(Selbst-?) Ausbeutung im akademischen Betrieb - Ein Erlebnisbericht - DGUF
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Ausbeutung im akademischen Betrieb auf professoraler Ebene in vielen Fällen erreicht. Die Folgen davon sind wenigstens massive psychische und physische Belastung, in besonders bedauerlichen Einzelfällen führen diese bis zum Tod, ob nun durch aus der Überlastung resultierenden Gesundheitsproblemen oder Selbstmord. Die Arbeitgeber – praktisch regelhaft selbst Akademiker, die aus dem Lehr- und Forschungsbetrieb ins universitäre Management gewechselt sind – missachten dabei gravierend ihre gesetzlichen Ver- pflichtungen zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit ihrer Mitarbeiter durch Maximalarbeitszeitregelungen. Schlüsselwörter – Archäologie; Selbstausbeutung; Ausbeutung; Universität; Professor; EU-Arbeitszeitdirektive; Großbritannien Title – (Self-?) Exploitation in the Academic Sector. Reported Experiences. Abstract – This contribution illustrates based on a reported experience and comparable examples the dimensions which (self-?) ex- ploitation reaches in the university sector at professorial level. This leads to massive psychological and physical burdens which sadly in particular cases can lead to premature deaths, whether due to medical conditions caused or exacerbated by excessive workloads or by suicide. The employers – practically always academics themselves who have changed career paths from teaching and research positions into university management – disregard severely their legal duties to care for the health and safety of their employees by ignoring working time regulations. Key words – archaeology; self-exploitation; exploitation, university, professor, Working Time Regulations 1998, United Kingdom Im Jahr 2010 – ich war damals Vorstand des In- sität Bangor erbost berichtete, läutete dennoch stituts für Geschichte, walisische Geschichte und sein Handy, während Tanner im Operationssaal Archäologie der Bangor University – starb mein im Sterben lag: er wurde an der Universität so Kollege Prof. Duncan Tanner bei einer routinemä- dringlich gebraucht, dass man ihn trotz Kranken- ßigen Herzoperation im vergleichsweise jungen stand und vorab angemeldeter Herzoperation un- Alter von 52 Jahren. Inwieweit sein Herzleiden bedingt kurzfristig zu erreichen müssen glaubte. durch arbeitsbedingten Stress verursacht war, Mein durchschnittliches wöchentliches Ar- lässt sich natürlich nicht mit absoluter Gewissheit beitspensum betrug damals ungefähr 90 Wochen- sagen. Was sich jedoch mit Gewissheit sagen lässt stunden, errechnet im 52 Wochen-Durchschnitt. ist, dass Tanner als von meinem Institut dafür be- Mit anderen Worten: durchschnittlich etwa 13 urlaubter Direktor des Walisischen Instituts für Stunden Arbeitszeit pro Tag; 7 Tage die Woche, 52 Soziale und Kulturelle Angelegenheiten (WISCA) Wochen im Jahr. Freizeit, geschweige denn zwei der Universität Bangor und vom Rektorat mit al- Wochen ununterbrochenen Urlaub, hat man da len möglichen anderen Aufgaben zugeschütteter praktisch nicht mehr; einen halben „freien“ Sonn- Mitarbeiter derart mit Arbeit überlastet war, dass tag erkauft man sich schon damit, dass man Mon- er sicher um die 100 Stunden pro Woche gearbei- tag bis Samstag 14 Stunden pro Tag arbeitet, damit tet hat. Man könnte sagen: er war ein Workaholic, man am Sonntag nur 6 Stunden arbeiten muss. und diese Tatsache war seiner dienstgebenden Man könnte sagen: auch ich war (und bin) ein Wor- Universität und seinen Vorgesetzten vollständig kaholic, aber selbstverständlich waren sich meine bewusst, ebenso wie dass er sicher um die 100 Vorgesetzten auch vollständig bewusst, dass ich Stunden pro Woche gearbeitet hat. Tanner hat- das war und dass ich sicher auch durchschnittlich te selbstverständlich an der Universität bekannt 90 Stunden pro Woche arbeitete. Wenn aus keinem gegeben, dass er eine Herzoperation hatte und anderen Grund dann aus dem, dass ich es ihnen daher nicht erreichbar sein würde, ehe er ins Spi- schon damals regelmäßig gesagt habe. tal gegangen war; d. h. er hatte Krankenstand ge- Die Tatsache, dass mehrere Professoren sol- nommen. Wie sein ehemaliger Student, Protegé, che Arbeitspensen hatten, sollte zu denken ge- Co-Direktor von WISCA und spätere Dekan und ben; insbesondere, weil sowohl das Problem der Vizerektor, Dr. Andrew Edwards, kurz danach Arbeitsüberlastung an Universitäten als auch bei seiner Eulogie im großen Festsaal der Univer- die Auswirkungen davon auf das Personal seit Eingereicht: 23. Aug. 2021 Archäologische Informationen 44, Early View angenommen: 6. Sept. 2021 CC BY 4.0 online publiziert: 11. Okt. 2021 1 FAiG 2019: Prekariat und Selbstausbeutung FAiG 2019: Prekariat und Selbstausbeutung
Raimund Karl langem bekannt sind (siehe z. B. Kinman, 1998). freiwillig selbst von diesen Maximalarbeitszeitbe- Schon 1998 gaben in einer britischen Umfrage grenzungen ausnehmen, das darf aber vom Ar- zwei Drittel des vollzeitbeschäftigten akade- beitgeber nicht verlangt werden. mischen Personals an, dass sie mehr als 45 Stun- Kehren wir zu meinen persönlichen Erfah- den pro durchschnittlicher Woche arbeiteten, rungen zurück: 2014 – da war ich schon nicht mehr während ein Viertel schon mehr als 55 Stunden Institutsvorstand – hatte sich an meiner Arbeitszeit angab. Beim Lehrpersonal berichteten sogar da- nichts geändert, sondern sich nur meine Aufgaben mals schon etwa die Hälfte von mehr als 50 Ar- auf andere Formen von Administration und mehr beitsstunden pro Woche und etwa ein Achtel von Lehre verlagert. Das lag daran, dass zu dieser Zeit mehr als 60 durchschnittlichen Arbeitsstunden; nach zähen Verhandlungen meine Stelle vertrag- bei den befragten Professoren waren es sogar ein lich für wenigstens drei Jahre in eine Forschungs- Viertel. Und das lag schon damals nicht daran, professur umgewandelt werden