SERIOUS GAMES - EINE KRITISCHE ANALYSE - KLAUS P. JANTKE, IFMK DER TU ILMENAU
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Serious Games – eine kritische Analyse Klaus P. Jantke, IfMK der TU Ilmenau Abstract: Große Verlage, erfahrene Produzenten und kreative Entwicklerstudios investieren in „Serious Games“ – was dabei heraus kommt, treibt einem oft die Tränen in die Augen. Gute Spiele mit der gewünschten Wirkung zum Beispiel im schulischen Lernprozess sind rar. Dieser Beitrag beruht auf einer Analyse von sechs digitalen Spielen und einer umfangreichen Erörterung weiterer als „Serious Games“ bezeichneter Spiele. Qualitative Defizite solcher Spiele werden herausgearbeitet und an einzelnen Beispiel illustriert, um Impulse für künftig bessere Spiele zu geben. Mädchen sind doof Es ist erschütternd zu sehen, was Entwickler und Verlage heute für Erfolge im Bereich der sogen. Serious Games halten und was Journalisten darüber reflektieren. Der Verlag bhv hat jüngst Spiele unter dem Titel „Mission: Wissen!“ auf den Markt gebracht, die sich – wie man lesen kann [16] – differenziert an Jungen und Mädchen der 5., 6. und 7. Klassen wenden, basierend auf einem didaktischen Konzept. Abb. 1: Mission: Wissen! – ein Spiel mit vermeintlich didaktischem Konzept – sagt zumindest die Fachpresse Laut Hersteller, verbreitet durch die Zeitschrift c’t vom 11.06.2007, Seite 214, „unterscheiden sich die Versionen beim didaktischen Konzept. Tatsächlich quittiert die Schüler-Variante falsche Eingaben mehrfach mit der Aufforderung, es noch einmal zu versuchen, bevor eine knappe Hilfestellung zur Verfügung steht – die Mädchen können gleich in der Hilfe nachschauen.“ [16] Jetzt weiß man endlich, was Spieleentwickler, Verlage und zumindest manche Journalist(inn)en für didaktische Konzepte halten. Auf dieser Grundlage ist es leicht, Serious Games geschlechtsspezifisch auszurichten, immer im Hinterkopf die medienpädagogische Grunderkenntnis: Mädchen sind doof. Wenn die Welt der digitalen Spiele im Bereich der Serious Games im Sommer 2007 solche Blüten treiben kann, gibt das Anlaß, die wissenschaftlichen Bemühungen um Spiele mit didaktischem Wert zu verstärken. Der vorliegende Artikel soll dazu einen kleinen Beitrag leisten und mit einer Analyse der Grundprobleme beginnen, aufbauend auf vorangehenden Arbeiten des Autors [7,8].
Lernen tun wir sowieso Was immer jemand für Spielen hält – es hat mit Lernen zu tun [11,13]. Worum also geht es eigentlich? Es geht zunächst nicht um Lernen durch Simulation bzw. anhand von Simulation und daher auch nicht um die hunderte Spiele, mit denen man anhand von Simulationen lernen kann [1]. Nach Auffassung des Autors ist dieses Gebiet nicht neu, sind zahlreiche Ergebnisse – vorsichtig gesagt – naheliegend und die Fragestellungen kaum erregend. Seit Menschen mehr oder weniger gute Modelle von Aus- schnitten der Realität konstruieren können, gelingt es mit diesen Modellen, Wissen zu vermitteln. Gut, das soll man weiter tun. Wer Lust dazu hat, möge darüber forschen. Aber als zentrales Thema des Lernens mit digitalen Spielen taugt es wenig. Die wirklichen Probleme liegen ganz woanders. Nebenbei bemerkt, Simulation ist genau die Art von Lernen durch Spielen, die das zentrale Problem der Situierung von Lernen, wie es John Seely Brown, Allan Collins und Paul Duguid ansprechen [4], gerade nicht löst: „The idea that most school activity exists in a culture of its own is central to under- standing many of the difficulties of learning in school.