Schutz für Alexander durch das Jugendamt der Stadt Münster
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Schutz für Alexander durch das Jugendamt der Stadt Münster Rekonstruktion und Einschätzung der fachlichen Arbeitsweisen des Jugendamtes der Stadt Münster im Fall Alexander vom 3.12.2014 bis 13.5.2020 Prof. Dr. Christian Schrapper – ISA Münster Ausschuss für Kinder, Jugendliche und Familie: 4.2.2021
Auftrag vom 12.8.2020 • Rekonstruktion der Arbeit des Jugendamtes in einem „problematischen Kinderschutzfall“ • unabhängig von strafrechtlicher Bewertung (Wer ist schuld?) • nachvollziehend verstehen und einordnen, warum die Fachkräfte so gehandelt haben, wie sie es taten … • … mit den Einschätzungen, Entscheidungen und Handlungsweisen im Kontext der zum damaligen Zeitpunkt bekannten Fakten und Einschätzungen • Weichenstellungen und Alternativen erarbeiten, die zukünftig ähnlich „problematische Fallverläufe“ verhindern helfen. AKJF 4.2.2021 2
Material und Arbeitsweise (1) Analyse der übergebenen Dokumentationen (Akten), die im Verlauf der Fallarbeit angelegt wurden: – JH-Fall Akte für Alexander von 12/14 bis 11/16 – JH-Fall Akte zu Adrian V. von (1998) 2003 bis 2010 nicht für – § 35a Akte zu Adrian V. 2012-2013 Fallrekonstruktion – JGH- Akten (2 Bände) zu Adrian V. 2010- 12.7.17 genutzt, nur zu vertiefenden – JH-Fall Akte zu Alexander ab 13.5.20 Analyse – FGH-Akte ab 14.5.20 (2) Chronologische Rekonstruktion des Fallverlaufs aus Akten (3) Fallwerkstatt mit dem KSD-Team Münster-Nord am 28.9.20 und 27.10.20 (4) Fallanalyse (5) Hinweise für Arbeitsweisen, Konzeptionen und Struktur des KSD des Jugendamtes der Stadt Münster AKJF 4.2.2021 3
Genogramm (Stand 30.11.2015) Alexanders Familien * 1989 * 1993 26 22 * 04.10.2009 Alter: 11/2015 AKJF 4.2.2021 4
Der Fall im Überblick (1) 4.10.2009 Okt. 2014 Einschulung Umzug Geburt April 2015 Umzug nach Alexander Alexander und Alexander Renovie- Münster Grundschule Mutter ziehen in rung – Kinderhaus zurück in Kempten leben bei eigene „GM“ Wohnung 2017 2009 2014 2015 2016 5/2020 3.12.2014 01.12.2015 06.06.2016 20.01.2015 19.01.2016 Hausbesuch der Eingang der 28.09.2015 Gefähr- Gespräch Haus- fallzust. FK bei Anklage Gespräch dungsein- Herr T. besuch Frau K. gegen mit Frau K schätzung (Leiter) mit A.V. beim Im KSD bei Frau K. „letztes“ Frau K. KSD: Gespräch: 03.09.2015 28.10.2015 Familiengericht Erörterungstermin beim Familien- 08.06.2016 bittet um Stellungnahme Stellungnahme gericht an FamG 1 2 3 4 AKJF 4.2.2021 5
Stationen des Fallverlauf – I (3.12.14 – 6.6.16) 1 Der Auftakt: 29 Seiten Anklage wg. Besitz von „Kinderpornographie“ - Gespräch mit Mutter: will keine Einmischung und Hilfe; Fazit: trotz 3.12.14 20.1.15 erheblicher Zweifel keine akute Gefährdung feststellbar; Mutter und Alex. leben in Wohnung der Fam. V; nach 9 Monaten Pause 2 Nachfrage und Erörterung durch Familien Gericht: keine Gefährdung 3.9.15 belegbar! Forensisches Gutachten attestiert A.V. Therapiefähigkeit 28.10.15 auch nach Gefährdungseinschätzung im KSD: keine Gefährdung, nur 3 Leistung – die Mutter aber nicht will; Mutter und Adrian V. präsentieren 1.12.15 frisch renovierte Wohnung; 19.1.16 nach 5 Monaten fordert FamG erneut Bericht: Mutter und Sohn wieder 4 in eigener Wohnung, Gespräch in der Schule: Alex. Unauffällig; „letztes 6.6.16 Gespräch“: Mutter sei sensibilisiert und sichert zu, A lexander zu 8.6.16 schützen … und sie melde sich bei Bedarf. AKJF 4.2.2021 6
Der Fall im Überblick (2) April 2015 08.08.2016 Renovie- erneute 4.10.2009 rung – Umzug 13.5.2020 Geburt Okt. 2014 Einschulung Alexander Anklageschrift leben bei Alexander Meldung Alexander Umzug nach „GM“ und Mutter gegen Adrian Grundschule der in Münster ziehen V. Kempten Kinderhaus Polizei: zurück in eigene Wohnung 2017 2009 2014 2015 2016 5/2020 3.12.2014 01.12.2015 06.06.2016 08.09. 20.01.2015 21.11.16 Eingang der 28.09.2015 19.01.2016 Hausbesuch der 2016 Gespräch Gefähr- Abschließen Anklage Gespräch Haus- fallzust. FK bei Ein Herr T. dungsein- des gegen mit Frau K besuch Frau K. bringung (Leiter) mit schätzung Gespräch A.V. beim Im KSD bei Frau K. „letztes“ des Falls Frau K. Frau K. KSD: Gespräch: in der im KSD Clearing- 03.09.2015 28.10.2015 stelle Familiengericht Erörterungstermin beim Familien- 08.06.2016 bittet um Stellungnahme Stellungnahme gericht an FamG 1 2 3 4 5 6 AKJF 4.2.2021 7
