Sicherer Zugang Die humanitären Aufnahmeprogramme für syrische Flüchtlinge in Deutschland

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FORSCHUNGSBEREICH

Sicherer Zugang
Die humanitären Aufnahmeprogramme für
syrische Flüchtlinge in Deutschland

Policy Brief des SVR-Forschungsbereichs 2015-1
Der Policy Brief wurde gefördert von der Stiftung Mercator

Der Sachverständigenrat ist eine Initiative von:
Stiftung Mercator, VolkswagenStiftung, Bertelsmann Stiftung, Freudenberg Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft
und Vodafone Stiftung Deutschland

FORSCHUNGSBEREICH

Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung.............................................................................................................................................................                 4

1. Die flüchtlingspolitischen Auswirkungen des Bürgerkriegs in Syrien. .........................................                                                                             6
      1.1 Massive Fluchtbewegungen in die Nachbarstaaten............................................................................................                                         6
      1.2 Flüchtlingspolitische Herausforderung für Industriestaaten..............................................................................                                           6
      1.3 Deutschland als Vorreiter?.........................................................................................................................................                7

2. Handlungsoptionen der Flüchtlings­politik.....................................................................................................                                           8
      2.1 Humanitäre Hilfe in der Krisenregion: möglichst viele Menschen unterstützen. .........................................                                                            9
      2.2 Asylverfahren: wichtigster Zugangsweg, aber kaum steuerbar.......................................................................                                                 9
      2.3 Kollektive Aufnahmeprogramme: der flüchtlingspolitische Königsweg? . ....................................................                                                        11

3. Die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in Deutschland............................................................................... 13
      3.1    Erstes Bundesprogramm............................................................................................................................................             14
      3.2    Länderprogramme.......................................................................................................................................................        17
      3.3    Um- und Ausbau des Bundesprogramms...............................................................................................................                             20
      3.4    Gesamtbilanz der Aufnahme in Deutschland........................................................................................................                              20

4. Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen................................................................................. 25
      4.1    Aufnahmeprogramme weiterführen.......................................................................................................................                         25
      4.2    Integrationsfähigkeit vs. besonderer Schutzbedarf: Aufnahmekriterien sollten ausgewogen sein. .......                                                                         25
      4.3    Verpflichtungserklärungen zeitlich befristen und flexibler gestalten.............................................................                                             25
      4.4    Flüchtlingspolitische Instrumente komplementär einsetzen............................................................................                                          26
      4.5    Kohärenz steigern: Rechte von Flüchtlingen mit unterschiedlichem Aufenthaltsstatus angleichen . .....                                                                         26
      4.6    Wege nicht humanitärer Migration stärker propagieren....................................................................................                                      27
      4.7    Verstetigung des Aufenthalts eröffnen. .................................................................................................................                      27
      4.8    Bemühungen um eine europaweite Aufnahme fortsetzen...............................................................................                                             28

Literatur.................................................................................................................................................................................... 29

Anhang...................................................................................................................................................................................... 33

                                                                                                                                                                                                   3
Zusammenfassung

    Zusammenfassung
    Der seit 2011 anhaltende Bürgerkrieg in Syrien hat zu     hohen Flüchtlingsaufkommens gerät das Gemeinsame
    einer humanitären Krise von enormem Ausmaß ge-            Europäische Asylsystem unter Druck, erste Schritte zu
    führt, die sich immer weiter zuspitzt: Etwa die Hälf-     einer Umverteilung von Flüchtlingen aus den europäi-
    te der Bevölkerung Syriens ist auf der Flucht. In den     schen Grenzstaaten wurden eingeleitet. Die akute Kri-
    Anrainerstaaten Türkei, Libanon, Jordanien, Irak und      sensituation zeigt umso mehr den Bedarf an Wegen,
    Ägypten sind über vier Millionen Flüchtlinge regist-      die Flüchtlingen einen sicheren und legalen Zugang
    riert; deren Versorgung ist jedoch vollkommen unzu-       nach Europa ermöglichen. Der vorliegende Policy
    reichend. Zunehmend kommt es auch zu Spannungen           Brief untersucht die deutschen humanitären Aufnah-
    zwischen Flüchtlingen und der Bevölkerung in diesen       meprogramme, die als Vorbild für ein koordiniertes
    Staaten. Angesichts der hohen Flüchtlingszahlen ha-       europäisches Aufnahmeprogramm dienen können.
    ben die Nachbarstaaten teilweise ihre Grenzen für             Deutschland als bevölkerungsreichster und wirt-
    weitere Flüchtlinge geschlossen.                          schaftlich stärkster EU-Mitgliedstaat hat sich in beson-
        Bislang hat sich die internationale Staatengemein-    derem Maße engagiert, um die humanitären Folgen
    schaft bei der Versorgung syrischer Bürgerkriegsflücht-   der Syrienkrise abzumildern: Einerseits leistet die
    linge vor allem mit finanzieller und logistischer Hilfe   Bundesrepublik umfangreiche humanitäre Hilfe in
    engagiert und nur wenigen Flüchtlingen außerhalb          der Region, andererseits hat Deutschland von 2011
    der Region Schutz gewährt. Seit Beginn des Bürger-        bis August 2015 mindestens 150.000 Syrern Zuflucht
    kriegs hat sie die Aufnahme von rund 140.000 Perso-       gewährt und damit deutlich mehr als andere Indus-
    nen zugesagt, doch bisher wurde davon nur ein Teil        triestaaten. Davon erfolgte bei mehr als 35.000 sy-
    aufgenommen. Allerdings sind die Kapazitäten der          rischen Flüchtlingen eine humanitäre Aufnahme aus
    Aufnahmeprogramme gemessen an vier Millionen              dem Krisengebiet, die durch drei Bundes- und fünf-
    syrischen Flüchtlingen in der Region bislang gering.      zehn Länderprogramme umgesetzt wurde. Bei der
    Eine Folge davon ist, dass Flüchtlinge zunehmend          Auswahl wurde sowohl der besondere Schutzbedarf
    die irreguläre und oftmals lebensgefährliche Reise        berücksichtigt als auch bereits bestehende Bezüge zu
    über das Mittelmeer oder auf dem Landweg auf sich         Deutschland; dabei unterscheiden sich die Zugangs-
    nehmen, um auf europäischem Boden einen Asyl-             möglichkeiten bei den einzelnen Programmen erheb-
    antrag zu stellen. Insgesamt haben ab dem Ausbruch        lich. Auch die Rechtsfolgen für die aufgenommenen
    des Bürgerkriegs bis August 2015 über 330.000 Sy-         Flüchtlinge sind im Vergleich zum Asylverfahren unter-
    rer einen Asyl­erstantrag in der Europäischen Union       schiedlich, etwa die Möglichkeiten der Aufenthaltsver-
    gestellt, davon über 110.000 in Deutschland. In den       festigung, der Zugang zu Sozial- und Gesundheitsleis-
    Sommermonaten 2015 nahm die Dynamik des Zuzugs            tungen und der Zugang zu Integrationskursen.
    deutlich zu: Zehntausende syrische Schutzsuchende er-         Die Aufnahmeprogramme von Bund und Ländern
    reichten die Europäische Union. Angesichts des sehr       bilden eine sinnvolle Ergänzung zum Asylverfahren.

