Schwere Kost Zur sozialen Ungleichheit von Fleischkonsum und Fleischverzicht in Deutschland
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Article by an MPIfG researcher Laura Einhorn: Schwere Kost: Zur sozialen Ungleichheit von Fleischkonsum und Fleischverzicht in Deutschland. In: Bala, Christian und Wolfgang Schuldzinski (Hrsg.): Armutskonsum – Reichtumskonsum: Soziale Ungleichheit und Verbraucherpolitik. Beiträge zur Verbraucherforschung: Band 12 (Düsseldorf: Verbraucherzentrale, 2020), 57-78 The original publication is available at the publisher’s web site: https://www.ratgeber-verbraucherzentrale.de/verbraucherforschung/beitr%C3%A4ge-zur-verbraucherforschung-band-12- armutskonsum-reichtumskonsum-46009116 Schwere Kost Zur sozialen Ungleichheit von Fleischkonsum und Fleischverzicht in Deutschland Laura Einhorn Schlagwörter: Ernährungsverhalten, Konsumentenpräferenzen, Konsumenten- verhalten, Kultursoziologie, Sozialer Wandel, Soziale Ungleichheit, Sozialstruktur (STW) | Ernährungsverhalten, Konsumverhalten, Kultursoziologie, kultureller Wandel, soziale Ungleichheit, sozialer Wandel, Sozialstruktur, sozioökonomischer Status (TheSoz) Abstract Eine Reduktion unseres Fleischkonsums ist nicht nur wünschenswert, sondern notwendig, konfrontiert jedoch nicht alle sozialen Gruppen mit den gleichen Herausforderungen. In diesem Beitrag skizziere ich auf Basis quan- titativer und qualitativer Daten, wie und vor allem warum sozioökonomische Positionen in Deutschland Unterschiede im Fleischkonsum abbilden, und diskutiere Implikationen für Verbraucher-, Umwelt- und Sozialpolitik. _______________________________________________ Dieser Beitrag erscheint unter der Creative-Commons-Lizenz: Namensnennung 4.0 International | CC BY 4.0 Kurzform | http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Lizenztext | http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/de/legalcode
58 Laura Einhorn 1 Einleitung Im Jahr 2019 wurde im Zuge klima- und umweltpolitischer Debatten vielfach über nachhaltigen Konsum und über nachhaltige Ernährung diskutiert. Dabei wurde auch der hohe Fleischkonsum in deutschen Privathaushalten zuneh- mend hinterfragt, und dies aus verschiedenen Gründen. Eine Reduktion von Fleischkonsum und -produktion würde sich positiv auf die Umwelt, unsere Gesundheit, auf das Wohl von Millionen von Nutztieren und auf die globale Ernährungssicherheit auswirken. Im Jahr 2020 rückten Corona-Ausbrüche in Fleischverarbeitungsbetrieben die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie verstärkt in den Fokus. Die hohe Nachfrage nach und massenhafte Produk- tion von Fleischprodukten belastet ArbeiterInnen in den Betrieben, Konsu- mentInnen überall auf der Welt, schadet Tieren und Umwelt.1 Dabei mangelt es keineswegs an Ideen, wie sich unser Fleischkonsum potenziell reduzieren ließe. Die Einführung einer Fleischsteuer wurde dabei des Öfteren kontrovers diskutiert. Dass die Einführung einer solchen Steuer „die soziale Frage des 21. Jahrhunderts“ stelle, entbehrt zwar nicht einer gewissen Polemik, ist im Kern aber durchaus richtig. Fleisch ist in Deutschland, wie auch in vielen anderen westlichen Industrie- nationen, ein fest verankerter Teil kulturell gewachsener Traditionen und er- füllt wichtige soziale Funktionen (Fiddes 1991). Kochbücher, Menükarten, Kochausbildungen, sowie Speisepläne ö≈entlicher Einrichtungen zeugen auch in Deutschland von der signifikanten Rolle des Fleisches. Dennoch ist auch der Anteil der VegetarierInnen in Deutschland in den letzten Jahren signifikant an- gestiegen (Mensink, Barbosa und Brettschneider 2016). Warum ist es für einige Menschen so einfach, sich vom Fleisch zu lösen, wenn es doch gleichzeitig für viele so schwer scheint? Geschlechterrollen, Alters- und Kohortene≈ekte so- wie religiöse Vorschriften sind unbestritten relevant, und trotzdem möchte ich den Fokus hier auf die direkten und indirekten Auswirkungen der sozioökono- mischen Position einer Person, also auf soziale Unterschiede, richten. 1 Ripple et al. 2013; Rulli, Saviori und D‘Odorico 2013; Willett und Stampfer 2013; Tilman und Clark 2014; Hedenus, Wirsenius und Johansson 2014; Westhoek et al. 2014; Shen et al. 2015; Springmann et al. 2016.
