"Sich in die Welt hinaus lesen". Weltliteratur im Unterricht Deutsch- und Fremdsprachenunterricht (2010-2012)
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„Sich in die Welt hinaus lesen“. Weltliteratur im Unterricht Deutsch- und Fremdsprachenunterricht (2010-2012) Ein Pilotprojekt des Österreichischen Kompetenzzentrums für Deutschdidaktik der Alpen-Adria- Universität Klagenfurt in Kooperation mit kommEnt (Gesellschaft für Kommunikation und Entwicklung) in Salzburg unter wissenschaftlicher Leitung von Univ.-Prof. Dr. Werner Wintersteiner; wissenschaftliche Koordination: Dr. Hajnalka Nagy. Die Idee: Literarische Bildung für die Weltgesellschaft In Zeiten, wo Migration, Mehrsprachigkeit und Multikulturalität nicht nur das gesellschaftliche System, sondern auch die kulturelle und literarische Landschaft radikal verändern, soll auch literarische Bildung neue Akzente setzen und auf Globalisierungsprozesse in adäquater Form reagieren. In diesem Sinne entstand die Idee einer „transkulturellen Literaturdidaktik“, die sich als Bestandteil des neuen Bildungskonzepts „Globales Lernen“ versteht und zum Ziel setzt, einen spezifisch ästhetischen Beitrag zu einer Erziehung für eine solidarische Weltgesellschaft zu leisten. Literarische Bildung soll in diesem Sinne nicht länger als „nationale Bildung“ verstanden werden, die sich an einem monokulturellen, einsprachigen „Bildungsideal“ orientiert. Sie soll vielmehr „globale Bildung“ sein, die den Respekt vor der Verschiedenheit, d.h. vor der 'Andersheit' des/der Anderen, zum zentralen Programm macht. Der Weltliteratur, verstanden als „Literatur der Weltgesellschaft“, kommt in dieser „globalen“ literarischen Bildung ein besonderer Stellenwert zu: Mit ihren universellen Fragestellungen wird sie der Vielfalt und der Verflechtung der Kulturen gerecht. Der Begriff der Neuen Weltliteratur Der Terminus Weltliteratur, in der Literaturwissenschaft lange Zeit als „unscharf, historisch obsolet, kaum theoriefähig und methodisch unzulänglich“ (Schmeling 1995) abgetan, wird in den letzten Jahren wieder heftig diskutiert. Doch hat der Begriff in der letzten Zeit einen radikalen Bedeutungs- und Funktionswandel erlebt. Früher wurde Weltliteratur entweder als Summe sämtlicher Nationalliteraturen (also ein quantitatives Nebeneinander unabhängiger Literaturen) oder als eine Sammlung der „besten Werke“, d.h. als ein auf normativen Wertvorstellungen beruhender „weltliterarischer Kanon“, oder aber als Summe menschlicher Erfahrungen und Eigenschaften (im Sinne des Allgemein-Menschlichen) betrachtet. Dieses alte Konzept berücksichtigte hauptsächlich Literaturen des Zentrums „Europa“, die ihrerseits stark national geprägt waren. Heute wird jedoch der Begriff der Nationalliteratur immer fragwürdiger: In mehrsprachigen Ländern, wo literarische und sprachliche Grenzen nicht unbedingt die politischen und nationalstaatlichen Grenzen decken, kann von einer monokulturellen Nationalliteratur nicht 1