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FORSCHUNGSBEREICH

Sie ermöglichen einerseits, schutzbedürftige Personen      eine humanitäre Aufnahme. Im Sinne von Chancen-
gezielt aufzunehmen und diesen eine sichere Einreise       gleichheit und Entlastung der Erstaufnahmestaaten
nach Deutschland zu gewähren. Andererseits entlas-         sollte sichergestellt werden, dass künftige Program-
ten sie die Erstaufnahmestaaten in der Region und tra-     me besonders vulnerable Flüchtlinge stärker berück-
gen somit auch dazu bei, die Situation der Flüchtlinge     sichtigen.
zu verbessern, die in der Region verbleiben.                    Über die Programme werden die Flüchtlinge zu-
     Mit den Aufnahmeprogrammen für Syrienflüchtlin-       nächst temporär aufgenommen. Wie lange sie in
ge hat Deutschland eine Infrastruktur (‚Brücke nach        Deutschland bleiben werden, ist angesichts des an-
Deutschland‘) errichtet, die als Modell für die weite-     haltenden Bürgerkriegs in Syrien nicht absehbar. Das
re Aufnahme schutzbedürftiger Personen auch über           ­erzeugt Unsicherheit, sowohl bei den Flüchtlingen
Deutschland hinaus dienen kann. Die temporären              selbst als auch bei der Aufnahmegesellschaft. Daher
Aufnahmeprogramme sollten auch in künftigen Kri-            sollte frühzeitig und klar kommuniziert werden, wann
sensituationen zur Anwendung kommen.                        und unter welchen Bedingungen der temporäre Auf-
     Bei ihrer Ausgestaltung sollten aufbauend auf den      enthalt in einen Daueraufenthalt umgewandelt wer-
Erfahrungen mit den bisherigen Programmen eini-             den kann.
ge Dinge verbessert werden, so das Fazit des Policy             Bemühungen um umfangreiche und koordinierte
Briefs. Dies betrifft etwa das Nebeneinander mehre-         europäische Aufnahmeprogramme für syrische Bür-
rer Programme bzw. Aufenthaltstitel – Asylverfahren,        gerkriegsflüchtlinge sind bisher gescheitert. Den-
Bundesprogramme, Länderprogramme –, bei denen               noch sollte dieser Weg mit Nachdruck weiter ver-
sich die Rechte für die gleiche Zielgruppe deutlich         folgt werden. Dies wäre auch ein flüchtlingspolitisches
unterscheiden. Das ist zum einen für die Betroffenen        Signal in die Krisenregion. Selbst wenn sich nicht alle
nicht nachvollziehbar, zum anderen hat es für die zu-       EU-Staaten daran beteiligen, könnte eine „Koalition
ständigen Verwaltungen erheblichen Mehraufwand              der Aufnahmebereiten“ gebildet werden. Zudem sollte
verursacht. Insbesondere Flüchtlinge in den Länder-         die EU die temporären Aufnahmeprogramme finanzi-
programmen sind rechtlich schlechtergestellt. Deshalb       ell unterstützen, ähnlich wie bei den Programmen zur
ist knapp die Hälfte aller Flüchtlinge, die über Länder-    dauerhaften Umsiedlung von Flüchtlingen aus Dritt-
programme aufgenommen wurden, ins Asylverfahren             staaten (Resettlement) oder innerhalb der EU (Reloca-
gewechselt. Der SVR-Forschungsbereich empfiehlt             tion). Staaten, die sich nicht an Aufnahmeprogrammen
daher, die Rechte so weit wie möglich anzugleichen.         beteiligen, würden somit zumindest andere finanziell
     Ein weiterer Punkt ist der starke Fokus auf schon      dabei unterstützen.
bestehende Beziehungen zu Deutschland: Dadurch ha-
ben besonders schutzbedürftige Flüchtlinge, die keine
Kontakte nach Deutschland haben, kaum Chancen auf

                                                                                                                      5
Die flüchtlingspolitischen Auswirkungen des Bürgerkriegs in Syrien

    1. Die flüchtlingspolitischen Auswirkun-                            sie die Grenzen lange offen gehalten hatten (Amnesty
    gen des Bürgerkriegs in Syrien1                                     International 2014; UNHCR 2015b; Icduygu 2015: 7).
                                                                        Das zeigt sich u. a. darin, dass die Zahl der registrierten
                                                                        Flüchtlinge in den letzten Monaten auf hohem Niveau
    1.1 Massive Fluchtbewegungen in die                                 stagniert. Ein Abflauen des Bürgerkriegs in Syrien und
    Nachbarstaaten                                                      der dadurch bedingten Fluchtbewegungen ist einst-
                                                                        weilen nicht abzusehen.
    Der Bürgerkrieg in Syrien hat laut den Vereinten Natio-
    nen die größte humanitäre Krise seit Ende des Zweiten
    Weltkriegs ausgelöst. Ein Ende des Konflikts ist nicht              1.2 Flüchtlingspolitische Herausforderung
    abzusehen (dazu umfassend Perthes 2013; Wieland                     für Industriestaaten
    2015). Seit Ausbruch der Kämpfe im Frühjahr 2011
    sind mindestens 250.000 Menschen ums Leben ge-                      Neben dem Bürgerkrieg in Syrien gibt es anhaltende
    kommen; Millionen Menschen sind auf lebenserhal-                    Konflikte etwa in Afghanistan, im Irak, in Eritrea und
    tende Unterstützungsleistungen angewiesen. Bei einer                weiteren Krisenregionen. Infolgedessen gibt es der-
    Bevölkerung von rund 22 Millionen Menschen vor dem                  zeit weltweit rund 60 Millionen Schutzbedürftige, die
    Krieg sind insgesamt rund 12 Millionen auf der Flucht,              größte Zahl seit Ende des Zweiten Weltkriegs (UNHCR
    davon rund 7,6 Millionen innerhalb Syriens (Europäi-                2015c).
    sche Kommission 2015a; IDMC 2015).2                                     Die EU und andere Industriestaaten haben sich bis-
        In den Anrainerstaaten wurden seit 2011 rund                    her überwiegend auf Hilfsmaßnahmen vor Ort kon-
    4 Millionen Flüchtlinge registriert (Abb. 1). Die meis-             zentriert und nur wenige Flüchtlinge selbst aufgenom-
    ten davon haben die Türkei (1,9 Mio.), der Libanon                  men (Akram et al. 2014; Amnesty International 2014;
    (1,1 Mio.) und Jordanien (629.000) aufgenommen.                     Orchard/Miller 2015). Doch mehr als vier Jahre nach
    Auch im Irak (250.000), in Ägypten (132.000) und                    Ausbruch des Bürgerkriegs stehen die Nachbarstaa-
    weiteren Staaten der Region haben zahlreiche Flücht-                ten unter einer zunehmend unhaltbaren Belastung,
    linge aus Syrien Zuflucht gefunden.3 Vom Bürgerkrieg                und so wird international mittlerweile immer stärker
    betroffen sind nicht nur Syrer, sondern insbesondere                darüber diskutiert, wie außerhalb der Krisenregion
    auch ethnische Minderheiten und Flüchtlinge aus an-                 Schutz gewährt werden kann. Nach Einschätzung des
    deren Staaten, die in Syrien leben.4                                UNHCR müssen bis zu 400.000 Flüchtlinge umgesie-
        Trotz der umfangreichen finanziellen und logis-                 delt werden (UNSC 2015). Einzelne Staaten haben
    tischen Hilfe, die Deutschland und die internationa-                entsprechende Aufnahmeprogramme entwickelt,
    le Gemeinschaft in der Region bereitstellen, reichen                doch die Kapazitäten sind bislang gering – gemessen
    in den Nachbarstaaten Syriens die Mittel nicht aus,                 an den Flüchtlingszahlen in der Region, aber auch im
    um die Grundbedürfnisse der Flüchtlinge zu decken                   Vergleich zu früheren Krisen, etwa in Vietnam in den
    (OXFAM 2015; UNHCR 2014d; Becker 2015a). Mit der                    1980er Jahren oder in Bosnien-Herzegowina in den
    Dauer der Auseinandersetzungen in Syrien hat sich                   1990er Jahren (Betts 2006; Hallergård 1998). Sie errei-
    die Situation hier zunehmend verschlechtert (Ayoub/                 chen nicht annähernd die benötigte Größenordnung.
    Khallaf 2014; UNHCR 2015b). So haben die Nachbar-                   Seit Beginn des Bürgerkriegs haben Industriestaaten
    staaten inzwischen den Zugang erschwert, nachdem                    die Aufnahme von rund 140.000 Flüchtlingen zuge-

    1	Dieser Policy Brief wurde begleitet durch die Vorsitzende Prof. Dr. Christine Langenfeld und den stellvertretenden Vorsitzenden
       Prof. Dr. Ludger Pries des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Verantwortlich für diese
       Veröffentlichung ist der SVR-Forschungsbereich. Die Argumente und Schlussfolgerungen spiegeln nicht notwendigerweise die
       Meinung des SVR. Der Autor dankt allen Personen und Institutionen, die sich zu einem Hintergrundgespräch bereit erklärt haben.
       Besonderer Dank gilt dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und dem Auswärtigen Amt für die Bereitstellung von
       Daten. Für das Durchführen einer juristischen Prüfung gebührt Sigrid Gies von der Universität Konstanz ebenso Dank.
    2	Soweit nicht anders ausgewiesen, entsprechen alle Angaben dem Stand vom 15.09.2015.
    3	Stand: 25.08.2015. Aktuelle Zahlen zu den registrierten Flüchtlingen in den Nachbarstaaten und zur Finanzierung der humanitä-
       ren Hilfsprogramme finden sich unter http://data.unhcr.org/syrianrefugees/regional.php.
    4	2011 war Syrien das drittwichtigste Zielland von Flüchtlingen weltweit, dort lebten ca. 750.000 überwiegend irakische Flüchtlinge.
       Besonderen Schutzbedarf haben auch rund 200.000–300.000 staatenlose Kurden (UNHCR 2012: 12, 40; UNHCR 2013; McGee 2013:
       16) und 560.000 registrierte palästinensische Flüchtlinge, die schon seit Langem in Syrien leben (UNRWA 2014; UNHCR 2014c).

