Optimal verfehlt! Dem Phänomen Selftracking bildungsphilosophisch nachgedacht

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PR 2021, 75. Jahrgang, S. 181-188
                    © 2021 Thomas Damberger - DOI https://doi.org/10.3726/PR022021.0014

                                         Thomas Damberger

Optimal verfehlt! Dem Phänomen Selftracking
    bildungsphilosophisch nachgedacht

1. Überwindung von                                         Seele in die sich öffnende und anwesende
    Unbestimmtheiten                                        Offenbarkeit der Seele eines Gegenübers,
                                                            die als lebendiger Spiegel fungiert.
Das Phänomen Selftracking zielt darauf                           Man geht heute davon aus, dass So-
ab, Körperfunktionen, Verhaltensweisen,                     krates, der im 5. Jh. v. Chr. lebte, selbst
emotionale Befindlichkeiten etc. zu er-                     nichts schriftlich hinterlassen hat – ganz
fassen und aufzubereiten. Dies geschieht                    im Gegensatz zum Philosophen und römi-
aktuell vor allem mithilfe digitaler Techno-                schen Kaiser Mark Aurel (2. Jh. n. Chr.),
logie, beispielsweise durch Smartwatches                    dessen Selbstbetrachtungen als Reflexio-
und Fitnessarmbänder, die mit entspre-                      nen des eigenen Selbst (auch) zum Zwe-
chenden Sensoren ausgestattet sind und                      cke der Selbsterkenntnis dienen sollten.3
mit Smartphone-Applikationen gekoppelt                      Im Gegensatz zu der von Sokrates präfe-
werden. Die z.T. automatisch erfassten,                     rierten Form der Selbsterkenntnis bedurfte
teils aber auch gezielt eingegebenen Daten                  es bei Aurel weniger eines anderen Men-
dienen als Grundlage zur Erstellung eines                   schen, sondern vielmehr der Ruhe und
möglichst umfassenden digitalen Abbildes                    des Nachdenkens.
– eines Quantified Self, dessen Sinn und                         Nicht zu Unrecht könnte man aus heu-
Zweck der US-amerikanische Redakteur                        tiger Perspektive anführen, dass sowohl
Gary Wolf mit den Worten „self knowled-                     Sokrates als auch Mark Aurel auf eine
ge through numbers“1 umschreibt.                            ausgesprochen unexakte Form der Selbst-
     Mehr Wissen über sich selbst, man                      erkenntnis gebaut haben. Im Sich-Öffnen
könnte auch sagen: mehr Selbsterkenntnis                    im Zuge der Begegnung mit einem ande-
zu erlangen, kann im Kontext einer Tradi-                   ren Menschen das Eigene in Erfahrung
tion der Selbstsorge verstanden werden,                     zu bringen, scheint Unbestimmtheiten
die mindestens bis in die griechische An-                   billigend in Kauf zu nehmen. Aber auch
tike zurückreicht. Für Sokrates waren es,                   die Selbstreflexion, das Verfassen von
wie Platon uns darlegt, Wissen und Ein-                     Büchern und Tagebuchaufzeichnungen
sicht, die das Wesentliche des Menschen,                    kann – bei aller Genauigkeit – doch nur auf
genauer: das Göttliche seiner Seele aus-                    Basis dessen geschehen, was tatsächlich
machen.2 Dieses nun in Erfahrung zu brin-                   erinnert wird.
gen, also Selbsterkenntnis zu erlangen,                          Die Selbstvermessung durch digita-
erforderte das Hineinblicken der eigenen                    le Technologie geht im Gegensatz dazu
                                                            mit der Überzeugung einher, „dass der

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Mensch – der Körper und das Selbst – sich                   damit auch ohne Wissenschaft auszukom-
in seiner Gesamtheit in quantitativen Daten                 men: „Physiker, Soziologen etc. bekom-
abbilden und entschlüsseln lässt und eben                   men während des Studiums eingeimpft,
kein mystisches Ensemble psychischer                        dass Korrelationen etwas anderes sind
und physischer Zustände darstellt“4. Die                    als Kausalität und dass man aus einer ein-
Statistik erscheint dabei als höchste Form                  fachen Korrelation zwischen X und Y kei-
der Aufklärung und begegnet mit dem An-                     nerlei Schlussfolgerungen ziehen darf“8,
spruch, mittels hinreichend vieler Daten                    so der US-amerikanische Journalist Christ
jene Unbestimmtheiten zu überwinden, die                    Anderson in seinem Aufsatz Das Ende
zu Verklärungen einladen.5                                  der Theorie. Ergänzend stellt Anderson
                                                            fest: „Der Umstand, dass wir über Peta-
                                                            bytes von Daten verfügen, versetzt uns in
2. Auflösung des Menschen                                  die Lage, folgende Aussage zu tätigen:
    in der Statistik                                        ‚Korrelationen reichen aus.‘ Wir müssen
                                                            nicht länger nach Modellen suchen. Wir
Nun mag der Gedanke irritieren, dass hin-                   können die Daten untersuchen, ohne auf
reichend viele Daten und Zahlen über den                    Hypothesen darüber angewiesen zu sein,
eigenen Körper, die eigenen Aktivitäten                     was sich darin möglicherweise verbirgt.