Schwere Kost 59 Natürlich ist Konsumverzicht nicht direkt mit monetären Kosten verbunden, weswegen ein Argument, das unter anderem die Rolle materieller Ressourcen in den Blick nimmt, zunächst wenig plausibel erscheinen mag. Dennoch gibt es zahlreiche Mechanismen, auf deren Basis sich die ungleiche Verteilung von Ressourcen wie Bildung und Einkommen auf soziale Unterschiede in unserem Ernährungsverhalten auswirkt, und ein Verständnis eben jener Mechanismen ist zentral für jegliche Bemühungen, einer zunehmenden Polarisierung der De- batte um die „richtige Ernährung“ entgegenzuwirken. In diesem Beitrag skizziere ich daher zunächst, in welcher Form formale Bil- dung, Einkommen und berufliche Stellung Unterschiede im Fleischkonsum in Deutschland abbilden. Im darau≈olgenden Abschnitt gehe ich auf die Ernäh- rungsideale ein, die Anlass für den Verzicht auf Fleisch oder für eine Reduktion des Fleischkonsums geben können. Im Hauptteil des Beitrages beschreibe ich einige direkte und indirekte Mechanismen, durch die Formen kulturellen und ökonomischen Kapitals2 eine Reduktion des Fleischkonsums ermöglichen oder begünstigen. Zudem hebe ich die Rolle sozialer Bezugsgruppen und statusbil- dender Prozesse hervor. Ich schließe mit einer kurzen Zusammenfassung der Argumente sowie mit Implikationen für Sozial-, Klima- und Verbraucherpolitik. 2 Fleischkonsum und sozioökonomische Position Zahlreiche Studien in unterschiedlichen Forschungsdisziplinen untersuchen, entlang welcher soziodemografischen Trennlinien Muster des Fleischkonsums in westlichen Industrienationen verlaufen. Eindeutige Zusammenhänge gibt es zwischen der Häufigkeit des Fleischkonsums und dem Geschlecht, dem Alter, 2 Ich bemühe hier die Terminologie Pierre Bourdieus (1986), der die soziale Position einer Person durch das Volumen und die Komposition ihrer Kapitalien (ökono- misches, kulturelles und soziales Kapital) beschreibt.
60 Laura Einhorn dem Bildungsniveau und den Haushaltstypen.3 Frauen und Personen mit hoher formaler Bildung essen tendenziell weniger Fleisch und ernähren sich häufiger vegetarisch als Männer und Personen mit geringerer formaler Bildung. Fleisch- konsum folgt außerdem einer umgekehrt u-förmigen Altersverteilung, auch wenn sich dabei die Motive jüngerer und älterer Personen für reduzierten Kon- sum häufig unterscheiden. Der Zusammenhang zwischen Fleischkonsum und Einkommen ist hingegen bisher umstritten und es zeigen sich teils positive, teils negative und teils keine Zusammenhänge. Der Verzicht auf Fleisch bringt zunächst einmal keine direkten monetären Kosten mit sich und kann sogar Kosten sparen. Ein geringes Budget lässt eine Reduktion des Fleischkonsums möglicherweise sogar zu einer notwendigen Strategie werden. In der Literatur beschreibt der Begri≈ „Ökonomischer Vegetarismus“ (Lusk und Norwood 2016) den Verzicht auf Fleisch aus finanziellen Gründen, also aus Notwendigkeit und nicht aus Freiwilligkeit. Wenn wir über Vegetarismus sprechen, bezeichnen wir jedoch zumeist einen freiwilligen Verzicht. Das Zusammenfassen freiwilligen und notwendigen Verzichts könnte die ambivalenten Ergebnisse bisheriger Forschung zum Zusammenhang von Einkommen und Fleischkonsum erklären. Wichtig ist außerdem die Unterscheidung zwischen der Verzehrshäufigkeit von Fleisch und dem kompletten Verzicht auf Fleisch. Dies wird in einer Vielzahl von Studien deutlich und zeigt sich zudem in meinen eigenen Analysen der Daten der Einkommens- und Verbraucherstichprobe (EVS) sowie des deutschen Sozio-oekonomischen Panels (SOEP).4 Tabellen 1 und 2 stellen die Ergebnisse mehrerer Regressionsmodelle dar, auf deren Basis die Menge beziehungsweise die Häufigkeit des Fleischkonsums geschätzt wurde. Tabelle 1 (auf Basis des SOEP 2016) bezieht sich auf die Kon- sumhäufigkeit von Einzelpersonen und unterscheidet zwischen verschiedenen Fleischarten. Tabelle 2 (auf Basis der EVS 2013) bezieht sich auf den Konsum ganzer Haushalte und unterscheidet zwischen Gewicht, Preis und Wertigkeit des gekauften Fleisches. Tabelle 3 zeigt die Ergebnisse logistischer Regressi- onsmodelle, die die Wahrscheinlichkeit einer vegetarischen Ernährungsweise für Haushalte beziehungsweise Einzelpersonen schätzen. 3 Haveman-Nies et al. 2001; Gossard und York 2003; Bedford und Barr 2005; Heuer et al. 2015; Mensink, Barbosa und Brettschneider 2016; Pfeiler und Eglo≈ 2018. 4 Weitere methodische Details, Do-Files, Interviewtranskripte und Codes sind auf Anfrage von der Autorin erhältlich.
