Optimal verfehlt! Dem Phänomen Selftracking bildungsphilosophisch nachgedacht
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PR 2021, 75. Jahrgang, S. 181-188 © 2021 Thomas Damberger - DOI https://doi.org/10.3726/PR022021.0014 Thomas Damberger Optimal verfehlt! Dem Phänomen Selftracking bildungsphilosophisch nachgedacht 1. Überwindung von Seele in die sich öffnende und anwesende Unbestimmtheiten Offenbarkeit der Seele eines Gegenübers, die als lebendiger Spiegel fungiert. Das Phänomen Selftracking zielt darauf Man geht heute davon aus, dass So- ab, Körperfunktionen, Verhaltensweisen, krates, der im 5. Jh. v. Chr. lebte, selbst emotionale Befindlichkeiten etc. zu er- nichts schriftlich hinterlassen hat – ganz fassen und aufzubereiten. Dies geschieht im Gegensatz zum Philosophen und römi- aktuell vor allem mithilfe digitaler Techno- schen Kaiser Mark Aurel (2. Jh. n. Chr.), logie, beispielsweise durch Smartwatches dessen Selbstbetrachtungen als Reflexio- und Fitnessarmbänder, die mit entspre- nen des eigenen Selbst (auch) zum Zwe- chenden Sensoren ausgestattet sind und cke der Selbsterkenntnis dienen sollten.3 mit Smartphone-Applikationen gekoppelt Im Gegensatz zu der von Sokrates präfe- werden. Die z.T. automatisch erfassten, rierten Form der Selbsterkenntnis bedurfte teils aber auch gezielt eingegebenen Daten es bei Aurel weniger eines anderen Men- dienen als Grundlage zur Erstellung eines schen, sondern vielmehr der Ruhe und möglichst umfassenden digitalen Abbildes des Nachdenkens. – eines Quantified Self, dessen Sinn und Nicht zu Unrecht könnte man aus heu- Zweck der US-amerikanische Redakteur tiger Perspektive anführen, dass sowohl Gary Wolf mit den Worten „self knowled- Sokrates als auch Mark Aurel auf eine ge through numbers“1 umschreibt. ausgesprochen unexakte Form der Selbst- Mehr Wissen über sich selbst, man erkenntnis gebaut haben. Im Sich-Öffnen könnte auch sagen: mehr Selbsterkenntnis im Zuge der Begegnung mit einem ande- zu erlangen, kann im Kontext einer Tradi- ren Menschen das Eigene in Erfahrung tion der Selbstsorge verstanden werden, zu bringen, scheint Unbestimmtheiten die mindestens bis in die griechische An- billigend in Kauf zu nehmen. Aber auch tike zurückreicht. Für Sokrates waren es, die Selbstreflexion, das Verfassen von wie Platon uns darlegt, Wissen und Ein- Büchern und Tagebuchaufzeichnungen sicht, die das Wesentliche des Menschen, kann – bei aller Genauigkeit – doch nur auf genauer: das Göttliche seiner Seele aus- Basis dessen geschehen, was tatsächlich machen.2 Dieses nun in Erfahrung zu brin- erinnert wird. gen, also Selbsterkenntnis zu erlangen, Die Selbstvermessung durch digita- erforderte das Hineinblicken der eigenen le Technologie geht im Gegensatz dazu mit der Überzeugung einher, „dass der 2 / 2021 Pädagogische Rundschau 181 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Mensch – der Körper und das Selbst – sich damit auch ohne Wissenschaft auszukom- in seiner Gesamtheit in quantitativen Daten men: „Physiker, Soziologen etc. bekom- abbilden und entschlüsseln lässt und eben men während des Studiums eingeimpft, kein mystisches Ensemble psychischer dass Korrelationen etwas anderes sind und physischer Zustände darstellt“4. Die als Kausalität und dass man aus einer ein- Statistik erscheint dabei als höchste Form fachen Korrelation zwischen X und Y kei- der Aufklärung und begegnet mit dem An- nerlei Schlussfolgerungen ziehen darf“8, spruch, mittels hinreichend vieler Daten so der US-amerikanische Journalist Christ jene Unbestimmtheiten zu überwinden, die Anderson in seinem Aufsatz Das Ende zu Verklärungen einladen.5 der Theorie. Ergänzend stellt Anderson fest: „Der Umstand, dass wir über Peta- bytes von Daten verfügen, versetzt uns in 2. Auflösung des Menschen die Lage, folgende Aussage zu tätigen: in der Statistik ‚Korrelationen reichen aus.