und Stimmungen Auskunft auf die Frage                       Wir füllen die Zahlen einfach in die größten
nach dem Selbst geben. Dieser Gedan-                        Serverfarmen, die die Welt je gesehen hat,
ke macht überhaupt nur dann Sinn, wenn                      und warten darauf, dass die Algorithmen
davon ausgegangen wird, dass das Selbst,                    dort Muster aufspüren, wo die Wissen-
man könnte auch sagen: der Mensch                           schaft nicht weiterkommt.“9.
etwas ist, das grundsätzlich als bestimm-                       Die Algorithmen, von denen Anderson
bar (im Sinne von feststellbar) gilt. Aus er-               spricht und die zum Zwecke der Auswer-
ziehungs- und bildungswissenschaftlicher                    tung großer Datenmengen (Stichwort:
Perspektive scheint dieser Ausgangspunkt                    Big Data) eingesetzt werden, nehmen
zunächst einmal naheliegend. So charak-                     mittlerweile immer seltener den Charak-
terisiert beispielsweise Sesink Erziehung                   ter klassischer Programme an, es handelt
als den fremdbestimmten und Bildung in                      sich vielmehr um Lernalgorithmen. Der
Abgrenzung dazu als selbstbestimmten                        wesentliche Unterschied zu einem klassi-
Anteil der Entwicklung eines Menschen                       schen Computerprogramm besteht darin,
aus seinem eigenen Sinn.6 Klafki indessen                   dass ein Programmierer mithilfe des Pro-
betont als wesentliches Ziel von Bildung                    gramms dem Computer vorschreibt, was
die Befähigung zur Selbstbestimmung, zur                    zu tun ist. Der Programmierer muss, damit
Mitbestimmung und zur Solidarität.7                         der Algorithmus funktioniert, möglichst alle
    Während aber nun im Kontext bil-                        Eventualitäten im Zuge der Programmie-
dungswissenschaftlicher Überlegungen                        rung berücksichtigen. Im Gegensatz dazu
die Bestimmbarkeit des Menschen sich                        arbeitet ein Lernalgorithmus mit Daten,
auf einen Prozess bezieht (der Mensch hat                   erkennt in großen Datenmengen Muster
sich stets und immer wieder auf´s Neue                      und Zusammenhänge – auch solche, die
zu bestimmen) und zudem Ausdruck vor-                       Menschen mitunter nicht zu erkennen in
hergehender Theoriearbeit ist, scheint die                  der Lage sind. Lernalgorithmen können
Bestimmbarkeit des Menschen aus der                         als Künstliche neuronale Netze (bzw. Deep
Perspektive der Befürworter einer um-                       Learning-Systeme) erscheinen, die sich in
fassenden Datafizierung von Mensch und                      ihrem Aufbau an Prinzipien des mensch-
Welt nunmehr gänzlich ohne Theorie und                      lichen Gehirns orientieren. Wie komplexe

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Künstliche neuronale Netze auf Basis der                         Man kann durchaus von einem ökono-
ihnen zur Verfügung stehenden Daten zu                      mischen Wert eines Menschen sprechen,
Ergebnissen kommen, ist selbst für Pro-                     problematisch wird es indessen, wenn der
grammierer nicht mehr nachvollziehbar.                      Mensch auf diesen Wert reduziert wird.