sollte. Diese dass dieser Anteil des akademischen Personals Umwandlung war aber nicht etwa zur Reduktion Workaholics sind, sondern es blieb den Universi- meiner Arbeitsüberlastung geplant, sondern weil tätsangestellten gar keine Wahl, wenn sie mit der zu dieser Zeit gerade „Impact“ in der britischen ihnen zugeteilten Arbeit fertig werden wollten Evaluation der Forschungsleistung von Universi- (ibid., 8-9). Dass das seither nicht besser geworden tätsinstituten wichtig wurde und an meinem Insti- ist, zeigt nicht nur der jüngst grassierende Witz, tut meine diversen Forschungsprojekte am ehesten dass man in einem akademischen Job zwar even- versprachen, solchen zu generieren. tuell an sieben Tagen pro Woche arbeiten müsse, Nachdem sich allerdings monatelang nichts tat, aber die Freiheit, sich aussuchen zu können, an trat ich Anfang 2015 mit einem Angebot an meine welchen der sieben Tage man arbeite, gewaltig Universität heran: Um mich wenigstens etwas zu sei. Noch deutlicher war z. B. der University and entlasten, solle die Universität mir eine Halbzeit- College Union (UCU) Workload Survey 2016,1 der Assistentenstelle zur Verfügung stellen; die Kosten sehr ähnliche Resultate berichtete, darunter eine dafür würde ich selbst im Wege einer – steuerlich durchschnittliche Wochenarbeitszeit von etwa absetzbaren – Spende an die Universität überneh- 51 Stunden, ein Wert, der bei Professoren auf men. Das schien allen recht zu sein und wir schlos- etwa 56 Stunden steigt. Noch drastischer betrof- sen einen Schenkungsvertrag ab, der von allen bis fen waren allerdings junge Akademiker in der zum Dekan – dem schon oben genannten, auf- Frühphase ihrer Karriere: hier zeigte sich, dass grund seiner Management-Aufgaben inzwischen ca. 27 % aller im Bereich der Lehre eingesetzten zum Professor beförderten Dr. Andrew Edwards Assistenten (teaching assistants) mehr als 60, und – unterzeichnet und im April 2015 rechtskräftig erschreckende 13 % durchschnittlich mehr als 95 wurde. Als allerdings drei Tage vor Anfang Mai Wochenstunden arbeiten. Beinahe 30 % des aka- 2015 – dem geplanten Beginn für die Stelle, zu demischen Personals gab an, immer oder mei- deren Finanzierung ich gerade mittels Einzugser- stens ein nicht bewältigbares Arbeitspensum zu laubnis beginnen wollte, monatlich etwa £ 1.500 an haben, zwei Drittel, dass ihr Arbeitspensum we- meine dienstgebende Universität zu spenden – im- nigstens die Hälfte der Zeit nicht bewältigbar sei.2 mer noch nicht einmal ein Dienstvertrag für diese Zur Erinnerung für die, die es vergessen ha- Assistentenstelle vorbereitet worden war und ich ben, bzw. als Information für die, die es noch nie diesbezüglich, inzwischen etwas verstört, dring- gehört hatten: Die EU-Arbeitszeitdirektive (EU, lich urgierte, wurde mir mitgeteilt, dass die Uni- 2003) bestimmt eine maximal erlaubte durch- versität vom Schenkungsvertrag zurücktrete, weil schnittliche Wochenarbeitszeit von 48 Stunden, je das Rektorat Bedenken habe, dass diese Spende zu nach nationalen Rechtsvorschriften durchzurech- meinem eigenen Vorteil sei und die Universität so nen über einen Zeitraum von 4 bis 12 Monaten, eine krasse „Bevorteilung“ eines ihrer Mitarbeiter sowie eine tägliche Mindestruhezeit von 11 Stun- (wohlgemerkt: durch diesen selbst) nicht zulassen den, zuzüglich pro Woche einmal 24 Stunden könne. Natürlich hat die Universität trotz Versi- kontinuierliche Mindestruhezeit. Diese Richtli- cherung des Gegenteils dann trotzdem begonnen, nie wurde (schon seit einer ihrer Vorgängerfas- die monatliche Schenkung von meinem Konto sungen) in Großbritannien durch die Working einzuziehen, und erst auf meine geharnischte Be- Time Regulations (WTR) 1998 umgesetzt, die im- schwerde den Einziehungsauftrag gestoppt und mer noch (auch nach Brexit!) in Kraft sind. Zwar mir den Fehlbetrag wieder zurückerstattet (selbst- dürfen sich gemäß Art. 22 der EU-Arbeitszeitrich- verständlich ohne Zinsen). tlinie (EU, 2003, 15) und Section 5 der WTR unter Als ich daraufhin verlangte, meinen gesetz- streng regulierten Voraussetzungen Arbeitskräfte lichen Urlaub in Anspruch nehmen zu können, FAiG 2019: Prekariat und Selbstausbeutung 2
(Selbst-?) Ausbeutung im akademischen Betrieb – Ein Erlebnisbericht wurde mir dieser verweigert: es gebe zu viel Ar- Drittmitteln abdecken könnte, bezahlen und nicht beit zu erledigen und ich sei unabkömmlich. Tat- mich privat darauf sitzen lassen würde, und sich sächlich hat man mich erst nach Ende des Jahres, zudem bemühen würde, mir nach Möglichkeit als ich mit arbeitsrechtlichen Schritten drohte, einen Teilzeitassistenten zur Hilfe bei der Vorbe- finanziell für den Urlaubsanspruch kompensiert. reitung und Durchführung der Grabung zur Ver- Natürlich mit einer Umgehungskonstruktion fügung zu stellen. Zusätzlich dazu boten sie mir zum Schutz der Universität vor sicherheits- und als „Kompensation“ für die zu erwartenden Mehr- gesundheitsschutzrechtlichen Konsequenzen: leistungen an, dass sie mir als erstes Semester die- Es wurde einfach so getan, als ob ich in diesem ses Dreijahresdeals ein Freisemester geben wür- Jahr statt 100 % tatsächlich 107 % Vollzeit gearbei- den, damit ich mich auf meine Forschung und die tet hätte, weil die finanzielle Abgeltung des Ur- Impact-Erzeugung konzentrieren könne. laubsanspruchs gesetzlich eigentlich explizit ver- Warum es ein besonderes Zuckerl ist, dass man boten ist. Arbeitsfreie Zeit gab es weiterhin keine. ein Forschungsfreisemester „geschenkt“ bekommt, Um sich „gütlich“ mit mir zu einigen, boten mir das man konsumieren darf, während man als meine Vorgesetzten auch an, endlich wie verspro- Forschungsprofessor seine ganze Arbeitszeit auf chen meine Stelle – anfänglich befristet auf drei Forschung verwenden muss, konnte mir niemand Jahre – in eine Forschungsprofessur umzuwan- wirklich erklären. Es hat dann auch tatsächlich deln, mit Konditionen, die