Schwere Kost 61 Rotes Fleisch Geflügel Gesamt D-Ost 0.055*** (0.017) 0.054** (0.017) 0.111***(0.027) Metropole -0.048***(0.014) 0.045** (0.014) 0.002 (0.023) Haushaltstyp (Ref.: Einzelhaushalte) Paar mit Kindern 0.272***(0.022) 0.124***(0.022) 0.395*** (0.035) Alleinerziehende 0.041 (0.030) 0.129***(0.030) 0.164*** (0.048) Paar ohne Kinder 0.209***(0.020) 0.066***(0.021) 0.274*** (0.033) Andere Haushalte 0.145***(0.045) 0.033 (0.045) 0.174* (0.072) Alter -0.007***(0.001) -0.008***(0.001) -0.015***(0.001) Geschlecht -0.363***(0.013) -0.029* (0.013) -0.390***(0.021) (Ref.: männlich) Haushaltseinkommen 0.000 (0.000) -0.000***(0.000) -0.000***(0.000) Bildungslevel (CASMIN) -0.025***(0.003) -0.020***(0.003) -0.046***(0.005) Berufliche Stellung Studierende -0.150***(0.039) 0.115* (0.039) -0.140* (0.063) ArbeiterInnen 0.069** (0.025) 0.021 (0.025) 0.091* (0.040) Arbeitslose 0.029 (0.033) 0.060 (0.033) 0.089 (0.052) Selbstständige -0.012 (0.033) -0.078* (0.033) -0.100 (0.052) Pensionierte 0.034 (0.029) 0.001 (0.030) 0.031 (0.047) Konstante 3.704*** 2.978*** 6.676*** Adjusted R2 0.069 0.054 0.071 Fallzahl 21559 21365 21314 Anm.: Lineare Regressionen mit Daten des SOEP 2016, ohne vegetarische Personen. Standardfehler in Klammern. Kontrolliert wurde zusätzlich für Migrationshintergrund. *p < 0.05 **p < 0.01 ***p < 0.001. Tabelle 1: Einflussfaktoren auf die Häufigkeit des individuellen Verzehrs von rotem Fleisch und Geflügel
62 Laura Einhorn Gewicht (kg) Preis (Euro) Wert (Euro/kg D-Ost 1.10***(0.019) 0.989 (0.015) 0.89***(0.008) Metropole 0.96** (0.014) 0.96***(0.012) 1.013 (0.007) Haushaltstyp (Ref.: Einzelhaushalte) Paar mit Kindern 1.22** (0.092) 1.83** (0.079) 0.957 (0.023) Alleinerziehende 1.063 (0.058) 1.444 (0.051) 0.971 (0.019) Paar ohne Kinder 1.73***(0.045) 1.71***(0.039) 0.981 (0.013) Andere Haushalte 1.80***(0.093) 1.77***(0.080) 0.957 (0.024) Alter des HH-Vorstands 1.01***(0.001) 1.01***(0.001) 1.00***(0.000) Geschlechterratio 0.80***(0.019) 0.84***(0.018) 1.09***(0.013) (0: alle männlich; 1: alle weiblich) Haushaltseinkommen 1.000 (0.000) 1.00***(0.000) 1.00***(0.000) Durchschnittliches Bildungslevel 0.95***(0.004) 0.97***(0.003) 1.03***(0.002) (CASMIN) Berufliche Stellung des Haushaltsvorstands Studierende 0.70** (0.038) 0.70***(0.034) 0.986 (0.027) ArbeiterInnen 1.07* (0.036) 1.029***(0.030) 0.93***(0.016) Arbeitslose 1.000 (0.044) 0.88***(0.034) 0.85***(0.019) Selbstständige 0.88***(0.033) 0.939 (0.031) 1.06***(0.019) Pensionierte 0.956 (0.030) 0.90***(0.025) 1.06***(0.015) Konstante 2222.9*** 16.82*** 6.77*** Fallzahl 10881 11080 11080 Anm.: Negative Binomialregressionen mit Daten des EVS 2013, ohne vegetarische Haushalte. Standardfehler in Klammern. Kontrolliert wurde zusätzlich für Haushalts- größe, Alter der HH-Mitglieder und Migrationshintergrund des Haushaltsvorstands. Inzidenzratenverhältnisse sind dargestellt. *p < 0.05 **p < 0.01 ***p < 0.001. Tabelle 2: Einflussfaktoren auf Gewicht, Preis und Wertigkeit des im Laufe eines Monats in Haushalten erworbenen Fleischs
Schwere Kost 63 Vegetarische Vegetarische Haushalte Einzelpersonen D-Ost 0.510***(0.106) 0.652** (0.096) Metropole 1.020 (0.152) 1.504***(0.191) Haushaltstyp (Ref.: Einzelhaushalte) Paar mit Kindern 0.129* (0.112) 0.419***(0.058) Alleinerziehende 0.580 (0.288) 0.598***(0.110) Paar ohne Kinder 0.236***(0.088) 0.502***(0.074) Andere Haushalte 0.238 (0.196) 0.465* (0.153) Alter 0.987 (0.007) 0.972***(0.005) Geschlechterratio 1.244 (0.222) 3.063***(0.361) (0: alle männlich; 1: alle weiblich) Haushaltseinkommen 0.999 (0.000) 0.999 (0.000) Bildungslevel (CASMIN) 1.237***(0.049) 1.250***(0.030) Berufliche Stellung Studierende 3.739***(1.432) 2.547***(0.429) ArbeiterInnen 2.166 (0.895) 0.836 (0.212) Arbeitslose 1.958 (0.842) 1.739* (0.417) Selbstständige 2.388* (0.927) 2.816***(0.563) Pensionierte 1.459 (0.560) 1.315 (0.345) Angestellte 1.519 (0.468) 1.428** (0.191) Konstante 0.012*** 0.009*** Pseudo R2 0.134 0.072 Fallzahl 11398 3687 Anm.: Logistische Regressionen mit Daten der EVS 2013 für Haushalte und Daten des SOEP 2016 für Einzelpersonen. Standardfehler in Klammern. Kontrollvariablen wie in Tabellen 1 und 2. Odds Ratios sind dargestellt. *p < 0.05 **p < 0.01 ***p < 0.001. Tabelle 3: Einflussfaktoren auf die Wahrscheinlichkeit einer vegetarischen Ernährung
