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Wege in die städtische Aktuell 67 Ernährungssouveränität Wer durch die Altstädte der urbanen Zentren Kontrolle über eine stabile Versorgung mit Nah- des globalen Südens spaziert, ist oft beeindruckt rungsmitteln gewinnen, um sich in akuten Krisen von den vielfältigen Angeboten an Lebensmitteln, in ihrem Einzugsgebiet versorgen zu können. die dort auf den unterschiedlichsten Märkten und an den Verkaufsständen feilgeboten werden. Die- Ernährungssicherheit ist laut Welternährungs- ser erste Eindruck könnte glauben machen, dass organisation (FAO) erst dann erreicht, wenn wirk- es in den meisten Städten des globalen Südens lich „jede Stadtbewohnerin und jeder Stadtbewoh- kein Problem ist, alle Menschen ausreichend mit ner zu allen Zeiten physischen, ökonomischen und gesundem Essen zu versorgen. sozialen Zugang zu ausreichend sicheren und reich- haltigen Nahrungsmitteln hat, welche ihre Ernäh- Wie jedoch der Ausbruch der Corona-Pandemie rungsbedarfe und Vorlieben für ein aktives und zu Beginn des Jahres 2020 eindrücklich gezeigt gesundes Leben decken“ (FAO 1996). Es muss also hat, sind die Nahrungsmittelsysteme in den meis- überall in der Stadt und jederzeit Essen geben, das ten Städten des globalen Südens extrem krisenan- auch für „den kleinen Geldbeutel“ bezahlbar ist. fällig. Im Zuge der staatlichen Maßnahmen zur Ernährungssicherheit ist zudem mehr als die Abwe- Bekämpfung der Pandemie brachen viele grenz- senheit von Hunger. So ist in der Agenda 2030 klar überschreitende internationale Nahrungsmittellie- formuliert: „Bis 2030 den Hunger beenden und ferketten zusammen. Zusätzlich wurden die regio- sicherstellen, dass alle Menschen, insbesondere die nalen, oft informellen Kanäle der Versorgung weit- Armen und Menschen in prekären Situationen, ein- gehend abgeschnitten. Die Lebensmittel, die in schließlich Kleinkindern, ganzjährig Zugang zu den Städten zu bekommen waren, wurden extrem sicheren, nährstoffreichen und ausreichenden teuer. Insbesondere für einkommensschwache Nahrungsmitteln haben“ (UN-Agenda 2030, SDG Familien wurde der Hunger schnell lebensbedroh- 2.1). Auch der internationale Pakt über wirtschaftli- licher als die Krankheit selbst. Die Pandemie hat che, soziale und kulturelle Rechte von 1966 formu- einmal mehr deutlich gemacht: Die Menschen in liert das „grundlegende Recht eines jeden, vor Hun- den Städten müssen die Souveränität und ger und Mangelernährung geschützt zu sein.“
Wege in die städtische Ernährungssouveränität Aktuell 67 Blick über São Paulo, Brasilien, 2013 Nur wenige Menschen, die in Städten oder am Schätzungen gehen davon aus, dass es im Jahr 2050 Stadtrand leben, haben die Möglichkeit, ihre Nah- etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung sein werden, rungsmittel wie Gemüse, Obst oder Getreide in eige- das sind etwa 6,5 Milliarden Menschen. Vor allem in nen Gärten oder auf städtischen Freiflächen anzu- Afrika und Asien werden die Städte wachsen. Betrof- bauen oder sich von Verwandten aus ländlichen Regi- fen sind vor allem kleinere (bis 500.000) und mittel- onen damit versorgen zu lassen. Die meisten Men- große Städte (500.000 bis eine Million). Megastädte schen in den Städten des Südens arbeiten heute im beherbergen nur etwa 20 Prozent der Stadtbewohner Dienstleistungsbereich oder in der industriellen Pro- und Stadtbewohnerinnen weltweit. Die Vereinten duktion, oft für international arbeitende Unterneh- Nationen nennen in ihrem Bericht zur Vierjahresbi- men und für den Export. Sie müssen ihre Nahrungs- lanz der Agenda 2030 die Gestaltung der Urbanisie- mittel kaufen. Darüber hinaus arbeiten viele Men- rung als eines von sechs Handlungsfeldern ‒ u.a. schen in kurzfristiger, prekärer und informeller neben nachhaltigen Ernährungssystemen und Beschäftigung oder haben überhaupt kein Einkom- Dekarbonisierung ‒, um die nachhaltigen Entwick- men, was ihre Ernährungs- und Lebenssituation lungsziele (SDGs) überhaupt noch erreichen zu kön- zusätzlich gefährdet. nen (UN 2019). Auch für die Ziele des Pariser Klima- abkommens sind die Entwicklungen in den Städten Damit stehen viele Menschen in urbanen Gebie- entscheidend, denn dort werden 70 Prozent des CO2- ten vor besonderen Herausforderungen. Auch wenn Ausstoßes produziert (UN DESA 2019). das Angebot an Nahrungsmitteln hier oft reichhalti- ger ist und die Verdienstmöglichkeiten insgesamt viel- Viele Städte weltweit werden immer größer. Dies fältiger sind, fehlt vielen Städterinnen und Städtern liegt zum einen am Bevölkerungswachstum. Städte das Geld, um sich und ihre Familien ausreichend mit breiten sich zum anderen auch physisch immer wei- guten Lebensmitteln zu versorgen. ter aus. Vormals ländliche Regionen werden zuerst „überwachsen“ und dann später eingemeindet. Auch die Zuwanderung aus ländlichen Regionen 1. Die Welt wird urban oder Krisengebieten trägt erheblich zum Wachstum bei. Durch die Verknappung von Land und durch den Klimawandel verlieren viele Menschen ihre Das 21. Jahrhundert wird oft als das Jahrhundert Lebensgrundlagen auf dem Land und sind gezwun- der Städte bezeichnet. Seit 2015 leben hier erst gen, sich in städtischen Räumen neue Perspektiven mals mehr Menschen als in ländlichen Regionen. zu erschließen. Dort lassen sich auch die meisten 2