‘ Wir müssen nicht länger nach Modellen suchen. Wir Nun mag der Gedanke irritieren, dass hin- können die Daten untersuchen, ohne auf reichend viele Daten und Zahlen über den Hypothesen darüber angewiesen zu sein, eigenen Körper, die eigenen Aktivitäten was sich darin möglicherweise verbirgt. und Stimmungen Auskunft auf die Frage Wir füllen die Zahlen einfach in die größten nach dem Selbst geben. Dieser Gedan- Serverfarmen, die die Welt je gesehen hat, ke macht überhaupt nur dann Sinn, wenn und warten darauf, dass die Algorithmen davon ausgegangen wird, dass das Selbst, dort Muster aufspüren, wo die Wissen- man könnte auch sagen: der Mensch schaft nicht weiterkommt.“9. etwas ist, das grundsätzlich als bestimm- Die Algorithmen, von denen Anderson bar (im Sinne von feststellbar) gilt. Aus er- spricht und die zum Zwecke der Auswer- ziehungs- und bildungswissenschaftlicher tung großer Datenmengen (Stichwort: Perspektive scheint dieser Ausgangspunkt Big Data) eingesetzt werden, nehmen zunächst einmal naheliegend. So charak- mittlerweile immer seltener den Charak- terisiert beispielsweise Sesink Erziehung ter klassischer Programme an, es handelt als den fremdbestimmten und Bildung in sich vielmehr um Lernalgorithmen. Der Abgrenzung dazu als selbstbestimmten wesentliche Unterschied zu einem klassi- Anteil der Entwicklung eines Menschen schen Computerprogramm besteht darin, aus seinem eigenen Sinn.6 Klafki indessen dass ein Programmierer mithilfe des Pro- betont als wesentliches Ziel von Bildung gramms dem Computer vorschreibt, was die Befähigung zur Selbstbestimmung, zur zu tun ist. Der Programmierer muss, damit Mitbestimmung und zur Solidarität.7 der Algorithmus funktioniert, möglichst alle Während aber nun im Kontext bil- Eventualitäten im Zuge der Programmie- dungswissenschaftlicher Überlegungen rung berücksichtigen. Im Gegensatz dazu die Bestimmbarkeit des Menschen sich arbeitet ein Lernalgorithmus mit Daten, auf einen Prozess bezieht (der Mensch hat erkennt in großen Datenmengen Muster sich stets und immer wieder auf´s Neue und Zusammenhänge – auch solche, die zu bestimmen) und zudem Ausdruck vor- Menschen mitunter nicht zu erkennen in hergehender Theoriearbeit ist, scheint die der Lage sind. Lernalgorithmen können Bestimmbarkeit des Menschen aus der als Künstliche neuronale Netze (bzw. Deep Perspektive der Befürworter einer um- Learning-Systeme) erscheinen, die sich in fassenden Datafizierung von Mensch und ihrem Aufbau an Prinzipien des mensch- Welt nunmehr gänzlich ohne Theorie und lichen Gehirns orientieren. Wie komplexe 182 Pädagogische Rundschau 2 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Künstliche neuronale Netze auf Basis der Man kann durchaus von einem ökono- ihnen zur Verfügung stehenden Daten zu mischen Wert eines Menschen sprechen, Ergebnissen kommen, ist selbst für Pro- problematisch wird es indessen, wenn der grammierer nicht mehr nachvollziehbar. Mensch auf diesen Wert reduziert wird. Bezogen auf das Phänomen Quantified Genau diese Tendenz einer ökonomischen