“ Aber darauf kommen wir weiter hinten zurück. Es soll in diesem Beitrag darum gehen, das im Spiel- erlebnis enthaltene enorme Potential des Lernens auszu- schöpfen, ohne das Spielerlebnis zu zerstören und ohne wiederum eine schulartige Situierung einzustellen, wie sie zu Recht beklagt wird [4]. Der Autor hat seit Anfang 2006 seine Sicht auf das Spiel- verhalten von Menschen publiziert (z.B. [10]), die hier in Abbildung 1 wiedergegeben ist und nur kurz unter dem Blickwinkel dieser Publikation andiskutiert werden soll. Abb. 1: Menschliches Spielverhalten (nach [10]) Kenner werden die Anlehnung an Jürgen Fritz [6] sehen. Entscheidend für ein ergreifendes Spielerlebnis ist die Balance von Unbestimmtheit und Selbst- bestimmtheit; wer jemals selbst ein Spiel geschaffen hat, weiß das. Nach der großen Spielidee geht viel Mühe drauf für das, was in der Branche „balancing“ genannt wird. Da Spieler in unterschiedlichen Kontexten spielen, erleben sie diese Balance ganz verschieden. Was für den einen ambitioniert ist, mag dem anderen langweilig erscheinen. Wenn man aber ein spannendes Spiel gefunden hat, nicht zu einfach, nicht zu schwer – das kann am Gegner liegen, am Zufall, an der „Spielmechanik“ usw. – dann macht es richtig Spaß. Und das, was Spaß macht, bringt Raph Koster [11] – konsistent mit neurophysiologischen Erkenntnissen [13] – in einen Zusammenhang mit Patterns. (Der Pattern-Begriff geht zurück auf Christopher Alexander [2], zunächst in der Architektur, dann in der Theoretischen Informatik, schließlich im Software Engineering fruchtbar im Einsatz; dem kann hier nicht nachgegangen werden.) Jedes Spiel, das spielbar ist, enthält Instanzen von sich wiederholenden Mustern, Patterns genannt. Diese erlernt ein Spieler meist unwissentlich und bekommt so das Spiel mehr und mehr in den Griff – die Faszination des Lernens und der Beherrschung des Spiels (Control/Learning in Abbildung 1). Was im Spiel Freude macht, ist zum großen Teil Freude am Lernen. Ein weiterer Beleg für das Lernpotential digitaler Spiele ist deren Suchtpotential. Auch wenn Wissen- schaftler noch darüber streiten mögen, in welchem Maße Spielsucht der stofflich bedingten Sucht gleichzusetzen ist, besteht doch kaum Zweifel daran, dass viele Menschen Erlebnisse, die ihnen Freude machen, wiederholen wollen. Jedes gute Spiel hat Suchtpotential. Aber digitale Spiele sind natürlich kein Allheilmittel, das auf magische Art und Weise den Frust der Schule in pure Lust verwandelt. Was läßt sich überhaupt mit Hilfe digitaler Spiele lernen? Eine Antwort kann hier nicht gegeben werden, wohl aber ein Hinweis in eine Denk- und Arbeitsrichtung, die bisher weitestgehend übersehen wurde: das Verhältnis von Realität und Virtualität. Die Arbeit [9] fokussiert dieses Thema, auch in bezug auf digitale Spiele. Wenn mein Avatar – z.B. Lara Croft in TOMB RAIDER – im Spiel schwimmt, dann ist das nur virtuelles Schwimmen, kein reales. Schwimmen kann man in digitalen Spielen nicht lernen. Wenn man in WORLD OF WARCRAFT in seiner Gilde kooperiert, dann ist das reale Kooperation. Zum Lernen von Kooperation sind Spiele geeignet. Wenn man in einem First-Person-Shooter (FPS) wie CALL OF DUTY oder MEDAL OF HONOR zielt, dann ist das reales Zielen; das kann man im Spiel lernen. Aber ist das Töten im Spiel real oder nur virtuell. Was wird dabei in einem FPS gelernt? Erklärt die Balance von Realität und Virtualität, was lernbar ist?