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FORSCHUNGSBEREICH

Abb. 1 Registrierte syrische Flüchtlinge in den Anrainerstaaten von Januar 2012 bis September 2015 (in Mio.)

4,5

4,0

3,5

3,0

2,5

2,0

1,5

1,0

0,5

 0
                  April 2012

                                           Okt. 2012
      Jan. 2012

                                                       Jan. 2013

                                                                   April 2013

                                                                                Juli 2013

                                                                                            Okt. 2013

                                                                                                            Jan. 2014

                                                                                                                        April 2014

                                                                                                                                     Juli 2014

                                                                                                                                                    Okt. 2014

                                                                                                                                                                Jan. 2015

                                                                                                                                                                            April 2015

                                                                                                                                                                                         Juli 2015
                               Juli 2012

      Quelle: UNHCR 2015a; eigene Darstellung

sagt, tatsächlich umgesiedelt wurde davon allerdings                                                    80.000 allein im ersten Halbjahr 2015 (Frontex 2015:
erst ein Teil.5                                                                                         57)6; bei Havarien im Mittelmeer kamen Hunderte Sy-
    Der anhaltende Bürgerkrieg, die desolate Lage der                                                   rer ums Leben. Die Syrienkrise macht somit auch deut-
Flüchtlinge in den Nachbarstaaten und die geringen                                                      lich, wie dringlich es ist, für Schutzsuchende sichere Zu-
Kapazitäten der kollektiven Aufnahmeprogramme ha-                                                       gangswege nach Deutschland und Europa zu schaffen.
ben vor allem eine Konsequenz: Immer mehr Flücht-
linge sehen keinen anderen Ausweg, als die irreguläre
und äußerst unsichere Reise über das Mittelmeer zu                                                      1.3 Deutschland als Vorreiter?
wagen, um auf europäischem Boden einen Asylantrag
zu stellen. Insgesamt haben seit Ausbruch des Bürger-                                                   Deutschland ist einer der wenigen Staaten, die rela-
kriegs über 260.000 Syrer in den EU-Mitgliedstaaten                                                     tiv früh in substanziellem Umfang syrische Flüchtlinge
Asylanträge gestellt (UNHCR 2015a). Mehr als 150.000                                                    außerhalb des Asylverfahrens aufgenommen haben
von ihnen sind per Boot nach Europa gelangt, rund                                                       (Endres de Oliveira 2014). Ab Mitte 2013 wurden

5	Neben Deutschland haben nur wenige Staaten Aufnahmezusagen in einem substanziellen Umfang gemacht: Das Vereinigte
   Königreich (20.000), Kanada (11.300), Norwegen (9.000), Brasilien (7.380), die Schweiz (8.200) und Australien (5.600). Auch
   die USA haben sich bereit erklärt, eine größere Zahl syrischer Flüchtlinge aufzunehmen. Die Flüchtlinge wurden über unterschied-
   liche Programme aufgenommen, sowohl dauerhaft als auch temporär. Am 20.07.2015 hat sich der EU-Innenministerrat darauf
   geeinigt, in den Jahren 2015 und 2016 rund 20.000 Flüchtlinge, darunter auch Syrer, aus Drittstaaten neu anzusiedeln. Damit
   haben erstmals auch EU-Staaten Aufnahmekontingente zugesagt, die bis dahin noch keine Bürgerkriegsflüchtlinge direkt aus
   Krisenregionen aufgenommen hatten (Council of the European Union 2015). Eine laufend aktualisierte tabellarische Übersicht
   über die Aufnahmezusagen findet sich unter http://www.unhcr.org/52b2febafc5.pdf.
6	Eine laufend aktualisierte Übersicht über die wichtigsten irregulären Einreiserouten findet sich unter http://frontex.europa.eu/
   trends-and-routes/migratory-routes-map/.

                                                                                                                                                                                                     7
Handlungsoptionen der Flüchtlings­politik

    s­ ukzessive drei Bundesprogramme mit insgesamt                  Analyse der deutschen Programme auch für die Ge-
     20.000 Aufnahmeplätzen eingerichtet. Mitte 2015                 staltung bzw. Optimierung entsprechender Ansätze in
     war die Aufnahme nahezu abgeschlossen. Bis zum                  Europa wertvolle Orientierung bieten.
     30. Juni 2015 waren 19.057 Visa erteilt (Auswärtiges                Im zweiten Kapitel werden die wichtigsten flücht-
     Amt 2015b) und bis zum 27. Juli 2015 nachweislich               lingspolitischen Handlungsoptionen Deutschlands dar-
     16.560 Personen eingereist.7 Zudem haben alle Bun-              gestellt. Im zentralen dritten Kapitel werden die Auf-
    desländer mit Ausnahme Bayerns eigene Programme                  nahmeprogramme von Bund und Ländern detailliert
     eingerichtet, über die von Mitte 2013 bis Ende Juni             analysiert.8 Abschließend werden im vierten Kapitel
     2015 16.312 Visa vergeben wurden und 9.609 Perso-               Schlussfolgerungen gezogen und Empfehlungen for-
     nen eingereist sind (BT-Drs. 18/5617). Sowohl bei den           muliert.
     Bundes- als auch bei den Länderprogrammen werden
     die Flüchtlinge temporär aufgenommen.
          Ziel dieser Programme ist, den ausgewählten                2. Handlungsoptionen der Flüchtlings­
     Flüchtlingen eine legale und sichere Einreise nach              politik
     Deutschland zu ermöglichen und ihnen einen Schutz-
     status zu gewähren. Die Voraussetzungen des Zugangs             Politische Entscheidungsträger in Deutschland und
     für Schutzsuchende aus Syrien und nicht zuletzt auch            anderen Industriestaaten stehen vor wachsenden He-
     die Rechtsfolgen einer Aufnahme unterscheiden sich              rausforderungen beim Flüchtlingsschutz. Ins öffentli-
     bei diesen Programmen allerdings erheblich (s. Kap. 3).         che Bewusstsein gerät dies durch die seit 2013 wieder
          Deutschlands Engagement wird international ge-             deutlich steigenden Asylantragszahlen. Asylbewerber
     würdigt: von der EU-Kommission, dem UNHCR, von                  bildeten 2014 mit 1,8 Millionen weltweit aber nur ei-
     Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty Interna-              nen kleinen Teil der Schutzsuchenden: Ihnen stehen
     tional (2014) und auch in wissenschaftlichen Analysen           38,2 Millionen Binnenvertriebene gegenüber, also Per-
     und Berichten (Achilli 2015a; Orchard/Miller 2014). In-         sonen, die innerhalb ihres Herkunftslandes vertrieben
     nerhalb Deutschlands gibt es eine breite Unterstützung          wurden, sowie 19,5 Millionen Flüchtlinge, die zumeist
     für die Programme, aber auch anhaltende innenpoli-              in Nachbarstaaten Zuflucht fanden (UNHCR 2015c:
     tische Kontroversen um ihre konkrete Ausgestaltung.             2). Diese Schutzbedürftigen bilden eine heterogene
     Flüchtlingsorganisationen und Oppositionsparteien               Gruppe, nicht nur in Bezug auf den Aufenthaltsort
     kritisieren insbesondere, dass die Kapazitäten zu ge-           bzw. den aufenthaltsrechtlichen Status, sondern auch
     ring sind, der Aufnahmeprozess zu lange dauert, die             im Hinblick auf den spezifischen Schutzbedarf, den Zu-
     Auswahlkriterien (etwa Staatsangehörigkeit, Aufent-             gang zu Ressourcen, die Situation der Unterbringung
     haltsort, Stichtagsregeln) zu eng gefasst sind und dass         oder die Dauer der Vertreibung. Auf diese vielfältigen
     Angehörige, die bereits in Deutschland leben, sich auf          Situationen und Bedürfnisse können politische Ent-
     unbegrenzte Zeit bereit erklären müssen, sämtliche              scheidungsträger in Deutschland, Europa und anderen
     Lebenshaltungskosten für die aufgenommenen Flücht-              Industriestaaten mit unterschiedlichen flüchtlingspoli-
     linge zu übernehmen.                                            tischen Instrumenten reagieren.
          Ziel dieses Policy Briefs ist, die kollektiven Aufnah-         In der Diskussion um die Aufnahme von Flüchtlin-
     meprogramme für syrische Flüchtlinge in Deutschland             gen steht in Deutschland zumeist das Asylverfahren
     zu analysieren und zu bewerten. Im Fokus stehen da-             im Vordergrund. Denn auf diesem Weg kommen mit
     bei 1) die Auswahlkriterien, 2) die konkreten Prozesse          Abstand die meisten Schutzsuchenden nach Europa,
     und Verfahren bei der Aufnahme und 3) das rechtli-              während organisierte Aufnahmeprogramme nur be-
     che, administrative und organisatorische Verhältnis zu          grenzt eingesetzt werden. Diese Zentralstellung im
     anderen flüchtlingspolitischen Instrumenten. Da auch            öffentlichen Bewusstsein sollte aber nicht den Blick
     andere europäische Staaten zunehmend Flüchtlinge                darauf verstellen, dass das Asylverfahren nur eines
     direkt aus Drittstaaten aufnehmen wollen, kann die              von mehreren flüchtlingspolitischen Instrumenten

