Smartvote, Facebook und andere Wahlfaktoren
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Universität Bern Bachelorarbeit Institut für Politikwissenschaft Betreuer: Dr. Daniel Schwarz Smartvote, Facebook und andere Wahlfaktoren Eine statistische Untersuchung der Berner Grossratswahlen 2010 28. Februar 2011 Samuel T. Kullmann Hohlengasse 10, 3661 Uetendorf 07-112-675 kullmann@students.unibe.ch
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 3 2 Theorie 5 2.1 Stärke der Liste/Partei 6 2.2 Bisher-Status 7 2.3 Vorkumulierung 9 2.4 Listenplatz 10 2.5 Kandidatur Regierungsrat 13 2.6 Geschlecht 14 2.7 Alter 17 2.8 Smartvote 20 2.9 Facebook 22 3 Methode 26 3.1 Statistische Modelle und abhängige Variablen 26 3.2 Unabhängige Variablen 26 3.3 Kontrollierende Variablen 28 3.4 Heteroskedastizität 29 3.5 Clustereffekte 30 4 Resultate 31 4.1 Kurzanalyse der Daten 31 4.2 Ergebnisse der multivariaten Regressionsanalyse 32 4.3 Vergleich zwischen den Parteien 38 4.4 Vergleich zwischen den Wahlkreisen 40 4.5 Ergebnisse des Probit-Modells 42 5 Fazit 44 6 Literatur- und Quellenverzeichnis 46 7 Selbstständigkeitserklärung 49 8 Anhang I: Stimmen und Panaschierstimmen 50 9 Anhang II: Clustereffekte 52 10 Anhang III: Abkürzungsverzeichnis 54 -2-
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 1 Einleitung Nur wenige andere Länder kennen ein proportionales Wahlsystem, welches den Wäh- lerinnen und Wählern so viel Entscheidungsspielraum lässt wie das Schweizerische (vgl. Norris, 2006). In der Schweiz bestimmt nicht die Partei den unveränderlichen Listenplatz und somit zu einem grossen Teil die Wahrscheinlichkeit eines Wahlerfolgs. Stattdessen ist die Aggregation aller individuellen Wahlzettel für die Wahl eines be- stimmten Kandidaten von grösster Bedeutung. Lässt sich also daraus schliessen, dass ein Wahlerfolg weitgehend von der persönli- chen Motivation und dem Engagement der Kandidierenden abhängt? Ist ein Kandidat seines Glückes eigener Schmied? Oder gibt es Faktoren, die ein gutes Stimmenergeb- nis massgebend beeinflussen können? Wenn ja, welchen Einfluss hat eine Kandidatin darauf? Wie gross ist dabei der strategische Spielraum der Parteien? Diese Arbeit geht diesen Fragen nach und erörtert, inwiefern diverse persönliche Eigenschaften und parteipolitische Faktoren einen Wahlerfolg im Idealfall bereits si- cherstellen oder – im weniger günstigen Fall – bereits im Vorfeld so gut wie verun- möglichen können. Die Ergebnisse dieser Arbeit weisen somit theoretische Relevanz auf, da die bestehende Forschung zur parlamentarischen Unterrepräsentation von Frauen oder jungen Menschen ergänzt wird. Noch grösser dürfte aber die praktische Relevanz für ambitionierte Kandidierende sein, die sich im Vorfeld einer Wahl Gedan- ken über ihre Wahlchancen machen und abwägen müssen, wie viel Zeit und Geld sie in welche Aspekte ihres Wahlkampfes investieren möchten. In einem ersten Teil wird der Einfluss von neun Faktoren auf den Stimmenanteil der 1938 Kandidatinnen und Kandidaten der Berner Grossratswahlen 2010 theoretisch hergeleitet und begründet. Diese Faktoren umfassen unveränderliche Eigenschaften der Kandidierenden (wie das Alter), parteistrategische Vorbedingungen (wie der Lis- tenplatz) und schliesslich auch Aspekte des persönlichen Engagements (wie eine Smartvote-Teilnahme). Während die meisten dieser Faktoren bereits Eingang in die politikwissenschaftliche Literatur fanden (vgl. Theorieteil dieser Studie), greift diese Arbeit mit der boomenden social community Plattform „Facebook” zusätzlich einen -3-
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 Faktor auf, der in der Schweiz bisher viel und kontrovers diskutiert 1, aber dessen wahlpolitische Auswirkungen kaum empirisch überprüft wurde. Im Methodenteil wird die Erfassung der Daten und die Kodierung der modellrele- vanten Variablen diskutiert. Mittels einer multivariaten Regressionsanalyse wird der durchschnittliche Einfluss der untersuchten Faktoren statistisch auf ihre Signifikanz und ihre Auswirkung überprüft. Ein Logitmodell ergänzt das erste Modell und berech- net die statistische Wahrscheinlichkeit einer direkten Wahl unter Berücksichtigung der zuvor definierten Faktoren. Im folgenden Teil der Arbeit werden die Resultate erläutert, wobei aufgrund der umfassenden Datenmenge (N=1938) auch auf separate Analysen von einzelnen Partei- en und Wahlkreisen eingegangen werden kann. Ein Fazit rekapituliert die Erkenntnisse dieser Arbeit und erörtert den weiteren Forschungsbedarf. -4-
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 2 Theorie 2007 haben Mark Balsiger und Hubert Roth ein Handbuch für Kandidierende heraus- gegeben, in welchem sie unter anderem eine detaillierte statistische Analyse der Nati- onalratswahlen 2003 machten (vgl. Balsiger und Roth, 2007). Zwischen dieser Studie und dieser Bachelorarbeit gibt es einige Parallelen, aber auch grössere Unterschiede. Auf diese soll hier eingegangen werden: Beide Studien versuchen die Frage zu beantworten, wie sich der Wahlerfolg von Kandidierenden erklären lässt. Balsiger und Roth unterscheiden dabei zwischen einem „absoluten Wahlerfolg” und einem „relativen Wahlerfolg”. Demnach hat ein Kandidat einen absoluten Wahlerfolg verbucht, wenn er direkt den Einzug in den Nationalrat erreichte. Zum relativen Wahlerfolg schreiben die Autoren: „Diese relative Grösse gibt an, wie viel Prozent der Stimmen, die für den Einzug in den Nationalrat erforderlich gewesen wären, ein Kandidat erreicht hat” (Balsiger und Roth, 2007, 73). So