Spiele zum Lernen – eine Analyse Die in der folgenden Tabelle aufgelisteten Spiele sind schon in [8] durch den Autor im Detail analysiert und in [7] systematisch besprochen worden. Der vorliegende Beitrag soll über die bisherigen Erörte- rungen hinaus gehen, allerdings im Rahmen des vorgegebenen Umfangs. Spiel Vertrieb Jahr Physikus HEUREKA Klett 1999 Biolab HEUREKA Klett 2001 Brand im Hafen HEUREKA Klett 2002 Chaos am Set HEUREKA Klett 2002 GENIUS Unternehmen Physik Cornelsen Software 2004 GENIUS Task Force Biologie Cornelsen Software 2005 Tabelle 1: ausgewählte Serious Games auf dem deutschen Markt Erstaunlicherweise gibt es nicht wenige digitale Spiele, die gar nicht den Anspruch erheben, als “Serious Games” zu gelten, und die dennoch in vieler Hinsicht besser sind als solche, die unter der schweren Last, didaktisch wertvoll sein zu sollen, das Licht der Welt erblickt haben (vgl. Abbildung 2). Abb. 2: FABLE – Der Autor (sein Avatar) empfängt seine Belohnung für seine erste gute Tat. Im digitalen Spiel FABLE, in dem der Autor den in Abbildung 2 gezeigten Screenshot gemacht hat, um die Belohnung für seine erste gute Tat zu dokumentieren, steht man als Spieler aus dem Spielverlauf heraus vor unzähligen Entscheidungen, die den virtuellen Charakter der virtuellen Persönlichkeit in dieser virtuellen Welt prägen – unaufdringlich lehrreich. Ähnlich (und auch ganz anders) ist es in Spielen wie BLACK & WHITE und FAHRENHEIT. Alle Pädagogen, die sich über sogen. Serious Games äußern, sollten zumindest diese drei Spiele gespielt haben – uns bliebe manches erspart. Interessanterweise sind zumindest FABLE und FAHRENHEIT, auch wenn sie zunächst als Point & Click Adventures daher kommen, gleichzeitig Rollenspiele. Das wird von unterschiedlichen Spielertypen verschieden wahrgenommen und kann, nach des Autors Erfahrung, zu hitzigen Debatten führen, von denen eine schon in der Frage gegipfelt hat, ob auch „Tuning Games“ Rollenspiele wären. Das spannende Lernpotential von Rollenspielen geht aber über den Anspruch dieses Beitrags hinaus.
Beginnen wir die Analyse mit PHYSIKUS, einem Spiel in einer romantischen und irgendwie knuffigen Welt, die es zu retten gilt. Dazu ist physikalisches Wissen erforderlich, wird dem Spieler weisgemacht. Abb. 3: Die Welt von PHYSIKUS Abb. 4: Der Charme des Lernens in PHYSIKUS Leider zerfällt die virtuelle Welt von Physikus in eine Spielwelt und eine Lernwelt. Der rechte hintere Screenshot in Abbildung 3 zeigt einen Apparat, den man anwerfen muß, um sich mit der Mission vertraut zu machen, in der man unterwegs ist. Bei dieser Gelegenheit erhält der Spieler das „Lehrmaterial“. Dieses ist dann in Lektionen gegliedert (hinterer linker Screenshot in Abbildung 4), welche so anregende Namen tragen wie „Elektrizitätslehre“. Andere Spiele, beispielsweise BRAND IM HAFEN, versuchen es ein wenig verschämter. Lerninhalte werden zum Beispiel in Büchern gefunden, die man in einem Büro entdecken kann. Abb. 5: BRAND IM HAFEN – ein Schaltkreis ist zu schließen, um eine Tür öffnen zu können. Ungeachtet dessen sehen die zu lösenden Aufgaben dann aus wie Versuchsaufbauten in der Schule (vgl. Abbildung 5). Man sollte meinen, dass Spieleentwickler und Verlage im Laufe der Zeit dazu lernen, insbesondere Verlage wie Klett und Cornelsen. Springen wir vom ältesten Spiel in unserer Liste (vgl. Tabelle 1) zum jüngsten: TASK FORCE BIOLOGIE und sehen wir, ob das wirklich der Fall ist. Zwischen beiden Spielen liegen 6 Jahre. Im ersten Teil des digitalen Spiels TASK FORCE BIOLOGIE hat der Spieler die Aufgabe, im Auftrag der UNO ein verwüstetes Stück Savanne zu renaturieren. Da das Anfangskapital dafür nicht ausreicht, gehört zum Spielen der Aufbau einer virtuellen Wirtschaft, in der, sofern man geschickt spielt, genug Überschuß erwirtschaftet wird, um die Renaturierung voran zu bringen. Ab und an werden dem Spieler Aufgaben gestellt. Im Fall der richtigen Lösung verbessern sich die Einnahmen. Aber die Aufgaben sind an den Haaren herbeigezogen und haben nicht wirklich mit dem Spiel zu tun. Um zu spielen, braucht man keine einzige dieser Aufgaben zu lösen. Abbildung 6 illustriert den Erfolg des Autors, der die Renaturierung zu Ende gebracht hat, ohne eine einzige der Aufgaben auch nur anzusehen. Spielen und Lernen haben nichts miteinander zu tun.
