     möglich sein und der Zugang zu einem Studi-                                     gibt, „die, jede auf ihre Weise, zum höchsten
     um nach dem Abschluss einer höheren Berufs-                                     möglichen Schulabschluss, der allgemeinen
     ausbildung möglichst offenstehen.14                                             Hochschulreife, dem Abitur, führen.“ Zudem
                                                                                     fordert er die Etablierung einer konsequenten
     Die Artikel des Heftschwerpunktes                                               „Kultur des Behaltens“, also des Verbleibs der
                                                                                     Schüler*innen in der Schulform, die sie*ihn
         Wie wichtig grundsätzliche Debatten um                                      aufgenommen habe. Schließlich sollten alle
     die Rolle von Bildung und den Abbau von Bil-                                    Schulformen, sich in gleicher Weise den Aufga-
     dungsungleichheiten sind, zeigt Max Reinhardt                                   ben der Integration und Inklusion stellen.
     an Hand von unterschiedlichen Strömungen
     der Berufspädagogik auf. Teile dieser Strö-                                        Andrea Lange-Vester arbeitet anhand von
     mungen betrachten den Abbau sozialer Un-                                        Studienstilen und -verläufen heraus, in welcher
     gleichheiten nicht als ihre Aufgabe. (Teils) sys-                               Weise sich ungleiche kulturelle Passungen fort-
     temtheoretisch argumentierende Strömungen                                       setzen, die bereits in der Schule wirksam sind.
     weisen – wie auch Sven Thiersch und Eike Wolf                                   Wer privilegiert sei, bewältige die Anforde-
     in diesem Heft – ein solches Verständnis päd-                                   rungen mit verhältnismäßig großer „Leichtig-
     agogischer Professionalität zurück. Bildung sei                                 keit“ und Selbstgewissheit. Für Schüler*innen
     wie auch Gesundheit und Rechte wertneutral                                      aus weniger privilegierten Familien und unteren
     zu begreifen. Aus der Perspektive des Habi-                                     Milieus sei es hingegen „deutlich schwieriger“, in
     tus- und Milieuansatzes geht es jedoch gerade                                   der Schule zu bestehen. Sie seien häufig unsicher
     darum, die vermeintlich wertneutralen Po-                                       und wirkten angespannt. Diese Unterschiede
     sitionen der Akteur*innen kritisch zu reflek-                                   wirkten auch bei Bildungsaufsteiger*innen
     tieren. Habitus- und Milieuforscher*innen,                                      nach, selbst wenn sie es bis zur Professur ge-
     wie die im Heftschwerpunkt, analysieren, wie                                    schafft hätten. Auch Lehrpersonen trügen zur
     Reinhardt betont, nicht allein die Ungleichheit                                 Reproduktion der Ungleichheiten bei, da sie
     oder stellen pädagogische und gesellschafts-                                    „wie alle sozialen Gruppen und Individuen,
     politische Forderungen, sondern suchen                                          gelernt“ hätten, „ihren Alltag auf der Grund-
     nach Wegen, Ungleichheiten in der Praxis des                                    lage von verinnerlichten gesellschaftlichen Tei-
     Lehrens und Lernens und der Beratung von                                        lungen zu bestreiten, mit denen unter anderem
     Schüler*innen und Studierenden zu vermin-                                       Vorstellungen darüber verbunden sind, welche
     dern. Bildungsaufsteiger*innen sollten z.B.                                     Gruppen an welchen sozialen Ort gehören“. Die
                                                                                     Autorin beschreibt die unterschiedlich ausge-
                                                                                     prägten Möglichkeiten und Stile der oberen,
     14 SPD NRW: Aufstiegschancen durch Bildung. Beste Bildung in NRW – Ein
        Leben lang. Leitantrag des Landesvorstandes, in: Außerordentlicher Landes-   mittleren und unteren Studierendenmilieus,
        parteitag der NRW-SPD am 21. September 2019 in Bochum. Beschlussbuch,
        online: https://drive.google.com/file/d/1V0512XlT1s8o9aw_6w7A6j3UM-
                                                                                     das Studium zu bewältigen. Zugleich machen
        wECsn7z/view.                                                                sich nicht nur vertikale Differenzen bemerkbar,
spw 3 | 2020                                                                         Schwerpunkt        25

sondern auch horizontale Unterschiede. So ver-       Bedingungen (Zulassungsbeschränkungen,
fügt z.B. ein Teil der Bildungsaufsteiger*innen      Öffnung der Hochschulen) sind, sondern es um
über eine große Bildungsaufgeschlossenheit in        den Einfluss von vermeintlich ‚weichen‘ sozio-
Verbindung mit leistungsorientierten Strate-         kulturellen Mechanismen in Bildungskontex-
gien, die vor allem auf den Erwerb fachlicher        ten“ ginge. Um unterschiedliche Positionen von
Kompetenz als Grundlage dafür zielen, die je         Milieu und Habitus zu überbrücken, sei ein ver-
nach Milieu unterschiedlich stark ausgeprägten       stehender Zugang in der Beratung notwendig.