(mehr) die Rede sein, ebenso wenig wie im Falle von Migrations- und Exilliteratur. Die Verabschiedung der Idee der Nationalliteratur ist einer der Gründe, warum die Neubewertung der Weltliteratur unabdingbar geworden ist. Ein zweiter Grund besteht in der Kritik der kulturellen Dominanz des Westens über die Weltkultur durch postkoloniale WissenschaftlerInnen: „Während einst die Weitergabe nationaler Traditionen das Hauptthema einer Weltliteratur war, können wir jetzt möglicherweise annehmen“ – so Homi K. Bhaba –, „daß transnationale Geschichten von Migranten, Kolonisierten oder politischen Flüchtlingen – diese Grenzlagen – die Gebiete der Weltliteratur sein könnten“. Nicht zuletzt macht die Globalisierung, die unser soziales Leben verändert, eine Neudefinition des Begriffes Weltliteratur notwendig: Menschen erleben Fremdheit und Andersheit durch Migration und Exil, aber ebenso durch Grenzüberschreitungen aller Art, wie Reise in die Ferne, Begegnungen mit Ausländern, internationale und virtuelle Vernetzungen. Die Literatur reflektiert diese kulturellen Vernetzungen: „Es entsteht eine Literatur, die ihrem Ursprung nach nicht an einen Ort gebunden ist, die zwischen den Kulturen wandelt und deshalb wirklich welthaltig ist. Welt-Erfahrung ersetzt heute das Wort vom Allgemein-Menschlichen und läßt den Leser nicht nur am Universellen der menschlichen Existenz teilhaben, sondern auch an globalen Ereignissen.“ (Kert Walstra 1995) Die Neue Weltliteratur behandelt in diesem Sinne bevorzugt Themen wie Mehrfachidentitäten, Heimatverlust, Mehrsprachigkeit, räumliche Bewegungen sowie die Beziehungen des Fremden und des Eigenen und kehrt den statisch- normativen Charakter des alten Konzepts in ein dynamisches Wissensmodell um, das seine Erkenntnisse aus dem „wechselseitigen Austausch transnationaler Welterfahrung“ (Goßens 2010) gewinnt. Zusammengefasst: Die Neue Weltliteratur versteht sich weder als Summe sämtlicher Literaturen der Welt, noch als Kanon der besonders repräsentativen Werke einzelner Literaturen, sondern als „Spiegel der jeweiligen Weltwahrnehmung“ (Moretti) oder als „ein Medium des Aushandelns kultureller Widersprüche und Antagonismen“ (Bachmann-Medick). Weltliteratur wird auf diese Weise nicht nur als Resultat, sondern auch als Prozess eines globalisierten kulturellen Austausches sichtbar, als eine „wechselseitige Befruchtung des Mannigfaltigen“ (Erich Auerbach), der auf keinen anderen Raum, als die Erde (Welt) festzulegen wäre. Das Projekt: PilotlehrerInnen erproben weltliterarische Texte im Unterricht In den neuen österreichischen Lehrplänen finden sich zwar Verweise auf die Kenntnis des weltliterarischen Kontexts und die „multikulturellen Bezüge“ der deutschsprachigen Literatur, außer einigen Einzelinitiativen spielen jedoch Weltliteratur und Literatur der Minderheiten in Österreichs Schulen noch immer eine untergeordnete Rolle. Das Pilotprojekt „Sich in die Welt hinaus lesen“. Weltliteratur im Unterricht beabsichtigt eine Pionierarbeit in diesem Feld zu 2
leisten, indem es Impulse für die schulische Arbeit mit „weltliterarischen Texten“ gibt und die Einsatzmöglichkeiten der Texte im Deutsch- und Fremdsprachenunterricht überprüft. Als Textgrundlage dienen dabei Werke der postkolonialen Literatur (Literatur des Südens) der Gegenwart, in denen die für unsere „globale“ Gesellschaft wichtigen Fragestellungen im Mittelpunkt stehen, wie z.B. Fragen der Identität und der Zugehörigkeit, Beziehungen vom Eigenen und Fremden, Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Diese Themenschwerpunkte ermöglichen auch, die behandelten Texte mit der europäischen Literatur (deutschsprachige Literatur, Literatur der nationalen Minderheiten und der Nachbarländer Österreichs) zu vergleichen. In der Textauswahl wurden nicht nur die kanonischen, sondern auch andere Gattungen – Filme, Songs, Comics, Bilderbücher – berücksichtigt, um die Weltliteratur für SchülerInnen durch