sie mir als „hervorra- niemand ein halbes Jahr zusätzliche Zeit herbeige- genden Deal“ im Interesse meiner Sicherheit und zaubert, das mir im Wintersemester 2015/16 zur des Schutzes meiner Gesundheit zu verkaufen Verfügung gestanden wäre. Und wie es mir in ir- versuchten: Ich solle auf alle meine arbeitsrecht- gendeiner Weise zum Vorteil gereicht hätte, dass lichen Ansprüche, die mir eventuell aus der Ar- ich nicht einen Teil der Kosten der von meiner Uni- beitsüberlastung der letzten Jahre entstanden versität angebotenen Lehrgrabungen privat be- seien, verzichten und mich selbst freiwillig aus zahlen musste, habe ich, ehrlich gesagt, auch nicht der Maximalarbeitszeitbegrenzung der EU-Ar- ganz verstanden. Sei es wie es sei, die anfänglich beitszeitrichtlinie ausnehmen, um die Universität auf drei Jahre befristete Umwandlung meiner Stel- vor rechtlichen Konsequenzen meiner Überarbei- le in eine Forschungsprofessur ging endlich durch. tung zu schützen. Dafür würde ich von der Lehre Sie hielt sogar eineinhalb Jahre, bis diese Än- und Administration weitgehend befreit. „Weitge- derung meines Dienstvertrags aufgrund einer hend“ bedeutete dabei: von aller Lehre außer der „Restrukturierung“ (sprich: Entlassungswelle auf- im MA-Programm und der BA-, MA- und Dokto- grund eines durch Management-Inkompetenz randenbetreuung. Ach ja, und die Lehrgrabungen verursachten Budgetlochs) zu einem einseitigen für unser Institut, die zu dieser Zeit aufgrund Bruch dieses Vertrags durch meinen Dienstgeber einer Änderung in den Ausbildungsstandards führte. Weniger Personal – auch in der Archäo- für archäologische Universitätsstudien (QAA, logie – bedeutete mehr Arbeit für alle. Meine 2014) vorgeschrieben worden waren, sollte ich durchschnittliche Wochenarbeitszeit stand zu auch übernehmen, nachdem ich ja einer der Mit- diesem Zeitpunkt dann auf durchschnittlich 110 autoren dieses Ausbildungsstandards gewesen Wochenstunden. Das sind durchschnittlich 15 ¾ war (Lehrgrabungen übrigens, die ich in den Stunden pro Tag, 7 Tage die Woche, 365 Tage im vorhergehenden Jahren überwiegend auf eige- Jahr, 366 in Schaltjahren. Glücklicherweise kann ne Kosten organisiert hatte, weil ansonsten mei- ich auch mit nur 4-6 Stunden Schlaf funktionie- ne Studierenden keine abgerundete Ausbildung ren, da sind also noch lockere 2 ¼ Stunden pro ohne erhebliche Zusatzaufwände erhalten hätten, Tag für Essen, persönliche Hygiene und den Weg obwohl sie im Vergleich zu vielen europäischen zur und von der Arbeit drin, die glücklicherweise Staaten bedeutende Studiengebühren bezahlen nur 25 Gehminuten von mir daheim entfernt war. mussten). Nachdem diese Lehrgrabungen 320 Ich begann mich zu diesem Zeitpunkt zuneh- Stunden direkte Kontaktzeit mit den Studieren- mend ernsthaft zu beschweren. Ich forderte – den vorsahen, und natürlich die Vor- und Nach- auch über die Gewerkschaft, wo diese dazu bereit bereitung einer archäologischen Ausgrabung er- war, sich für diese Anliegen einzusetzen – ein rea- forderten, kam dies etwa 5-6 vollen BA-Modulen listisches Arbeitszeitmodell, die gesetzlich vorge- in unserem sonstigen Studienprogramm gleich, sehene Aufzeichnung der real geleisteten Arbeits- d. h. praktisch einer vollen Lehrverpflichtung. zeit, und ich begann mich zu weigern, mir noch Dafür versprach mir die Universität großzügiger- dazu unter Umgehung des Dienstwegs zusätzlich weise, dass sie alle Kosten für die Lehrgrabungen, aufgebürdete Arbeiten zu erledigen. Meine Vor- die ich nicht aus von mir selbst eingeworbenen gesetzten argumentierten daraufhin zuerst, dass 3 FAiG 2019: Prekariat und Selbstausbeutung
Raimund Karl mein Dienstvertrag keine Regelarbeitszeit nannte musste ich tatsächlich meine auf die Forschungs- und die von mir genannten Maximalarbeitszeit- projekte verwendete Arbeitszeit in einem Ar- grenzen für akademisches Personal nicht gelten beitszeiterfassungssystem der Universität Bangor würden, weil diese unter die Ausnahmeregel von dokumentieren; dort, wo es also der Universität Art. 17 Abs. 1 EU-Arbeitszeitrichtlinie bzw. Sec- zum Vorteil gereichte, meine Arbeitszeit zu erfas- tion 20 WTR 1998 fallen würden. Diese Ausnah- sen, war sie dazu durchaus imstande. meregelung lautet: Dass diese Ausnahmeregelung auf akade- „(1) Unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des misches Personal nicht anwendbar ist, ist übri- Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Ar- gens nicht nur meine Ansicht: Es gibt vielmehr beitnehmer können die Mitgliedstaaten von den Arti- Judikatur des europäischen Gerichtshofes zu ge- keln 3 bis 6, 8 und 16 abweichen, wenn die Arbeitszeit nau dieser Frage, noch dazu mit Großbritannien wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tä- als unterlegene Partei im ausschlaggebenden Fall. tigkeit nicht gemessen und/oder nicht im Voraus fest- Denn Großbritannien hatte ursprünglich in Sec- gelegt wird oder von den Arbeitnehmern selbst festge- tion 20 der WTR 1998 die Ausnahmeregelung des legt werden kann, und zwar insbesondere in Bezug auf Art. 17 Abs. 1 der EU-Arbeitszeitrichtlinie so aus- nachstehende Arbeitnehmer: gelegt, dass sie auch auf Arbeitnehmer anwend- a) leitende Angestellte oder sonstige Personen mit bar war, deren Arbeitszeit von diesen nur teil- selbstständiger Entscheidungsbefugnis; weise selbst eingeteilt werden konnte. Dagegen b) Arbeitskräfte, die Familienangehörige sind; hatte die Europäische Kommission geklagt und c) Arbeitnehmer, die im liturgischen Bereich von gewonnen, weshalb die WTR 1998 auch entspre- Kirchen oder Religionsgemeinschaften beschäftigt chend abgeändert werden mussten (siehe Com- sind.