Ansprüche an Selbstbestimmung und auch an            Träfen nämlich unterschiedliche milieuspezi-
Sicherheit einlösen können. Ein anderer Teil         fische Schemata von Beratenden und Studieren-
der Bildungsaufsteiger*innen verfolgt mit sei-       den im Beratungsgespräch aufeinander, könne
nen Strategien einen Zukunftsentwurf, in dem         dies zu Verunsicherungen bei den Studierenden
vor allem Status und Prestige eine wichtige Rol-     und Befremden bei den Beratenden führen. „Es
le spielen.                                          bieten sich dazu Methoden an, die den Zugang
                                                     zur Alltagspraxis der Studierenden gewährleis-
   In seinem Artikel über Möglichkeiten und          ten, wie etwa erzählgenerierende Fragen, die
Barrieren habitus-struktur-reflexiver Hoch-          Studierende befähigen, Reflexionsprozesse über
schulpraxis führt Lars Schmitt biografische          ihre soziale Herkunft und die damit verbunde-
Arbeiten z.B. von Didier Eribon oder Édouard         nen Studienhürden zu beginnen“.
Louis für die Be- und Verarbeitung von Bil-
dungsaufstiegen an. Schmitt stellt fest, dass sich      Regina Heimann weist darauf hin, dass die
das Thema „soziale Herkunft“ nicht erledigt          erste berufliche Entscheidung eine hohe bil-
habe, „sobald die gewünschten Zielgruppen an         dungsbiografische Relevanz hat und „im Span-
die Hochschule gelotst wurden“. Es gebe an der       nungsfeld“ zwischen sich veränderbaren Be-
Hochschule mindestens drei Stufen der Parti-         dingungen von Ausbildung und Arbeitsmarkt
zipation der Studierenden zur Überwindung            sowie „der eingeschränkten Kenntnis eigener
sozialer Barrieren: Das Partizipationsangebot,       Interessen, Kompetenzen und Entwicklungs-
die Partizipationsnachfrage, die Partizipations-     wünsche“ stehe. Berater*innen am Übergang
verwirklichung. Schmitt stellt die Frage, wie die    benötigten „daher neben einem Wissen um in-
Studierenden in ihrer Unterschiedlichkeit „aus       dividuelle Entscheidungskomponenten sowie
diversen Milieus mit unterschiedlichen etwa          methodischer Beratungskompetenzen vor allem
geschlechterspezifischen, ethnisierten Soziali-      auch Kenntnisse zu strukturbedingten Barrie-
sationen und Zuschreibungen“ angesprochen            ren, wie Milieu-, Ethnie- oder Geschlechtszu-
und abgeholt werden können. Als positives            gehörigkeit“. Als Beispiel führt Heimann an,
Beispiel nennt er die Seminare „Der Herkunft         dass Frauen sich bspw. oft gegen Berufsfelder
begegnen…“ im Studiengang der Sozialarbeit           entschlössen, in denen eine Vereinbarkeit von
bzw. Sozialpädagogik an der Hochschule Düs-          Familie und Beruf in ihren Augen unmöglich
seldorf. Hierbei gehe es um den Blick auf die        erscheine. Für eine habitussensible Beratungs-
eigene Biografie und eine solidarische Her-          person drücke die Ausprägung persönlicher
kunftsreflexion. Die große Herausforderung           Stärken, Arbeitsgewohnheiten, fachlicher Nei-
bleibt dabei, Strukturen an Institutionen zu         gungen und beruflicher Interessen den Ha-
verändern und eine reflexivere Lehre insge-          bitus aus, der mit einer bestimmten sozialen