betrach- tet kann ein Kandidat auch einen relativen Wahlerfolg erzielen, wenn er sein Ergebnis gegenüber den letzten Wahlen verbessert oder nur knapp an einer Wahl scheitert. Für die Analysen von Balsiger und Roth ist der relative Erfolg massgebend. Diese Studie hingegen betrachtet sowohl den relativen Wahlerfolg (hier gemessen in Stimmenzahl der Kandidierenden) wie auch den absoluten Wahlerfolg (direkte Wahl in den Grossen Rat). Etwas eleganter wäre es, die Anzahl Panaschierstimmen als rela- tives Erfolgsmass für die einzelnen Kandidierenden heranzuziehen, doch werden die Panaschierstimmen für jede politische Gemeinde einzeln erfasst und der Aufwand für ihre Aggregation (für die Nationalratswahlen erledigt dies das Bundesamt für Statistik) würde den Rahmen dieser Arbeit bei Weitem sprengen. Da die Stadt Bern gleichzeitig politische Gemeinde und Wahlkreis ist, sind für diesen Wahlkreis die Panaschierstim- men der Kandidierenden verfügbar2. Dadurch konnte überprüft werden, ob zwischen den Resultaten dieser Arbeit zum Gesamtstimmenanteil der Kandidierenden und zu ihren Panaschierstimmenanteile in einem Wahlkreis überhaupt ein Unterschied be- steht. Wie aus den Berechnungen in Anhang I ersichtlich ist, kann der Gesamtstim- 2 Die Panaschierstatistik der Stadt Bern ist allerdings nicht online verfügbar und muss daher bei der Stadtkanzlei bezogen werden. -5-
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 menanteil durchaus als taugliche Alternative zum Panaschierstimmenanteil betrachtet werden. Unterschiede zwischen der Studie von Balsiger und Roth und dieser Bachelorarbeit finden sich auch in den verwendeten Daten. Balsiger und Roth griffen für ihre Analyse auf Daten zurück, die zum grossen Teil durch Befragungen der Kandidierenden für die Nationalratswahlen 2003 generiert worden sind. Diese Arbeit verzichtet auf die Befra- gungen und erfasst lediglich öffentlich zugängliche Angaben3 zu den Kandidierenden für die Berner Grossratswahlen 2010. Während Balsiger und Roth detailliert auf viele verschiedene Erfolgs- und Werbe- faktoren eingehen, untersucht diese Arbeit primär parteipolitische Faktoren, (relativ) unveränderliche Eigenschaften der Kandidatinnen und Kandidaten sowie zwei Aspekte des Internetwahlkampfs. Diese werden in den folgenden Unterkapiteln theoretisch hergeleitet und begründet. 2.1 Stärke der Liste/Partei Die Stärke der eigenen Liste dürfte einer der bedeutendsten Einflussfaktoren sowohl auf den Stimmenanteil wie auch auf die Wahrscheinlichkeit einer Wahl eines gegebe- nen Kandidaten sein. Alle unverändert gewählten Listen generieren einen Minimal- stimmenanteil für alle Kandidierenden auf der jeweiligen Liste. Zu diesem Minimum kommen in der Regel noch Stimmen der eigenen, veränderten Listen sowie Stimmen von anderen Listen (Panaschierstimmen) hinzu, welche zusammen das Stimmentotal eines Kandidaten ergeben. Je mehr Wählerstimmen eine Liste generiert, desto mehr Sitze bekommt sie schlussendlich in der Verteilung der Mandate. Mit dem Faktor „Kandidatur für eine etablierte Partei” haben Balsiger und Roth (2007, 78) eine ähnliche Variable in ihre Studie aufgenommen. Laut ihrer allerdings relativ breiten Definition „gilt eine Partei als etabliert, wenn sie mindestens seit den Nationalratswahlen 1995 im betreffenden Kanton immer angetreten ist oder bereits ein 3Die verwendeten Quellen für die Datenaggregation sind: •Staatskanzlei des Kantons Bern: Wahlen 2010. http://www.sta.be.ch/wahlen10/requestDispatcher.aspx?method=read&page=grossrat&sprache=d (29. Juli 2010). •Facebook. http://www.facebook.com (29. März 2010). •Smartvote. http://www.smartvote.ch (13. August 2010). -6-
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 Mandat im Nationalrat hat”. Mit einem Betakorrelationskoeffizienten von 0,257 ist sie die wichtigste Variable in ihrer Studie (von gesamthaft 45 untersuchten Erfolgs- und Werbefaktoren). In der vorliegenden Arbeit wird die Stärke der Liste mittels einer me- trischen Variable gemessen. Deshalb dürfte die Stärke der Korrelation hier noch ge- nauer und deutlicher ausfallen. Da der Einfluss der Listenstärke offensichtlich sehr bedeutend ist, wird der Einfluss dieser Variable hier nicht weiter theoretisch dargelegt. Aus diesen Überlegungen folgt die erste Hypothese: H1: Je grösser die Wählerzahl einer Liste, desto höher der Stimmen- anteil der einzelnen Kandidierenden auf dieser Liste. 2.2 Bisher-Status Etwa genau so wichtig wie die Wählerstärke der Liste dürfte der Bisher-Status sein. Balsiger und Roth halten dazu treffend fest: „Viele Wähler entscheiden sich mehrheitlich für Volksvertreter, die schon im Parlament sitzen und sich nicht erst noch einarbeiten müssen. Sie ge- niessen einen Vertrauensbonus und Kredit. Das Wort „bisher” in der Wahl- propaganda verfehlt seine Wirkung nicht.” (Balsiger und Roth, 2007, 70). So überrascht es nicht, dass auch der Bisherigenbonus mit einem Betakoeffizienten von 0,171 stark mit dem relativen Wahlerfolg korreliert. Der positive Effekt des Bishe- rigenbonus wird in Abbildung 1 veranschaulicht. -7-