vielfältige literarische Formen attraktiv zu machen. Der Projektablauf 1. Zunächst erhalten die LehrerInnen im Frühling 2011 (18.3.2011) eine thematische Einführung in Form eines Bundesseminars an der PH Kärnten, wo ihnen das Grundkonzept vermittelt wird und konkrete Unterrichtsvorschläge im Umgang mit Weltliteratur geboten werden. Das Seminar richtet sich an Deutsch- und FremdsprachenlehrerInnen, die über die Einsatzmöglichkeiten weltliterarischer Texte im Unterricht mehr erfahren, ihre Fachkompetenz auf dem Gebiet des „globalen Lernens“ und ihre interkulturelle Kompetenz vertiefen möchten. Die TeilnehmerInnen werden sich mit ausgewählten Texten der Weltliteratur auseinandersetzen und in vielfältige Themen einen Einblick gewinnen. Sie werden sich auch mit Methoden vertraut machen können, anhand derer sie die Texte im Unterricht effizient einsetzen können. Das Seminar kann auch von Lehrkräften besucht werden, die sich nicht (oder noch nicht) sicher sind, ob sie an dem Projekt selbst beteiligen möchten. 2. Im Herbst 2011 (30.9.2011) wird ein zweites Bundesseminar für diejenigen LehrerInnen angeboten, die im Rahmen des Projektes weltliterarische Texte im eigenen Unterricht erproben und die Arbeit im Unterricht dokumentieren möchten. Im Seminar werden die Projektpläne diskutiert und theoretische Kenntnisse im Bereich „globales Lernen“ und „transkulturelle Literaturdidaktik“ vertieft. 3. Parallel dazu bzw. anschließend werden diese theoretischen Überlegungen und die Materialien in der Unterrichtspraxis in den Klassen der Sekundarstufe I und II erprobt. Die Lehrkräfte können dabei die von den Projektleitern bereitgestellten Unterlagen nach Belieben ihren Unterrichtsbedürfnissen anpassen oder auch zusätzliche Materialien entwickeln und eigene Ideen 3
verwirklichen. Die schulischen Projekte werden anhand der eigenen Projektideen der LehrerInnen im Schuljahr 2011/2012 realisiert. 4. Um die Kooperation zwischen den Schulen und den Projektleitern, die Betreuung der einzelnen Projekte und die Kommunikation zwischen den PilotlehrerInnen zu erleichtern, wird eine Moodle- Plattform eingerichtet. Auf dieser Plattform wird möglich, Unterrichtsmaterialien zu speichern, Erfahrungen, Fragen und Schwierigkeiten zu besprechen. Zusätzlich ist eine ähnliche Plattform für die SchülerInnen geplant, um die Interaktion zwischen Lehrkräften und SchülerInnen sowie den SchülerInnen untereinander zu fördern. 5. Am Ende des Schuljahres 2011/2012, nach der Realisierung der Projekte, wird eine Abschlusspräsentation angeboten mit einem Diskussion-Roundtable. Das Ziel ist, die „visualisierten“ Ergebnisse der Projekte zu präsentieren und Projektleitung und LehrerInnen noch einmal zusammenzuführen, um weiterführende Fragen zu diskutieren. 6. Anschließend werden die Erfahrungen ausgewertet und dokumentiert. Diese Dokumentation soll publiziert werden, damit auch andere Lehrkräfte von den Projekten der PilotlehrerInnen Nutzen ziehen können. Angesprochen werden LehrerInnen der Unterrichtsfächer (Deutsch und Fremdsprachen) der Sekundarstufe I und II aller Schultypen (HS, NMS, AHS- Sek I, AHS- Sek II, BAKIP, HAK, HUM, HTL) und auch LehrerInnen der Schulen, die als Unterrichtssprache Kroatisch, Slowenisch, Tschechisch oder Ungarisch haben. Ziele Das Projekt versteht sich als Fortsetzung des Projektes „Zwischen Welten Lesen“, in dem bereits im Schuljahr 2008/2009 PilotlehrerInnen sich mit der Idee der „transkulturellen