Wege in die städtische Ernährungssouveränität Aktuell 67 Menschen nieder, die vor Kriegen und gewaltsamen Netzwerke, die sie mit Informationen über Wohn- Konflikten fliehen müssen. Oft haben sie in der Stadt und Arbeitsmöglichkeiten versorgen oder soziale Verwandte, die sie kurzfristig unterstützen können Notlagen abfedern könnten. Die Konkurrenz auf den (IDMC 2019). formalen und informellen Arbeitsmärkten wird für ungelernte Zugewanderte immer härter. Sie müssen Die wachsenden Städte bergen gleichzeitig ein ihre Einkommen nicht selten in mehreren schlecht großes wirtschaftliches und innovatives Potential. bezahlten und prekären Arbeitsverhältnissen Sie fördern den Austausch zwischen Menschen, bie- sichern. Wer vom Land in die Stadt zieht, driftet oft ten neue Bildungschancen und sind Orte techni- noch weiter in die Armut ab. scher und sozialer Erneuerungen. Städte können Menschen aus ländlichen Regionen Arbeitsmöglich- Auch Menschen, die bereits seit Generationen keiten bieten, die dann wiederum durch ihre Investi- auskömmlich in der Stadt gelebt haben, rutschen tionen ländliche Unternehmen stärken. durch die steigenden Lebenshaltungskosten zuneh- mend ab. Dabei schlagen besonders die Kosten für Unterkünfte ins Gewicht. Auch Wohnviertel, in denen seit Jahrzehnten Menschen mit geringem 2. Städtische Armut ‒ Einkommen leben, werden vermehrt durch Groß- projekte verdrängt. In den verbleibenden Vierteln ein unterschätztes Phänomen steigen die Mieten rasant. Bereits jetzt leben mehr als eine Milliarde Menschen in informellen Siedlun- Im globalen Süden ist auch heute noch die Armut gen am Stadtrand oder in innerstädtischen Slums, auf dem Land gravierender als in den Städten, in das entspricht 24 Prozent der städtischen Bevölke- denen es schon immer viele Möglichkeiten gab, den rung (UN 2020). Die Armut dort wird aber nicht Lebensunterhalt zu verdienen. Wer in die Städte mig- allein durch die Höhe des verfügbaren Geldes rierte, konnte seine Lebensbedingungen meistens bestimmt. Platzmangel, kein Zugang zu Strom und verbessern. Das jedoch hat sich in den vergangenen sauberem Wasser ‒ all das beeinträchtigt die Lebens- Jahren drastisch verändert. Menschen kommen bedingungen und die Gesundheit der Menschen. Da immer häufiger in die Städte, weil sie in ländlichen viele dieser Gebiete nicht offiziell als Wohngebiete Regionen durch den Klimawandel, den Verlust ihres anerkannt sind, fühlt sich der Staat für die Men- Landes oder durch zu geringes Arbeitseinkommen schen, die dort leben, nicht verantwortlich. Es gibt ihre Lebensgrundlagen verloren haben. Als Neulinge kaum Schulen oder Gesundheitseinrichtungen, und in der Stadt verfügen sie selten über tragfähige soziale auch der Schutz vor Verbrechen ist oft unzureichend. Informelle Siedlung in Dhaka, Bangladesch, 2012 3
Wege in die städtische Ernährungssouveränität Aktuell 67 Weit verbreitet besteht Rechts- und Schutzlosigkeit, Miete für die Unterkunft muss in jedem Fall gezahlt und grundlegende Rechte werden vom Staat nicht werden, andernfalls verliert man sie. Auch bei den gewährleistet. teilweise recht hohen Kosten für die Fahrt zur Arbeit oder für Medikamente kann nicht gespart werden. Informelle Siedlungen sind zudem häufig von Beim Essen können Menschen flexibler reagieren: mafiösen Strukturen geprägt, die die desperate Situa- Mal lassen sie eine Mahlzeit weg oder machen Abstri- tion von wohnungslos gewordenen oder frisch in die che bei der Qualität der Lebensmittel. Mangelernäh- Stadt zugewanderten Menschen ausnutzen. Sie for- rung kann jedoch insbesondere für Kinder langfris- dern horrende „Sicherheiten“, wenn sich jemand in tige gesundheitliche Folgen haben. Kommen die ihrem Gebiet niederlassen will. Auch die Kosten für ungesunden Umweltverhältnisse in der Stadt wie die Fahrt zur Arbeit müssen getragen werden, Schul- schlechte Luft, unzureichende und unhygienische gelder und ärztliche Versorgung sind in städtischen Unterkünfte und kontaminiertes Trinkwasser hinzu, Gebieten meist teurer als im ländlichen Raum. Die leiden Kinder häufig an Diarrhoe oder infizieren sich Agenda 2030 fordert daher eine Beendigung dieser mit anderen Krankheiten. Dass dies mit der schlech- Situation bis 2030: „11.1 Bis 2030 den Zugang zu ten Ernährungslage zusammenhängt, ist häufig angemessenem, sicherem und bezahlbarem Wohn- nicht offensichtlich (UNICEF 2017). So greift das raum und zur Grundversorgung für alle sicherstellen Nachhaltigkeitsziel 2 der Agenda 2030 auch diesen und Slums sanieren“ (UN-Agenda 2030, SDG 11.1). Aspekt auf: „Bis 2030 alle Formen der Fehlernährung Hier müssen Regierungen endlich ihre Verantwor- beenden, einschließlich durch Erreichung der inter- tung übernehmen, um eine Trendwende zu schaffen. national vereinbarten Zielvorgaben in Bezug auf Wachstumshemmung und Auszehrung bei Kindern Trotzdem weisen viele Statistiken für städtische unter 5 Jahren bis 2025“ (UN-Agenda 2030, SDG 2.2). Gebiete immer noch