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 Abbildung 1: Wiedergewählte und nicht wiedergewählte Grossratsmitglieder Total Sitze Wiedergewählt Nicht wiedergewählt 200 200 160 160 160 136 123 120 109 80 40 33 27 12 0 2002 2006 2010 Quelle: Staatskanzlei des Kantons Bern, eigene Darstellung. Aus dieser Grafik ist gut ersichtlich, wie gross der Vorteil für Kandidierende ist, die den Sprung in den Grossen Rat bereits geschafft haben. Erst die grosse Wahlkreisre- form nach den Wahlen 20024 scheint den Anteil der nicht-Wiedergewählten etwas er- höht zu haben. Trotzdem wurden über die letzten drei Wahlen 84 Prozent der Bisheri- gen in ihrem Amt bestätigt. Dass dies nicht unüblich ist, zeigt ein Vergleich mit den Wahlen in das Repräsentan- tenhaus der USA zwischen 1972 und 2002. Wie Abramowitz et al. darlegen, stieg die Wiederwahlquote in dieser Zeitspanne von 75 Prozent auf 84 Prozent (vgl. Abramo- witz et al., 2006, 85). Gemäss den Autoren besitzen die incumbents (die Bisherigen in den USA) auch finanzielle Vorteile: “[A]n important and (…) growing advantage of incumbency is the ability of incumbents to dominate their challengers financially” (Abramowitz et al., 2006, 85). 4 Im Zuge dieser Wahlkreisreform wurde die Zahl der Wahlkreise von 26 auf acht reduziert und die Grösse des Parlaments von 200 auf 160 Sitze reduziert. Kleinere Parteien, dis bis dahin massiv untervertreten waren, konnten so ihre Untervertretung zu Lasten der übervertretenen Parteien ausgleichen. Unter anderem wurden aufgrund die- ser Änderung mehr Grossratsmitglieder nicht wiedergewählt als in den anderen Jahren. -8-
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 Eine ähnliche Studie, die zwischen 1992 und 1994 96 Wahlen in 49 US-Bun- desstaaten untersuchte, bestätigt deutlich den Vorteil, den die incumbents geniessen: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Bisheriger gewählt wird (im Falle, dass alle anderen Variablen wie Demographie, Wahljahr, Bundesstaat und Kammer ein Kopf-an-Kopf- Rennen voraussagten) lag durchschnittlich bei 92 Prozent und fiel auch in den einzel- nen Bundesstaaten nie tiefer als 65 Prozent (vgl. Carey et al., 2000, 681 f.). Auch Balsiger und Roth (2007, 72) attestieren den Bisherigen nebst Vorteilen beim Bekanntheitsgrad, bei der Medienpräsenz, der Kampagnendauer, dem eigenen Inter- net-Auftritt oder der Meinungsführerschaft Vorteile beim Budget: „Durch ihre vielfäl- tigen Kontakte können Bisherige ihre Wahlkampfkasse leichter füllen. Für die übrigen Kandidaten ist das bedeutend schwieriger” (Balsiger und Roth, 2007, 72). Aus diesen Überlegungen folgt die zweite Hypothese: H2: Bisherige Grossratsmitglieder erzielen – ceteris paribus – einen höheren Stimmenanteil als neuantretende Kandidierende. 2.3 Vorkumulierung Manchmal entscheiden sich Parteien, ihre Spitzenkandidaten zweifach auf der Liste aufzuführen (Vorkumulierung). So erhalten diese pro unverändert gewählte Liste au- tomatisch doppelt so viele Stimmen wie ihre parteiinternen Konkurrenten und lassen diese deshalb in der Regel weit hinter sich zurück. Diese Tatsache dürfte sich massge- bend auf den Stimmenanteil der Kandidaten auswirken. Entscheidet sich eine Partei, nicht alle Kandidierenden vorkumuliert aufzuführen, kann sie massgeblich Einfluss auf deren Wahlchancen nehmen und so einen ähnlichen Einfluss ausüben wie Parteien in Ländern mit starren Listen. Nach Christian Pahl nehmen Parteien „eine wichtige Rolle innerhalb der politischen Willensbildung ein und können insbesondere durch die Aufstellung der Wahllisten auch zukünftig großen Einfluss nehmen. Zudem bietet Kumulieren und Panaschieren den -9-
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 Parteien, z.B. durch das Vorkumulieren, ebenso eine Reihe von Möglich- keiten, dem Wähler eigene personelle Präferenzen deutlich zu machen” (Prahl, 2009, 88). Auch Georg Lutz (2009, 12) schreibt: “This is a strong tool to influence who gets elected because many voters use the pre-printed ballot without any changes or with only minimal changes and for a non-cumulated candidate it is very difficult to receive more votes than a pre-cumulated candidate.” Kandidieren allerdings weniger Leute auf einer Liste als Listenplätze zur Verfügung stehen, führt dies zu einem weiteren Grund, Kandidierende zwei mal auf die Liste zu setzen: Eine Liste lässt sich so besser füllen5. Werden sämtliche Kandidierende vor- kumuliert, hat dies zwar einen deutlichen Einfluss auf deren Stimmenanteil, doch wird so kein bestimmter Kandidat mehr direkt bevorzugt. Diese Erläuterungen begründen die dritte Hypothese dieser Studie: H3: Vorkumulierte Kandidierende erzielen – ceteris paribus – einen höheren Stimmenanteil als einfach aufgeführte Kandidierende. 2.4 Listenplatz Ein weiterer parteistrategischer Faktor ist der häufig diskutierte Listenplatz. Dieser ist aber bei weitem nicht so bedeutend wie die oben erwähnten Faktoren, und sein Ein- fluss ist im Vergleich zu Wahlsystemen mit starren Listen relativ gering. Ein Vergleich mit dem niederländischen Wahlsystem soll dies hier verdeutlichen: 2.4.1 Bedeutung des Listenplatzes in den Niederlanden Gert-Jan Leenknegt und Gerhard van der Schyff erklären das Niederländische Wahlsystem wie folgt: 5 Es ist strategisch nicht geschickt, mit einer halbvollen Liste anzutreten, da die leeren Zeilen so eher mit Kandidie- renden anderer Listen gefüllt werden, was der eigenen Liste schadet. - 10 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 “Parties acquire one of the one hundred fifty available seats for every 1/ 150th, or 0.667%, of the total number of votes. There exists no additional threshold, and although the country is divided into 19 electoral districts, mainly for administrative purposes, the country is treated as a single con- stituency. The electorate casts single non-transferable votes on individual candidates, but all seats are initially allocated to lists (parties), whereby the order of the candidates on the list determines