Abb. 6: Erfolg im Spiel TASK FORCE BIOLOGIE – 100% Renaturierung, ein gefülltes Konto … und nichts gelernt Im Spiel Task Force Biologie (Zum Glück ist das kein Spiel im Fach Deutsch, so dass niemand auf die Idee kommt, über die Namensgebung des Spiels nachzudenken und z.B. zu Fragen, in welcher Sprache diese Zeichenketten wohl zu lesen wäre; offenbar besteht die allgemeine Hoffnung, Schüler würden ohnehin nicht mehr so weit denken, soweit zumindest hätte es die Schule schon gebracht.) zeigt eine Art „Personal Digital Assistant“ rechts im Bild (siehe Abbildung 6) die wichtigsten Daten an. Ganz unten sieht man den erreichten Grad der Renaturierung. Vor dem Dollar-Zeichen steht der aktuelle virtuelle Kontostand. Oberhalb davon sieht man die in den 5 Lernbereichen erzielten Punkte. Hier sind es jeweils 0 Punkte. Dieses Spiel – als Lernspiel betrachtet – ist eine absolute Katastrophe. Man kann spielen, ohne den Entwicklern bei einer einzigen ihrer Lernaufgaben auf den Leim zu gehen. Spieleentwickler, die so etwas bemerken, steuern natürlich dagegen. Wer jetzt glaubt, nun hätte endlich die Stunde der Mediendidaktik geschlagen, der hat weit gefehlt. Cornelsen Software beweist, dass es noch schlimmer geht. Im Spiel UNTERNEHMEN PHYSIK hat der Spieler die Aufgabe, mit einem kleinen Unternehmen, einer Firma zur Herstellung von Fahrrädern, zu beginnen und sich zum wohlhabenden Unternehmer zu entwickeln. Zu den Aufgaben in dieser virtuellen Ökonomie gehört, seinen Arbeitern Häuser zu bauen, selbst wenn man nur ein Unternehmen hat, welches 10 Fahrräder pro Woche herstellt. Die Seite des Lernens über soziale Zusammenhänge sollte man also tunlichst vergessen. Im Hintergrund dieses Spiels läuft eine Wirtschaftssimulation, deren Details unter keinen Umständen dem Spieler verständlich sein können. Schon hier entsteht die Frage, ob das ein Charakteristikum von Didaktik sein muß. Wirklich schlimm ist, dass diese Wirtschaftssimulation in einem ganz elementaren Sinn unfair ist. Was auch immer man tut, wenn man nur spielt, wird man in den Ruin getrieben. Ist das ein Versehen? Nein, das ist ein didaktisches Konzept. Wer bankrott geht, muß eben zur Strafe lernen. Im Spiel stellt sich das derart dar, dass man in allergrößter Not eine Lernaufgabe lösen kann. Tut man das erfolgreich, wird man mit virtuellem Bargeld belohnt. Nur so kann man UNTERNEHMEN PHYSIK durchspielen. Es ist schon kraß: Lernen gehört nicht zum Spiel, sondern ist – auch aus Sicht der Ent- wickler – ein notwendiges Übel, um spielen zu dürfen. Im Spiel UNTERNEHMEN PHYSIK kann man nicht, wie in TASK FORCE BIOLOGIE, erfolgreich zu Ende spielen, ohne Lernaufgaben gelöst zu haben, nicht aber, weil man das Wissen etwa bräuchte. Nein! Weil man zum Aufgabenlösen gezwungen wird.