    Bezogen auf das Phänomen Quantified                     Genau diese Tendenz einer ökonomischen
Self hat dies zur Konsequenz, dass für den                  Reduktion zeigt sich jedoch gegenwärtig
Selbstvermesser mit zunehmendem Grad                        in der neoliberalen Ausprägung des Ka-
des Selftracking auf Basis der von einer                    pitalismus. Hier erscheint der Mensch
App präsentierten Zahlen, Grafiken und                      zumindest tendenziell ausschließlich als
Empfehlungen immer weniger nachvollzo-                      homo oeconomicus, der in zunehmendem
gen werden kann, wie es zu eben diesen                      Maße sämtliche Aspekte seines Lebens
Zahlen, Grafiken und Empfehlung gekom-                      in ökonomische Begriffe fasst (Beispiele:
men ist. Die Ergebnisse der Berechnun-                      Lohnt sich der Aufwand im Seminar XY mit
gen komplexer Lernalgorithmen nehmen                        Blick auf die zu erzielenden Credit Points?
den Charakter geheimer Offenbarungen                        Macht es Sinn, weiterhin in die Beziehung
an – und begegnen als eine Art neues                        zu investieren oder ist es nicht zielführen-
Orakel von Delphi.10 Aus einer bildungs-                    der, den eigenen Marktwert auf Parship.
wissenschaftlichen Perspektive ist die Vor-                 de oder Elitepartner.de zu checken etc.).
stellung einer solchen Selbsterkenntnis                     Austausch und Interesse stehen für den
durch Zahlen ein Symptom von Unmündig-                      homo oeconomicus nicht mehr im Zen-
keit und Ausdruck dessen, was Heydorn                       trum, sondern allein die Steigerung des
– lange bevor das Thema Selftracking als                    Humankapitals und die bessere Wettbe-
Phänomen virulent wurde – in Überleben                      werbspositionierung bzw. die Optimierung
durch Bildung als die Auflösung des Men-                    des eigenen Portfoliowertes z.B. durch
schen in der Statistik charakterisiert hat.11               eine Erhöhung der Anzahl der Retweets
                                                            auf Twitter oder durch mehr Likes bzw.
                                                            Thumbs up auf Facebook, Instagram oder
3. Bildung und Technik                                     YouTube. Bei alledem orientiert sich der
                                                            sich selbst reduzierende Mensch nicht
Dass sich der Mensch in der Statistik auf-                  mehr am produktionsorientierten Kapita-
löst, d.h. als eine Ansammlung von Zah-                     lismus, auch wenn durchaus noch etwas
len erscheint, ergibt aus einer bestimmten                  produziert wird, sondern am Finanzkapi-
Perspektive auf Bildung durchaus Sinn. So                   talismus, dessen Produkte – insbesonde-
wurzelt die Pädagogik als wissenschaftli-                   re im Derivatenhandel – Scheinprodukte
che Disziplin im 18. Jahrhundert und damit                  sind, die nicht länger an ein materielles
in eben jener Übergangszeit vom Stände-                     Äquivalent gebunden sind.12
system zur funktional-differenzierten Ge-                        Dass Bildung als Mittel der Wertgene-
sellschaft, in der nicht länger die Geburt                  rierung, des Werterhalts und der Wertstei-
über den Wert eines Menschen bestimmt.                      gerung verstanden wird, kann mit gutem
Von Geburt an zunächst wertlos schafft                      Grund als Folge der gesellschaftlichen,
der Mensch seinen Wert durch Bildung.                       ökonomischen und kulturellen Umbrüche
Der Wert, von dem im postfeudalen kapi-                     des 18. Jahrhunderts verstanden werden.