which of them are elected. Candidates who are too low on a list may still acquire a seat over higher placed candidates if they receive more than 25% of the number of votes needed for a single seat [hervorgehoben durch den Verfasser] – that is 0.1667% of the total number of votes” (Leenknegt und Schyff, 2007, 1134 f.). Der Listenplatz hat somit in den Niederlanden eine sehr grosse Bedeutung. Will ein Kandidat seine Wahlchancen wahren, muss er sich zuerst parteiintern durchsetzen und einen aussichtsreichen Listenplatz zugeteilt bekommen. Doch sind Kandidierende auf schlechten Listenplätzen nicht ganz chancenlos: Wenn ihr persönlicher Stimmenanteil mehr als 0,17 Prozent der landesweit abgegebenen Stimmen beträgt, sind sie direkt gewählt, sofern ihre Partei mindestens ein Mandat erreicht. So kam diese Bestimmung auch bei den Tweedekamerverkiezingen 2010, den Wahlen in das Niederländische Un- terhaus, zum Tragen: "Onder de 30 kandidaten die de voorkeurdrempel hebben overschreden en gekozen zijn, zijn twee personen die uitsluitend op grond van de lijst- volgorde geen zitting zouden kunnen nemen. Dat zijn mevr. Uitslag van het CDA (oorspronkelijke lijstpositie: 31), en mevr. Dijkstra van D66 (oor- spronkelijke lijstpositie: 13)” (Kiesraad, 2010). Demnach haben 30 Kandidierende am 9. Juni 2010 die entsprechende Hürde (voor- keurdrempel) geschafft, allerdings wären nur zwei davon aufgrund ihres schlechten Listenplatzes nicht gewählt gewesen. - 11 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 2.4.2 Bedeutung des Listenplatzes in der Schweiz Im Gegensatz dazu ist es beim Schweizer Proporzsystem mit offenen Listen sehr üb- lich, dass Kandidierende trotz eines schlechten Listenplatzes durchaus einen sehr gu- ten Endrang belegen können. Balsiger und Roth gehen in ihrer Studie auch auf die Be- deutung des Listenplatzes in der Schweiz ein: „Ihm [dem Listenplatz, d. Verf.] wird eine grosse Bedeutung für den Wahlerfolg zugeschrieben. Doch ergibt sich diese Bedeutung auch aus den Fakten? Zwei Einwände müssen hier geltend gemacht werden: Zum einen haben in der Schweiz die Spitzenkandidaten auf den Listen keinen wahl- arithmetischen Vorteil [hervorgehoben durch den Verfasser]. Auch sie sind nur gewählt, wenn sie tatsächlich mehr persönliche Stimmen erhalten als die anderen Kandidaten auf ihrer Liste. Zum anderen schwindet der optische Vorteil, je kürzer die Listen sind” (Balsiger und Roth, 2007, 86). Die Studien, die es zur Bedeutung des Listenplatzes bei Schweizer Wahlen gibt (vgl. Statistisches Amt des Kantons Zürich, 2003; Lutz, 2010), scheinen trotz aller Einwände den Einfluss des Listenplatzes zu bestätigen. Für Georg Lutz ist der Listen- platz eine Möglichkeit, wie Wählerinnen und Wähler ihr Informationsdefizit verrin- gern können: “Voters often have very limited information about individual candidates and parties or politics in general (Delli Carpini and Keeter 1996) and they (…) rely on different shortcuts and cues[.] (…) Ballot position effects are all attached to the limited capability and willingness as well as the selecti- vity of voters to gather, store and process information about all the relevant alternatives in a comprehensive way” (Lutz, 2010, 3 ff.). Zudem postuliert Lutz zwei Effekte des Listenplatzes: Der Kandidatenevaluations- effekt besagt, dass die typischen Wählerinnen und Wähler am Anfang der Listen an- fangen, die Kandidierenden zu evaluieren und unter Umständen irgendwo in der Mitte der Liste aufgeben. Der zweite Effekt bezieht sich auf das Ausfüllen der Stimmzettel, wobei unentschlossene Wähler eher jemanden auf den vorderen Listenplätzen wählen - 12 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 als einen Kandidaten auf dem letzten Listenplatz (vgl. Lutz, 2010, 5 f.). Während Lutz in all seinen Modellen einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Listenplatz und der Anzahl Präferenzstimmen nachweisen kann, ist dieser Effekt kleiner (jedoch nach wie vor signifikant), wenn die Listen alphabetisch geordnet sind (vgl. Lutz, 2010, 21). Bereits 1975 hat Delbert Taebel experimentell nachgewiesen, dass Wählerinnen und Wähler sich besser an die Namen von Kandidierenden erinnern können, die einen bes- seren Listenplatz hatten. Zudem sei der erste Listenplatz in Wahlen mit eher unbe- kannten Kandidierenden besonders wichtig (vgl. Taebel, 1975). Aus diesen Überlegungen wird der Zusammenhang zwischen Stimmenanteil und Listenplatz wie folgt postuliert: H4: Je besser (näher bei 1) der Listenplatz eines Kandidaten, desto höher auch der Stimmenanteil des Kandidaten. 2.5 Kandidatur Regierungsrat Während der Berner Grossrat aus 160 Mitgliedern besteht, hat die Kantonsregierung nur sieben Regierungsräte, was die Wahlhürde natürlich massiv erhöht. Die Zahl der Kandidierenden für den Regierungsrat ist somit sehr klein6, da die Parteien tendenziell nur ihre (zumindest scheinbar) fähigsten, erfahrensten und bekanntesten Leute in einen Regierungsratswahlkampf schicken. Hinzu kommt, dass hier (noch) nach dem Ma- jorzverfahren gewählt wird und eine volle Kandidatenliste oder so genannte Unter- stützungslisten kaum Sinn machen7. Da die Zahl der Kandidierenden für ein so bedeu- tendes politisches Amt relativ gering ist, erhalten die meisten Kandidierenden wohl auch besondere Aufmerksamkeit, sei dies in der parteieigenen Werbung oder in Medi- enberichten. Diese erhöhte Aufmerksamkeit dürfte sich also massgebend auf den 6 2010 traten 1938 Kandidierende zu den Grossratswahlen an, jedoch nur 16 zu den Regierungsratswahlen. 