Self hat dies zur Konsequenz, dass für den Reduktion zeigt sich jedoch gegenwärtig Selbstvermesser mit zunehmendem Grad in der neoliberalen Ausprägung des Ka- des Selftracking auf Basis der von einer pitalismus. Hier erscheint der Mensch App präsentierten Zahlen, Grafiken und zumindest tendenziell ausschließlich als Empfehlungen immer weniger nachvollzo- homo oeconomicus, der in zunehmendem gen werden kann, wie es zu eben diesen Maße sämtliche Aspekte seines Lebens Zahlen, Grafiken und Empfehlung gekom- in ökonomische Begriffe fasst (Beispiele: men ist. Die Ergebnisse der Berechnun- Lohnt sich der Aufwand im Seminar XY mit gen komplexer Lernalgorithmen nehmen Blick auf die zu erzielenden Credit Points? den Charakter geheimer Offenbarungen Macht es Sinn, weiterhin in die Beziehung an – und begegnen als eine Art neues zu investieren oder ist es nicht zielführen- Orakel von Delphi.10 Aus einer bildungs- der, den eigenen Marktwert auf Parship. wissenschaftlichen Perspektive ist die Vor- de oder Elitepartner.de zu checken etc.). stellung einer solchen Selbsterkenntnis Austausch und Interesse stehen für den durch Zahlen ein Symptom von Unmündig- homo oeconomicus nicht mehr im Zen- keit und Ausdruck dessen, was Heydorn trum, sondern allein die Steigerung des – lange bevor das Thema Selftracking als Humankapitals und die bessere Wettbe- Phänomen virulent wurde – in Überleben werbspositionierung bzw. die Optimierung durch Bildung als die Auflösung des Men- des eigenen Portfoliowertes z.B. durch schen in der Statistik charakterisiert hat.11 eine Erhöhung der Anzahl der Retweets auf Twitter oder durch mehr Likes bzw. Thumbs up auf Facebook, Instagram oder 3. Bildung und Technik YouTube. Bei alledem orientiert sich der sich selbst reduzierende Mensch nicht Dass sich der Mensch in der Statistik auf- mehr am produktionsorientierten Kapita- löst, d.h. als eine Ansammlung von Zah- lismus, auch wenn durchaus noch etwas len erscheint, ergibt aus einer bestimmten produziert wird, sondern am Finanzkapi- Perspektive auf Bildung durchaus Sinn. So talismus, dessen Produkte – insbesonde- wurzelt die Pädagogik als wissenschaftli- re im Derivatenhandel – Scheinprodukte che Disziplin im 18. Jahrhundert und damit sind, die nicht länger an ein materielles in eben jener Übergangszeit vom Stände- Äquivalent gebunden sind.12 system zur funktional-differenzierten Ge- Dass Bildung als Mittel der Wertgene- sellschaft, in der nicht länger die Geburt rierung, des Werterhalts und der Wertstei- über den Wert eines Menschen bestimmt. gerung verstanden wird, kann mit gutem Von Geburt an zunächst wertlos schafft Grund als Folge der gesellschaftlichen, der Mensch seinen Wert durch Bildung. ökonomischen und kulturellen Umbrüche Der Wert, von dem im postfeudalen kapi- des 18. Jahrhunderts verstanden werden. talistischen System die Rede ist, erweist Bildung begegnet dabei als vorwiegend sich als ein ökonomischer, der sich in Zah- technologische Formung und Gestaltung len manifestiert und bis zum heutigen Tage von Welt, die auf das Subjekt rückwirkt auf dem Gehaltsnachweis bzw. Bankkonto und damit zugleich als Selbstgestaltung einzusehen ist. des Subjekts erscheint. Was auf diese 2 / 2021 Pädagogische Rundschau 183 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Weise gebildet wird, ist Ausdruck von Verhältnis von Bildung und Macht auf, Herrschaft und Überwindung von Hetero- dass der Mensch sich in diesem für die