“ (Art. 17 Abs. 1 EU 2003, 12). mission v United Kingdom,4 7/9/2006, CJEU Natürlich ist diese Ausnahmeregelung auf aka- C-484/04, I-7497-7498, I-7507-7508) und tatsäch- demisches Personal nicht anwendbar: Nicht nur lich von Großbritannien auch abgeändert wur- kann der Mitarbeiter seine Arbeitszeit nicht, je- den. Wörtlich war im Urteil des EuGH zu lesen, denfalls nicht zur Gänze, im Sinne dieser Bestim- dass diese Ausnahmeregelung ausschließlich auf mung selbst festlegen. Und selbstverständlich solche Arbeitnehmer Anwendung finden könne, kann die Arbeitszeit auch gemessen und/oder „deren Arbeitszeit zur Gänze nicht gemessen oder im im Voraus festgelegt werden und wird das zum Voraus festgelegt wird oder vom Arbeitnehmer selbst Großteil auch. Weder kann sich der Mitarbei- bestimmt werden kann“.5 Dies trifft selbst auf aka- ter aussuchen, wann er seine Lehre zu erledigen demisches Personal auf reinen Forschungsposten hat und wie viele Stunden er zu absolvieren hat, nicht zu, geschweige denn auf solches, das auch vielmehr wird ihm dies von seinen Vorgesetzten Lehr- und administrative Aufgaben hat. und der Raumbuchungseinheit der Universität Auch die sonstige Argumentation meiner Vor- eingeteilt. Noch kann er sich Instituts- und ande- gesetzten war – euphemistisch gesprochen – nicht re Sitzungen, Aktivitäten wie Exkursionen, pro- gänzlich im Rahmen der Tatsachen: Zwar war jektbezogene externe und interne Termine etc. es korrekt, dass in meinem Dienstvertrag keine frei einteilen oder zu diesen einfach nicht erschei- konkrete Spezifizierung der wöchentlichen Maxi- nen, sondern diese werden normalerweise von malarbeitszeit vorgenommen wurde. Es stand al- seinen Vorgesetzten eingeteilt. Nicht einmal be- lerdings sehr wohl im Dienstvertrag, dass die Ar- züglich seiner Forschungstätigkeiten hat der aka- beitszeit entsprechend der „working time directive“ demische Mitarbeiter vollständig selbstständige (d. h. EU, 2003 bzw. WTR, 1998) geregelt sei; eine Entscheidungsbefugnis, schon gar nicht jener, Verpflichtung, die auch in der Academic Workload der in extern finanzierten Projekten eingesetzt Policy der Universität wiederholt wurde. Völlig wird: Er hat vielmehr eine von seinem Dienst- abgesehen davon wurde die Regelarbeitszeit für geber mit dem externen Geldgeber vertraglich akademisches Personal auch auf der Webseite vereinbarte Anzahl von Wochenstunden an dem der Personalabteilung der Universität mit 36,25 betreffenden Projekt zu arbeiten und ebenso ver- bis maximal 48 Stunden pro Woche angegeben; traglich vereinbarte Forschungsaufgaben zu er- im offiziellen elektronischen Zeiterfassungssy- füllen und -leistungen zu erbringen und dies zu- stem der Universität konnte akademisches Per- dem auch in Form von zentral geführten und von sonal zu dieser Zeit täglich maximal 7,25 Stun- Dienstvorgesetzten als korrekt abgezeichneten den Arbeitszeit erfassen, d. h. 36,25 Stunden pro Arbeitszeitprotokollen und Leistungsnachweisen Woche; und die Universität verrechnete regelhaft zu dokumentieren. Nachdem ich in diversen ex- externen Geldgebern einen auf einer Wochenar- tern finanzierten Forschungsprojekten tätig war, beitszeit von 36,25 Stunden basierenden Stun- FAiG 2019: Prekariat und Selbstausbeutung 4
(Selbst-?) Ausbeutung im akademischen Betrieb – Ein Erlebnisbericht densatz für die Arbeitszeit von für externe Pro- dem ich sowieso meine auf extern finanzierte For- jekte eingeteiltem Personal. Nicht zu vergessen: schungsprojekte verwendete Arbeitszeit zu do- die Universität hatte ein paar Jahre zuvor von kumentieren hätte, mittels dessen ich meine Ar- mir verlangt, dass ich mich selbst freiwillig von beitszeit nur einmal statt doppelt erfassen könne, den Maximalarbeitszeitbeschränkungen der EU- blieb ebenso unberücksichtigt wie die anlässlich Arbeitszeitrichtlinie ausnehmen solle, hatte also meiner Beschwerde ebenfalls erwähnte, gerade selbst bereits Jahre zuvor anerkannt, dass die EU- durch ein einschlägiges Urteil des EuGH bestä- Arbeitszeitrichtlinie auf mich anwendbar war. tigte gesetzliche Verpflichtung des Dienstgebers, Resultat meiner gut begründeten Beschwer- die tatsächlich geleistete Arbeitszeit alles Perso- den war, dass mir meine Vorgesetzten vorzu- nals mittels eines dafür geeigneten Arbeitszeiter- werfen begannen, ich würde sie mobben, weil fassungssystems zu dokumentieren (Federación ich ihnen gesetzliche Vorschriften und Gerichts- de Servicios de Comisiones Obreras (CCOO) v. urteile zitierte; und das sei Insubordination. Dass Deutsche Bank SAE,6 CJEU 14.5.2019, C‑55/18). ich beim britischen Militär angeheuert hatte, wo Stattdessen wurde mir gesagt, dass ein zwi- einem vorgesetzten Offizier Dienstvorschriften schenzeitlich (über den Verlauf von sieben Jahren zu zitieren eventuell tatsächlich Insubordination zuvor) in die Pilotphase vorangeschrittenes Ar- und somit eine kriegsrechtlich zu verfolgende beitszeitplanungsmodell auf meine Arbeitsbela- Straftat ist, war mir nicht bewusst gewesen; ich stung angewendet worden sei und ergeben hätte, hatte bis dahin geglaubt, als Angestellter mit pri- dass meine Arbeitszuteilung in Summe im Jahr ca. vatrechtlichem Dienstvertrag an einer Universität 1.200 Arbeitsstunden in Anspruch nehmen wür- zu arbeiten. So kann man sich offenbar täuschen. de. Das Problem mit meiner Arbeitsüberlastung Irgendwelche sinnvollen Schritte, um meine sei also allein meine Schuld, weil ich im Gegensatz Arbeitsbelastung zu managen – wie es laut der zu meinen Kollegen nicht ausreichend effizient ar- offiziellen Academic Workload Policy der Univer- beiten würde, um mit meiner Arbeit fertig zu wer- sität Bangor und meines Dienstvertrags die Ver- den. Das ist übrigens eine sehr interessante Ein- antwortung meiner direkten Vorgesetzten, d. h. schätzung der Effizienz eines Wissenschaftlers, des Institutsvorstandes sowie nötigenfalls des der im Jahrzehnt davor bei gleicher Lehrverpflich- Dekans gewesen wäre – wurden nicht gesetzt. tung und gleicher oder größerer administrativer Nicht einmal, als ich meinem Institutsvorstand Belastung allein mehr wissenschaftliche Arbeiten 2018 eine förmliche Beschwerde schrieb, in