7 Das Aufstellen zu vieler Kandidaten kann sogar kontraproduktiv sein, wie die Regierungsratswahlen 2006 bewie- sen haben. Das bürgerliche Lager stellte damals sechs Kandidierende mit reellen Wahlchancen, doch wurde dieser Machtanspruch nicht von allen Wählenden goutiert, weshalb der bürgerliche Block seine Mehrheit im Regierungs- rat verlor. - 13 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 Stimmenanteil bei den gleichzeitig stattfindenden Grossratswahlen auswirken, sofern jemand sowohl für den Grossen Rat wie auch für den Regierungsrat kandidiert. Diese Überlegungen machen sich auch kleinere Parteien ohne reelle Wahlchancen für den Regierungsrat zu Nutze, in dem sie zum Beispiel eine Kandidatin aufstellen, die dank ihres zusätzlichen Bekanntheitsgrades dann die Wahl in den Grossen Rat schaffen könnte. Ein ähnliches Phänomen ist auch bei Ständeratswahlen zu beobach- ten, wenn kleinere und mittelgrosse Parteien einen bisherigen Nationalrat für den Ständerat portraitieren, um seine Wiederwahl in den Nationalrat zu fördern (vgl. Krie- si, 1998, 47). Aus diesen Überlegungen leitet sich die fünfte Hypothese ab: H5: Bewirbt sich ein Grossratskandidat zusätzlich für den Regie- rungsrat, erzielt er – ceteris paribus – einen höheren Stimmenanteil als die anderen Kandidierenden. 2.6 Geschlecht Trotz der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 ist die weibliche Bevölkerung in praktisch allen politischen Gremien der Schweiz unterrepräsentiert 8. So auch im Ber- ner Grossrat, wie Abbildung 2 zeigt. Seit 1974 ist ein deutlicher und kontinuierlicher Anstieg der Frauenquote zu be- obachten, welche jedoch seit 1998 stagniert und 2010 sogar wieder abfiel. Mitte 2006 hatte der Kanton Bern hinter Aargau und den beiden Basel noch die vierthöchste Frau- enquote bei Kantonsparlamenten (vgl. Fahrni, 2006, 25). Prozentual traten meistens mehr Kandidatinnen an als Grossrätinnen gewählt wurden. 2006 war dieses Gefälle erstmals zu vernachlässigen. Allerdings wuchs 2010 die Diskrepanz wieder auf sechs Prozent, wobei der bisherige Trend ein erstes Mal umgekehrt wurde. Trotzdem ist klar: Je mehr Frauen für ein Grossratsmandat kandidieren, desto mehr werden auch ge- wählt. Statistisch gesehen korrelieren die beiden Variablen zu 97 Prozent; das R2 in einer bivariaten Regressionsanalyse liegt bei 0.96 8 Für einen internationalen Vergleich über 50 Jahre siehe Studlar und McAllister, 2002. - 14 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 Abbildung 2: Anzahl Kandidatinnen und gewählte Grossrätinnen in Prozent Kandidatinnen (%) Gewählte Grossrätinnen (%) 40 35 35 35 34 32 32 30 30 29 30 26 26 26 21 20 18 18 16 15 13 10 7 5 0 1974 1978 1982 1986 1990 1994 1998 2002 2006 2010 Quelle: Staatskanzlei des Kantons Bern, 2006, eigene Darstellung. In der vorhandenen Literatur wurde der gender gap bei Wahlen in der Schweiz al- lerdings nur wenig analysiert: “Despite being a standard component in electoral studies, the gender variable is, in most cases, only used as a control variable and its effects and interaction are too often under-analysed” (Engeli et al., 2006, 217). Gründe für die Untervertretung der Frauen sind vielfältig und deshalb ist es schwie- rig, diese eindeutig zu erörtern: “The complexity of the gender gap is supported by decades of gender- based analysis of political attitudes which has supported various explana- tions for female/male differences. No single explanation has been gener- ally accepted, possibly because they all contribute a piece of the puzzle (cf. - 15 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 Clark and Clark 1999) and possibly because conditional effects9 have not been fully explored” (Howell und Day, 2000, 859). “Without being able to fully explain the gender gap, we have neverthe- less accomplished more than simply reporting that the gender gap is due to a lack of politicisation of women. Our results suggests that gender gap studies must investigate conditional effects” (Engeli et al., 2006, 235). Der Vollständigkeit halber werden hier einige Theorien, welche die Unterrepräsen- tation der Frauen zu erklären suchen, kurz gestreift. Eine ausführliche Diskussion der verschiedenen Theorien würde aber den Umfang dieser Arbeit bei Weitem sprengen. Erklärungsversuche beinhalten (nicht abschliessend) die folgenden Ansätze: • Die Unterrepräsentation der Frauen korreliert mit der schwächeren politischen Re- krutierung und der geringeren Anzahl an Kandidatinnen (vgl. Grafik auf S. 14; Fo- verskov, 1960; Kinzig, 2007, 101 ff.; Schreiber und Adams, 2008). • Die Wahlbeteiligung der Frauen korreliert signifikant mit dem Frauenanteil unter den gewählten Parlamentsmitgliedern (vgl. Studlar und McAllister, 2002, 13). • Die hohe Wiederwahlquote bei den Bisherigen widerspiegelt einen starken Pfadab- hängigkeitseffekt 10. • Kandidatinnen werden durch die Wählenden direkt diskriminiert. 9 Howell und Day definieren conditional effects wie folgt: “Interaction, or conditional, effects produce a gender gap when a particular variable has more impact on women than on men, or vice versa. For example, having a larger number of children at home may have a greater impact on women’s attitudes than on men’s attitudes because women are more likely to have greater child care responsibili- ties” (Howell und Day, 2000, 866). 