    7	Die tatsächliche Zahl der zu diesem Zeitpunkt eingereisten Flüchtlinge dürfte noch etwas höher liegen, da selbst einreisende
       Flüchtlinge die zuständigen Ausländerbehörden häufig mit Verzögerung kontaktieren.
    8	Die Analyse basiert neben der Auswertung von Dokumenten und Daten auf Hintergrundgesprächen mit beteiligten Akteuren
       aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft. Solche Gespräche wurden geführt mit Vertretern von UNHCR, Pro Asyl, Caritas,
       den Ausländerbehörden zweier Großstädte, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), dem Bundesministerium
       des Innern (BMI) und dem Innenministerium eines Bundeslands sowie mit Mitarbeitern zweier Bundestagsabgeordneter, des
       Auswärtiges Amtes und der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

8
FORSCHUNGSBEREICH

ist. Im Wesentlichen gibt es drei flüchtlingspolitische             der Ausbau der Wasser- und Energieversorgung sowie
Handlungsoptionen: humanitäre Hilfe in der Regi-                    Fortbildungen für Mitarbeiter von Organisationen, die
on (s. Kap. 2.1), Aufnahme über das Asylverfahren                   mit Flüchtlingen arbeiten (Europäische Kommission
(s. Kap. 2.2) und kollektive Aufnahmeprogramme                      2013; Papadopoulou 2015).
(s. Kap. 2.3). Eine vierte Option ist schließlich, Perso-
nen mit Schutzbedarf über andere Migrationskanäle
aufzunehmen (s. Info-Box 2).9                                       2.2 Asylverfahren: wichtigster
                                                                    Zugangsweg, aber kaum steuerbar
2.1 Humanitäre Hilfe in der Krisenregion:                           Für das Asylverfahren, den wichtigsten Kanal des
möglichst viele Menschen unterstützen                               Flüchtlingsschutzes in Deutschland, gilt das Territo-
                                                                    rialitätsprinzip: Ein Schutzsuchender kann nur im In-
Nach Ausbruch eines Konflikts ist das Mittel der Wahl               land Asyl beantragen. Den meisten Flüchtlingen aus
in der Regel, Flüchtlinge in der Krisenregion selbst                Krisenregionen stehen jedoch keine legalen Einrei-
zu schützen.10 Neben inländischen Zufluchtsmöglich-                 sewege offen.12 Die meisten Drittstaatsangehörigen
keiten suchen viele zunächst Schutz in den Nachbar-                 benötigen für die Einreise ein Visum; das gilt auch
staaten, vorausgesetzt, dass diese ihre Grenzen of-                 für Bürger von Krisenstaaten wie Syrien, Irak, Eritrea
fen halten. Viele Flüchtlinge verfügen nicht über die               oder Afghanistan. Eine Visumerteilung scheitert aber
erforderlichen finanziellen Ressourcen oder sozialen                an fehlenden Dokumenten oder finanziellen Ressour-
Netzwerke, um in weiter entfernte Industriestaaten                  cen und daran, dass die Auslandsvertretungen davon
zu wandern; ferner haben die meisten zunächst den                   ausgehen, dass die Antragsteller nicht zurückkehren
Wunsch, nach Ende des fluchtauslösenden Konflikts                   wollen (Long 2015; s. Info-Box 2). Das führt dazu, dass
schnell in die Heimat zurückzukehren.                               sich nahezu alle Schutzsuchenden ohne gültiges Vi-
    Westliche Staaten und Nichtregierungsorganisati-                sum auf den hochriskanten Weg nach Europa machen.
onen können Hilfe leisten, indem sie internationale                 Die EU-Außengrenzen wurden in den vergangenen
Organisationen finanziell unterstützen oder sie mit ei-             Jahren immer stärker gegen irreguläre Einreisen ge-
genem Personal unmittelbar logistisch unterstützen.                 sichert (UNHCR 2014c), doch davon lassen sich viele
Die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen                   Flüchtlinge – mangels Alternativen – nicht abschrecken
in der Region ist in der Regel kostengünstiger als in               (Brian/Laczko 2014; Fargues/Bonfanti 2014). Im Jahr
westlichen Zielstaaten; so können bei gleichem Mittel­              2014 etwa wurden an den EU-Außengrenzen 283.532
einsatz deutlich mehr Personen von der Unterstützung                irreguläre Einreisen registriert, davon 220.194 an See-
profitieren.11 Mit Regionalen Schutzprogrammen ver-                 grenzen. Bei vielen dieser Menschen handelte es sich
fügt die Europäische Union seit 2007 über ein gemein-               um Schutzsuchende (Frontex 2015: 57). Insgesamt
sames Instrument, um die Schutzsituation und die Auf-               wurden 2014 in den Staaten der Europäischen Union
nahmebedingungen in Krisenregionen für Flüchtlinge                  570.820 Asylerstanträge gestellt (UNHCR 2015d: 20).
und Erstaufnahmegesellschaften zu verbessern. Als                   Im gleichen Zeitraum wurden 3.279 Todesfälle von
Reaktion auf die Syrienkrise wurde im Jahr 2014 auch                Flüchtlingen registriert, die bei dem Versuch starben,
ein Regionales Entwicklungs- und Schutzprogramm für                 über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen (IOM
den Mittleren Osten eingerichtet, um sowohl die Be-                 2015). Die Dunkelziffer dürfte noch deutlich höher lie-
völkerungen Jordaniens, des Libanon und des Irak als                gen. Im Jahr 2015 ist sowohl die Zahl der Zuzüge über
auch die Flüchtlinge in diesen Ländern zu unterstützen.             das Mittelmeer als auch die der Asylanträge in der EU
Zu den wichtigsten Maßnahmen neben der Grundver-                    deutlich angestiegen. Die Zahl der Todesfälle lag bis
sorgung zählen Arbeits- und Ausbildungsförderung,                   Mitte September bei rund 2.900.13

 9	Hier werden nur Instrumente betrachtet, die direkt auf bereits vorhandene Flüchtlingsbewegungen angewandt werden können.
    Ausgeklammert werden somit längerfristige und präventive Strategien der Sicherheits- und Entwicklungspolitik, die Fluchtbe­we­
    gungen verhindern bzw. Rückkehrperspektiven schaffen können (Angenendt 2014).
10	Humanitäre und logistische Unterstützung kann auch in Transitstaaten geleistet werden.
11	Das Deutsche Rote Kreuz kann in der Syrienkrise nach eigenen Angaben mit 99 Euro eine fünfköpfige Familie drei Monate mit
    Nahrung versorgen. In Deutschland beläuft sich der Regelbedarf in der Grundsicherung auf ein Vielfaches.
12	Die Einreise an sich ist illegal, aber im Fall eines anerkannten Schutzbedarfs nach § 95 AufenthG i. V. m. Artikel 31 der Genfer
    Flüchtlingskonvention nicht strafbar.
13	Ständig aktualisierte Zahlen zu den Zuzügen und den Todesfällen finden sich unter http://missingmigrants.iom.int/.