talistischen System die Rede ist, erweist                   Bildung begegnet dabei als vorwiegend
sich als ein ökonomischer, der sich in Zah-                 technologische Formung und Gestaltung
len manifestiert und bis zum heutigen Tage                  von Welt, die auf das Subjekt rückwirkt
auf dem Gehaltsnachweis bzw. Bankkonto                      und damit zugleich als Selbstgestaltung
einzusehen ist.                                             des Subjekts erscheint. Was auf diese

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Weise gebildet wird, ist Ausdruck von                       Verhältnis von Bildung und Macht auf,
Herrschaft und Überwindung von Hetero-                      dass der Mensch sich in diesem für die
nomie. Heydorn formuliert diesen Vorgang                    Griechen noch gängigem Verständnis als
nicht ohne Pathos, wenn er betont, dass                     Teil der Natur, nicht aber als derselben
der Mensch nun zunehmend als Subjekt                        gegenüberstehende Instanz verstanden
der Geschichte (auch seiner Geschichte)                     hat; dass der Mensch ferner Ausdruck
hervortritt. Er vergisst dabei nicht zu apos-               des Seins ist, dessen Sinn er qua Vernunft
trophieren, dass Bildung auf diese Weise                    vernehmen kann, wenn er das, was sich
selbst zu einem Herrschaftsinstrument                       ihm zeigt, anwesen, d.h. seinlässt.16 Die
avanciert, das dazu beiträgt, die Erkennt-                  abstrakte Form der Vernunft – die Denk-
nis der Möglichkeiten des Menschen zu                       vernunft – galt dabei lediglich als Teil eines
verschließen.13                                             umfassenderen Vernunftverständnisses.
    Das Verschließen der Möglichkeiten                      Erst im Zuge der Entstehung des bürger-
des Menschen ist für Heydorn eine Kon-                      lich-kapitalistischen Systems wurde die
sequenz aus der Übersetzung von Techno-                     abstrakte Vernunft dominant und in Form
logie auf Bildungsprozesse, wobei hier mit                  ihrer instrumentell-pragmatischen Ausprä-
einem bestimmten Verständnis von Tech-                      gung vorherrschend.17
nologie bzw. Technik gearbeitet wird.14                         Mit der Vorherrschaft der instrumentell-
Dem Verständnis von Technik kann man                        pragmatischen Vernunft wird eine be-
sich mithilfe von Heideggers Überlegun-                     stimmte Auffassung von Herrschaft über
gen zum Wesen der modernen Technik an-                      die Natur wirksam. Diese nämlich setzt
nähern.15 Bezeichnend hierfür ist eine sich                 voraus, dass sich der Mensch ein Bild von
verändernde Rolle des Menschen, mehr                        der Natur macht. Auf diese Weise ins Bild
noch: ein sich wandelndes Verhältnis des                    gesetzt wird sie zum Gegenstand der Be-
Menschen zur Welt.                                          trachtung, der Analyse, der Zergliederung,
    In Anlehnung an die Ursachen-Lehre                      der Kritik und auch der Neugestaltung und
von Aristoteles zeigt Heidegger auf, dass                   Verbesserung einer zumindest stellen-
der Mensch gemäß eines klassischen                          weise als nicht hinreichend empfundenen
Technikverständnisses am Hervorbringen                      Natur. Zugleich erscheint im Zuge die-
von etwas teilhat, indem er daran mitwirkt,                 ser Vergegenständlichung der Natur der
dass das Material nach einer bestimmten                     Mensch als Subjekt, d.h. als jene Instanz,
Form zu einem bestimmten Zweck ge-                          welche die Natur als Objekt der Betrach-
staltet wird. Wir haben es hier mit insge-                  tung festsetzt und sich selbst als Betrach-
samt vier Ursachen zu tun: Formursache                      tenden dieser gegenüberstellt. Erst und
(causa formalis), Stoffursache (causa ma-                   ausschließlich als vom Subjekt festge-
terialis), Zweckursache (causa finalis) und                 stellte erhält die Natur (man könnte auch
Wirkungsursache (causa efficiens). Der                      sagen: die Welt) „das Siegel des Seins“18.