10 „Pfadabhängigkeit ist ein analytisches Konzept in den Sozialwissenschaften, das Prozesse modellieren soll, deren zeitlicher Verlauf strukturell einem Pfad ähneln. Wie bei einem Pfad gibt es dort Anfänge und Kreuzungen, an denen mehrere Alternativen oder Wege zur Auswahl stehen. Anschließend, nach Auswahl einer solchen Alterna- tive, folgt eine stabile Phase, in der die Entwicklung durch positive Feedback-Effekte auf dem eingeschlagenen Weg gehalten wird. Während an den Kreuzungspunkten kleine Störungen einen großen Effekt haben können, be- wirken sie in der darauf folgenden stabilen Phase kaum mehr eine Richtungsabweichung. Ein späteres Umschwen- ken auf eine der am Kreuzungspunkt noch mühelos erreichbaren Alternativen wird in der stabilen Phase nach der Entscheidung zunehmend aufwendiger, da Rückkopplungseffekte Hindernisse aufbauen. So wird an einem Pfad unter Umständen selbst dann festgehalten, wenn sich später herausstellt, dass eine andere Alternative überlegen gewesen wäre” (Wikipedia, 2010). Für eine ausführliche Definition der Pfadabhängigkeit siehe Rolf Ackermann (2001). - 16 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 Während die ersten drei Thesen hier vollständigkeitshalber erwähnt wurden, muss sich das statistische Modell dieser Arbeit auf die Kontrolle der vierten These be- schränken. So lautet die sechste Hypothese: H6: Gesamthaft gesehen erzielen Kandidaten – ceteris paribus – durchschnittlich einen höheren Stimmenanteil als Kandidatinnen. 2.7 Alter Genau wie das Geschlecht wird zwar das Alter in zahlreichen ähnlichen Studien wie dieser als kontrollierende Variable berücksichtigt, aber nicht genauer analysiert. Zwi- schen der demographischen Struktur der Kandierenden und dem Alter der gewählten Grossratsmitglieder gibt es markante Unterschiede. Wie Abbildung 3 zeigt, sind die 18-29-Jährigen im Verhältnis zu der Anzahl Kandidaturen massiv untervertreten, wäh- rend die 48-71-Jährigen im Parlament stark übervertreten sind: Abbildung 3: Kandidierende und Gewählte in Prozent Kandidierende in % (2010) Gewählte in % (2010) 24 24 21 18 18 17 16 16 16 12 12 10 9 8 8 7 7 7 6 3 1 1 0 0 0 18-23 24-29 30-35 36-41 42-47 48-53 54-59 60-65 66-71 >71 Quelle: Staatskanzlei des Kantons Bern, eigene Darstellung. - 17 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 Die Tatsache, dass junge Kandidierende oft wenig Erfolg haben, spiegelt sich auch in der folgenden Grafik wider, welche den durchschnittlichen Stimmenanteil der Kan- didierenden nach Jahrgang abbildet: Abbildung 4: Durchschnittlicher Stimmenanteil nach Jahrgang Durchschnittlicher Stimmenanteil (Keine Daten) 3500 3000 2500 2000 1500 1000 500 0 1992 1988 1984 1980 1976 1972 1968 1964 1960 1956 1952 1948 1944 1940 1936 1932 Quelle: Staatskanzlei des Kantons Bern, eigene Darstellung. Ein sehr ähnliches Bild in Bezug auf die Untervertretung der jungen Generation ergab eine Analyse der Berner Grossratswahlen 2006 (vgl. Kullmann, 2010). Doch die markante Untervertretung der Jungen ist nicht nur im Kanton Bern zu beobachten. So schreibt auch das Statistische Amt des Kantons Zürich (2003, 10): „Vor allem die jün- geren Kandidierenden hatten schlechte Chancen auf einen Sitz im Rat: Die Jahrgänge 1970 bis 1979 machen nur fünf Prozent der Gewählten aus, während sie bei den Kan- didierenden mit rund einem Fünftel vertreten waren.” - 18 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 Abbildung 5: Kantonsratswahlen ZH 2003: Kandidierende nach Alterskohorten Quelle: Statistisches Amt des Kantons Zürich. Die Vermutung liegt also nahe, dass jüngere Kandidatinnen und Kandidaten signi- fikant weniger Stimmen erzielen als ihre älteren Konkurrenten. Balsiger und Roth er- gänzen: „Zu den am stärksten untervertretenen Gruppen gehören die jüngeren Generationen. Das hat zum grossen Teil natürliche Ursachen. So ist das aktive und das passive Wahlrecht an ein Mindestalter gebunden. In der Schweiz wurde das allgemeine Stimm- und Wahlrecht Anfang der 1990er- Jahre von 20 auf 18 Jahre gesenkt. (…) Nachdem ein politisch ambitio- nierter Schweizer Bürger volljährig geworden ist, muss er seine Karriere erst einmal aufbauen. Das beginnt in der Regel in den Gemeinden und braucht einen langen Atem” (Balsiger und Roth, 2007, 108). - 19 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 Doch fällt beim Betrachten der obigen Grafiken auf, dass nicht nur junge Kandidie- rende einen geringeren Stimmenanteil erzielen, auch ältere Kandidierende scheinen hier benachteiligt zu sein. Dieser quadratische Zusammenhang liess sich auch bei ähn- lichen Eigenschaften in anderen Studien feststellen. So haben z.B. Strate et al. einen Abfall der civic competence oder der „staatsbürgerlichen Kompetenz” ab dem 65. Al- tersjahr (bzw. ab dem 60. Altersjahr bei Personen ohne College-Abschluss) beobachtet (vgl. Strate et al., 1989, 451). Aus den hier dargelegten Daten ergibt sich die siebte Hypothese wie folgt: H7: Der durchschnittliche Stimmenanteil eines Kandidierenden steigt bis zu einem gewissen Idealalter und fällt danach wieder, wenn dieses Alter erreicht wurde. 2.8 Smartvote „Smartvote ist eine wissenschaftlich konzipierte Online-Wahlhilfe für kommunale, kantonale und nationale Wahlen in der Schweiz. (…) Anhand von Sach- und Einstellungsfragen werden die politischen Profile der Kan- didierenden erfasst und in einer Datenbank gespeichert. Wählerinnen und Wähler können anschliessend dieselben Fragen beantworten, worauf smartvote diejenigen Kandidierenden zur Wahl empfiehlt, welche die grösste politische Übereinstimmung aufweisen.”11 Heute ist Smartvote die mit Abstand meistbenutzte Wahlhilfe in der Schweiz. 