64 Laura Einhorn Die Ergebnisse zeigen, dass beide Phänomene – eine fleischlose beziehungs- weise eine fleischreduzierte Ernährungsweise – durch unterschiedliche sozio- demografische Merkmale beeinflusst sind. Auch der Konsum unterschiedlicher Fleischsorten folgt verschiedenen Einflüssen. Die Wahrscheinlichkeit, sich vegetarisch zu ernähren, steigt mit dem forma- len Bildungsniveau, außerdem bei Studierenden und Selbstständigen und in Singlehaushalten. Der Fleischkonsum nicht-vegetarischer Personen ist eben- falls tendenziell geringer bei höherer Bildung, ebenso bei beruflicher Selbst- ständigkeit und unter Studierenden. Ein höheres Einkommen wirkt sich negativ auf den Konsum von Geflügelfleisch aus (Tabelle 1), hat aber sonst unter Kon- trolle aller anderen Variablen keinen Einfluss. Mit höherem Einkommen wird zwar nicht mehr Fleisch konsumiert, dafür ist das erworbene Fleisch jedoch von höherem Wert (Tabelle 2). Während formale Bildung also die Wahrscheinlich- keit einer vegetarischen oder fleischreduzierten Ernährungsweise erhöht, ver- schiebt sich mit steigendem Einkommen die Tendenz hin zum „Flexitarismus“, der, wie auch der Vegetarismus, zumeist als freiwillige Ernährungsform defi- niert wird, die wenig, aber dafür hochwertiges Fleisch beinhaltet (Rothgerber 2015). Dies kann beispielsweise biologisch oder regional erzeugtes Fleisch sein und ist daher häufig auch mit höheren Kosten verbunden. Eine flexitarische Ernährungsweise ist also an die finanziellen Ressourcen gekoppelt, die das Kaufen von hochwertigeren Fleischprodukten erst ermöglicht. Was aber erklärt den Zusammenhang zwischen formaler Bildung, Studieren- denstatus, beruflicher Selbstständigkeit und reduziertem Fleischkonsum? Und spielen finanzielle Ressourcen noch auf anderem Wege eine Rolle? Auf Basis von 46 qualitativen Interviews mit vegetarisch und nicht-vegetarisch lebenden Personen in mehreren deutschen Großstädten stelle ich im Folgenden einige Argumente vor, die diese Zusammenhänge näher beleuchten.
Schwere Kost 65 3 Ernährungsideale VegetarierInnen und FlexitarierInnen geben häufig verschiedene Gründe für ihre Ernährungsweisen an. Generell sind Umwelt-, Tierwohl- sowie gesund- heitliche Aspekte am relevantesten (Greenebaum 2012; Ruby 2012; Rosenfeld und Burrow 2017), wobei strikte VegetarierInnen eher ethische Motive und FlexitarierInnen eher gesundheitliche Motive anführen. Dies bedeutet im Um- kehrschluss allerdings nicht, dass Personen, die häufiger Fleisch essen, diesen Motiven keinen Wert beimessen. Das Wissen um gesunde Ernährung sowie der Wunsch, sich gesund zu ernähren, sind in fast allen KonsumentInnengruppen zu finden, unabhängig von der sozioökonomischen Position und der eigenen Ernährungsweise.5 Dies bestätigt sich auch in meinen Interviews – hier be- tonen alle außer drei Personen den Wunsch, sich gesund (beziehungsweise gesünder) zu ernähren. Ähnlich verhält es sich mit den ethischen Motiven, die als Grundlage für eine fleischreduzierte Ernährung gelten. Ein Großteil der Befragten ist sich der negativen Konsequenzen exzessiven Fleischkonsums für Gesundheit und Umwelt bewusst. Eine möglichst ressourcenschonende Ernährung ist der Mehrheit der Interviewten wichtig, darunter sowohl Vege- tarierInnen als auch Nicht-VegetarierInnen. Das Thema Regionalität und Sai- sonalität scheint dabei Nicht-VegetarierInnen stärker am Herzen zu liegen als VegetarierInnen, während es sich beim Thema Tierwohl andersherum verhält; keine der Thematiken wird jedoch für irrelevant gehalten. Ähnliche Ergebnisse zeigen sich in anderen Studien.6 Entgegen populärer Annahmen – etwa fehlendes Ernährungswissen oder man- gelndes Interesse an Umweltschutz und Tierwohl – lässt sich also festhalten, dass sich unterschiedliches Ernährungsverhalten in Bezug auf Fleisch kaum durch unterschiedliche Ernährungsideale erklären lässt. Unterschiede im Kon- 5 Backett-Milburn et al. 2006; Fox und Ward 2008; Beagan et al. 2014; Cairns und Johnston 2015; Smith Maguire 2016; Baumann, Szabo und Johnston 2019; Beagan, Chapman und Power 2017; Fielding-Singh 2017; Stamer 2018; Oleschuk, Johnston und Baumann 2019. 6 Johnston, Szabo und Rodney 2011; Paddock 2016; Smith Maguire 2016; Beagan, Chapman und Power 2017; Oleschuk, Johnston und Baumann 2019.