Literaturdidaktik“ in der Schulpraxis auseinandersetzten. Damals haben sich 8 Schulen am Projekt beteiligt, wo die DeutschlehrerInnen mit Texten der deutschsprachigen Literatur und Minderheitenliteratur die Möglichkeiten einer neuen Literaturdidaktik erprobt haben. Das aktuelle Projekt möchte einen Schritt weitergehen, indem es ausgewählte weltliterarische Texte (vor allem aus Afrika, Lateinamerika, Indien, Japan und China) in den Mittelpunkt stellt. Dabei geht es aber nicht nur darum, neue Texte einzusetzen, sondern zugleich darum, die Texte „neu“ einzusetzen – indem sie bewusst in ihrer speziellen Ästhetik wahrgenommen werden. Auf diese Weise wird der transkulturelle Kern des Textes durch seine ästhetische Form sichtbar. Das bedeutet, dass im Literaturunterricht die weltliterarischen Texte nicht auf die Funktion des „Wissensvermittlers“ reduziert werden; die Texte werden nicht einfach als „Träger 4
landeskundlicher Informationen“ betrachtet, sondern die komplexen Bedeutungen des Textes werden literarisch ausgelotet. Das Interesse gilt im Grunde genauso der sprachlichen Form wie dem Inhalt. Durch diesen doppelten Fokus werden jene Interpretationsstrategien hinterfragt, die sich ausschließlich auf die erzählte Geschichte, nicht aber auf das Erzählen der Geschichte konzentrierten. Durch diese Zugangsweise hoffen wir, dem „Exotismus“ entgegenzuwirken – einer Haltung, die Texte aus dem Süden als „fremd“, „unzugänglich“ und „seltsam“ abstempelt, als absoluter Gegensatz zum „Eigenen“, also „Europäischen“. Im Umgang mit der postkolonialen Literatur wird deutlich, dass solche Entgegensetzungen nicht länger haltbar sind: Die (europäischen) LeserInnen werden zwar immer wieder mit fremden Welten konfrontiert, deren Fremdheit kann jedoch gerade durch die literarische Rezeption, also durch die Beziehung von Form und Inhalt bewusst gemacht werden. Durch die Akzentuierung der Fremdheit in der Literatur und der Fremdheit der Literatur stellt sich die transkulturelle Literaturdidaktik dem Grundproblem bei der Begegnung mit dem Fremden. Ihr Ziel besteht nicht darin, den „geglückten Umgang mit dem Fremden“ zu organisieren, sondern sie strebt einen Umgang mit Literatur an, bei dem es darum geht, Fremdheitserfahrungen auszuhalten, zu beobachten und zu reflektieren. Diese multiperspektivische Beachtung von Literatur, die Konfrontation mit anderen Standpunkten und der neue Umgang mit dem Fremden, das zuweilen auch unverständlich und fremd bleibt, macht die Identität auch als Produkt und Prozess transkultureller Auseinandersetzungen erfahrbar. Durch die Öffnung der literarischen Bildung für weltliterarische Texte und für das „Transkulturelle“ schlechthin kann, so steht zu hoffen, das ethno-und eurozentrische Denken überwunden und das national „Eigene“ dekonstruiert werden. Auf dieser Grundlage können Lernende zu bewussten WeltbürgerInnen erzogen werden, die die kulturellen Vielfalt der Welt nicht nur kennen und verstehen, sondern damit auch kompetent umgehen können. Literaturhinweise - Theresia Ladstätter / Werner Wintersteiner (Hg.): Zwischen Welten Lesen. Transkulturelle Unterrichtsmodelle für die Sekundarstufen (KMS; AHS; BHS). Klagenfurt/Wien 2010. Gratis Download: http://www.uni-klu.ac.at/deutschdidaktik/downloads/zwischenweltenlesen.pdf - Nicola Mitterer / Werner Wintersteiner (Hg.): Weltliteratur. Informationen zur Deutschdidaktik (ide) Heft 1/2010 5
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