Derart krude stellt sich Didaktik in digitalen Spielen heute dar; aber es kann noch schlimmer kommen. Dass Lernen nicht etwa zum Spielerlebnis gehört, dass nicht etwa spielerisch gelernt werden soll, sondern dass Lernen das ist, was man dummerweise tun muß, wenn man nicht weiterspielen darf, wird in Einzelfällen den Spielern ausdrücklich unter die Nase gerieben. Abb. 7: Die weiße Textzeile im oberen Teil des Bildes ist nicht etwa von Autor eingefügt worden, sondern erscheint im Spiel UNTERNEHMEN PHYSIK immer dann, wenn man sich mit Lerninhalten beschäftigt. Lernen ist eben nicht Spielen. Die Didaktiker versäumen nicht, das herauszustreichen. Neben diesem Zerfallen des Erlebnisangebots in Spielen einerseits und Lernen andererseits, wie hier geschildert, besteht ein weiteres Problem des didaktischen Ansatzes dieser Spiele darin, dass nur in Ausnahmefällen das Wissen, das man erwirbt oder das man unter Beweis stellen kann, auch gebraucht wird. Eine der seltenen positiven Ausnahmen findet sich im Spiel BRAND IM HAFEN. Der Avatar des Spielers ist in einem Schiff eingeschlossen und sieht sich einer Tür mit Code-Schloß gegenüber. Um die Tür zu öffnen, muß man einen Code kennen – das Wort „NEBULA“. Aber wie soll man darauf kommen? Wenn sich der Avatar des Spielers in einem bestimmten Raum im Schiffsrumpf befindet, kann er – nicht der Avatar, der Spieler natürlich – durch ein Bullauge Lichtsignale sehen. Diese erweisen sich als Morsezeichen des Codes. Wer darauf kommt, sich die Lichtzeichen zu notieren, der kann even- tuell das Wort lesen, sofern er das Morsealphabet beherrscht. In einem anderen noch zugänglichen Raum im Schiffsrumpf hängt zur Unterstützung eine Übersicht des Morsealphabets an der Wand. Diese Wand ist virtuell genau so wie der Raum und das ganze Schiff, aber das Morsealphabet ist real und kann darum hier zumindest in Teilen gelernt und benutzt werden. Wer nicht auf diese Idee kommt, für den geht das Spiel hier nicht weiter. Das Wissen wird tatsächlich gebraucht. Wenn man dagegen in TASK FORCE BIOLOGIE ein Mikroskop zusammenbaut, dann hat das mit dem Spiel nicht wirklich etwas zu tun. Dem Spieler werden nach der erfolgreichen Lösung der Aufgabe zwar größere virtuelle Geldbeträge auf seinem virtuellen Konto gutgeschrieben, aber das Ganze hinterläßt den bitteren Nachgeschmack, dass man eben nicht des Inhalts wegen lernt. Soweit haben wir in diesem Abschnitt explizite Lernaufgaben untersucht. Sehr viel Lernen findet aller- dings in unserem Leben eher en passant und unwissentlich statt. Das menschliche Gehirn hat sich im Verlaufe der Evolution zu einem hocheffektiven Mechanismus entwickelt, der Muster schon aus recht unvollständiger Information zu erkennen in der Lage ist. Was lernt man denn in Spielen so nebenbei?
Reisen bildet Schon im Alltag ist uns der erhobene Zeigefinger, der die Belehrung unterstreicht, die uns zugute kommen soll, im allgemeinen unangenehm. Damit gelernt wird, muß die Aufgaben zu lernen nicht expliziert werden. Man lernt nicht dadurch besser, dass man darauf gestoßen wird. “One of the particularly difficult challenges for research, (which exceptional teachers may solve independently) is determining what should be made explicit in teaching and what should be left implicit. A common strategy in trying to overcome difficult pedagogic problems is to make as much as possible explicit. Thus, we have ended up with wholly inappropriate methods of teaching.” [4] Gute Ansätze zum Lernen mit digitalen Spielen lassen den erhobenen Zeigefinger besser stecken, auch wenn es den Pädagogen schwer fällt. Eventuell lernen Spieler aus digitalen Spielen sehr viel sozusagen en passant. Wenn wir das ernst nehmen, müssen wir uns fragen, was da eigentlich so alles an Wissen, Fähigkeiten und Einstellungen erworben werden kann, wenn Spieler virtuelle Welten bereisen. Reisen bildet. Richard Bartle, einer der Väter digitaler Rollenspiele (mit Roy Trubshaw Autor von MUD1, dem ersten digitalen “Multi User Dungeon”), hat formuliert: „At the persona level of immersion, the virtual world is just another place you might visit, like Sydney or Rome. Your avatar is simply the clothing you wear when you go there. There is no more vehicle, no more separate character. Its just you, in the world.“ (zitiert nach Mark Wallace [15]) Reisen bildet: In vielen digitalen Spielen – PARAWORLD ist ein typischer Repräsentant – lernen Spieler, dass es einmal eine Zeit gab, in der Menschen und Saurier gleichzeitig die Erde bevölkert haben. Wer sich in die virtuelle Welt der FPS begibt, kann in der Mehrzahl der Fälle etwas über den II. Welt- krieg lernen. Hier seien CALL OF DUTY und MEDAL OF HONOR stellvertretend genannt, die in der Arbeitsgruppe des Autors intensiver untersucht worden sind. Es prägt sich ein, dass der II. Weltkrieg im wesentlichen wohl im Sommer 1944 begonnen hat und zum größten Teil in der Normandie statt- gefunden hat. Reisen bildet. Das Bildungspotential im Spiel ist besonders hoch, wenn attraktive Dokumente Wissen bereitstellen. Abb. 8: SYBERIA – Ein Dokument berichtet, im Kontext des Spiels, eine Begegnung mit dem preußischen Kaiser. Im Spiel SYBERIA erfährt der Spieler in einem eindrucksvoll aufgemachten Dokument, das für den Spielverlauf wichtig ist und daher Autorität ausstrahlt, vom preußischen (!) Kaiser.