66 Laura Einhorn sum manifestieren sich vielmehr durch die unterschiedliche Ausstattung von KonsumentInnen mit kulturellem, ökonomischem und sozialem Kapital (Bour- dieu 1986), die eine Umsetzung alternativer Ernährungsformen erleichtert oder behindert. 4 Kulinarische Experimentierfreudigkeit und ökonomisches Kapital Fleisch ist noch immer ein fundamentaler Bestandteil unserer Ernährung und zentrale Komponente einer „ordentlichen Mahlzeit“. Der Wechsel zu ei- ner fleischlosen oder fleischreduzierten Ernährung macht daher das Sub- stituieren von Fleisch oder das Wissen um alternative Rezepte, Zutaten und Zubereitungsweisen notwendig. Voraussetzungen dafür sind wiederum eine generelle Neugierde und O≈enheit gegenüber Neuem sowie die Möglichkeit zur Aneignung alternativen kulinarischen Wissens. Diese „kulinarische Experi- mentierfreudigkeit“ ist eine der zentralen Voraussetzungen für eine dauerhafte Veränderung hin zu einer fleischlosen oder fleischreduzierten Ernährung, was auch in allen Interviews mit VegetarierInnen und FlexitarierInnen deutlich wird. Viele beschreiben mit großem Detailreichtum ihre Ernährungsgewohnheiten, das Entdecken neuer Produkte und Rezepte und eine große Bandbreite unter- schiedlicher Lebensmittel. Natürlich gibt es auch Personen, die ein hohes Maß an kulinarischer Experimentierfreude aufweisen und ihren Fleischkonsum da- bei nicht reduzieren. Die Experimentierfreudigkeit ist keine hinreichende, aber eine notwendige Bedingung für einen Wechsel zu einer fleischreduzierten oder fleischlosen Ernährung. Ökonomisches Kapital spielt hier auf unterschiedliche Weise eine wichtige Rolle: (1) Traditionelle Mahlzeitenstrukturen können aufrechterhalten werden, indem höherwertigere Fleischprodukte oder Fleischersatzprodukte erworben werden, die Mehrkosten verursachen.
Schwere Kost 67 (2) Alternatives kulinarisches Wissen kann direkt, zum Beispiel durch die Teil- nahme an Kochkursen, durch das Bestellen von Kochboxen oder durch häufige Restaurantbesuche verschiedener Art, erworben werden. All dies verursacht nicht nur finanzielle, sondern auch zeitliche Mehrkosten. (3) Alternatives kulinarisches Wissen wird oft auch indirekt als Nebenprodukt von anderen kostspieligen Konsumpraktiken erworben, wie zum Beispiel inter- nationale Reisen, regelmäßige Restaurantbesuche oder geografische Mobilität. Das Fehlen ökonomischen Kapitals erschwert auf der anderen Seite auf mehre- ren Wegen die Umsetzung alternativer Ernährungspraktiken: (1) Das Abweichen von gewohnten Ernährungsmustern und das Ausprobieren neuer Zutaten und Rezepte kann insbesondere bei Kindern zu Ablehnung und zur Verschwendung von Lebensmitteln führen. Damit wird die Einführung al- ternativer Ernährungspraktiken insbesondere für Haushalte mit geringen Ein- kommen und mit Kindern erschwert (Dobson et al. 1994; Backett-Milburn et al. 2006; Daniel 2016). Da Ernährungsgewohnheiten und Mahlzeiten in Haushal- ten gemeinsam verhandelt und tendenziell synchronisiert werden, überrascht es auch nicht, dass vegetarische Personen überdurchschnittlich in Singlehaus- halten zu finden und häufig kinderlos sind (Mensink, Barbosa und Brettschnei- der 2016; Allès et al. 2017; Tabelle 3). (2) Verschiedene Präferenzen innerhalb eines Haushalts können alternativ durch das gleichzeitige Zubereiten verschiedener Mahlzeiten oder durch das Wahrnehmen gastronomischer Angebote (Außer-Haus-Essen, Lieferdienste) bedient werden, wobei beide Strategien wiederum mit Kosten verbunden sind. (3) Der Umgang mit finanziellen Sorgen fordert Energie und mentale Ressour- cen. Personen mit geringem Einkommen und anderen, oft damit verbundenen Stressfaktoren (Überarbeitung, familiäre Probleme, Einschränkungen körper- licher und psychischer Gesundheit, schlechte Infrastruktur, soziale Konflikte) schreiben Ernährung häufig eine untergeordnete, rein funktionale Rolle zu oder betrachten Ernährung als Mittel emotionaler Kompensation, das für ei- nen kurzen Augenblick Entspannung, Vertrautheit oder Geborgenheit vermit- teln kann (Backett-Milburn et al. 2006; Devine et al. 2006; Fekete und Weyers 2016; Fielding-Singh 2017; Smith und Anderson 2018).