relativ geringe Armutsraten aus (FAO 2017), weil sie Armut primär über das Einkom- Je weniger Geld jemand zur Verfügung hat, men definieren und die höheren Lebenshaltungskos- desto mehr muss er oder sie anteilig für Nahrungs- ten in den Städten dabei nicht ausreichend berück- mittel und sauberes Wasser ausgeben, besonders in sichtigen. Zudem ist es schwierig, genaue Zahlen in der Stadt. Ein geringes Einkommen und fehlende den Städten zu erheben: Besonders Menschen, die Lagermöglichkeiten für frische Lebensmittel zwin- aus ländlichen Regionen zugewandert oder aus Kri- gen zum Kauf von kleinen, im Verhältnis zur Größe sengebieten geflüchtet sind, haben in der Stadt oft teuren Mengen ‒ auch als „poverty penalty“ bezeich- keine offizielle Adresse und bleiben auch nicht per- net: Menschen mit geringerem Einkommen zahlen manent an einem Ort. Viele Menschen, die in infor- tendenziell mehr für den Zugang zu Gütern und mellen Siedlungen oder in überfüllten Slums der Dienstleistungen. Dies gilt zum Beispiel auch für Innenstädte leben, halten sich illegal dort auf. In vie- den Zugang zu Wasser. Je schlechter die Wohnver- len Ländern gelten Geflüchtete zudem nicht als Stadt- hältnisse sind, desto seltener gibt es einen Anschluss bewohner oder Stadtbewohnerinnen und werden in an die städtische Wasserversorgung. Gerade Men- Volkszählungen, auf denen z. B. die Bedarfserhebung schen, die aus finanzieller Not heraus in Slums und für soziale Dienstleistungen oder Infrastrukturpro- informellen Siedlungen leben, müssen dann ihr jekte beruht, nicht berücksichtigt. Das Gleiche gilt für Wasser von privaten Wasseranbietern kaufen. Auch Menschen, die in Flüchtlingscamps oder Übergangs- hier ist der Preis pro Einheit umso höher, je kleiner lagern leben und für diejenigen, die keine offizielle die Menge ist. Adresse haben (World Bank Group 2018). Die für die Städte ausgewiesenen Armutszahlen geben somit die Staatliche Systeme zur sozialen Sicherung sind reale Situation nicht angemessen wieder, sie liegen in häufig für ländliche Gegenden konzipiert und errei- Wirklichkeit vermutlich deutlich höher. chen verarmte Stadtbewohner und Stadtbewohne- rinnen nicht in angemessener Weise (Gentilini 2015). Hier wirkt es sich aus, dass die versteckten Lebens- haltungskosten in städtischen Gebieten nicht hinrei- 3. Armut bedeutet Hunger ‒ chend in die Berechnung von Armut mit einbezogen werden: Teile der armen Bevölkerung können in der auch in der Stadt Folge nicht von sozialen Sicherungsprogrammen profitieren, da sie nicht als berechtigt eingestuft wer- Armut in der Stadt und Ernährungsprobleme den. Auch diejenigen, die sich nur zeitweise in Städ- sind eng miteinander verknüpft. Wer wenig und ten aufhalten oder aufgrund ihres illegalen Status‘ manchmal gar kein Einkommen erwirtschaften überhaupt nicht offiziell erfasst sind, fallen durch kann, der muss sein Geld zusammenhalten. Die alle sozialen Netze. Sie können nicht an staatlichen 4
Wege in die städtische Ernährungssouveränität Aktuell 67 Supermarkt in Njombe, Tansania, 2005 Leistungen wie Food for Work-Programmen oder und Übergewicht und schwächt das Immunsystem Schulspeisungen teilhaben (Tacoli 2017). (Haase in Brot für die Welt 2016). Übergewicht und Adipositas wurden meist als ein Problem von Wohl- standgesellschaften wahrgenommen. Aufgrund der beschriebenen Fehlernährung verlagert es sich 4. Ernährungsprobleme in der Stadt jedoch immer weiter in die Städte des globalen Südens (WHO 2020). Nicht übertragbare Erkrankun- gen wie Diabetes, Herz-Kreislaufkrankheiten und Das städtische Leben schafft besonders für pre- Krebs breiten sich dort zunehmend aus, was zumin- kär Beschäftigte und einkommensschwache Haus- dest teilweise auf die ungesunde Ernährung ihrer halte einige Sachzwänge. Sie teilen sich oft nur Bewohner und Bewohnerinnen zurückzuführen ist. wenige Räume, um die Mietkosten zu reduzieren. Wegen der beengten Wohnverhältnisse haben sie Städterinnen und Städter, die Wert auf eine kaum Möglichkeiten, verderbliche Produkte zu küh- gesunde Ernährungsweise legen, haben in den len und zu lagern. Auch für die Zubereitung von Armenvierteln und informellen Siedlungen des glo- Essen fehlt es häufig an Platz, und die langen balen Südens zudem oft große Schwierigkeiten, über- Arbeitstage lassen auch wenig Zeit dafür. haupt an gesunde Nahrungsmittel zu kommen. In diesen meist ungeplanten Stadtvierteln gibt es kaum Viele Städter greifen deswegen auf hochverarbei- öffentliche Plätze, die offiziell für Märkte zum Ver- tete, meist importierte Nahrungsmittel zurück, die sie kauf von Obst und Gemüse oder von anderen fri- nicht kühlen müssen und die schnell und platzspa- schen Nahrungsmitteln ausgewiesen sind. Bewohner rend zubereitet werden können. Diese sind in den und Bewohnerinnen dieser auch als „food deserts“ informellen Siedlungen an jeder Ecke und zu jeder bezeichneten Gebiete müssen häufig weite Wege Tages- und Nachtzeit zu haben. Hochverarbeitete zurücklegen, um von einem vielfältigen und reichhal- Lebensmittel enthalten jedoch meist viele „leere Kalo- tigen Nahrungsmittelangebot profitieren zu können. rien“, also viel Zucker, Stärke, Fett und Salz und wenig Dafür fehlen den meisten von ihnen jedoch die Zeit lebenswichtige Eiweiße, Spurenelemente und Vita- und das Geld. Besonders an Knotenpunkten wie mine (Brot für die Welt 2015). Ein überhöhter Kon- Bahnstationen, Busbahnhöfen und Taxistationen, sum dieser Nahrungsmittel führt zu Fehlernährung aber auch in der Nähe von Grundschulen bestimmt 5