                                                                                                                                       9
Handlungsoptionen der Flüchtlings­politik

     Zugangsbarrieren schließen besonders vulnerable                      gewähren sind (Qualifikationsrichtlinie, RL 2011/95/
     Flüchtlinge aus                                                      EU), sowie für die Unterbringung und Versorgung (Auf-
     Mangels legaler Zugangswege können die meis-                         nahmerichtlinie, RL 2013/33/EU). Hinzu kommt, dass
     ten Schutzsuchenden aus nichteuropäischen Staaten                    weitere Faktoren, nach denen Schutzsuchende einen
     nur mithilfe von Schleppern einreisen (Scholz 2013:                  Zielstaat wählen – soziale Netzwerke, wirtschaftliches
     113–125). Dabei bilden die irregulären Routen nach                   Entwicklungsniveau, Beschäftigungsmöglichkeiten, Ni-
     Europa für einen großen Teil der Flüchtlinge eine Zu-                veau der Sozialleistungen (jeweils in Relation zu ande-
     gangsbarriere, denn sie wirken in mehrfacher Weise                   ren potenziellen Zielstaaten) –, von den Staaten nicht
     selektiv: Zum einen ist die illegale Einreise nach Euro-             oder kaum zu beeinflussen sind (Scholz 2013; Brekke/
     pa mit hohen Kosten verbunden,14 zum anderen ist sie                 Aarset 2009; Nordlund/Pelling 2012; Neumayer 2004;
     oftmals gefährlich, langwierig und physisch belastend.               Barthel/Neumayer 2014). Die Staaten stehen also vor
     Dieser Zugangsweg ist somit allen Personengruppen                    der Herausforderung, dass sie auf Flüchtlingswellen,
     versperrt, die nicht über die entsprechenden Voraus-                 die sie nur bedingt vorhersehen und kaum beeinflus-
     setzungen verfügen (vor allem Kinder, Ältere, Kranke                 sen können, zügig reagieren müssen.17
     und Traumatisierte sowie Personen mit geringer Ri-                       In der Europäischen Union sind die Möglichkeiten
     sikobereitschaft oder geringen finanziellen Ressour-                 für Asylbewerber, ihr Zielland auszuwählen, durch die
     cen).15 Besonders verletzliche und schutzbedürftige                  sog. Dublin-Verordnung eingeschränkt. Gemäß dieser
     Personen sind daher im Asylverfahren unterrepräsen-                  Verordnung muss das Asylverfahren in den meisten
     tiert (UNHCR 2011). Dies kann nur zum Teil über den                  Fällen in jenem Land durchgeführt werden, das die
     Familiennachzug ausgeglichen werden, wenn eine                       Flüchtlinge als erstes betreten haben. In der Praxis
     schutzberechtigte Person Familienmitglieder legal                    funktioniert das Dublin-System jedoch nur einge-
     nachholen kann.                                                      schränkt, da viele Flüchtlinge in den Außenstaaten
                                                                          der EU nicht registriert werden und in westliche und
     Steuerungsmöglichkeiten sind begrenzt                                nördliche EU-Staaten weiterziehen, um dort einen
     Für die Zielstaaten sind die Steuerungsmöglichkeiten im              Asylantrag zu stellen. Das Zusammenwirken von Dub-
     Asylverfahren u. a. durch Völkerrecht und europäisches               lin-System und Zielstaatsentscheidungen von Flücht-
     Recht stark eingeschränkt (SVR 2014: 79–83). Alle EU-                lingen führt zu einer äußerst ungleichen Verteilung
     Staaten haben die Genfer Flüchtlingskonvention unter-                von Asylbewerbern auf die einzelnen EU-Staaten. Vor
     zeichnet und sich damit verpflichtet, Schutzsuchende                 diesem Hintergrund gibt es seit Jahren eine politische
     nicht in Staaten zurückzuweisen, in denen ihnen Ver-                 und wissenschaftliche Debatte darüber, wie eine aus-
     folgung droht (sog. Non-Refoulement-Prinzip, Art. 33                 gewogenere Verteilung erreicht werden kann (SVR
     der Genfer Flüchtlingskonvention). Zudem gilt in Euro-               2015: 67–80; SVR-Forschungsbereich 2013).
     pa die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK),                      Eine weitere Steuerungsmöglichkeit für Staaten
     die es verbietet, Menschen in Staaten zurückzuweisen,                besteht allerdings darin, beschleunigte Asylverfahren
     in denen ihnen Folter oder unmenschliche Behandlung                  einzusetzen. In Deutschland werden diese zum ei-
     droht (Art. 3).16 Darüber hinaus setzen mehrere eu-                  nen bei Anträgen aus sog. sicheren Herkunftsstaaten
     ropäische Richtlinien Mindeststandards für die Durch-                (§ 29a AsylVfG) angewendet, zum anderen in Fällen,
     führung von Asylverfahren (Asylverfahrensrichtlinie, RL              wo ein Schutzanspruch in der Regel nicht besteht, wie
     2013/32/EU), für die Rechte, die Schutzsuchenden zu                  seit Anfang Februar bei Asylanträgen von Kosovaren

     14	Ein gefälschtes Visum und ein Flugticket beispielsweise aus der Türkei kosten etwa 10.000 Euro. Die Überquerung des Mittelmeers
         kostet je nach Route bis zu einigen Tausend Euro pro Person (Achilli 2015b; Becker 2015b: 10).
     15	Im Jahr 2013 waren rund die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit Frauen und rund die Hälfte unter 18 Jahre alt (UNHCR 2014a:
         35–36). Demgegenüber sind Asylbewerber in Deutschland und der EU zu zwei Drittel männlich. Fast die Hälfte aller Asylbewerber
         in Deutschland waren 2014 Männer im Alter von 18–49 Jahren (46,4 % der Erstanträge, BAMF 2015d: 20, eigene Berechnung).
         Dabei gibt es zwischen den Herkunftsländern bedeutsame Unterschiede, die u. a. auf die spezifischen möglichen Zugangswege
         zurückzuführen sind (SVR-Forschungsbereich 2015b).
     16	In seinem wegweisenden Urteil vom 23.02.2012 (Hirsi Jamaa u. a./Italien) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
         (EGMR) entschieden, dass die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), in der das Non-Refoulement-Prinzip ebenfalls
         verankert ist, auch extraterritorial gilt, und zwar dann, wenn Schiffe unter der Flagge eines EMRK-Unterzeichnerstaats in interna-
         tionalen Gewässern Flüchtlinge aufgreifen.
     17	Daher kommt es bei der Bereitstellung hinreichender Kapazitäten im Asylsystem immer wieder zu Engpässen, insbesondere bei
         der Bearbeitung von Anträgen und der Unterbringung. Gleichzeitig kommen Staaten in Versuchung, sich durch nachgelagerte
         Maßnahmen für Schutzsuchende ‚unattraktiv‘ zu machen, etwa durch provisorische Unterbringungen, die Absenkung sozialer
         Leistungen für Asylbewerber oder die Verhängung von Arbeitsverboten.