68 Laura Einhorn Das Fehlen finanzieller Ressourcen kann also zum einen dazu führen, dass eine kulinarische Neugierde und Lust auf Neues nicht umgesetzt werden kann, zum anderen aber auch verhindern, dass sie überhaupt erst ausgeprägt wird. 5 Institutionalisiertes kulturelles Kapital Auch formale Bildungsverläufe wirken sich auf unser Ernährungsverhalten aus:7 (1) Die soeben beschriebene kulinarische Experimentierfreudigkeit ist häufig eine Begleiterscheinung universitärer Bildung, da diese oft mit geografischer Mobilität und dem Kennenlernen alternativer Ernährungspraktiken (zum Bei- spiel durch das Zusammentre≈en mit internationalen Studierenden, Auslands- studium, oder die diverse Angebotsstruktur in Städten) einhergeht. (2) Insbesondere tertiäre Bildung prägt die Art des Wissens, die Personen wertschätzen und nutzen, und wirkt sich auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten aus, die eine Aneignung neuen Wissens begünstigen. Viele der Ernährungsi- deale, die eine fleischreduzierte Ernährungsweise propagieren, basieren auf Expertenwissen und auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und Studien. Dies ist insbesondere für den Diskurs um gesunde Ernährung der Fall (Crawford 2006; Crawshaw 2007; Cairns und Johnston 2015), ebenso allerdings auch für Diskurse um Klima-, Umweltschutz und Ressourcenverbrauch. Der Zugang zu und das schnelle Verständnis dieser Form von Wissen wird durch tertiäre Bil- dungsinstitutionen erleichtert; ebenfalls entsteht hier eine Präferenz für wis- senschaftliche Informationsquellen. 7 Ebenso spielt natürlich auch die Bildung eine Rolle, die wir im Rahmen unserer primären sowie sekundären Sozialisation, also innerhalb familiärer und schulischer Kontexte erlernen. Hier beschränke ich mich allerdings auf eine Diskussion der Rolle tertiärer Bildungswege.
Schwere Kost 69 Die überwiegende Mehrheit der vegetarischen und auch flexitarischen Inter- viewten hat Zeit in tertiären Bildungsinstitutionen verbracht oder hat enge soziale Kontakte zu Personen mit tertiärer Bildung. Vor allem vegetarische Be- fragte beziehen sich in großen Teilen der Interviews auf wissenschaftliche Stu- dien und unterstützen ihre Aussagen mithilfe von medizinischen, biologischen oder anderen wissenschaftlichen Argumenten. Des Weiteren beschreiben viele von ihnen mit Leichtigkeit das Aneignen neuer Informationen über verschie- denste Informationskanäle. Dies sind häufig digitale Informationskanäle und Online-Ressourcen, außerdem zumeist wenig vorverarbeitete Primärquellen.8 Universitäre Bildung fordert daher nicht nur „scientific literacy“, sondern auch „digital literacy“, und beide Formen von Bildung begünstigen die Veränderung von Ernährungsmustern, fleischreduzierte Ernährungsmuster eingeschlossen. 6 Soziale Anerkennung und Distinktion Die Reduktion von oder der Verzicht auf Fleisch sind vor dem kulturellen Hin- tergrund einer fleischbasierten Esskultur für den Großteil der KonsumentInnen noch immer als „alternativ“ oder „abweichend“ zu verstehen und stellen da- her eine Veränderung dar. Besonders die plötzliche und strikte Veränderung von Ernährungsgewohnheiten, die oft charakteristisch für die Aneignung einer vegetarischen Ernährungsweise ist, ist daher häufig mit sozialen Konflikten verbunden. Alle vegetarischen Befragten berichten von einer Reihe mehr oder weniger heftiger Konflikte in ihrem sozialen, und besonders im familiären und teilweise beruflichen Umfeld. Forschung aus Soziologie und Sozialpsychologie zeigt, dass soziale Anpas- sungsfähigkeit, Loyalität und Regelkonformität eher in Gruppen mit wenig 8 Diese Ergebnisse spiegeln die These, dass Internetaffinität im digitalen Zeitalter eine wichtige Form von Bildungskapital ist, die bestehende Bildungsungleichheiten tendenziell sogar noch verstärkt (Zillien und Hargittai 2009; Hargittai 2010; Van Deursen und Van Dijk 2014; Plessz et al. 2016).