Mensch bewirkt etwas, indem er die üb-                          Mit der Natur bzw. der Welt als Objekt
rigen Ursachen versammelt und auf diese                     und Gegenstand potenzieller Bearbeitung
Weise etwas, das bislang nur der Möglich-                   erscheint der Mensch als Subjekt, und
keit nach, d.h. im Verborgenen existierte,                  indem er als Subjekt erscheint, veränderte
in die Wirklichkeit (bzw. ins Unverborgene,                 sich seine Rolle in der Welt. Auf diese Ver-
Offenbare) überführt.                                       änderung deuten die Wurzeln des Subjekt-
    Der Mensch begegnet hier als Aus-                       begriffs hin. Der Begriff subjectum ist die
druck des Seins und hat am Hervorbrin-                      lateinische Übersetzung des griechischen
gen dessen, was ist, einen wesentlichen                     Wortes hypokeímenon. Der Ausdruck be-
Anteil. Ribolits zeigt in seiner Arbeit zum                 zeichnet das Vor-liegende, hat aber noch

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keinen eindeutigen Bezug zum Menschen.                      was als Natur gilt und mit welcher Metho-
Hypokeímenon meint vielmehr das Seien-                      de der Gegenstand erforscht wird. Be-
de, wie es sich dem Menschen offenbart,                     merkenswert ist dabei, dass die Natur auf
wie es sich von sich selbst her zeigt. Der                  das Mathematische (Berechenbare) be-
Mensch vernimmt das Sich-Zeigende                           schränkt wird. Was nicht berechenbar ist,
bzw. Anwesende. Er ist gemäß diesem                         gilt demzufolge nicht als Natur. Zugleich ist
Denken eingeflochten, verwoben in ein                       die Berechenbarkeit dasjenige Moment,
Umfassendes.                                                was die Physik als exakte Wissenschaft
    Mit der Vorherrschaft der instrumentell-                auszeichnet und beispielsweise von einer
pragmatischen Vernunft wurde zugleich                       qualitativ-empirischen oder gar theoreti-
das Wesen der modernen Technik wirk-                        schen-orientierten Bildungswissenschaft
sam. Als Subjekt den Dingen gegenüber-                      wesentlich unterscheidet.
stehend war der Mensch nun nicht mehr                            Würde die Bildungswissenschaft ihren
eine Ursache unter mehreren, sondern                        Forschungsgegenstand feststellen, me-
als Wirkursache (causa efficiens) die al-                   thodisch in ähnlicher Weise fokussiert und
leinige, sich aufspreizende. Das Subjekt                    exakt vorgehen, so würde sie notwendiger
wird zur Ursache des Materials (causa                       Weise das Lebendige verfehlen, kurzum:
materialis), indem es durch Zergliederung                   die Qualität des Menschen auf dessen
und Synthetisierung neue (Kunst-)Stoffe                     Quantität reduzieren. Zwar hätte sie mög-
generiert. Es bewirkt neue (Lebens-)For-                    licherweise fortan den Nimbus (natur-)
men (causa formalis), indem es z.B. durch                   wissenschaftlicher Wahrheit, Objektivität
gentechnische Modifikationen resistentere                   und Überprüfbarkeit, würde dabei aber zu-
oder neuartige Pflanzen bis hin zu Schimä-                  gleich den Widerspruch von Wesen und
ren erzeugt. Und: Das Subjekt allein setzt                  Erscheinung aufheben.20
die Zwecke dessen, was es hervorbringt                           Mit dem angeführten Widerspruch von
(causa finalis).                                            Wesen und Erscheinung ist der Mensch
                                                            angesprochen. Er erscheint nicht als das,
                                                            was er wesentlich ist, und doch ist sein
4. Vom Wert der Unexaktheit                                Erscheinen Ausdruck seines Wesens.
    der Bildungswissenschaft                                Um diesen Gedanken nachvollziehen zu
                                                            können, macht es Sinn, noch einmal auf
Das hier skizzierte Wesen der moder-                        den Begriff hypokeimenon zu verweisen.
nen Technik, das einhergeht mit einer                       Er wurde als das charakterisiert, was sich
reduzierten Vernunft, äußert sich auch in                   von sich selbst her zeigt. Man könnte das
einem bestimmten Wissenschafts- und                         Sich-Zeigende auch als das Seiende be-
Forschungsverständnis. Forschung meint,                     zeichnen, als das, was unverborgen (im
so Heidegger in Die Zeit des Weltbildes,                    Sinne von aletheia) aufscheint. Aletheia ist
einen Bezirk in einem bestimmten Bereich                    zugleich der griechische Begriff für Wahr-
des Seienden zu eröffnen, einen Grund-                      heit. Die Wahrheit des Menschen ist in die-
riss der Naturvorgänge zu entwerfen und                     sem Sinne das, was sich von sich selbst
zugleich die Weise des erkennenden Vor-                     her in seiner Unverborgenheit zeigt. Das,
gehens vorzuzeichnen.19                                     was da erscheint, ist aber nicht gleichzu-
    Er verdeutlicht dies am Beispiel der                    setzen mit dem Wesen des Menschen.