der publiziert hatte als der Rest seiner Kollegen an ich ihn darauf aufmerksam machte, dass ich in- seinem Institut in Summe und der schon oben zwischen eine durchschnittliche Wochenarbeits- zitierten, öffentlich bekannten Durchschnitts- zeit – gerechnet auf 44,6 Kalenderwochen – von arbeitszeiten im akademischen Sektor (Kinman, 128,25 Stunden hatte und allein in den 4 Jahren 1998; UCU Workload Survey, 2016). Es ist doppelt davor etwa 16.000 Stunden unbezahlte Überstun- verwirrend, wenn man bedenkt, dass mir in allen den geleistet hatte; in der ich übrigens auch wie- jährlichen Mitarbeiterentwicklungsgesprächen der einmal verlangte, meinen gesetzlichen Urlaub bis 2017 – danach wurden regularienwidrig keine genehmigt zu bekommen. mehr mit mir durchgeführt, weil sich die Zustän- Meine daraufhin eingebrachte Dienstaufsichts- digen nicht anhören wollten, dass sie ihren Job beschwerde an den Dekan führte dann dazu, dass nicht ordentlich machten – jeweils herausragende sich dieser bemüßigt fühlte, mir dienstliche Wei- Leistung und Effizienz attestiert wurden. sungen zu erteilen, welche Tätigkeiten und Un- Ich rechnete mir daraufhin mittels des mir von ternehmungen ich in meiner Freizeit und meinem der Gewerkschaft zur Verfügung gestellten, pro- Urlaub zu tun oder zu unterlassen hätte; mir anzu- visorisch akzeptierten Arbeitszeitmodellentwurfs schaffen, dass ich ab sofort die mir zugeteilte Arbeit selbst aus, was sich aus meiner Arbeitszuteilung in maximal 48 Wochenstunden zu erledigen und an Arbeitsstunden ergab und kam damit – wenig das mit ihm wöchentlich abzugebenden Arbeits- überraschend – auf in Summe ca. 2.400 Stunden, zeitprotokollen zu dokumentieren hätte; und mich also ca. 150 % Vollzeit; und das schon unter der zu einem arbeitsmedizinischen Beratungsgespräch Annahme, dass nur 27 % der mir zugeteilten Arbeit zu schicken, um festzustellen, ob ich dienstfähig sei. statt, wie eigentlich vom Arbeitszuteilungsmodell Meine tatsächliche Arbeitsbelastung wurde hinge- vorgesehen, 40-60 % auf Forschung verwendet gen nicht effektiv reduziert, sondern Gespräche da- werden sollten. Würde man stattdessen Letzteres rüber „so bald als möglich“ in Aussicht gestellt. annehmen, wären es sogar 2.933-4.400 Stunden Mein Einwand, dass es ein elektronisches Zei- gewesen. Der zuallerletzt genannte Wert wäre in terfassungssystem an der Universität gäbe, in Anbetracht meiner eigenen Aufzeichnungen, die 5 FAiG 2019: Prekariat und Selbstausbeutung
Raimund Karl für die akademischen Jahre 2015/16 bis 2018/19 der interimistische Rektor noch für angebracht, eine tatsächlich geleistete durchschnittliche Jah- mir in persönlichen vertraulichen Schreiben na- resarbeitszeit von ca. 5.500 Stunden ausweisen, hezulegen, dass ich doch meine Stelle bei der Uni- sogar halbwegs realistisch gewesen. versität Bangor kündigen solle. Die Diskrepanz zwischen der Berechnung Nachdem trotz meiner inzwischen zahlreichen durch die Universität und meiner eigenen ergab Beschwerden auch 2019/20 die Regularien der sich übrigens dadurch, dass die Universität nicht Universität zur Arbeitszuteilung neuerlich nicht die provisorisch mit den Gewerkschaften verein- eingehalten wurden und die neue Dekanin mir barten Stundensätze verwendet hatte, sondern ei- die gänzlich unveränderte Arbeitszuteilung des nen „fachspezifischen“ Stundensatz für mein Insti- Vorjahres „irrtümlich“ als im niemals stattgefun- tut, der mit meinem Institutsvorstand, aber nicht den habenden „Mitarbeiterorientierungsgespräch mit der Gewerkschaft, abgesprochen gewesen vereinbarte Aufgaben“ für dieses Jahr übermit- ist; und in der Berechnung auch noch auf zahl- telte, war meine Geduld beinahe am Ende. Dann reiche mir zugewiesene Aufgaben einfach verges- wurde zu Beginn des Wintersemesters 2020/21 sen hatte. So geht es natürlich auch, wenn man beschlossen, mein Institut neuerlich zu „restruk- (fälschlich) den Anschein erwecken will, dass die turieren“ (d. h. Personal zu entlassen, um das zu erledigende Arbeit in der verfügbaren Arbeits- noch immer bestehende, durch Management- zeit mit dem verfügbaren Personal erledigt wird; Inkompetenz verursachte Budgetloch zu stopfen) selbstverständlich stets exzellent in Weltspitzen- und dabei neuerlich die Archäologie massiv zu qualität, wie es den Studierenden in den Wer- kürzen. War noch drei Jahre zuvor bei der letz- bematerialien der Universität stets versprochen ten Restrukturierung vom Management nach wurde und wird. eingehender Kapazitätsprüfung festgestellt wor- Tatsächlich war an meiner Arbeitszeit mein den, dass 4 Vollzeitstellen zur Aufrechterhaltung eigener Arbeitsethos Mitschuld, mir aufgetra- des Archäo logieunterrichts erforderlich waren, gene Arbeiten ordentlich zu erledigen. Manche sollten nun 2,1 Vollzeitstellen dafür ausreichen, meiner Kollegen arbeiteten einfach schlampig das „exzellente Weltspitzenstudienprogramm“, das oder ließen viele ihrer Aufgaben einfach unerle- wir 5 Jahre davor mit 5,5 Vollzeitstellen angebo- digt, um mit „nur“ 60 Wochenstunden Arbeits- ten hatten, in besserer Qualität als je zuvor anzu- zeit davonzukommen. Wieder andere hingegen bieten. Dass das Betrug an den immerhin £ 9.250 gingen immer häufiger mit Stresserkrankungen, Jahresstudiengebühr zahlenden Studenten ge- Depressionen etc. in den Krankenstand; natürlich wesen wäre, versteht sich von selbst. Als im No- ohne dass es irgendeine Vertretung gab, die ihre vember klar war, dass dieser Schwachsinn nicht Aufgaben übernommen hätte, außer in der Lehre, abzuwenden war und nun mit noch viel weniger für die im Notfall ein Kollege einspringen musste Personal noch mehr Arbeit als zuvor geleistet oder schnell einem Doktoranden ein prekärer Mi- werden sollte, habe ich fristlos gekündigt. Die ni-Lehrauftrag gegeben wurde, der nach Arbeits- Universität hat mir dafür eine saftige Abfindung stunden im Hörsaal (mit Faktor 1,5 