nomie. Heydorn formuliert diesen Vorgang Griechen noch gängigem Verständnis als nicht ohne Pathos, wenn er betont, dass Teil der Natur, nicht aber als derselben der Mensch nun zunehmend als Subjekt gegenüberstehende Instanz verstanden der Geschichte (auch seiner Geschichte) hat; dass der Mensch ferner Ausdruck hervortritt. Er vergisst dabei nicht zu apos- des Seins ist, dessen Sinn er qua Vernunft trophieren, dass Bildung auf diese Weise vernehmen kann, wenn er das, was sich selbst zu einem Herrschaftsinstrument ihm zeigt, anwesen, d.h. seinlässt.16 Die avanciert, das dazu beiträgt, die Erkennt- abstrakte Form der Vernunft – die Denk- nis der Möglichkeiten des Menschen zu vernunft – galt dabei lediglich als Teil eines verschließen.13 umfassenderen Vernunftverständnisses. Das Verschließen der Möglichkeiten Erst im Zuge der Entstehung des bürger- des Menschen ist für Heydorn eine Kon- lich-kapitalistischen Systems wurde die sequenz aus der Übersetzung von Techno- abstrakte Vernunft dominant und in Form logie auf Bildungsprozesse, wobei hier mit ihrer instrumentell-pragmatischen Ausprä- einem bestimmten Verständnis von Tech- gung vorherrschend.17 nologie bzw. Technik gearbeitet wird.14 Mit der Vorherrschaft der instrumentell- Dem Verständnis von Technik kann man pragmatischen Vernunft wird eine be- sich mithilfe von Heideggers Überlegun- stimmte Auffassung von Herrschaft über gen zum Wesen der modernen Technik an- die Natur wirksam. Diese nämlich setzt nähern.15 Bezeichnend hierfür ist eine sich voraus, dass sich der Mensch ein Bild von verändernde Rolle des Menschen, mehr der Natur macht. Auf diese Weise ins Bild noch: ein sich wandelndes Verhältnis des gesetzt wird sie zum Gegenstand der Be- Menschen zur Welt. trachtung, der Analyse, der Zergliederung, In Anlehnung an die Ursachen-Lehre der Kritik und auch der Neugestaltung und von Aristoteles zeigt Heidegger auf, dass Verbesserung einer zumindest stellen- der Mensch gemäß eines klassischen weise als nicht hinreichend empfundenen Technikverständnisses am Hervorbringen Natur. Zugleich erscheint im Zuge die- von etwas teilhat, indem er daran mitwirkt, ser Vergegenständlichung der Natur der dass das Material nach einer bestimmten Mensch als Subjekt, d.h. als jene Instanz, Form zu einem bestimmten Zweck ge- welche die Natur als Objekt der Betrach- staltet wird. Wir haben es hier mit insge- tung festsetzt und sich selbst als Betrach- samt vier Ursachen zu tun: Formursache tenden dieser gegenüberstellt. Erst und (causa formalis), Stoffursache (causa ma- ausschließlich als vom Subjekt festge- terialis), Zweckursache (causa finalis) und stellte erhält die Natur (man könnte auch Wirkungsursache (causa efficiens). Der sagen: die Welt) „das Siegel des Seins“18. Mensch bewirkt etwas, indem er die üb- Mit der Natur bzw. der Welt als Objekt rigen Ursachen versammelt und auf diese und Gegenstand potenzieller Bearbeitung Weise etwas, das bislang nur der Möglich- erscheint der Mensch als Subjekt, und keit nach, d.h. im Verborgenen existierte, indem er als Subjekt erscheint, veränderte in die Wirklichkeit (bzw. ins Unverborgene, sich seine Rolle in der Welt. Auf diese Ver- Offenbare) überführt. änderung deuten die Wurzeln des Subjekt- Der Mensch begegnet hier als Aus- begriffs hin. Der Begriff subjectum ist die druck des Seins und hat am Hervorbrin- lateinische Übersetzung des griechischen gen dessen, was ist, einen wesentlichen Wortes hypokeímenon. Der Ausdruck be- Anteil. Ribolits zeigt in seiner Arbeit zum zeichnet das Vor-liegende, hat aber noch 184 Pädagogische Rundschau 2 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