Physik, in der die Natur als Gegenstand                     Was aber ist der Mensch wesentlich?
der Erkenntnis gilt. Die Natur begegnet                          Die Existenzweise des Menschen
dabei als eröffneter Bezirk des Seienden.                   gibt uns hier einen Hinweis. Der Mensch
Mit dem Entwurf wird zugleich festgelegt,                   existiert, so Werner Loch, im Modus des

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Könnens, er ist ein Geschöpf, dass nicht                    hat, ermöglicht Erkenntnis. Genauer: Das
nur das ist, was er vollbringt, sondern zu-                 Wahrgenommene deutet auf etwas hin,
gleich das, was er zu vollbringen vermag.21                 was selbst nicht fassbar ist, aber erkannt
Anders formuliert: Der Mensch ist immer                     wird. Selbsterkenntnis finden erst auf
auch zugleich seine Möglichkeiten. Wenn                     diese Weise statt.
es der Bildungswissenschaft um die Er-                          Bleibt dieser Bezug, d.h. die Bedeu-
möglichung des Menschen, wenn es in der                     tung aus, ist das, was via Selbsttracking
Pädagogik zunächst und in erster Linie um                   eingeholt und präsentiert wird, äußerlich
den Menschen geht, dann reicht der Blick                    und damit aus folgenden Gründen höchst
auf das, was ist, nicht aus, sondern muss                   gefährlich. 1. Der mit dem Selftracking ein-
über das Gegebene, Wahrgenommene in                         hergehende Anspruch der Objektivität lädt
die Möglichkeiten des Anderen hineinrei-                    zu einem wenig bedachten Befolgen der
chen. Das Mögliche kann allerdings weder                    von Selftracking-Apps nahegelegten Emp-
festgestellt noch objektiv, auch nicht mit                  fehlungen ein. Das wiederum ist dann –
Hilfe von Sensoren, Gadgets und Apps,                       durchaus im Sinne Kants – Ausdruck einer
erfasst werden.                                             Form von Unmündigkeit. 2. Mithilfe von
    Noch ein Weiteres kommt hinzu: Das                      Selftracking kann nur das erfasst werden,
Erscheinende, Sich-Zeigende, ist in dem                     was zuvor als prinzipiell erfassbar mar-
hier beschriebenen griechischen Ver-                        kiert wurde, d.h. im bereits beschriebenen
ständnis von demjenigen abhängig, dem                       Sinne das Siegel des Seins erhalten hat.
es erscheint. Das, was erscheint, ist kon-                  3. Damit ein Computer (eine Rechenma-
text- und raumabhängig. Der Raum, in                        schine) mit Daten arbeiten kann, muss
dem sich etwas zeigt, ist nicht allein ein                  das jeweils gegebene Datum von allen
physischer Raum, sondern ebenso ein so-                     lebensweltlichen Bezügen abstrahiert
zialer, auch ein politischer, kultureller und               und in eine formale, mathematisch bzw.
historischer, ja selbst die individuellen ge-               maschinell verarbeitbare Sprache über-
netischen Dispositionen spielen hier eine                   setzt werden. In jedem Falle sind die am
Rolle. All das, was einen Menschen prägt                    Ende präsentierten Zahlen, Grafiken und
und beeinflusst, ermöglicht und erschwert                   Empfehlungen Resultat eines reduzierten
das Nach-außen-tragen und Verwirkli-                        Selbst. Insofern anschließend auf Basis
chen von Potenzialen.22 Zugleich ist das                    eines in dieser Weise reduzierten Selbst
(pädagogische) Gegenüber ebenfalls von                      eine Selbstoptimierung stattfindet, handelt
Einflüssen des eigenen Raumes und der                       es sich notwendigerweise um eine optima-
eigenen Kontexte gekennzeichnet. Diese                      le Selbstverfehlung.
Einflüsse prägen das, was sich zeigt, was
für eine Person überhaupt sichtbar, wahr-
nehmbar, einsehbar ist.                                     Anmerkungen
    Die Möglichkeiten des Menschen und
deren Verwirklichung sind demzufolge in                     1     Wolf, Gary (2010). The Data-Driven Life. The
höchstem Maße abhängig von jenem Bil-                             New York Times Magazine. URL: http://nyti.
dungsraum, der ermöglichend und ver-                              ms/2gjfz3H (Zugriff am 01.03.2021)
schließen, bei alledem aber ganz sicher                     2     vgl. Platon. (2015). Sämtliche Werke. Band
                                                                  1. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 175
medialen Charakter hat. Die Reflexion und
                                                            3     Aurel, Mark (2010). Selbstbetrachtungen
Bewusstwerdung der eigenen Möglich-                               (hrsg. u. übersetzt v. Rainer Nickel). Patmos:
keiten findet als Prozess statt und bleibt                        Mannheim
unabgeschlossen. Erst die Bedeutung, die                    4     Mau, Steffen (2017). Das metrische Wir.