gerechnet, um und den Status Emeritus nachgeschmissen, in der Vor- und Nachbereitung sowie Beurteilung „ab- Erwartung, dass ich dafür Schweigen über die zudecken“) bezahlt wurde. Zustände und Umstände wahre, die dort herr- Meine formelle Beschwerde wegen Arbeits schen. Aber nachdem man dort das Prinzip von überlastung und Verstoß gegen diverse Regu- Pacta sunt servanda nicht versteht, fühle ich mich larien der Universität durch meinen unmittel- dadurch auch nicht mehr gebunden als sich die baren Vorgesetzten, die nach den Regularien der Universität Bangor an die Versprechen gebunden Universität binnen zwei Monaten zu behandeln gefühlt hat, die sie mir rechtskräftig gegeben hat. gewesen wäre, blieb trotz mehrfacher Urgenz Die Universität Bangor wollte dann, dass ich mei- meinerseits erst eineinhalb Jahre unerledigt beim ne dortigen Doktoranden als externer Lehrender Dekan – immer noch derselbe eingangs erwähnte weiter betreue, wofür 40 Stunden Arbeitszeit Prof. Edwards – liegen; um dann von einer durch pro Student und Jahr zu einem Stundensatz von seine Nachfolgerin einberufenen Kommission knapp unter £ 24 vorgesehen waren. Das ist üb- weitere vier Monate im Wesentlichen tätigkeits- rigens der Stundensatz für Graduate Teaching los verschleppt und dann infolge meiner frist- Assistants, und genauso unrealistisch bemessen. losen Kündigung im November 2020 unerledigt Das Arbeitszeitmodell der Universität sieht ei- ad acta gelegt zu werden. Zwischenzeitlich erach- gentlich 100 Stunden pro Jahr pro Doktorand vor, teten es aber sowohl mein Institutsvorstand mit was auch in etwa der international und national Unterstützung der Personalabteilung und dann übliche Satz ist. Rechnet man also auf den Sektor- FAiG 2019: Prekariat und Selbstausbeutung 6
(Selbst-?) Ausbeutung im akademischen Betrieb – Ein Erlebnisbericht standard um, dann sind das £ 9,6 pro Stunde für dazu gezwungen hat, die Qualität der von ihnen eine selbstständig erwerbstätige Beschäftigung. geleisteten Arbeit zu senken (Kinman, 1998, 11). Der Stundensatz nach Abzug von Steuern, Kran- Alexander Veling (2021) hat auch sehr bildhaft ken- und Pensionsversicherung, Betriebsmitteln beschrieben, dass man natürlich alle möglichen etc. liegt also – mit dem „full economic cost“-Kalku- Einsparungen bei der Qualität der Arbeit ma- lationsformular der Universität Bangor gerechnet chen kann, um die zu erledigende Arbeit in die – bei ungefähr £ 3,5-4,0 Nettostundenlohn. verfügbare Arbeitszeit zu pressen. Letztendlich Das entspricht etwa dem, was Alexander Veling lässt sich die vermeintlich privilegierte Situation (2021) im 100. DGUF-Newsletter so illustrativ vor- im Bereich der „fest“ angestellten Universitätsan- gerechnet hat, als er (bestenfalls leicht ironisch) vor- gestellten daher sowohl im britischen als auch im geschlagen hat, dass Leergut zu sammeln einem deutschsprachigen Raum mit den Worten eines etwa denselben Stundenlohn einbringen wird. schon von Kinman zitierten, anonym gebliebe- Aber wenn man das Netto-Professorengehalt, das nen Universitätslehrers zusammenfassen: „Wenn ich zuletzt bezogen hatte, durch die etwa 5.500 sich alle streng an eine Arbeitszeit von 9 bis 5 hielten, Stunden Jahresarbeitszeit dividiert, die ich dafür dann könnte die Institution [Universität] einfach nicht zu leisten hatte, dann bleiben auch gerade einmal funktionieren“9 (Kinman, 1998, 10). ca. £ 7,2 pro Stunde7 und damit kaum mehr als man Zweifellos spielt Selbstausbeutung eine bedeu- beim Leergutsammeln verdienen kann übrig. tende Rolle im akademischen Arbeitsleben: 2.500 Ich habe übrigens ein halbes Jahr lang dabei Arbeitsstunden im Jahr hätten sicher gereicht, um mitgespielt, um mir anzuschauen, ob das irgend- keine Nachteile zu erleiden. Natürlich hätte ich wie realistisch machbar ist, wenn man die Dok- dann nichts mehr oder kaum noch etwas publi- toranden auch nur halbwegs ordentlich betreuen zieren können; meine Studierenden hätten deut- will, und dann Bangor einen – neuerlich mit dem lich schlechter oder gar nicht vorbereitete Lehre eigenen „full economic costs“-Kalkulationsformular und keine erwähnenswerte Betreuung mehr be- dieser Universität ausgerechneten – wirtschaftlich kommen; und/oder meine administrativen Auf- realistischen Kostenvoranschlag für die Betreuung gaben wären einfach großteils unerledigt geblie- von 5 Doktoranden im nächsten akademischen ben. Aber nachdem das bei (fast) allen Kollegen Jahr geschickt; dieser beläuft sich auf locker-flo- genauso ist, braucht man keine Konsequenzen ckige £ 46.286,97. Erstaunlicherweise wollte die zu fürchten, wenigstens solange man nicht auf- Universität Bangor nicht einmal annähernd das, muckt. Mehr als das absolute Minimum zu tun, was sie einem Dritten für diese Arbeit verrechnen ist daher nicht notwendig, und wer es dennoch würde (und auch Studierenden, welche die volle tut, beutet sich wenigstens bis zu einem gewissen internationale Doktorats-Studiengebühr von £ Grad selbst aus. 15.500 pro Jahr8 bezahlen müssen, tatsächlich für Das tut allerdings dennoch der Tatsache das Doktoratsstudium verrechnet), einem extern keinen Abbruch, dass der Universitätsbetrieb angeheuerten selbstständigen Wissenschafter be- längst zusammengebrochen wäre, wenn das zahlen. Angeblich sei das „unfair gegenüber dem Universitätsmanagement die gesetzlichen Ar- Rest des Personals“, das weit schlechter bezahlt beitszeitregelungen aktiv anwenden und für ihre wird. Außer natürlich dem Management, das sich Durchsetzung sorgen würde. Das Universitäts- selbst durchaus solche Beträge als Bruttogehalt management weiß das auch ganz genau, wes- bezahlen kann und es auch tut. halb es diese Regelungen nicht umsetzt, sondern Allein im Zeitraum zwischen Juni 2015 und vorsätzlich umgeht bzw. ihre Anwendbarkeit auf Mai 2019 hatte ich etwa 15.600 unbezahlte Über- akademische Mitarbeiter bestreitet. Die einschlä- stunden