Ausblick Richard Van Eck [14] zitiert James Gee mit einer ambitionierten Vision, die er im Internet gefunden hat und die darin besteht, digitale Spiele zu „Expertensystemen“ aufzublähen und den ganzen Apparat der konventionellen Künstlichen Intelligenz in Spielen unterzubringen. Daran kann man glauben … oder auch nicht. Vielleicht sollten wir in digitalen Spielen zuallererst einmal das verstehen zum Lernen einzusetzen, was schon in ihnen steckt und vorsichtig damit sein, zuviel Unfug (siehe Abbildung 8) zu verstecken. Literatur [1] Clark Aldrich, Simulations and the Future of Learning: An Innovative (and Perhaps Revolutionary) Approach to E-Learning, Wiley & Sons, 2003. [2] Christopher Alexander, The Timeless Way of Building. New York: Oxford University Press, 1979 [3] Staffan Björk and Jussi Holopainen, Patterns in Game Design. Hingham, MA, USA: Charles River Media, 2004. [4] John S. Brown, Allan Collins and Paul Duguid, Situated Cognition and the Culture of Learning. Educational Researcher, Vol. 18 (1989), No. 1, pages 32-42. [5] Greg Costikyan, I have no Words & I Must Design. in: The Game Design Reader. A Rules of Play Anthology, K. Salen and E. Zimmerman (eds.), The MIT Press, 2005, pp. 192-211. [6] Jürgen Fritz, Das Spiel verstehen: Eine Einführung in Theorie und Bedeutung. Weinheim & München: Juventa, 2004. [7] Marion Irmer und Klaus P. Jantke, Edutainment: Lernen und Spaß – Funktioniert das? in: K. P. Jantke, K.-P. Fähnrich und Wolfgang S. Wittig, Herausgeber, Digitale Spiele: Herausforderung & Chance, Boizenburg: WHV, 2007. [8] Klaus P. Jantke, Digital Games That Teach: A Critical Analysis. Diskussionsbeiträge 22, TU Ilmenau, IfMK, August 2006. [9] Klaus P. Jantke, Virtual Knowledge as Virtual Goods. in: K. Nag, A. Badii and P. Bellini, editors, Axmedis 2006, Proceedings of the 2nd International Conference on Automated Production of Cross Media Content for Multi-Channel Distribution, Firenze University Press, 2006, pages 179- 184. [10] Klaus P. Jantke, Knowledge Media Science & Intelligence in Digital Games (Invited Keynote). in: Yuzuru Tanaka, editor, Proceedings of the 4th International Symposium on Ubiquitous Knowledge Network Environment, March 5-7, 2007, Sapporo Convention Center, Sapporo, Japan, Volume of Keynote Speaker Presentations, 2007, pages 55-61. [11] Raph Koster, A Theory of Fun for Game Design. Scottsdale, AZ, USA: Paraglyph Press, Inc., 2005 [12] Bruce Philips, Talking About Games Experience – A View from the Trenches. Interactions Sept./ Oct. 2006, pp. 22-23. [13] Manfred Spitzer, Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Spektrum Akademischer Verlag, 2002. [14] Richard Van Eck, Building Artificially Intelligent Learning Games. in: D. Gibson, C. Aldrich and M. Prensky, editors, Games and Simulations in Online Learning, Hershey, PA, USA, IDEA Group, 2006. [15] Marc Wallace, In Celebration of the Inner Rouge. The Escapist no. 30, 2006, pages 4-6. [16] Dorothee Wiegand, Mission: Wissen! Klasse 5. c’t 13 (2007), 11.06.2007, S. 214. Autorenangaben Prof. Dr. Klaus P. Jantke Technische Universität Ilmenau Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft e-Mail: jantke@meme.hokudai.ac.jp
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