70 Laura Einhorn Ressourcen wertgeschätzt werden, während Gruppen in höheren sozioöko- nomischen Positionen Einzigartigkeit, Individualität und Selbstoptimierungs- bestrebungen positiv bewerten (Gillies 2005; Snibbe und Markus 2005; Stephens, Markus und Townsend 2007; Skeggs und Loveday 2012). Diese Er- kenntnisse sowie meine eigenen Interviews stützen das Argument, dass es für Personen mit mehr kulturellem und ökonomischem Kapital weniger problema- tisch ist, angesichts sozialer Konflikte neue Ernährungsgewohnheiten durch- zusetzen und beizubehalten als für Personen mit weniger Kapital. Bestimmte Ernährungsformen sind zudem in einigen sozialen Gruppen anerkannter als in anderen und „abweichendes Ernährungsverhalten“ wird jeweils anders gedeu- tet und sanktioniert. 7 Fazit und Implikationen Konsummuster wie Praktiken des Fleischkonsums sind in Deutschland nicht zunehmend individualisiert, sondern in hohem Maße sozial stratifiziert. Dies lässt sich jedoch kaum durch unterschiedliche fleisch-bezogene Ernährungs- ideale erklären. Die Mehrzahl dieser Ernährungsideale ist durchaus bekannt, weitverbreitet und wird von vielen KonsumentInnen unterstützt. Allerdings wird die Umsetzung vieler Ernährungsideale, also das Etablieren und Beibehalten veränderter Ernährungspraktiken, durch ökonomisches und kulturelles Kapi- tal in signifikantem Maße ermöglicht oder behindert. Die Diskrepanz zwischen Ernährungseinstellungen und Ernährungsverhalten ist also keinesfalls patho- logisch, sondern der Normalfall. Das Augenmerk sollte darauf gerichtet sein, welche Ressourcen nötig sind, um Ernährungsideale in die Praxis umzusetzen. Die folgenden, sich teilweise überschneidenden Mechanismen helfen dabei, den Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Position und Fleischkonsum umfassender zu verstehen. (1) Finanzielle Ressourcen erlauben den Kauf hochwertiger Fleischprodukte, die im Einklang mit bestimmten Ernährungsidealen sind. Es zeigt sich daher ein
Schwere Kost 71 eindeutiger Zusammenhang zwischen einer flexitarischen Ernährung und dem Einkommen einer Person oder eines Haushalts. Vegetarische Personen haben häufiger weniger ökonomisches Kapital als flexitarische Personen. (2) Die Aneignung einer alternativen Ernährungsweise setzt vor dem Hinter- grund einer traditionell fleischbasierten Esskultur Wissen über alternative Zu- taten, Zubereitungstechniken und Rezepte voraus. Dieses Wissen, beziehungs- weise eine Präferenz dafür, wird oft als indirekter Nebene≈ekt internationaler Reisen, Restaurantbesuche und sozialer oder geografischer Mobilität erwor- ben. Die Ausprägung dieser kulinarischen Experimentierfreudigkeit korreliert daher in hohem Maße mit ökonomischem, aber auch mit institutionalisiertem kulturellem Kapital und wird durch ein Fehlen dieser Ressourcen konterkariert. Ebenso wird hier deutlich, dass eine fleischreduzierte und daher ressourcen- schonende Ernährung durch Praktiken vereinfacht wird, die wiederum äußerst ressourcenintensiv sein können. (3) Viele der Argumente für eine Reduktion unseres Fleischkonsums entsprin- gen wissenschaftlicher Forschung und sind spezielle Formen von Expertenwis- sen. Tertiäre Bildungsinstitutionen ermöglichen dabei nicht nur den Zugang zu zahlreichen Informationsquellen, sondern vermitteln eine positive Wertschät- zung bestimmter Formen von Wissen sowie die Möglichkeiten und Fähigkeiten zu ihrer aktiven und schnellen Aneignung. (4) Materielle Sorgen sowie andere Probleme, die mit fehlenden Ressourcen einhergehen, erfordern das Setzen anderer Prioritäten und die Fokussierung bestimmter Bedürfnisse. Diese einseitige Fokussierung kann in bestimmten Lebenssituationen für alle Personen relevant werden, betri≈t aber überpropor- tional Personen mit geringer Kapitalausstattung. (5) Letztlich spielt auch der soziale Status, der mit der sozioökonomischen Posi- tion einhergeht, eine zentrale Rolle. Er erlaubt und fördert sogar in bestimmten Gruppen das Abweichen von sozialen Normen sowie eine positive Bewertung von Individualität und Unterscheidung, während in anderen Gruppen Gemein- schaft, Anpassungsfähigkeit und Konformität favorisiert werden. Die soziale Anerkennung und Unterstützung durch direkte Bezugsgruppen ist wichtiger für Personen mit einer geringen Ressourcenausstattung. Andere Personen können Teile ihrer sozialen Anerkennung durch den gesamtgesellschaftlichen Status