10
FORSCHUNGSBEREICH

    Info-Box 1 Deutschlands Erfahrung mit Aufnahmeprogrammen
    Deutschland hat in der Vergangenheit anlässlich von Flüchtlingskrisen immer wieder ergänzend zum
    individuellen Asylverfahren Ad-hoc-Aufnahmeaktionen durchgeführt. Dabei gestaltete sich die Aufnahme
    sehr unterschiedlich, sowohl in Bezug auf die Rechtsgrundlage als auch auf die Art der Einreise, die Zahl
    der Flüchtlinge und die Aufenthaltsdauer (s. Tab. 4 im Anhang). Bereits 1956 nahm die Bundesrepublik
    rund 13.000 Ungarn auf, die nach der Niederschlagung des Aufstands in ihrem Land geflohen waren. Sie
    sollten zunächst für drei Jahre bleiben, doch viele blieben dauerhaft (Kreienbrink 2013; Poutrus 2014).
    Ab 1979 nahm Deutschland rund 35.000 vietnamesische Boatpeople dauerhaft auf. In der bisher umfang-
    reichsten Aktion wurden ab 1992 rund 350.000 bosnische Flüchtlinge überwiegend temporär aufgenom-
    men. Seit 2009 nimmt Deutschland regelmäßig Flüchtlingskontingente auf: In den Jahren 2009 und 2010
    wurden insgesamt 2.500 irakische Flüchtlinge aus Syrien und Jordanien dauerhaft aufgenommen. Seit
    2012 verfügt Deutschland über ein regelmäßiges Resettlement-Programm, in dessen Rahmen in einer
    Pilotphase von 2012 bis 2014 jährlich 300 Flüchtlinge dauerhaft aufgenommen wurden. Das Programm
    wird seit 2015 unbefristet fortgeführt und das Kontingent wurde auf 500 Plätze erhöht. Auf EU-Ebene
    existiert formal seit 2012 ein gemeinsames Resettlement-Programm. Es ist jedoch rein freiwilliger Na-
    tur – wobei eine finanzielle Unterstützung aus EU-Mitteln vorgesehen ist – und hat bisher nur zu einer
    sehr geringen Aufnahme geführt (Papadopoulou 2015: 7). Im Juli 2015 hat sich der EU-Innenministerrat
    darauf geeinigt, in den nächsten beiden Jahren insgesamt rund 20.000 Flüchtlinge neu anzusiedeln. Auf
    Deutschland entfallen davon rund 1.600 Flüchtlinge (Council of the European Union 2015).

(BAMF 2015b).18 Beschleunigte Verfahren können                    rauf ab, einer Gruppe von Flüchtlingen in akuten Kri-
aber umgekehrt auch bei Flüchtlingsgruppen einge-                 sensituationen schnell Zuflucht zu gewähren. Solche
setzt werden, deren Schutzanspruch als so gut wie                 Programme wurden in Deutschland in der Vergangen-
sicher gelten kann (s. Info-Box 3; BAMF 2015c).                   heit schon mehrfach eingesetzt (Info-Box 1).

                                                                  Politischer Gestaltungsspielraum
2.3 Kollektive Aufnahmeprogramme:                                 Im Vergleich zum Asylverfahren haben die Staaten bei
der flüchtlingspolitische Königsweg?                              Aufnahmeprogrammen deutlich größere Steuerungs-
                                                                  möglichkeiten. Europarechtliche Vorgaben wie die
Eine alternative flüchtlingspolitische Handlungsoption            Richt­linie zum vorübergehenden Schutz von Flücht­-
besteht in der Einrichtung organisierter Aufnahmepro-             lin­gen (RL 2001/55/EG)20 oder das Europäische Re­
gramme. Diese können vielfältig ausgestaltet sein. Ge-            settle­­ment­-Programm sind bislang nicht verpflichtend
meinsam ist ihnen, dass eine vorab definierte Gruppe              (SVR 2015). Im deutschen Aufenthaltsgesetz gibt es
von Schutzbedürftigen auf legalem Weg einreisen und               ­mehrere Rechtsgrundlagen für die Aufnahme schutz-
vorübergehend (Humanitäre Aufnahmeprogramme,                       bedürftiger Personen aus dem Ausland. Die zentralen
HAP) oder dauerhaft (Resettlement) im Aufnahme-                    Regelungen finden sich in § 23 AufenthG.21
staat bleiben kann.19 Beim Resettlement nehmen In-                     §  23 Abs.  1 AufenthG ermöglicht den Bundeslän­
dustriestaaten Flüchtlinge aus Erstzufluchtsstaaten di-            dern, „aus völkerrechtlichen oder humanitären Grün-
rekt auf, die dort keine Integrationsperspektive haben,            den oder zur Wahrung politischer Interessen der
auf absehbare Zeit aber auch nicht in ihr Herkunftsland            Bundesrepublik Deutschland […] Ausländern aus be-
zurückkehren können (Trosien 2011; Bokshi 2013).                   stimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimm-
Temporäre Aufnahmeprogramme zielen vor allem da-                   ten Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis“ zu

18	Auch in beschleunigten Verfahren wird der Schutzanspruch grundsätzlich individuell geprüft.
19	Innerhalb der EU gibt es eine dritte rechtliche Form: Bei der sog. Relocation werden Asylbewerber oder anerkannte Flüchtlinge
    zwischen EU-Staaten umverteilt.
20	Diese Richtlinie zum vorübergehenden Schutz von Flüchtlingen (sog. Massenzustromsrichtlinie), die bislang noch nicht zur An­
    wendung gekommen ist, wurde im deutschen Recht mit §  24 AufenthG („Aufenthaltsgewährung zum vorübergehenden Schutz
    im Falle einer EU-weit koordinierten Aufnahmeaktion“) umgesetzt.
21	Mit § 22 AufenthG ist es zudem möglich, aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen oder zur Wahrung politi-
    scher Interessen der Bundesrepublik Deutschland Einzelpersonen aufzunehmen. Die Aufnahme ist bisher quantitativ gering, zeigt
    aber eine steigende Tendenz.