das Wahrgenommene für den Menschen                                Über die Quantifizierung des Sozialen

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(2 Aufl.). Berlin: Suhrkamp, S. 168 (Hervorh.          14    Eine detaillierte Darstellung und Analyse von
     v. T.D.)                                                     Differenzierungsansätzen der Begriffe Tech-
5    vgl. Han, Byung-Chul (2014). Psychopolitik.                  nik und Technologie findet sich bei Euler,
     Neoliberalismus und die neuen Machttechni-                   Peter (1999). Technologie und Urteilskraft.
     ken. Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 79                    Zur Neufassung des Bildungsbegriffs. Wein-
6    vgl. Sesink, Werner (2001). Einführung in die                heim: Deutscher Studien Verlag, S. 100ff.
     Pädagogik. Münster, Hamburg, Berlin: Lit,              15    Heidegger, Martin (1982 [1962]). Die Technik
     S. 182                                                       und die Kehre (5 Aufl.). Pfullingen: Günther
7    Klafki, Wolfgang ([1985] 2007). Neue Studien                 Neske.
     zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemä-            16    vgl. Ribolits, Erich (2015). Warum Bildung
     ße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive                bei der Überwindung der Machtverhältnis-
     Didaktik (6. neu ausgestattete Aufl.). Wein-                 se nicht hilft, zu deren Erhalt aber ganz we-
     heim und Basel: Beltz, S. 19                                 sentlich beiträgt. In Eveline Christhof & Erich
8    Anderson, Chris (2013). Das Ende der                         Ribolits (Eds.), Bildung und Macht. Eine kriti-
     Theorie. In H. Geiselberger & T. Moorstedt                   sche Bestandsaufnahme (S. 169-192). Wien:
     (Hrsg.), Big Data. Das neue Versprechen                      Erhard Löcker, S. 172f.
     der Allwissenheit (S. 124-130). Berlin: Suhr-          17    vgl. ebd.
     kamp, S. 126                                           18    Heidegger, Martin (2003). Die Zeit des Welt-
9    ebd., S. 128                                                 bildes (1938). In Friedrich-Wilhelm v. Herr-
10   vgl. Grunwald, A. (2019). Der unterlegene                    mann (Hrsg.), GA 5: Holzwege (1935-1946)
     Mensch. Die Zukunft der Menschheit im An-                    (2 Aufl., S. 75-96). Frankfurt am Main: Vittorio
     gesicht von Algorithmen, künstlicher Intelli-                Klostermann, S. 92
     genz und Robotern. München: Riva Verlag,               19    vgl. ebd. S. 77.
     S. 170                                                 20    vgl. Heydorn a.a.O., S. 261f.
11   vgl. Heydorn, Heinz-Joachim (2004 [1974]).             21    vgl. Loch, Werner (1980). Der Mensch im
     Überleben durch Bildung. Umriß einer Aus-                    Modus des Könnens. Anthropologische
     sicht. In ders.: Bildungstheoretische und pä-                Fragen pädagogischen Denkens. In Eckard
     dagogische Schriften 1971-1974 (Irmgard                      König & Horst Ramsenthaler (Hrsg.), Diskus-
     Heydorn, Hartmut Kappner, Gernot Koneffke,                   sion Pädagogische Anthropologie (S. 191-
     & Edgar Weick (Hrsg.)). Wetzlar: Büchse der                  225). München: Wilhelm Fink Verlag, S. 195
     Pandora, S. 261                                        22    vgl. Sesink, Werner (2016). Bildung - ein
12   vgl. Brown, Wendy (2015). Die schleichende                   Versuch über ihren Versuch. In D. Verstän-
     Revolution. Wie der Neoliberalismus die De-                  dig, Jens Holze, & Ralf Biermann (Hrsg.), Von
     mokratie zerstört. Berlin: Suhrkamp, S. 35f.                 der Bildung zur Medienbildung (S. 211-228).
13   vgl. Heydorn a.a.O., S. 263.                                 Wiesbaden: Springer VS, S. 224

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