Wege in die städtische Ernährungssouveränität Aktuell 67 zudem ein aggressives Marketing für hoch verarbei- zu bestimmen. (…) Ernährungssouveränität zieht tete, meist importierte Nahrungsmittel internationa- lokale Lebensmittelproduktion und lokalen Konsum ler Lebensmittelkonzerne das Straßenbild. vor und spricht einem Land das Recht zu, die lokal Produzierenden vor billigen Importen zu schützen und seine Produktion zu kontrollieren“ (La Via Cam- pesina, eigene Übersetzung). 5. Das Recht auf Nahrung ist ein Entscheidend für die Qualität und Nachhaltigkeit Menschenrecht ‒ überall der Ernährung wachsender Städte ist dabei, dass die Produktion und die Verteilung von Nahrungsmitteln Weltweit sind Städte in klimatisch und geomor- für und innerhalb der Städte aktiv gestaltet werden. phologisch sehr unterschiedlichen Gegenden erbaut Dafür gibt es entsprechende Gesetzesgrundlagen, worden. Die Geschichten ihrer Besiedlung unter- auch dafür, wie sie administrativ realisiert werden scheiden sich und unterliegen auch heute noch ganz können. Die Welternährungsorganisation FAO hat verschiedenen Dynamiken der Urbanisierung. 15 der das Recht auf Nahrung 2004 in freiwilligen Leitlinien zwanzig weltweit größten Städte liegen am Meer oder auf UN-Ebene präzisiert (FAO 2004). Das zweite Ziel an schiffbaren Flussläufen, sind gut an die Waren- der Agenda 2030 „Den Hunger beenden, Ernährungs- ströme angeschlossen und im Austausch von Lebens- sicherheit und eine bessere Ernährung erreichen“ und mitteln weltweit gut vernetzt. Eher isoliert gebaute die 2016 von UN-Habitat verabschiedete „New Urban Städte müssen ihr Nahrungsmittelsystem sehr stark Agenda (NUA)“ (UN Habitat 2016) geben darüber hin- auf die Selbstversorgung stützen, andere wiederum, aus Orientierung, wie dieses Recht umzusetzen ist. die in vergangenen Kriegen oder Bürgerkriegen weit- gehend zerstört wurden, sind bis heute fast aus- Die Ernährungssicherung in den Städten liegt schließlich auf Importe oder Hilfen angewiesen. auch in der Hand der Kommunalregierungen und Ebenfalls stark abhängig von außen sind Städte in Verwaltungen. Sie koordinieren die unterschiedlichs- unwirtlichen Gegenden, die auf der Suche nach Kapi- ten Akteure aus verschiedenen Sektoren, die an der talanlagen sprichwörtlich aus dem Boden gestampft Produktion und der Verteilung von Nahrungsmitteln wurden. In viele Städte werden frische Produkte aus beteiligt sind. Der Milan Urban Food Policy Pact, aller Welt importiert, häufig aus kleinbäuerlicher Pro- eine Vereinigung von 210 Städten mit insgesamt duktion. Für einkommensschwache Bevölkerungs- mehr als 450 Millionen Einwohnern und Einwohne- gruppen sind sie jedoch kaum erschwinglich. rinnen weltweit, hat sich zur Aufgabe gemacht, die Lebensmittelversorgung ihrer Bevölkerung zu ver- In allen Städten der Welt gilt das international bessern. Er empfiehlt, mit Interessenvertretungen anerkannte Menschenrecht auf Nahrung: Jeder auf städtischer Ebene in einen politischen Dialog Mensch hat das Recht, zu jeder Zeit ausreichend sozia- zu treten und lokale Initiativen und Lebensmittel len, ökonomischen und physischen Zugang zu gesun- bewegungen einzubeziehen (Milan Urban Food den Nahrungsmitteln zu haben. Das Recht auf Nah- Policy Pact 2015). rung ist bereits 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte begründet, u.a. in Artikel 3 (Recht auf Leben) und Artikel 25 (Recht auf einen die Gesundheit und das Wohl gewährenden Lebensstandard). Es ist 6. Städtische und stadtnahe außerdem in verschiedenen internationalen Men- Nahrungsmittelproduktion schenrechtsinstrumenten verankert, so in Artikel 11 des internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966: Das „grundlegende Eine in vielen Städten des Südens verbreitete Recht eines jeden, vor Hunger und Mangelernährung Form der Erzeugung von Nahrungsmitteln ist das geschützt zu sein“, ist zu gewährleisten. Die internatio- Urban Gardening, also der Gemüseanbau in Gärten nale Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen haben oder auf Brachflächen in unmittelbarer Nähe der Grundsätze der Ernährungssouveränität entwickelt, Unterkünfte. Weltweit wird der Anteil von Urban die beschreiben, wie das Recht auf Nahrung verwirk- Gardening an der Versorgung der Stadtbevölkerung licht und durchgesetzt werden soll: auf lediglich ein bis zwei Prozent geschätzt. Seine Formen sind jedoch vielfältig, und nicht alle wer- „Ernährungssouveränität ist das Recht von Men- den offiziell erfasst (Wegeref 2017). Oft finden ent- schen auf eine gesunde und kulturell angepasste, sprechende Transaktionen im Tauschhandel statt. nachhaltig produzierte Ernährung und ihr Recht, Die Wege der Vermarktung sind kurz, und der Zwi- ihre Ernährungs- und Landwirtschaftssysteme selbst schenhandel, der häufig hohe Gewinne erzielt, wird 6