2007 füllten 85 Prozent der Kandidierenden für den Nationalrat ein Smartvote-Profil aus; fast eine Million Wahlempfehlungen wurden ausgestellt (vgl. Ladner et al., 2008, 8)12. Für die Grossratswahlen 2010 liessen sich 76 Prozent der Kandidierenden registrieren, wobei über 40’000 Wahlempfehlungen ausgestellt wurden. Dies entspricht einem An- teil von etwa sechs Prozent an den Berner Wahlberechtigten, oder 18 Prozent derjeni- 11 Smartvote. http://www.smartvote.ch/side_menu/about_us/idea.php?who=v (30. Juli 2010). 12 Allerdings entspricht dies nicht genau einer Million Wählenden, da einige Smartvotenutzer sich mehrere Wahl- empfehlungen ausstellen liessen. Die Zahl der tatsächlichen Smartvotenutzer liegt bei etwa 375’000, was mit Um- fragedaten der SELECTS-Wahlstudie übereinstimmt (Fivaz, 2010). Dies entspricht einem Anteil von 15,8 Prozent der Wählenden und 7,6 Prozent der Wahlberechtigten. - 20 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 gen, die schliesslich wählen gingen13. Obwohl Smartvote bei den Berner Grossrats- wahlen verglichen mit nationalen Wahlen weniger stark in Anspruch genommen wur- de, kann der Gebrauch dieser Wahlhilfe durchaus als ein entscheidender Wahlfaktor betrachtet werden. So scheint der starke Gebrauch dieser Wahlhilfe durchaus einen Einfluss auf das Wahlverhalten der Wählerinnen und Wähler zu haben. Andreas Lad- ner und Jan Fivaz haben bereits 2006 die folgende Feststellung gemacht: „Rund drei Viertel der Befragten geben an, dass sie von «smartvote» in ihrer Wahlentscheidung beeinflusst worden sind. Jeweils knapp ein Drittel sagt, dass sie deshalb auch Kandidierende von für sie sonst unüblichen Parteien gewählt oder dadurch grundsätzlich vermehrt panaschiert haben. Etwa jede sechste Person wurde zudem durch «smartvote» angeregt, ihre eigenen politischen Positionen zu überdenken und sich weiter zu informie- ren” (Ladner und Fivaz, 2006). Ergänzend schreiben Balsiger und Roth (2007): „Unsere Analysen zeigten, dass die Teilnahme an der Smartvote-Wahl- hilfe zum Wahlerfolg eines Kandidaten beitragen konnte. Um Panaschier- stimmen von den Listen anderer Parteien zu erhalten, war Smartvote sogar das wichtigste Werbemittel. Insgesamt erhielten Smartvote-Teilnehmer im Schnitt fünf Prozent mehr Panaschierstimmen [hervorgehoben durch den Verfasser] als Nichtteilnehmer.” Entsprechend leitet sich die achte Hypothese ab: H8: Kandidierende mit einem ausgefüllten Smartvote-Profil erzielen durchschnittlich einen höheren Stimmenanteil als Nichtteilnehmer. 13 Die Zahl der Smartvotenutzer dürfte aber auch hier etwas tiefer liegen als die ausgestellten Wahlempfehlungen, allerdings sind für die Berner Grossratswahlen keine Korrekturschätzungen vorhanden. - 21 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 2.9 Facebook 2004 gegründet ist Facebook heute das grösste soziale Netzwerk der Welt. Christine Williams und Girish Gulati definieren ein soziales Netzwerk wie folgt: “A social network is a set of people, organizations, or other social enti- ties connected by a set of socially meaningful relationships. When a com- puter network connects people, it is a social network (Wellman, 1997) (Williams und Gulati, 2007, 3). Seit Juli 2010 haben mehr als 500 Millionen Menschen ein eigenes Profil auf Face- book14. Davon stammen mehr als 2,2 Millionen aus der Schweiz, was einer Penetrati- on von 29 Prozent entspricht 15. Entsprechend vielseitig wird Facebook seit wenigen Jahren auch in der Schweiz politisch genutzt. Allerdings gibt es bis heute noch kaum Studien, die sich mit der Bedeutung von Facebook für die Schweizer Politik beschäf- tigt haben. Als einen ersten Ansatz kann die Forschungspraktikumsarbeit von Hub- acher et al. (2009) bezeichnet werden, deren Ergebnisse jedoch aufgrund einer nicht- repräsentativen Stichprobe nicht generalisierbar sind. Die Bedeutung des Internets für Wahlen und Kandidierende wird hingegen besonders deutlich, wenn sie im US-Ame- rikanischen Kontext betrachtet wird: Im Vorfeld des US-Präsidentschaftswahlkampfes im Jahre 2008 gelang es Barack Obama über das Internet eine halbe Milliarde US-Dollar an Spendengeldern zu sam- meln (vgl. Vargas, 2008). Er war auf mehr als 15 verschiedenen online communities vertreten, wobei hier seine Facebook-Fanseite mit mehr als drei Millionen Mitgliedern besonders ins Gewicht fiel16. Sobald sich ein Facebook-Mitglied zum Unterstützungs- kreis von Barack Obama zählte, wurde die betreffende Person gezielt mit Pro-Obama- Werbung konfrontiert, wenn sie irgendeine Facebook-Seite besuchte. Dadurch wird ersichtlich, wie das Internet dabei hilft, viel gezielter und effektiver Werbung zu plat- zieren, als dies mit herkömmlichen Mitteln wie TV-Spots, Flyer-Streuversand oder 14CNN: Facebook hits 500 million users: http://money.cnn.com/2010/07/21/technology/facebook_500_million/index.htm (2. Februar 2011). 15http://www.thomashutter.com/wp-content/uploads/2010/07/facebook_DACH_Demo_30062010_schweiz.jpg (2. Februar 2011). 