samt anzustoßen. Denn Ungleichheiten wür-            Lage im Raum korrespondiere und gleichzeitig
den häufig nicht gesehen oder ausschließlich         Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch Hand-
auf der Seite der (personellen und materiellen)      lungs- bzw. Denkgrenzen erzeuge. In der Be-
Ressourcen verortet.                                 ratung gehe es deshalb um das Entdecken und
                                                     Verstehen dieser habituellen Grenzen. Wollten
   Ausgangspunkt der Betrachtung von Martin          Lehrer*innen dem professionellen Beratungs-
Schmidt über habitussensible Studierenden-           anspruch im Übergang Schule-Beruf genügen,
beratung ist die „Annahme, dass Bildungsent-         dann bräuchten sie ein hohes Maß an Selbstre-
scheidungen nicht nur eine Frage materieller         flexivität sowie Rollenklarheit und -distanz so-
Ressourcen (etwa BAföG) und institutioneller
26   Schwerpunkt                                                                               spw 3 | 2020

     wie Strukturen, die einen solchen Rollenwech-      ten. Werde der alte Pfad fortgesetzt, führe dies
     sel zulassen.                                      zur Verschärfung digitaler Ungleichheit.

        Birgit Eickelmann hat die Kompetenzen              Neben den Schüler*innen waren auch Stu-
     von Schüler*innen ausgewählter Jahrgänge           dierende massiv durch die Pandemie betroffen.
     im Bereich digitaler Medien untersucht. Die        Wie Ernst-Dieter Rossmann hervorhebt, verlor
     wichtigsten Befunde dieser ICILS-2018-Studie       ein Teil von ihnen ihre Studierendenjobs und
     zeigten deutlich, dass die Maßnahmen im Be-        damit einen wesentlichen Teil ihrer finanziellen
     reich der Digitalisierung bei den Schüler*innen    Basis. Zudem seien schätzungsweise zwischen 5
     noch nicht angekommen seien, so Eickelmann         und 10 Prozent der Studierenden durch die äu-
     im Interview in dieser Ausgabe. Es gebe erheb-     ßeren Umstände in der Teilhabe an dem digital
     liche sozial bedingte Ungleichheiten, kaum eine    organisierten Studium behindert worden. Hier-
     Leistungsspitze. Die Nutzung digitaler Medien      für sei die notwendige Unterstützung, zumal
     in der Schule erfolge in Deutschland außer-        für die besonders betroffenen ausländischen
     dem vielfach in sehr traditionellen Settings,      Studierenden, besser und schneller zu organi-
     z.B. im Frontalunterricht. Die Corona-Krise        sieren, wenn es hier nicht zu einem dauerhaften
     habe die digitalen Ungleichheiten zudem noch       Ausstieg aus dem Studium kommen solle. Bei
     verschärft. Eickelmann fordert den Ausbau der      allen Notwendigkeiten digitaler Innovation und
     digitalen Infrastruktur. Es fehlten insbesondere   digitalen Studienmöglichkeiten in der Pande-
     leistungsstarke Internetinfrastrukturen, nicht     mie dürfe jedoch die Bedeutung des analogen
     nur aber vor allem an Schulen in Deutschland.      Studiums für sozialen Austausch, Diskussionen
     Wichtig seien neben der Qualifizierung von         und Lernprozesse nicht unterschätzt werden.
     Schulleitungen digitale Lernformate, welche
     Feedback von verschiedenen Seiten ermöglich-
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