Stationen des Fallverlauf – II 8.8.16 – 21.11.16 neue Anklageschrift gegen A drian V. ermittelnder Polizist hält ihn „für 5 sehr gefährlich“, auf kinderpornografischen Bildern A lex. nicht zu sehen, aber nicht sicher; Fall wird in Clearingstelle vorgestellt: Berater 8.8.16 8.9.16 der KSA ist Therapeut von Adrian V. und schlägt vor, Frau K. und Alexander in Therapie einzubeziehen; für „juristische Interventionen“ fehlen Fakten 6 Abschlussgespräch: Mutter kenne die Vorwürfe und hält diese für nicht 21.11.16 neu; sie stehe zu Adrian V.; Alexander sei nicht mit Adrian V. alleine und werde von ihr geschützt; Mutter benötigt keine Hilfe, keine belegbaren Hinweise auf Kindeswohlgefährdung seit November 2016 keine weiteren Kontakte oder Informationen zu Alexander dokumentiert AKJF 4.2.2021 8
Der Fall im Überblick (3) 2 Jahre 3,5 Jahre 08.08.2016 erneute 4.10.2009 13.5.2020 Geburt Okt. 2014 Einschulung Umzug Anklageschrift April 2015 Meldung Umzug nach Alexander Alexander gegen Adrian Alexander Renovie- der Münster Grundschule und Mutter V. in rung – Kempten Kinderhaus ziehen zurück Polizei: leben bei in eigene „GM“ Wohnung 2017 2009 2014 2015 2016 5/2020 3.12.2014 01.12.2015 06.06.2016 08.09. 20.01.2015 21.11.16 Eingang der 28.09.2015 19.01.2016 Hausbesuch der 2016 Gespräch Gefähr- Abschließen Anklage Gespräch Haus- fallzust. FK bei Ein Herr T. dungsein- des gegen mit Frau K besuch Frau K. bringung (Leiter) mit schätzung Gespräch A.V. beim Im KSD bei Frau K. „letztes“ des Falls Frau K. Frau K. KSD: Gespräch: in der im KSD Clearing- 03.09.2015 28.10.2015 stelle Familiengericht Erörterungstermin beim Familien- 08.06.2016 bittet um Stellungnahme Stellungnahme gericht an FamG 1 2 3 4 5 6 AKJF 4.2.2021 9
(3) Fallwerkstatt mit KSD Team (28.9.20 und 27.10.20) Mit diesen Themen a) Fragen zur Perspektive auf die Lebenssituation von Alexander K. b) Fragen zu Arbeitsweisen c) Umgang mit Zweifel – das zentrale Thema d) Hinweise und Themen für zukünftige Arbeit AKJF 4.2.2021 10
(4) Fallanalyse – 1. Befund • geltende Regeln wurden eingehalten – familienrechtlich: • Prüfungen und Anhörung vor dem Familien Gericht – Sozial- und Jugendhilferechtlich: • Hilfebedarfe geprüft und Beratungsleistungen angeboten – Kinderschutz/KKG: • Hausbesuche • Fallvorstellung in der interdisziplinär besetzten Clearingstelle – Regeln der Stadt Münster, des Jugendamtes • Einbeziehung des Fachdienst Kinderschutz • gemeinsame Gefährdungseinschätzung nach Konzept – Sozialpädagogisch-fachlich • Respektvolle und zugleich konfrontierende Gespräche mit der sorgeberechtigten Mutter • Nachfrage zum Jungen in der Schule • trotzdem konnte der Junge vor der sexuellen Gewalt durch den Freund seiner Mutter nicht geschützt werden, warum? AKJF 4.2.2021 11
(4) Untersuchungsfrage: Warum konnte die Bedrohung für Alexander durch Adrian V. nicht wahrgenommen und bewertet werden? 1. zentrale Momente sind schon im ersten Kontakt wirkungsvoll • umfangreiche Anklageschrift zu sexueller Gewalt in Ausmaß und Bedeutung nur schwer zu erfassen und einzuordnen: Welche Gefährdung geht konkret von Besitz und Verbreitung kinderpornografischen Materials aus? • Kinderschutzfrage wird sofort zugespitzt: Kann die Mutter ihren Sohn schützen? Mutter als Mit-Täterin ausgeschlossen • Mutter tritt von Anfang an sehr entschieden auf (kenne alle Vorwürfe, schütze ihren Sohn, benötige keine Hilfe und wolle keine Einmischung) • keine ausdrückliche Kontextualisierung, obwohl Kenntnisse vorhanden (insbes. zur Lebens- und Hilfegeschichte des potentiellen Bedrohers Adrian V., Hinweise auch zur belasteten Lebensgeschichte der Mutter) AKJF 4.2.2021 12