geleistet; das entspricht etwa 9,5 zusätz- gige Judikatur des EuGH z. B. ist vollkommen lichen Jahren Regelarbeitszeit in einem Zeitraum eindeutig, was die Pflicht des Arbeitgebers zur von 4 Jahren. Statt die Arbeit eines Vollzeitbe- Aufzeichnung der tatsächlichen Arbeitszeit sei- schäftigten hatte ich also das Pensum erledigt, für ner Mitarbeiter betrifft (CJEU 14.5.2019, C‑55/18); das man eigentlich 3,33 Arbeitnehmer anstellen eine Pflicht, von der auch akademische Arbeitge- hätte müssen. Und selbst als ich der Universität ber nicht ausgenommen sind. Dennoch habe ich schon den Rücken gekehrt hatte, wollte sie, dass noch von keiner Universität gehört, weder im ich weiterhin etwa zweieinhalbmal soviel Arbeit britischen noch im deutschsprachigen Raum, die erledige als sie mir – und das noch dazu zu einem wirklich die tatsächliche Arbeitszeit ihrer akade- Hungerlohn – bezahlt. Es ist daher kein Wunder, mischen Mitarbeiter mit einem sachgerechten Ar- dass schon 1998 76 % des befragten akademischen beitszeiterfassungssystem erfasst;10 geschweige Personals angegeben hat, dass Zeitmangel sie denn, dass ich gehört hätte, dass irgendeine da- 7 FAiG 2019: Prekariat und Selbstausbeutung
Raimund Karl von aktive Schritte setzt, wenn ein Mitarbeiter re- Fenster am Universitätsgelände Selbstmord be- gelmäßig die gesetzlichen Maximalarbeitszeiten gehen können, sondern um Unfälle durch unab- überschreitet. Diese gesetzlich erlaubte Maxima- sichtliche Fensterstürze zu verhindern (Deacon, larbeitszeit beträgt, wie schon erwähnt, durch- 2019). Denn für dieses Ersatzproblem lässt sich schnittlich 48 Stunden pro Woche, normalerweise rasch eine billige Lösung implementieren, die gerechnet über einen Zeitraum von 17 Wochen (≈ zwar niemand braucht, aber die man fälschlich 4 Monate). Sie wird regelhaft von einer Mehrheit als vorgeblichen Beweis dafür vorspiegeln kann, der akademischen Mitarbeiter überschritten, wie dass die Universitätsleitung ihre gesetzlichen die einschlägigen Erhebungen zeigen (siehe z. B. Sorgfaltspflichten ernst nimmt. Und damit kann Kinman, 1998; UCU Workload Survey, 2016). die Universitätsleitung das wirklich essenzielle Das Universitätsmanagement nimmt also Universitätspersonal vor den Konsequenzen der wissentlich in Kauf, dass sich eine Mehrheit sei- eigenen Handlungen und Unterlassungen schüt- nes Personals regelmäßig in gesundheitsgefähr- zen, nämlich sich selbst. dendem Ausmaß überarbeitet; insbesondere Derartige Fallbeispiele zeigen, dass eine Ände- Jungakademiker am Beginn ihrer Karriere und rung der Mentalität (nicht nur, aber auch) in Uni- Professoren zu signifikanten Prozentsätzen ex- versitätsleitungen zum Wohl der akademischen trem. Es unternimmt auch absichtlich nichts da- Mitarbeiter und des Zwecks der Universitäten gegen, nicht einmal, wenn sich akademisches (Forschung, Wissenschaft und Lehre) dringender Personal einzeln oder kollektiv darüber (lauthals) notwendig ist denn je. beschwert. Vielmehr folgen allenfalls bestenfalls Alibihandlungen, um sich selbst vor möglichen rechtlichen Konsequenzen des eigenen vorsätz- Anmerkungen lichen Fehlverhaltens zu schützen, zulasten von Sicherheit und Gesundheitsschutz seines akade- 1 https://www.ucu.org.uk/media/8196/Executive- mischen Personals. Dass das Management sich summary---Workload-is-an-education-issue-UCU-wor- kload-survey-report-2016/pdf/ucu_workloadsurvey_ sein Tun damit zweckrationalisiert, dass das alles summary_jun16.pdf, 5-6 [29.7.2021]. nur „zum Wohle der Universität“ und damit mittel- bar vielleicht sogar „zum Wohle der Universitätsan- 2 Wer hier denken möchte, dass die Zahlen im deutschen gestellten“ geschehen würde, weil die Universi- Sprachraum viel besser sind, sollte sich besser keinen Illu- sionen hingeben: Zwar hat eine jüngere vom BMWF geför- tät, die es leitet, sonst unmittelbar ihre Tätigkeit derte Studie in Deutschland ergeben, dass die Arbeitsstun- einstellen und Bankrott anmelden müsste, ändert den von Professoren von durchschnittlich 52 Stunden pro nichts daran, dass das klassisches ausbeuterisches Woche im Jahr 1992 auf 51 im Jahr 2007 und 48 im Jahr 2008 Verhalten ist und die leitenden Organe der Uni- kontinuierlich sinke und auch die von in Teilzeit beschäf- versität, die es zulassen, Vorsatztäter sind – selbst tigten Wissenschaftlern geleisteten Überstunden von 12 pro Woche im Jahr 2007 auf nur mehr 6 im Jahr 2018 zurückge- solche, die ein Jahrzehnt zuvor noch erboste Eu- gangen seien (Schnejderberg & Götze, 2020, 14-15). Andere logien für ihre von der Universität bis in den Tod Studien kommen jedoch zu anderen Ergebnissen, z. B. Weihs missbrauchte Mentoren gehalten haben. et al. (2018) für Deutschland im Jahre 2016 mit zwei unter- Im Februar 2018 beging Dr. Malcom Ander- schiedlichen Schätzmethoden zu einer durchschnittlichen son, ein akademischer Mitarbeiter der Business Wochenarbeitszeit von 56 bzw. 63 Stunden pro Woche für vollzeitbeschäftigte Professoren. Eine Untersuchung der School, am Universitätsgelände der Universität Wochenarbeitszeiten österreichischer Professoren ergab, Cardiff Selbstmord (Jones, 2019). Nicht erst in sei- dass während der Vorlesungszeit 45 % und während der nem Abschiedsbrief, sondern auch in seinen Mit- vorlesungsfreien Zeit immer noch 31 % 51-60 Wochenstun- arbeiterorientierungsgesprächen 2015, 2016 und den arbeiten, 21 % bzw. 12 % 61-70 und 8% bzw. 3% mehr als 2017 hatte er sowohl auf seine massive Überar- 70 Wochenstunden (siehe https://de.statista.com/statistik/ daten/studie/831646/umfrage/arbeitsstunden-von-pro- beitung und durchschnittliche Wochenarbeitszeit fessoren-in-oesterreich/ [27.9.2021]. Es ist also auch für den von 70 bis 80 Stunden als auch darauf hingewie- deutschen Sprachraum davon auszugehen, dass mindestens sen, dass er aufgrund seiner Arbeitsüberlastung die Hälfte der Professoren und akademischen Mitarbeiter an seinen gesetzlichen Jahresurlaub nicht nehmen Universitäten regelmäßig mehr als durch die EU-Arbeitszeit- konnte. Die Reaktion der Universitätsleitung direktive erlaubte durchschnittliche Maximalwochenarbeits- zeit leisten, vermutlich sogar deutlich mehr als die Hälfte. war gegenüber den Medien zu behaupten, dass sie das Wohlergehen ihres Personals enorm ernst 3 https://www.legislation.gov.uk/uksi/1998/1833/con- nehmen würde. Ach ja, und die Universitätslei- tents/made [29.7.2021]. tung hat Fenstersicherungen anbringen lassen, 4 http://curia.europa.eu/juris/showPdf.jsf?text=&docid natürlich nicht etwa, damit keine weiteren akade- =63684&pageIndex=0&doclang=en&mode=lst&dir=&occ mischen Mitarbeiter durch einen Sprung aus dem =first&part=1&cid=967898 [30.7.2021]. FAiG 2019: Prekariat und Selbstausbeutung 8