Wege in die städtische Ernährungssouveränität Aktuell 67 Kapstadt: Agrarökologischer Gemüseanbau durch Wohnungsbauprojekte unter Druck Die Philippi Horticultural Area (PHA) ist seit über 130 Trotzdem wurden Teile des Landes zu sehr niedrigen Jahren der Gemüsekorb der Stadt Kapstadt. Auf diesem Preisen an Immobilienfirmen veräußert und unter etwa 3000 Hektar großen Gebiet, das ehemals Teil des intransparenten Umständen von der Stadt Kapstadt und Grüngürtels der Stadt war, werden auch heute noch ca. der Provinz Western Cape in Bauland umgewidmet. 40 Prozent des Gemüsebedarfs der Stadt von Kleinbau- Dadurch steigerte sich sein Wert über Nacht um mehr ern produziert. Die Bodenpreise in dem innerstädti- als 2000 Prozent. Die dort wirtschaftenden Kleinbe- schen Gebiet sind mittlerweile jedoch enorm hoch, denn triebe sollten Luxuswohnungen weichen. Betroffene es liegt zentral und bietet einen Ausblick auf den Indi- Kleinbäuerinnen und Kleinbauern organisierten sich schen Ozean. Da die Landnutzung lange Zeit für agrari- jedoch und verklagten die Stadt und die Provinz erfolg- sche Produktion festgelegt war, war das Gebiet bisher für reich, diese Umwidmung rückgängig zu machen (für Investoren und den Immobilienmarkt uninteressant. mehr Informationen: phacampaign.org.za). ausgeschaltet. Bei entsprechender politischer und der Bewässerungslandwirtschaft und 35 Prozent des administrativer Unterstützung kann das Urban Gar- Regenfeldbaus in einem Umkreis von 20 Kilometern dening gerade in kleineren und mittelgroßen Städten (FAO 2019), wobei dies lokal sehr unterschiedlich sein nennenswert zur Ernährungssicherung beitragen. In kann. Die Städte breiten sich jedoch rasant aus, die Kuba beispielsweise haben es die politisch Verant- Bodenpreise steigen entsprechend, und so geraten wortlichen stark gefördert, es lieferte zeitweise bis zu diese Flächen immer mehr unter Druck. In vielen Fäl- 40 Prozent der in den Städten benötigten Nahrungs- len bringen andere Landnutzungen höhere Renditen. mittel (Tanzmann in Brot für die Welt 2016). Gerade im globalen Süden existieren oft keine ver- brieften Landrechte, und die Bewohnerinnen und Größere Bedeutung als das Urban Gardening hat Bewohner können leicht vertrieben werden. Die Kom- allerdings die Produktion von Nahrungsmitteln auf munen stehen in der Verantwortung, diese Flächen den ehemaligen Grüngürteln der Städte und im städ- beispielweise über Landnutzungspläne zu schützen tischen Umland. Laut FAO befinden sich 60 Prozent und die kleinbäuerliche Nahrungsmittelproduktion Städtischer Gemüsegarten in Sancti Spiritus, Kuba, 2007 7
Wege in die städtische Ernährungssouveränität Aktuell 67 zu erhalten (Freiwillige Leitlinien zum Landmanage- die UN-Erklärung zu den Rechten von Bauern und ment der UN, CFS 2012). Bäuerinnen und anderen Menschen, die im ländli- chen Raum arbeiten (UN GA 2018). Diese Rechte müssen mit einem umfangreichen Paket aus Agrarbe- ratung, der Vermittlung von Techniken über die Ver- 7. Territoriale Versorgungssysteme edelung und Konservierung von Lebensmitteln und mit dem Wissen über eine gewinnbringende Vermark- tung flankiert werden. Zudem müssen die Trans- Der Bedarf an Lebensmitteln für die Versorgung portinfrastruktur und die Kühl- und Lagermöglichkei- der Städte lässt sich nicht allein durch Urban Garde- ten für Lebensmittel entlang der gesamten Wert- ning, agrarische Flächen in der Stadt und Landwirt- schöpfungskette ausgebaut werden. Armutsorientiert schaft am Stadtrand decken. Es bleibt die Herausfor- und inklusiv gestaltet können agrarische Wertschöp- derung, die Versorgung durch Zulieferer außerhalb fungsketten, Lebensmitteltransporte und Pro- des direkten städtischen Umfeldes zu sichern. In den duktveredelung insbesondere jungen Menschen Ein- vergangenen Jahren sind deswegen ländlich-städti- kommensmöglichkeiten schaffen und die ländlichen sche und territoriale Versorgungssysteme in den Räume wirtschaftlich stärken. So formuliert es auch Fokus der Entwicklungsplanung gerückt (FAO 2017). der Welternährungsrat 2016 in seiner Empfehlung „Connecting Smallholders to Markets“ (CFS 2016). Territoriale Versorgungssysteme streben an, den Nahrungsmittelbedarf der wachsenden Städte durch eine Produktion im weiteren Umland zu sichern. Der Milan Urban Food Policy Pact erkennt die Bedeutung 8. Informelle Lebensmittelmärkte der kleinlandwirtschaftlichen Lebensmittelproduk- tion als Schlüssel zur Versorgung der Städte entspre- chend an und fordert, kurze Versorgungsketten für Obwohl es weltweit immer mehr Supermärkte Lebensmittel zu unterstützen und die Vernetzung von gibt, bildet der informelle Handel mit Nahrungsmit- ländlichen und städtischen Gebieten zu fördern. Ter- teln in den meisten Städten des globalen Südens das ritoriale Ansätze zeichnen sich dadurch aus, dass sie Rückgrat der Lebensmittelversorgung für die ärmere die ganze Lieferkette ‒ von der Nahrungsmittelpro- Bevölkerung. Im südlichen Afrika deckt er bis zu 90 duktion, ihrer Veredelung, ihrem Transport und ihrer Prozent der Versorgung in