72 Laura Einhorn ihrer sozioökonomischen Position beziehen, sind finanziell unabhängiger und empfinden soziale Konflikte innerhalb ihrer direkten Bezugsgruppe daher als weniger existenzbedrohend. Gesamtgesellschaftliche Statusunterschiede, die auf sozialen Unterschieden beruhen, sowie gruppenspezifische Statusunter- schiede, die verschiedene Verhaltensweisen belohnen oder sanktionieren, bilden daher – zusätzlich zu den direkten E≈ekten fehlender Ressourcen – wirkmächtige Barrieren für das Aneignen und Beibehalten neuer oder „unty- pischer“ Verhaltensweisen (wie alternativer Ernährungspraktiken). Die auf Basis dieser Mechanismen entstehenden, sozial ungleichen Ernäh- rungsweisen sind ein signifikantes Hindernis für eine nachhaltige Reduktion des gesamtgesellschaftlichen Fleischverbrauchs. Zudem bergen sie das Ri- siko, dass mit einem hohen Fleischkonsum verbundene Gesundheitsrisiken ebenfalls ungleich verteilt, und bereits benachteiligte Gruppen durch undi≈e- renzierte Maßnahmen zur Reduktion des Fleischkonsums (zum Beispiel eine Fleischsteuer) überproportional belastet werden. Von Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft vorgeschlagene Lösungsansätze sind bei fehlender Berücksich- tigung sozialer Unterschiede nicht nur häufig ine≈ektiv, sondern können gar kontraproduktiv wirken, wenn die Lebensrealität einzelner Gruppen nicht aus- reichend beachtet wird. Der Versuch, Ernährungspraktiken durch ö≈entliche Informationskampagnen zu steuern, bleibt beispielsweise oft erfolglos (Alkon et al. 2013; Dubuisson-Quellier und Gojard 2016; Thorslund und Lassen 2017), und könnte soziale Ernährungsungleichheit sogar noch verstärken, da auf Ex- pertenwissen basierende Informationskampagnen nicht alle KonsumentInnen- Gruppen gleichermaßen ansprechen (Ricciuto, Tarasuk und Yatchew 2006; Thompson, Barnett und Pearce 2009; Darmon und Drewnowksi 2015). Materielle, kulturelle und soziale Faktoren zu vernachlässigen und Verände- rungen in Konsumpraktiken universell einzufordern, kann Stigmatisierung, Schuldgefühle und Frustration befördern und damit ultimativ zur Polarisierung von Konsummustern und zur Entsolidarisierung von KonsumentInnen beitragen. Zudem ist Fleisch in Produktions- und Versorgungssysteme eingebettet sowie Teil einer Angebotsstruktur, die die Handlungsspielräume von Konsumen- tInnen in unterschiedlich starkem Maße beeinflusst. Die Verantwortung für gesellschaftliche Veränderungen darf nicht allein auf den Schultern von Kon- sumentInnen lasten, sondern muss Fleischproduktion und Versorgungsstruk-
Schwere Kost 73 turen gleichermaßen mit einschließen. Das Scha≈en einer Infrastruktur, die bezahlbare fleischlose Produkte und Mahlzeiten in städtischen und ländlichen Gebieten, in Stadtzentren und Randbezirken, in Mensen, Betriebskantinen, Kin- dergärten und Krankenhäusern verfügbar macht, ist essenziell. Langfristiges Ziel aller Bemühungen sollte die Bekämpfung materieller Notlagen und das Be- reitstellen notwendiger Ressourcen für alle KonsumentInnen bleiben. Umwelt- und Klimapolitik stößt an ihre Grenzen, wenn Sozialpolitik nicht kontinuierlich mitgedacht wird. Literatur Alkon, Alison Hope, Daniel Block, Kelly Moore, Catherine Gillis, Nicole DiNuccio und Noel Chavez. 2013. Foodways of the urban poor. Geoforum 48: 126-135. doi:10.1016/j.geoforum.2013.04.021. Allès, Benjamin, Julia Baudry, Caroline Méjean, Mathilde Touvier, Sandrine Péneau, Serge Hercberg, und Emmanuelle Kesse-Guyot. 2017. Comparison of sociodemographic and nutritional characteristics between self-reported vegetarians, vegans, and meat-eaters from the NutriNet-Santé Study. Nutrients 9, Nr. 9: 1-18. doi:10.3390/nu9091023. Backett-Milburn, Kathryn C., Wendy J. Wills, Susan Gregory, und Julia Lawton. 2006. Making sense of eating, weight and risk in the early teenage years: Views and concerns of parents in poorer socio-economic circumstances. Social Science & Medicine 63, Nr. 3: 624-635. https://doi.org/10.1016/ j.socscimed.2006.02.011. Baumann, Shyon, Michelle Szabo, und Josée Johnston. 2019. Understanding the food preferences of people of low socioeconomic status. Journal of Consumer Culture 19, Nr. 3: 316-339. doi:10.1177/1469540517717780. Beagan, Brenda L., Gwen E. Chapman, Josée Johnston, Deborah McPhail, Elaine M. Power und Helen Vallianatos. 2014. Acquired tastes: Why families eat the way they do. Vancouver: UBC Press. Beagan, Brenda L., Gwen E. Chapman und Elaine M. Power. 2017. Cultural and symbolic capital with and without economic constraint. Food, Culture & Society 19, Nr. 1: 45-70. Bedford, Jennifer L. und Susan I. Barr. 2005. Diets and selected lifestyle practi- ces of self-defined adult vegetarians from a population-based sample sug-
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