keinen eindeutigen Bezug zum Menschen. was als Natur gilt und mit welcher Metho- Hypokeímenon meint vielmehr das Seien- de der Gegenstand erforscht wird. Be- de, wie es sich dem Menschen offenbart, merkenswert ist dabei, dass die Natur auf wie es sich von sich selbst her zeigt. Der das Mathematische (Berechenbare) be- Mensch vernimmt das Sich-Zeigende schränkt wird. Was nicht berechenbar ist, bzw. Anwesende. Er ist gemäß diesem gilt demzufolge nicht als Natur. Zugleich ist Denken eingeflochten, verwoben in ein die Berechenbarkeit dasjenige Moment, Umfassendes. was die Physik als exakte Wissenschaft Mit der Vorherrschaft der instrumentell- auszeichnet und beispielsweise von einer pragmatischen Vernunft wurde zugleich qualitativ-empirischen oder gar theoreti- das Wesen der modernen Technik wirk- schen-orientierten Bildungswissenschaft sam. Als Subjekt den Dingen gegenüber- wesentlich unterscheidet. stehend war der Mensch nun nicht mehr Würde die Bildungswissenschaft ihren eine Ursache unter mehreren, sondern Forschungsgegenstand feststellen, me- als Wirkursache (causa efficiens) die al- thodisch in ähnlicher Weise fokussiert und leinige, sich aufspreizende. Das Subjekt exakt vorgehen, so würde sie notwendiger wird zur Ursache des Materials (causa Weise das Lebendige verfehlen, kurzum: materialis), indem es durch Zergliederung die Qualität des Menschen auf dessen und Synthetisierung neue (Kunst-)Stoffe Quantität reduzieren. Zwar hätte sie mög- generiert. Es bewirkt neue (Lebens-)For- licherweise fortan den Nimbus (natur-) men (causa formalis), indem es z.B. durch wissenschaftlicher Wahrheit, Objektivität gentechnische Modifikationen resistentere und Überprüfbarkeit, würde dabei aber zu- oder neuartige Pflanzen bis hin zu Schimä- gleich den Widerspruch von Wesen und ren erzeugt. Und: Das Subjekt allein setzt Erscheinung aufheben.20 die Zwecke dessen, was es hervorbringt Mit dem angeführten Widerspruch von (causa finalis). Wesen und Erscheinung ist der Mensch angesprochen. Er erscheint nicht als das, was er wesentlich ist, und doch ist sein 4. Vom Wert der Unexaktheit Erscheinen Ausdruck seines Wesens. der Bildungswissenschaft Um diesen Gedanken nachvollziehen zu können, macht es Sinn, noch einmal auf Das hier skizzierte Wesen der moder- den Begriff hypokeimenon zu verweisen. nen Technik, das einhergeht mit einer Er wurde als das charakterisiert, was sich reduzierten Vernunft, äußert sich auch in von sich selbst her zeigt. Man könnte das einem bestimmten Wissenschafts- und Sich-Zeigende auch als das Seiende be- Forschungsverständnis. Forschung meint, zeichnen, als das, was unverborgen (im so Heidegger in Die Zeit des Weltbildes, Sinne von aletheia) aufscheint. Aletheia ist einen Bezirk in einem bestimmten Bereich zugleich der griechische Begriff für Wahr- des Seienden zu eröffnen, einen Grund- heit. Die Wahrheit des Menschen ist in die- riss der Naturvorgänge zu entwerfen und sem Sinne das, was sich von sich selbst zugleich die Weise des erkennenden Vor- her in seiner Unverborgenheit zeigt. Das, gehens vorzuzeichnen.19 was da erscheint, ist aber nicht gleichzu- Er verdeutlicht dies am Beispiel der setzen mit dem Wesen des Menschen. Physik, in der die Natur als Gegenstand Was aber ist der Mensch wesentlich? der