den einkommensschwa- Vermarktung in Städten ‒ berücksichtigen und der chen Stadtvierteln (Battersby/Watson 2019). Die Vielfalt der daran beteiligten Akteure Rechnung tra- Angebote informeller Lebensmittelmärkte sind auf gen. Mit einem ganzheitlichen Ansatz zielen sie dar- die Bedürfnisse der einkommensschwachen Bevölke- auf ab, sowohl die ökonomische und soziale Situation rungsgruppen in den Städten zugeschnitten: Diese der Produzierenden zu verbessern als auch die Versor- Märkte sind schon früh morgens und bis in die späte gung der Stadtbevölkerung mit frischem und reich- Nacht geöffnet, sie bieten kleine Mengen zu geringen haltigem Essen auszubauen (UN Habitat 2019). Trei- Preisen an, ebenso Nahrungsmittel, die teilweise bende Kraft können dabei kleinere und mittelgroße schon vorgekocht sind oder direkt verspeist werden Städte sein, die Räume für neu gegründete Unterneh- können. Oft sind die Angebote dieser Märkte die ein- men in der Produktveredelung und -konservierung zige Möglichkeit für die einkommensschwache bieten. Der Erfolg territorialer Versorgungssysteme Bevölkerung, an frisches Obst und Gemüse sowie hängt zudem von einer Umlandplanung ab, die die Fisch oder Fleisch zu kommen. Gleichzeitig bieten Wechselbeziehungen von städtischen und ländlichen sie ‒ insbesondere Frauen ‒ relativ kontinuierliche Regionen berücksichtigt (UN Habitat 2019). und gesicherte Einkommensquellen. Weltweit produzieren Kleinbetriebe in Familien- Diese Tatsachen werden in den meisten Stadtpla- besitz ‒ trotz der Zunahme der industriellen Land- nungen jedoch nicht genügend gewürdigt. In vielen wirtschaft ‒ je nach Region immer noch bis zu 80 Fällen gehen die Gesetzgebungen für den informel- Prozent der Nahrungsmittel (FAO 2017). Diese sind ‒ len Nahrungsmittelhandel noch auf Kolonialzeiten weit besser als gewinnmaximierende Großbetriebe ‒ zurück. Sie diskriminieren den Kleinhandel und sind dazu in der Lage, durch agrarökologische Produktion nicht an die Herausforderungen der gegenwärtigen gleichzeitig nachhaltig und diversifiziert zu wirt- Stadtentwicklungen angepasst (Brown/Msoka/Dan- schaften. Zentrale Voraussetzung dafür ist, dass die koco 2015; Hansen/Vaa 2017). Teilweise werden Kleinbäuerinnen und Kleinbauern Zugang zu pro- informelle Märkte im Zuge von World Class City duktiven Ressourcen wie Agrarland, Wasser und Konzepten sogar als Hindernis verstanden, in die angepasstem Saatgut erhalten. Dies bestätigt auch Riege der bevorzugten Städte aufzusteigen. Sie gelten 8
Wege in die städtische Ernährungssouveränität Aktuell 67 Lebensmittelmarkt in Myikyina, Myanmar, 2019 als laut, überfüllt und unhygienisch, und es wird Infrastrukturplanung entwickeln und umsetzen. So unterstellt, dass sie deswegen auch internationale sollte die Ausweisung entsprechender Marktplätze Investoren und Touristenströme abschrecken. Infor- integrativer Bestandteil der Aufwertung von infor- melle Verkäufe von Nahrungsmitteln werden häufig mellen Siedlungen sein, auch in bereits etablierten mit der Begründung unterbunden, Hygienestan- Stadtvierteln. Insbesondere Verkehrsknotenpunkte dards würden nicht eingehalten. Oft bekommen wie Bahnhöfe, Taxistände und Busbahnhöfe bieten informelle Händlerinnen und Händler für den Ver- gute Einkaufs- und Verkaufsmöglichkeiten für den kauf ihrer Produkte nur abgelegene Plätze zugewie- täglichen Bedarf an Nahrungsmitteln. Die Vergabe sen, an denen es kaum Laufkundschaft gibt, auch von Verkaufslizenzen muss unkompliziert und auch müssen sie hohe Gebühren für die Verkaufslizenzen für den Kleinsthandel erschwinglich sein. Als beson- bezahlen (Ahoobim/Goldman/Mahajan 2014). ders hilfreich haben sich Maßnahmen städtischer Verwaltungen erwiesen, auf den Märkten kostenlo- Städtische Verwaltungen sollten informelle sen Zugang zu sauberem Wasser anzubieten und Händlerinnen und Händler unterstützen und so Möglichkeiten zu schaffen, Ware zu kühlen und zu dabei helfen, einkommensschwache Menschen in lagern. Ebenso wichtig sind eine kostenlose Strom- den Städten mit günstigen Nahrungsmitteln zu ver- versorgung und entsprechende Anschlüsse, elektri- sorgen. Voraussetzung dafür ist, dass sie deren sches Licht und feste, leicht zu reinigende Verkaufs- Bedeutung für die Ernährungssicherung insbeson- flächen und Böden. Das sind sehr wirksame Ange- dere städtischer Armutsgruppen anerkennen und bote, die Hygiene im Nahrungsmittelhandel grund- entsprechende Strategien in der Stadtplanung und legend zu verbessern (Battersby/Watson 2019). 9