(Selbst-?) Ausbeutung im akademischen Betrieb – Ein Erlebnisbericht 5 „whose working time as a whole is not measured or predeter- QAA (2014). Subject Benchmark Statement: Archaeology. mined or can be determined by the workers themselves” (Com- Gloucester: The Quality Assurance Agency for Higher mission v United Kingdom, 7/9/2006, CJEU C-484/04). Education. 6 http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf? Schneijderberg, C. & Götze, N. (2020). text=&docid=214043&pageIndex=0&doclang=EN&mode Organisierte, metrifizierte und exzellente =req&dir=&occ=first&part=1&cid=7740630 [30.7.2021]. Wissenschaftler*innen. Veränderungen der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen an Fachhochschulen und 7 Der offizielle Mindestlohn – euphemistisch „living-wa- ge“ genannt – liegt im UK (außerhalb Londons) übrigens Universitäten von 1992 über 2007 bis 2018. (INCHER derzeit bei £ 8,91 (https://www.gov.uk/national-mini- Working Paper Nr. 13). Kassel: Universität Kassel mum-wage-rates [1.8.2021]). https://www.wihoforschung.de/_medien/downloads/ Schneijderberg_Go%CC%88tze_2020_INCHER_ 8 Rechnet man übrigens einen Betreuungsanspruch im Working_Paper_13.pdf [27.9.2021]. Umfang von 40 Stunden pro Jahr, ergibt sich bei einer no- minellen Jahresarbeitszeit eines akademischen Mitarbeiters Veling, A. (2021). Praxistipp für von 1.650 Stunden, dass ein Mitarbeiter theoretisch bis zu Nachwuchswissenschaftler: Leergutsammeln zur ca. 40 Doktoranden gleichzeitig betreuen könnte, wenn er Finanzierung von Lehraufträgen. DGUF-Newsletter keine anderen Aufgaben übernommen hat. Nachdem die Nr. 100 vom 12.5.2021, 79: https://dguf.de/fileadmin/ Studiengebühr internationaler Doktoratsstudierender (we- user_upload/Newsletter-Archiv/dguf-dok_100_ nigstens angeblich) die „realen“ Kosten eines Doktoratsstu- newsletter_2021-05-12.pdf [30.7.2021]. diums reflektiert, weil internationale Doktoranden nicht durch britische staatliche Mittel gefördert werden, bedeu- Weihs, C., Hernández Rodíguez, T., Doeckel, M., tet das, dass 40 Doktoranden der Universität (angeblich) Marty, C. & Wormer, H. (2018). Arbeitszeiten von Kosten in Höhe von £ 620.000 verursachen. Einem selbst- Professorinnen und Professoren in Deutschland 2016. ständigen externen Betreuer würde die Universität für den AstA Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv, 12, dabei anfallenden Betreuungsaufwand (exakt) £ 38.256 135-177. https://link.springer.com/article/10.1007/ (bzw. 6,17 % der Studiengebühren) zahlen wollen. Woraus s11943-018-0227-y [27.9.2021]. der Universität die zusätzlichen £ 581.744 an „realen wirt- schaftlichen Kosten“ dafür entstehen, lässt sich nicht nach- vollziehen, ist doch die wissenschaftliche Unterstützung durch einen kompetenten Betreuer die hauptsächliche Lei- Über den Autor stung, welche „die Universität“ dem Doktoranden erbringt. Raimund Karl promovierte 2003 in Ur- und Früh- geschichte an der Universität Wien, wo er seit 9 „If everybody worked strictly on a 9-5 basis, the institution simply could not function.“ (Kinman, 1998, 10). 2006 auch für das Fach keltische Altertumskunde habilitiert ist. Schon 2001 ging er zuerst auf eine 10 Obwohl das in modernen, IT-unterstützten Zeiten leicht Forschungsstelle am Centre for Advanced Welsh möglich ist und (auch teilweise von Universitäten, z. B. bezüg- and Celtic Studies in Aberystwyth nach Großbri- lich der Angestellten im nicht-akademischen Bereich wie Ge- bäudewartung, Sekretariat, Technik etc.) bereits getan wird. tannien. Dort wechselte er 2003 an die Universität Bangor, wo er 2008 zum ordentlichen Professor für Archäologie und Denkmalpflege befördert Literatur wurde und 2020 sein Dienstverhältnis aufgrund persistenter Überarbeitung aufgelöst hat und nun Deacon, T. 2019. Cardiff University lecturer hits out dort Emeritus Professor ist. Seit Dezember ist er at insulting ‘suicide locks’ put on windows after als freiberuflicher Wissenschaftler und privater tutor’s death. Wales Online, 3.3.2019: https://www. Fachgutachter in Gerichtsverfahren zu Denkmal- walesonline.co.uk/news/wales-news/cardiff- rechtsfragen tätig. university-lecturer-hits-out-15907286 [31.7.2021]. EU (2003). Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Prof.emer. PD Mag.Dr. Raimund Karl Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 FSA FSAscot MCIfA über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung. Streitmanngasse 14 Amtsblatt der Europäischen Union L 299, 9-16: https:// 1130 Wien eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri= Österreich CELEX:32003L0088&from=EN [29.7.2021]. raimund.karl@univie.ac.at Jones, C. H. (2019). Lecturer’s widow hits out at Cardiff University workload. BBC News, 20.2.2019: https:// https://orcid.org/0000-0001-5832-8656 www.bbc.com/news/uk-wales-47296631 [31.7.2021]. Kinman, G. (1998). Pressure Points. A survey into the causes and consequences of occupational stress in UK academic and related staff. London: Association of University Teachers. 9 FAiG 2019: Prekariat und Selbstausbeutung
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