2. Stärken (+) und Schwächen (-) in der Fallbearbeitung durch KSD + Anfragen und Aufträge zügig und sorgfältig bearbeitet + respektvoller Umgang mit der sorgeberechtigten und sorgenden Mutter, + mehrfach externe Unterstützung und Klärung eingefordert + Zweifel dokumentiert - wichtige Gespräche mit Mutter und Hausbesuche alleine geführt - kein direkter Kontakt zu Alexander - Irritationen und Zweifel, aber auch Misstrauen und Verdacht nicht ausdrücklich begründet, dokumentiert, geprüft und erneut beraten - wenn „Leistungsbereich“, dann werden Kontexte nicht erkundet und bewertet: - Geschichte und Lebenssituation der Mutter; - Geschichte und Lebenssituation des Angeklagten, insbes. die seit Kindheit entwickelten Strategien zur Durchsetzung seiner Interessen „gelernter Klient“; - Bedeutung der Beziehung von Mutter und Adrian V.; - Widerstand der Mutter in der Kontaktgestaltung) - wenig Wissen um Bedeutung sex. Gewalt und Täter*innenschaft (vor Stauffen und Lügde!) AKJF 4.2.2021 13
3. Kaum methodische und strukturelle Unterstützung in der Bearbeitung von Irritationen und Zweifel: „nur Belege zählen“ • Gefährdungseinschätzung mit Fachdienst Kinderschutz im JA: Teambeschluss 8 x Leistungsbereich • Was geschieht, wenn Leistungen, die schützen sollen, nicht angenommen werden? • Erörterung im Familien Gericht: wenn keine Belege für Gefährdung, dann nur unverbindliche Angebote möglich? • Fallvorstellung in Clearingstelle – Befangenheit und ebenfalls keine Idee zum Umgang mit Widerstand und Verweigerung • keine direkten Informationen aus JGH zu Adrian V. an KSD AKJF 4.2.2021 14
(4) Hypothese: Die Wahrnehmung und Bewertung der Bedrohung für Alexander K. durch Adrian V. war „dreifach“ verstellt: durch die durch Arbeits- Mutter weisen im Team durch Gefährdungseinschätzung Arbeitsweisen (insbes.): Widerstand der Wissen um sex. Gewalt Externe und Täterstrategien Bedrohung Mutter durch sex. Einzelarbeit KSD- Alexander Kinderschutz des JA Gewalt von Fachkräfte Clearingstelle Adrian V. Fachdienst FamG. AKJF 4.2.2021 15
(4) Fallanalyse – 2. Befund wenn geltende Regeln erforderlichen Schutz nicht ausreichend ermöglicht haben, da der „Blick verstellt“ war, • sind die geltenden Regeln nicht ausreichend und müssen überprüft/weiterentwickelt werden; • müssen die Regelauslegung und Regelanwendung geprüft und weiterentwickelt werden! AKJF 4.2.2021 16
(5) Hinweise für Arbeitsweisen, Konzeptionen und Struktur des KSD des JA der Stadt Münster (1) • zu Arbeitsweisen und Konzeptionen: – Wissen um Erscheinungsformen und Folgen sexueller Gewalt und Täter*innen-Strategien – Kontakte und Gespräche mit Kindern auch/besonders im Kinderschutz – Grundsätze für mehr-Augen-Prinzip und Tandemfallführung – Auftritt und ggf. Beschwerde des KSD/JA im familiengerichtlichen Verfahren – Methodik der Gefährdungseinschätzung, der Risikoabwägung und der Entwicklung von Schutz durch Hilfe-Konzepte (3 Aufgaben!) – Verstehen von und Umgang mit Widerstand und Verweigerung – Methodik für Fallverstehen und sozialpäd. Diagnostik (kontextualisieren und Hypothesen formulieren und prüfen; auch zur Bearbeitung von Irritation, Zweifel und Verdacht) – insges. entwickelte Kultur und Orte für „fachliche Reflexivität“ AKJF 4.2.2021 17
(5) Hinweise für Arbeitsweisen, Konzeptionen und Struktur des KSD des JA der Stadt Münster (2) • zu Strukturen – Aufgabe und Arbeitsweise des Fachdienst Kinderschutz des Jugendamtes – Rechtsberatung/Vertretung vor Familien Gericht – Aufbau und Arbeitsweise der Clearingstelle – Information und Austausch mit Jugendhilfe im Strafverfahren (JGH) des Caritas Verbandes – Informationen zu anderen Dienststellen im Jugendamt (hier Unterhaltsstelle) AKJF 4.2.2021 18
Danke für Ihre Aufmerksamkeit … und gerne Fragen AKJF 4.2.2021 19
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