Wege in die städtische Ernährungssouveränität Aktuell 67 9. Die Rolle der Zivilgesellschaft für Alimentar e Nutricional“ (CONSEAS), die ihren Ursprung in Brasilien und weltweit Modellcharakter die städtische Ernährungssicherheit haben. Über diese Räte ist beispielsweise das staatli- che Schulspeisungsprogramm (PNAE) mit der Kom- Weltweit organisiert sich eine städtische Zivilge- ponente des lokalen Einkaufs von Lebensmitteln sellschaft, um besonders bedürftige Menschen besser neu aufgebaut worden, ebenso ein Programm, das mit gesunden und reichhaltigen Nahrungsmitteln zu die Beschaffung von Lebensmitteln aus lokaler versorgen. Neben der unmittelbaren Hilfe bieten sie Landwirtschaft für staatliche Institutionen fördert auch Informationen und Weiterbildungen im Bereich und regelt (PAA). Als im Januar 2019 der rechtsradi- Ernährung und Verarbeitung von Lebensmitteln an, kale Präsident Jair Bolsonaro an die Macht kam, auch sind sie in Not- und Krisensituationen gefragte wurde den Ernährungsräten jedoch die Finanzie- Partner für internationale Hilfsorganisationen. Oft rung entzogen und ihre Arbeit damit weitgehend übernehmen diese zivilgesellschaftlichen Organisati- zum Erliegen gebracht. onen damit Aufgaben, die eigentlich in die Verant- wortung des Staates fallen (World Future Council Eine wichtige Rolle übernehmen selbstorgani- 2020). Gleichzeitig fordert die Zivilgesellschaft genau sierte Initiativen auch bei der Direktvermarktung von das ein: dass die nationalen Regierungen sich endlich (agrarökologisch) produzierten Lebensmitteln aus diesen Aufgaben stellen und für die Menschen auch dem städtischen Umland. Die Kunden und Kundin- in den Städten das Recht auf Nahrung und andere nen können diese direkt in der Stadt kaufen, manch- Menschenrechte wie das Recht auf Wasser, Bildung, mal in speziell dafür eingerichteten Läden, oder über soziale Sicherheit oder Gesundheit umsetzen. Internetplattformen erwerben. Diese Form der Ver- marktung erlaubt eine zielgenaue Produktion, der Zivilgesellschaftliche Organisationen initiieren Transport in die Stadt ist gut organisierbar. Der kos- häufig Beratungen und den Dialog mit staatlichen tensteigernde Zwischenhandel fällt weg, der Direkt- Stellen, den Verantwortlichen der Nahrungsmittelpro- verkauf reduziert die Verluste nach der Ernte deut- duktion, den Transportunternehmen und Konsumie- lich. Diese Initiativen sind häufig von der Idee getra- renden, um regional produzierte Nahrungsmittel in gen, solidarisch mit den agrarökologisch wirtschaf- die Stadt zu bringen. Besonders bekannt sind die tenden Kleinbetrieben zu sein und Produzierende Ernährungsräte, die „Conselho Nacional de Seguranca und Konsumierende einander näher zu bringen. Vermarktung regionaler Lebensmittel durch die Nichtregierungsorganisation OADEL in Lomé, Togo, 2015 10
Wege in die städtische Ernährungssouveränität Aktuell 67 Zivilgesellschaftliche Organisationen müssen in Hunger brauchen endlich die Aufmerksamkeit, die ihren Initiativen ermutigt und gestärkt werden. Das dieser Problematik angemessen ist. bedeutet, dass sie ausreichend finanziert und in Ins- titutionen verankert sein sollten, um unabhängig Um die Ernährungssicherheit in der Stadt zu von politischen Richtungswechseln ihre Arbeit wei- gewährleisten und die Armut zu reduzieren, müssen terführen zu können. Oft jedoch ist das Gegenteil der auch universelle soziale Sicherungssysteme aufge- Fall. Viele Akteure und Akteurinnen der Zivilgesell- baut werden, die geeignet sind, Menschen ohne Ein- schaft begnügen sich deswegen nicht damit, originär künfte oder in prekärer informeller Beschäftigung staatliche Aufgaben einfach zu ersetzen, sondern for- zu erreichen und ihnen ein ausreichendes Einkom- dern das Recht auf Nahrung vom Staat aktiv ein. Sie men zu garantieren. Brot für die Welt unterstützt kämpfen dafür, kleinbäuerliche Vermarktungsstruk- seine Partnerorganisationen in ihrer nationalen turen und Flächen für die Produktion von Nahrungs- Advocacyarbeit und tritt mit zivilgesellschaftlichen mitteln in und im Umfeld der Städte zu erhalten. Netzwerken auf internationaler Ebene dafür ein, Dafür erleiden sie häufig massive Repressionen von dass das Recht auf soziale Sicherheit umgesetzt wird. Seiten der jeweiligen Staaten. Um die Ernährungssouveränität in den Städten zu gewährleisten und die Versorgung der Städte durch regionale Lieferketten aus nachhaltiger Pro- 10. Wege in die städtische duktion zu privilegieren, müssen Handelsregeln den Import von Konkurrenzprodukten aus Intensivland- Ernährungssouveränität wirtschaft reduzieren oder durch hohe Zölle regulie- ren. Die Aufgabe von Stadtplanung ist es, Grünfla- Seit vielen Jahren setzt sich Brot für die Welt chen für den Anbau von lokalen Nahrungsmitteln zu dafür ein, die Lebensbedingungen auf dem Land zu schützen und Raum für lokale Märkte zu schaffen. verbessern. Kein Mensch darf gezwungen sein, Internationale Nahrungsmittelkonzerne üben jedoch seine Existenz in ländlichen Regionen für ein Leben massiven Druck auf die nationalen Regierungen aus, in Ungewissheit und Armut in der Stadt aufgeben zu ihre Märkte für Nahrungsmittelimporte aus aller müssen. Die Urbanisierung lässt sich jedoch ‒ auch Welt zu öffnen und die Ausbreitung von Supermarkt- bei erfolgreichen Strategien zur Stabilisierung des ketten voran zu treiben. ländlichen Raumes ‒ derzeit nicht aufhalten. Denn die größten Treiber sind ‒ neben der Zuwande- Hier braucht es Unterstützung für den Aufbau rung ‒ das natürliche Wachstum der Bevölkerung in und die Förderung einer starken städtischen Zivil der Stadt und die physische Ausdehnung der Städte. gesellschaft, die sich dem Import von Billigproduk- Mit dem ungeplanten Wachstum breiten sich dort ten entgegenstellt