                                                                                                                                    11
Handlungsoptionen der Flüchtlings­politik

     erteilen. Um eine länderübergreifende Einheitlichkeit             können jene, die davon unmittelbar profitieren, sicher
     sicherzustellen, muss das Bundesministerium des In-               und legal ins Aufnahmeland einreisen und dort im Ver-
     nern (BMI) dem zustimmen. Angewendet wurde die-                   gleich zur Krisenregion hohe Versorgungsstandards in
     se Regelung bisher bei sog. Bleiberechtsregelungen                Anspruch nehmen. Zudem müssen sie etwaige vor-
     für Ausländer ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, die             handene Ressourcen nicht an Schlepper zahlen, son-
     schon seit Längerem in Deutschland leben.                         dern können sie im Zielland für ihren Lebensunterhalt
         Mit § 23 Abs. 2 AufenthG kann das BMI „zur Wah-               und den Aufbau einer neuen Existenz nutzen.
     rung besonders gelagerter politischer Interessen der                   Die direkte Aufnahme von Kontingenten aus dem
     Bundesrepublik Deutschland“ nach Rücksprache mit den              Ausland kann sich auch für die in der Region verbleiben-
     Bundesländern anordnen, dass bestimmten Ausländern                den Flüchtlinge positiv auswirken, etwa in der Weise,
     die Aufnahme zugesagt wird. Den betreffenden Aus-                 dass den Erstaufnahmestaaten dadurch mehr Ressour-
     ländern kann dann entweder eine Aufenthaltserlaubnis              cen pro verbliebenem Flüchtling zur Verfügung stehen.
     oder eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden. Die-            Zudem steigt dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass
     se Rechtsgrundlage wurde in der Vergangenheit sowohl              Nachbarstaaten die Grenzen offen halten, so dass wei-
     bei der Aufnahme jüdischer Kontingentflüchtlinge aus              tere Flüchtlinge aus dem Krisenstaat fliehen können.
     der ehemaligen Sowjetunion als auch beim Resettle-                Schließlich können aufgenommene Flüchtlinge in der
     ment angewendet (s. Tab. 4 im Anhang).                            Krisenregion verbliebene Familienangehörige mit Rück-
         Mit der Einführung von § 23 Abs. 4 AufenthG wurde             überweisungen unterstützen, da sie unmittelbar arbei-
     im Juli 2015 eine eigene Rechtsgrundlage etabliert, um            ten können (Trosien 2011; UNHCR 2011; Kleist 2014).
     im Fall von Resettlement Flüchtlinge dauerhaft aufzu-                  Allerdings übersteigt der Bedarf an Schutz das be-
     nehmen. Danach kann das BMI im Rahmen der Neu-                    reitgestellte Angebot an Aufnahmeplätzen regelmäßig
     ansiedlung von Schutzsuchenden nach Rücksprache                   um ein Vielfaches. Die Folge sind rigide Auswahlent-
     mit den Bundesländern anordnen, dass ausgewählten                 scheidungen.22 Kriterien dafür lassen sich aus den
     Schutzsuchenden die Aufnahme zugesagt wird.                       gesetzlichen Vorgaben im Aufenthaltsrecht nicht un-
         Die konkrete Ausgestaltung von Aufnahmepro-                   mittelbar ableiten. Die Staaten greifen hier auf unter-
     grammen ist auch im nationalen Recht wenig vor-                   schiedliche Merkmale zurück. So hat das UNHCR Kriteri-
     strukturiert (Hailbronner 2014: 193–198; Stiegler                 en definiert, die dem „besonderen Schutzbedarf“ bzw.
     2008: 290–292; Parusel 2010: 26–28). Politische Ent-              der Vulnerabilität von Flüchtlingen Rechnung tragen.
     scheidungsträger können durch Weisungen oder Erlas-               Darunter fallen etwa Folteropfer und Traumatisierte,
     se regeln, welche Personengruppen sie in welchem                  kranke Personen, die im Erstzufluchtsstaat nicht ange-
     Umfang aufnehmen. Auch bei der Ausgestaltung der                  messen versorgt werden können, alleinstehende oder
     Aufnahmebedingungen gibt es großen Steuerungs-                    alleinerziehende Frauen, minderjährige oder ältere
     spielraum, etwa im Hinblick auf die Aufenthaltsdauer,             Flüchtlinge (UNHCR 2008: 3; UNHCR 2011: 173–241).
     den Zugang zu Integrationsmaßnahmen oder das Ver-                 Viele Aufnahmeländer – darunter auch Deutschland –
     langen einer Erklärung, mit der sich zumeist Ange-                ergänzen dies durch das Kriterium der ‚Integrations-
     hörige der aufgenommenen Flüchtlinge verpflichten,                fähigkeit‘ der Flüchtlinge, die sie etwa an familiären
     die Kosten für deren Versorgung zu übernehmen. Aus                Bindungen im Zielland, Schul- und Berufsausbildung,
     der Sicht der Aufnahmestaaten haben solche Program-               vorhandener Berufserfahrung, Sprachkenntnissen,
     me den Vorteil, dass die Aufnahme besser planbar ist,             Re­ligions­zugehörigkeit oder geringem Alter messen
     etwa im Hinblick auf die Unterbringung, da besser ein-            (UNHCR 2014b; Bokshi 2013). Diese Kriterien können
     geschätzt werden kann, wie viele Personen zu wel-                 einander durchaus widersprechen; sie spiegeln die
     chem Zeitpunkt einreisen werden.                                  potenziell unterschiedlichen Interessen von UNHCR
         Auch für die Flüchtlinge hat die organisierte Auf-            (Schutz der am stärksten Bedürftigen) und Aufnahme-
     nahme gegenüber einem Verbleib in der Krisenregion                staaten (möglichst geringe Aufnahmekosten) wider.
     und dem Asylverfahren eine Reihe von Vorteilen. So

     22	Flüchtlingsorganisationen und Vertreter von Oppositionsparteien fordern immer wieder, Flüchtlingen humanitäre Visa zu er-
         teilen, damit sie nach der Einreise einen Asylantrag stellen können (Fargues 2014: 4; Hein/de Donato 2012; BT-Drs. 18/4838;
         BT-Plenarprotokoll 18/103). Dabei wird übersehen, dass gerade bei Krisen, die zu hohen Flüchtlingszahlen führen, auch dieses
         Instrument mit einem Auswahlverfahren kombiniert werden müsste. So betrachtet wäre das Erteilen humanitärer Visa kein al-
         ternativer Aufnahmeweg, sondern ebenfalls ein organisiertes Aufnahmeprogramm. Mit der von einigen geforderten Gewährung
         einer visumfreien Einreise (BT-Drs. 18/4838) würde hingegen jeglicher Steuerungs- oder Kontrollanspruch aufgegeben.

12
FORSCHUNGSBEREICH

    Info-Box 2 Zuzug über Kanäle nicht humanitärer Migration
    In akuten Krisen kommen Flüchtlinge auch über die allgemeinen Migrationskanäle, also als Besucher/
    Touristen, Studierende oder Arbeitsmigranten oder über den Familiennachzug. Auch hier spielen bereits
    vorhandene soziale Netzwerke eine wichtige Rolle. Das Phänomen ist aber quantitativ begrenzt, da
    nur wenige Flüchtlinge die Voraussetzungen erfüllen, um im regulären Verfahren ein Visum erteilt zu
    bekommen (s. Kap. 2.2).
        Im Fall der Syrienkrise wurden von 2011 bis zum 31. Juli 2013, also bis zur Einrichtung der Aufnah-
    meprogramme, rund 22.000 Visa an syrische Staatsbürger vergeben, ganz überwiegend von Auslands-
    vertretungen in der Krisenregion. Dabei handelte es sich größtenteils um kurzzeitige Schengen-Visa, nur
    ein kleinerer Teil waren langfristige, an einen bestimmten Zweck gebundene nationale Visa (eigene
    Berechnung auf der Grundlage von BT-Drs. 17/14803; 17/8823; 17/12331). Dass auch über andere
    Migrationskanäle Syrer nach Deutschland gekommen sind, spiegelt sich in der Erteilung von Aufenthalts-
    erlaubnissen zum Zweck der Erwerbstätigkeit (2011–2014: 548), der Bildung/Ausbildung (2.743) oder der
    Familienzusammenführung wider (5.147, eigene Berechnung auf der Basis von BAMF 2015a: 29; BAMF
    2015e: 78; BAMF 2014: 30; BAMF 2013: 35).
        Im Bereich der Arbeitsmigration ist die im September 2013 eingeführte Möglichkeit für Akademiker,
    nach § 18c AufenthG ein Visum für bis zu sechs Monate zur Arbeitsplatzsuche zu erhalten, eine ver-
    gleichsweise niedrigschwellige Zuzugsmöglichkeit, da hier das Visum auch ohne bereits vorliegenden
    Arbeitsvertrag erteilt werden kann. Ein großer Teil der insgesamt 1.116 Visa, die 2014 erteilt wurden
    (2013: 475), wurde nach § 18c AufenthG von den Auslandsvertretungen in Beirut (2014: 268; 2013: 43)
    und Kairo (2014: 160; 2013: 49) vergeben. Daraus lässt sich schließen, dass dieser Zuwanderungskanal
    bereits aktiv von Personen genutzt wird, deren primäres Wanderungsmotiv Flucht ist (Auswärtiges Amt
    2015a; 2014). In den anderen Auslandsvertretungen der Anrainerstaaten Syriens, in denen sich viele
    Flüchtlinge aufhalten, waren die Zahlen hingegen sehr niedrig: In Amman waren es 2014 6 Personen
    (2013: 16), in der Türkei 8 (2013: 4) und in Erbil gar keine (2013: 0).