Erkenntnis gilt. Die Natur begegnet Die Existenzweise des Menschen dabei als eröffneter Bezirk des Seienden. gibt uns hier einen Hinweis. Der Mensch Mit dem Entwurf wird zugleich festgelegt, existiert, so Werner Loch, im Modus des 2 / 2021 Pädagogische Rundschau 185 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Könnens, er ist ein Geschöpf, dass nicht hat, ermöglicht Erkenntnis. Genauer: Das nur das ist, was er vollbringt, sondern zu- Wahrgenommene deutet auf etwas hin, gleich das, was er zu vollbringen vermag.21 was selbst nicht fassbar ist, aber erkannt Anders formuliert: Der Mensch ist immer wird. Selbsterkenntnis finden erst auf auch zugleich seine Möglichkeiten. Wenn diese Weise statt. es der Bildungswissenschaft um die Er- Bleibt dieser Bezug, d.h. die Bedeu- möglichung des Menschen, wenn es in der tung aus, ist das, was via Selbsttracking Pädagogik zunächst und in erster Linie um eingeholt und präsentiert wird, äußerlich den Menschen geht, dann reicht der Blick und damit aus folgenden Gründen höchst auf das, was ist, nicht aus, sondern muss gefährlich. 1. Der mit dem Selftracking ein- über das Gegebene, Wahrgenommene in hergehende Anspruch der Objektivität lädt die Möglichkeiten des Anderen hineinrei- zu einem wenig bedachten Befolgen der chen. Das Mögliche kann allerdings weder von Selftracking-Apps nahegelegten Emp- festgestellt noch objektiv, auch nicht mit fehlungen ein. Das wiederum ist dann – Hilfe von Sensoren, Gadgets und Apps, durchaus im Sinne Kants – Ausdruck einer erfasst werden. Form von Unmündigkeit. 2. Mithilfe von Noch ein Weiteres kommt hinzu: Das Selftracking kann nur das erfasst werden, Erscheinende, Sich-Zeigende, ist in dem was zuvor als prinzipiell erfassbar mar- hier beschriebenen griechischen Ver- kiert wurde, d.h. im bereits beschriebenen ständnis von demjenigen abhängig, dem Sinne das Siegel des Seins erhalten hat. es erscheint. Das, was erscheint, ist kon- 3. Damit ein Computer (eine Rechenma- text- und raumabhängig. Der Raum, in schine) mit Daten arbeiten kann, muss dem sich etwas zeigt, ist nicht allein ein das jeweils gegebene Datum von allen physischer Raum, sondern ebenso ein so- lebensweltlichen Bezügen abstrahiert zialer, auch ein politischer, kultureller und und in eine formale, mathematisch bzw. historischer, ja selbst die individuellen ge- maschinell verarbeitbare Sprache über- netischen Dispositionen spielen hier eine setzt werden. In jedem Falle sind die am Rolle. All das, was einen Menschen prägt Ende präsentierten Zahlen, Grafiken und und beeinflusst, ermöglicht und erschwert Empfehlungen Resultat eines reduzierten das Nach-außen-tragen und Verwirkli- Selbst. Insofern anschließend auf Basis chen von Potenzialen.22 Zugleich ist das eines in dieser Weise reduzierten Selbst (pädagogische) Gegenüber ebenfalls von eine Selbstoptimierung stattfindet, handelt Einflüssen des eigenen Raumes und der es sich notwendigerweise um eine optima- eigenen Kontexte gekennzeichnet. Diese le Selbstverfehlung. Einflüsse prägen das, was sich zeigt, was für eine Person überhaupt sichtbar, wahr- nehmbar, einsehbar ist. Anmerkungen Die Möglichkeiten des Menschen und deren Verwirklichung sind demzufolge in 1 Wolf, Gary (2010). The Data-Driven Life. The höchstem Maße abhängig von jenem Bil- New York Times Magazine. URL: http://nyti. dungsraum, der ermöglichend und ver- ms/2gjfz3H (Zugriff am 01.03.2021) schließen, bei alledem aber ganz sicher 2 vgl. Platon. (2015). Sämtliche Werke. Band 1. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 175 medialen Charakter hat. Die Reflexion und 3 Aurel, Mark (2010). Selbstbetrachtungen Bewusstwerdung der eigenen Möglich- (hrsg. u. übersetzt v. Rainer Nickel). Patmos: keiten findet als Prozess statt und bleibt Mannheim unabgeschlossen. Erst die Bedeutung, die 4 Mau, Steffen (2017). Das metrische Wir. das Wahrgenommene für den Menschen Über die Quantifizierung des Sozialen 186 Pädagogische Rundschau 2 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
(2 Aufl.). Berlin: Suhrkamp, S. 168 (Hervorh. 14 Eine detaillierte Darstellung und Analyse von v. T.D.) Differenzierungsansätzen der Begriffe Tech- 5 vgl. Han, Byung-Chul (2014). Psychopolitik. nik und Technologie findet sich bei Euler, Neoliberalismus und die neuen Machttechni- Peter (1999). Technologie und Urteilskraft. ken. Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 79 Zur Neufassung des Bildungsbegriffs. Wein- 6 vgl. Sesink, Werner (2001). Einführung in die heim: Deutscher Studien Verlag, S. 100ff. Pädagogik. Münster, Hamburg, Berlin: Lit, 15 Heidegger, Martin (1982 [1962]). Die Technik S. 182 und die Kehre (5 Aufl.). Pfullingen: Günther 7 Klafki, Wolfgang ([1985] 2007). Neue Studien Neske. zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemä- 16 vgl. Ribolits, Erich (2015). Warum Bildung ße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive bei der Überwindung der Machtverhältnis- Didaktik (6. neu ausgestattete Aufl.). Wein- se nicht hilft, zu deren Erhalt aber ganz we- heim und Basel: Beltz, S. 19 sentlich beiträgt. In Eveline Christhof & Erich 8 Anderson, Chris (2013). Das Ende der Ribolits (Eds.), Bildung und Macht. Eine kriti- Theorie. In H. Geiselberger & T. Moorstedt sche Bestandsaufnahme (S. 169-192). Wien: (Hrsg.), Big Data. Das neue Versprechen Erhard Löcker, S. 172f. der Allwissenheit (S. 124-130). Berlin: Suhr- 17 vgl. ebd. kamp, S. 126 18 Heidegger, Martin (2003). Die Zeit des Welt- 9 ebd., S. 128 bildes (1938). In Friedrich-Wilhelm v. Herr- 10 vgl. Grunwald, A. (2019). Der unterlegene mann (Hrsg.), GA 5: Holzwege (1935-1946) Mensch. Die Zukunft der Menschheit im An- (2 Aufl., S. 75-96). Frankfurt am Main: Vittorio gesicht von Algorithmen, künstlicher Intelli- Klostermann, S. 92 genz und Robotern. München: Riva Verlag, 19 vgl. ebd. S. 77. S. 170 20 vgl. Heydorn a.a.O., S. 261f. 11 vgl. Heydorn, Heinz-Joachim (2004 [1974]). 21 vgl. Loch, Werner (1980). Der Mensch im Überleben durch Bildung. Umriß einer Aus- Modus des Könnens. Anthropologische sicht. In ders.: Bildungstheoretische und pä- Fragen pädagogischen Denkens. In Eckard dagogische Schriften 1971-1974 (Irmgard König & Horst Ramsenthaler (Hrsg.), Diskus- Heydorn, Hartmut Kappner, Gernot Koneffke, sion Pädagogische Anthropologie (S. 191- & Edgar Weick (Hrsg.)). Wetzlar: Büchse der 225). München: Wilhelm Fink Verlag, S. 195 Pandora, S. 261 22 vgl. Sesink, Werner (2016). Bildung - ein 12 vgl. Brown, Wendy (2015). Die schleichende Versuch über ihren Versuch. In D. Verstän- Revolution. Wie der Neoliberalismus die De- dig, Jens Holze, & Ralf Biermann (Hrsg.), Von mokratie zerstört. Berlin: Suhrkamp, S. 35f. der Bildung zur Medienbildung (S. 211-228). 13 vgl. Heydorn a.a.O., S. 263. Wiesbaden: Springer VS, S. 224 2 / 2021 Pädagogische Rundschau 187 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
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