und für demokratische regionale auch Ausgrenzung und Verelendung aus. Vielen Versorgungsstrukturen stark macht. Einer Zivilge- Städterinnen und Städtern fehlt die Kaufkraft, um sellschaft, die ihr Recht auf Nahrung einfordert. sich und ihre Familien ausreichend mit frischen und gesunden Nahrungsmitteln zu versorgen. Unterernährung, Mangelernährung und Überge- wicht, das sogenannte „triple burden“, drohen zu Quellen einem Massenphänomen in den urbanen Zentren des Südens zu werden. Ahoobim, Oren/Laura Goldman/Shanti Mahajan (2014): What makes a World Class City? Nairobi. Brot für die Welt setzt sich gemeinsam mit Part- nerorganisationen aus dem globalen Süden in ver- Battersby, Jane/Vanessa Watson (Hrsg.) (2019): Urban schiedenen internationalen Gremien ‒ wie dem food systems governance and poverty in African Welternährungsrat, bei UN-Habitat, bei der jährli- cities. London. chen Berichtskonferenz zur Umsetzung der Agenda 2030 auf dem High Level Political Forum ‒ dafür Brot für die Welt (2015): Stillen Hunger bekämpfen: ein, dass die Nachhaltigen Entwicklungsziele, das Eine Investition in die Zukunft. Berlin. Recht auf Nahrung, das Recht auf Wasser und Sani- tärversorgung und das Recht auf eine gesicherte Brot für die Welt (2016): Stadt ‒ Land ‒ Essen; Wer Unterkunft umgesetzt werden. Auch das Recht ernährt in Zukunft die Städte? Berlin. auf Gesundheit und auf soziale Sicherheit sind wesentliche Grundlagen für ein Leben in Würde. Brown, A./C. Msoka/I. Dankoco (2015): „A Refugee in Die Armut in den Städten und der daraus folgende My Own Country: Evictions or Property Rights in 11
Wege in die städtische Ernährungssouveränität Aktuell 67 the Urban Informal Economy?“ in Urban Studies UN (2020): Policy Brief: COVID-19 in an Urban 52, no. 12 (2015): 2234–2249 World. New York. CFS (2012): Voluntary Guidelines on the Responsible UN DESA (2019): The Future is Now: Science for Governance of Tenure of Land, Fisheries and Achieving Sustainable Development. New York. Forests in the context of National Food Security. Rom. UN General Assembly (2018): The Peasants Rights Declaration. New York. CFS (2016): Connecting Smallholders to Markets ‒ Policy Recommendations. Rom. UN Habitat (2016): New Urban Agenda. Quito. FAO (1996): Rome Declaration on World Food Secu- UN Habitat (2019) : Urban-Rural Linkages : Guiding rity and World Food Summit Plan of Action. Rom. Principles. A Framework for Action to Advance Integrated Territorial Development. Nairobi. FAO (2004): Voluntary Guidelines to support the pro- gressive realization of the right to adequate food in UNICEF (2017): Levels and Trends in Child Morta- the context of the national food security. Rom. lity Report. New York. FAO (2017): The State of Food and Agriculture – Leve- Wegeref, Marc C. A. (2017): Feeding Dar es Salaam: raging Food Systems for Inclusive Rural Transfor- A Symbiotic Food System Perspective. Wageningen. mation. Rom. WHO (2020): www.who.int/news-room/fact-sheets/ FAO (2019): FAO framework for the Urban Food detail/obesity-and-overweight Agenda ‒ Leveraging sub-national and local govern- ment action to ensure sustainable food systems World Bank Group (2018): Piecing Together the and improved nutrition. Rom. Poverty and Shared Prosperity Poverty Puzzle. Washington. Gentilini, Ugo (2015): Entering the City. Emerging Evidence and Practices with safety Nets in Urban World Future Council (WFC) (2020): Local Govern- Areas. New York. ments and Civil Society working together for Food Security: 9 recommendations on how to strengthen Hansen, K.T./M. Vaa, (Hrgs.) (2017): Reconsidering civil society’s role in advancing urban food secu- Informality: Perspectives from Urban Africa (Upp- rity in the Global South. Berlin. sala: Nordic Africa Institute, 2004), zitiert in: Dani- elle Resnick (2017): Informal Food Markets in Africa’s Cities in: IFPRI 2017:53 Internal Displacement Monitoring Centre IDMC (2019): Impressum Global Report on Internal Displacement. Genf. Herausgeber Brot für die Welt La Via Campesina: https://viacampesina.org/en/ Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e. V. Caroline-Michaelis-Straße 1, 10115 Berlin international-peasants-voice/ Telefon +49 30 65211 0 kontakt@brot-fuer-die-welt.de www.brot-fuer-die-welt.de Milan Urban Food Policy Pact (2015): www.milanur banfoodpolicypact.org Autorin Ingrid Jacobsen Redaktion Luise Steinwachs, Elisabeth Schmidt-Landenberger V.i.S.d.P. Klaus Seitz PHA Food and Farming Campaign: http://phacam Layout János Theil Fotos Karin Desmarowitz, Peter Hejl, Thomas Lohnes, paign.org.za Florian Kopp, Christof Krackhardt, Mark Lewis, Christoph Püschner, Frank Schultze Tacoli, Cecilia (2017): Food (In)Security in Rapidly Titelbild San Marcos Moctum, Mexiko, 2017 Art.-Nr. 129 503 180 Urbanising, Low-Income Contexts. In: Internatio- nal Journey of Environmental Research and Pub- März 2021 lic Health, 14, 1554, S. 1-8 Spenden Brot für die Welt Bank für Kirche und Diakonie UN (2019): Global Sustainable Development Report. IBAN: DE10 1006 1006 0500 5005 00 New York. BIC: GENODED1KDB 12
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