3. Die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in                          Aufenthaltstiteln für in Deutschland lebende syrische
Deutschland                                                       Studierende und deren Ehegatten und minderjährige
                                                                  Kinder. Wenn syrische Studierende mit einem Aufent-
Ende April 2011 verständigten sich die Bundesländer               haltstitel gemäß § 16 Abs. 1 AufenthG (zum Zweck des
angesichts der zunehmenden Verfolgung und Gewalt                  Studiums) die Voraussetzungen für eine Verlängerung
in Syrien informell darauf, Flüchtlinge nicht dorthin             nicht mehr erfüllen, weil die finanzielle Unterstützung
abzuschieben; ein formaler Abschiebestopp wurde im                durch den syrischen Staat oder ihre Familien ausbleibt
März 2012 von der Innenministerkonferenz beschlos-                und sie dadurch ihren Lebensunterhalt nicht mehr
sen. Im Februar 2012 war der Familiennachzug etwas                selbst finanzieren können, kann ihnen nun eine huma-
erleichtert worden, indem bei nachziehenden Ange-                 nitäre Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG
hörigen von der Passpflicht abgesehen wurde, wenn                 erteilt werden.
sie ihre Identität in anderer Weise glaubhaft machen                  Nach einem Aufruf des UNHCR von Januar 2013
konnten. Weiter erleichtert wurde die Einreise für Sy-            nahm die Bundesrepublik 2014 im Rahmen des
rer Mitte Oktober 2012, als das Auswärtige Amt die                ­Resettlement-Programms 200 nichtsyrische Flücht­
Botschaften in Beirut, Amman, Kairo und Ankara so-                linge aus Syrien auf (BAMF 2015a: 88). Eine kleinere
wie die Generalkonsulate Istanbul und Izmir23 anwies,             Zahl syrischer Flüchtlinge wurde auf der Basis von §  22
Flüchtlingen aus Syrien mit Ehegatten in Deutsch-                 AufenthG aufgenommen (BT-Drs. 17/12331). Auch
land ein Visum zum vorübergehenden Aufenthalt in                  im regulären Visumverfahren kamen schon vor Ein-
Deutschland zum Zweck des Spracherwerbs gemäß                     richtung der Aufnahmeprogramme mehrere Tausend
§ 16 Abs. 5 AufenthG zu erteilen.24                               Syrer nach Deutschland (Info-Box 2). Der wichtigste
    Am 22. März 2013 erteilte das BMI sein Einver-                Zugangsweg ist das Asylverfahren (Info-Box 3).
nehmen mit den Ländererlassen zur Verlängerung von

23	Die deutsche Botschaft in Damaskus ist seit Dezember 2011 für den Besucherverkehr geschlossen; Visa müssen daher in den
    Nachbarstaaten beantragt werden.
24	Dies ging darauf zurück, dass die einfachen Sprachkenntnisse, die sonst bei der Einreise zum Ehegattennachzug gefordert wer-
    den, angesichts des Bürgerkriegs nicht mehr verlangt werden konnten (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 30.03.2010, Az.: 1 C 8.09).

                                                                                                                                    13
Die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in Deutschland

         Info-Box 3          Syrische Staatsangehörige im Asylverfahren
         Zahlenmäßig kommen die meisten Syrer über das Asylverfahren nach Deutschland. Von 2011 bis August
         2015 haben mehr als 110.000 Syrer in Deutschland einen Asylerstantrag gestellt. Im Laufe des Konflikts
         ist die Zahl der Anträge deutlich gestiegen (2011: ca. 2.600; 2012: ca. 6.200; 2013: ca. 11.900; 2014: ca.
         39.000; 2015 bis einschl. August: ca. 53.000). Die tatsächliche Zahl syrischer Asylsuchender liegt noch
         höher, da die Registrierung der Asylanträge aufgrund des hohen Zuzugs erst mit einiger Verzögerung
         erfolgt ist. Die Schutzquoten sind hier sehr hoch, wobei sich die Anerkennungspraxis im Laufe der Zeit
         gewandelt hat. Die Gesamtschutzquote (GSQ), die sich aus der Summe aller erteilten Schutzberechtigun-
         gen (§ 25 Abs. 1–3 AufenthG) im Verhältnis zur Gesamtzahl der Anträge auf internationalen Schutz ergibt,
         betrug 2011 für Syrer in Deutschland noch 41,1 Prozent; seit 2012 werden nahezu alle Syrer anerkannt
         (GSQ 2012: 95,7 %; 2013: 94,3 %; 2014: 89,4 %) (BAMF 2014; 2015a; 2015e). Die bereinigte GSQ – bei
         der Dublin-Fälle und sonstige formale Verfahrenserledigungen herausgerechnet werden – beträgt knapp
         99 Prozent. Im Verlauf des Konflikts hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) seine
         Entscheidungspraxis geändert: Ab Februar 2012 ging es auch bei Personen, denen nicht wegen eigener
         politischer Aktivitäten Verfolgung droht, „grundsätzlich von einer ernsthaften individuellen Bedrohung
         infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts“ aus und erkannte regelmäßig
         zumindest subsidiären Schutz zu. Seit August 2014 wird in der Regel Flüchtlingsschutz nach der Genfer
         Flüchtlingskonvention (§ 25 Abs. 2 S. 1) zuerkannt (BAMF 2015a: 82). Seit Mitte November 2014 nutzt das
         BAMF bundesweit die Möglichkeit, bei Antragstellern aus Syrien ohne mündliche Anhörung den Flücht-
         lingsstatus zuzuerkennen (BAMF 2015c). Dies hat die Asylverfahren von Syrern spürbar beschleunigt.
         Zudem werden syrische Staatsbürger seit August 2015 nicht mehr im Rahmen des Dublin-Verfahrens in
         andere Staaten überstellt (BAMF-Referat 411, Az.: 411 – 93605/Syrien/2015).
              Fast alle syrischen Asylantragsteller erhalten Flüchtlingsschutz gemäß GFK; dadurch haben sie gemäß
         § 29 Abs. 2 AufenthG das Recht auf erleichterten Familiennachzug innerhalb von drei Monaten nach der
         Anerkennung. Deshalb ist damit zu rechnen, dass ab 2015 eine große Zahl von Familienangehörigen
         zuzieht. Das BAMF geht von rund 200.000 Personen aus (Reuter 2015).

     3.1 Erstes Bundesprogramm                                        sonders schutzbedürftigen syrischen Flüchtlingen an.
                                                                      Da eine gemeinsame Aufnahmeaktion der Europäi-
     In den ersten Monaten nach Ausbruch des Konflikts                schen Union trotz entsprechender Bemühungen nicht
     erklärte die Bundesregierung zunächst die humani-                zustande kam, entschied sich die Bundesregierung
     täre Unterstützung der Flüchtlinge in den Nachbar-               „im Vorgriff auf eine erwartete gesamteuropäische
     staaten Syriens zur Priorität (BMI 2012). Deutschland            Hilfsmaßnahme“ (BMI 2013) für einen nationalen Al-
     leistete umfangreiche finanzielle Hilfe und entsandte            leingang.26 Zur Vorbereitung der Aufnahme reiste eine
     u. a. Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks, um beim            Delegation mit Vertretern des BMI, des Auswärtigen
     Aufbau von Flüchtlingslagern in der Region zu helfen             Amts, des UNHCR, des BAMF und der Bundesländer
     (BT-Drs. 17/12331; 17/12311). Angesichts steigen-                in den Libanon und nach Jordanien. Die jordanische
     der Flüchtlingszahlen und der sich verschlechternden             Regierung wollte eine Aufnahme aus ihrem Land nicht
     Versorgungslage in Syriens Anrainerstaaten plädierten            ermöglichen, da sie einen Pull-Effekt befürchtete, doch
     dann im Laufe des Jahres 2012 Bundestagsabgeordne-               die libanesische Regierung war bereit zu kooperieren.
     te, Kirchen, zivilgesellschaftliche Organisationen, das          Eine zwischen dem BMI und den Bundesländern abge-
     UNHCR und die syrische Community25 dafür, syrische               stimmte Aufnahmeanordnung wurde am 30. Mai 2013
     Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen (Jungholt                 erlassen. Rechtsgrundlage für die Aufnahme ist §  23
     2012; Wöhrle 2012; Pro Asyl 2012). Am 20. März 2013              Abs. 2 und 3 i. V. m. § 24 AufenthG. Die aufgenomme-
     kündigte das BMI dann die Aufnahme von 5.000 be-                 nen Flüchtlinge erhielten eine Aufenthaltserlaubnis für

     25	In absoluten Zahlen war die syrische Community in der Bundesrepublik bei Ausbruch des Bürgerkriegs nicht sehr groß. Ende
         2010 waren im Ausländerzentralregister 30.133 Syrer registriert. Im Mai 2011 umfasste die syrische Community inklusive der
         Deutschen mit syrischem Migrationshintergrund laut Zensus rund 72.000 Personen (Statistisches Bundesamt 2015a; 2015b).
         Europaweit war dies allerdings die mit Abstand größte syrische Diaspora-Gemeinschaft (Eurostat-Datenbank: Population on 1
         January by five year age group, sex and citizenship [migr_pop1ctz], 16.06.2015).
     26	Auch nach Einrichtung des ersten Bundesprogramms bemühte sich die Bundesregierung gemeinsam mit dem UNHCR immer
         wieder um eine europaweit koordinierte Aufnahmeaktion.

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