16 Zum Zeitpunkt des Schreibens dieser Arbeit (28.2.2011) wuchs Obama’s Unterstützungskreis auf Facebook be- reits auf 18,5 Millionen Mitglieder. - 22 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 Zeitungsanzeigen der Fall ist. Pete Quily (2008) untersuchte im Vorfeld der Wahlen, wie stark die beiden Präsidentschaftskandidaten Barack Obama und John McCain bei 29 verschiedenen Internet-Medien und Online-Suchmaschinen abschnitten. Gemäss seinen Analysen hatte Obama bei 27 dieser Medien einen zum Teil äusserst klaren Vorsprung vor McCain17 . Williams und Girish haben 2007 zum ersten Mal den Effekt von Facebook auf Wahlen in das Repräsentantenhaus und den Senat untersucht, welche im November 2006 stattfanden. Bei der Beurteilung ihrer Ergebnisse ist zu beachten, dass Facebook für die Wahlen zwar das meistbenutzte neue Online-Medium war (noch vor MySpace und Youtube), jedoch noch nicht vor dem grossen Durchbruch stand, der erst seit etwa 2008 einsetzte. Dies mag u.a. daran liegen, dass Facebook bis September 2007 für Leute ausserhalb des Bildungsbereichs (.edu-Domains) noch nicht zugänglich war (vgl. Williams und Girish, 2007, 4). Trotzdem wurde Facebook bereits von 32 Prozent der Kandidierenden für den Se- nat und von 13 Prozent der Kandidierenden für das Repräsentantenhaus benutzt. Ge- samthaft waren 1,5 Millionen Facebook-Mitglieder mit einem Kandidaten oder einer Gruppe verbunden. Senatorin Hillary Clinton (D-NY) hatte damals mit 12’038 Face- book-Usern die grösste Zahl Unterstützer. Williams und Girish fanden ihre zweite Hypothese – dass Facebook-Seiten einen positiven Einfluss auf den Stimmenanteil der Kandidierenden hätten – zumindest teil- weise bestätigt: “[A] candidate’s’ Facebook activity had a significant effect on the in- cumbent’s final outcome. The coefficients for the log-transformed vari- ables indicate that a 1% [sic!] percent increase in number of Facebook supporters for incumbents increased their final vote percentage by 0.11, while the same increase in number of Facebook supporters for challengers reduced incumbents’ vote percentage by 0.15. (…) [O]pen-seat candidates who updated their Facebook profile had a 3,8% higher vote share than 17 http://adultaddstrengths.com/2008/11/05/obama-vs-mccain-social-media/ (2. August 2010). - 23 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 candidates who did not update their profiles. (…) Facebook seems to be one more tool that candidates can use to connect with voters and make a favorable impression” (Williams und Girish, 2007, 14 ff.). Trotz dieser Resultate, die auf einen positiven Zusammenhang zwischen Facebook- Aktivität und Stimmenanteil hinweisen, zeigen die Autoren in ihrem Fazit einige ver- bleibende Einschränkungen auf: So wäre die Wahlbeteiligung bei den 18-29-Jährigen (die Facebook besonders intensiv nutzen) tiefer als bei den anderen Altersschichten. Zudem können Facebook-User verschiedene Kandidierende gleichzeitig unterstützen, oder ausserhalb des entsprechenden Wahlkreises wohnen. 14 Prozent der Facebook- Nutzer waren zudem noch jünger als 18 und deshalb noch nicht wahlberechtigt (vgl. Williams und Girish, 2007, 18). Während die Autoren den Einfluss von Facebook auf den Stimmenanteil noch nicht zweifelsfrei darlegen konnten, halten sie doch deutlich fest: “What strikes us as more likely is that the number of Facebook supporters is capturing the underlying enthusi- asm and intensity of support for a candidate” (Williams und Girish, 2007, 18). Obwohl sich Facebook seit den US-Wahlen 2006 markant weiterentwickelt hat und die Nutzerzahl um ein Vielfaches gestiegen ist, besteht eine interessante Parallele zwi- schen den US-Repräsentantenhauswahlen 2006 und den Berner Grossratswahlen 2010, die in Tabelle 1 dargestellt wird. Tabelle 1: Facebook-Werbung im Vergleich zwischen USA und Kanton Bern US-Repräsentanten- Berner Grossratswah- hauswahlen 2006 len 2010 Anzahl Kandidierende mit 12,8% 10,5% Facebook-Profil in Prozent Durchschnittliche 125 114 Gruppengrösse Anzahl Mitglieder der 913 696 grössten Gruppe Tammy Baldwin (D-WI) Patrik Locher (jevp/MLS) Quelle: Williams und Girish, 2007; Facebook. - 24 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 Da Facebook während den Nationalratswahlen 2007 in der Schweiz noch kaum Be- achtung fand18, gehören die Berner Grossratswahlen 2010 zu den grösseren Wahlen in der Schweiz, in denen Facebook möglicherweise zum ersten Mal eine signifikante Rolle spielte. So waren nach dem Wahltag (29. März) immerhin 204 Kandidatinnen und Kandidaten mit einer eigenen Facebookgruppe zu finden. Die kleinsten Gruppen bestanden aus drei Mitgliedern, während Patrik Locher (Junge EVP, Mittelland-Süd) mit 696 Mitgliedern die grösste Unterstützungsgruppe hatte19 . Aufgrund der hier dargelegten Ergebnisse der US-amerikanischen Studie und der vergleichbaren Facebook-Beteiligung an den Berner Grossratswahlen ergibt sich die neunte Hypothese wie folgt: H9: Je grösser die Facebook-Unterstützungsgruppe eines Kandidie- renden, desto höher dessen Stimmenanteil. 18 Die Anzahl Facebook-User in der Schweiz lag Anfang 2008 noch bei weniger als 250’000: http://bernetblog.ch/2010/01/21/facebook-user-schweiz-zahlen-fur-2009/ (2. Februar 2011). 19Hätte der 19-jährige Jungpolitiker anstatt auf einer jungen Liste auf der Stammliste seiner Partei kandidiert, hätte er wahrscheinlich aufgrund seines hohen Panaschierstimmenanteils sogar einige Monate nach dem Wahltag als erster Ersatz in den Grossen Rat „nachrutschen” können. - 25 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 3 Methode 3.1 Statistische Modelle und abhängige Variablen Diese Studie bediente sich einer zweifachen Analyse, um die Stärke der Einflussfakto- ren auf den Wahlerfolg der Kandidierenden zu untersuchen: Einerseits wurde der Ge- samtstimmenanteil der Kandidierenden (eine metrische Variable) als Erfolgsmass he- rangezogen, andererseits wurde eine Dummy-Variable statistisch analysiert, welche nur die Ausprägung „gewählt” und „nicht gewählt” hat. Die erstgenannte abhängige Variable wurde in einer multivariaten Regressionsanalyse untersucht, die letztgenannte abhängige Variable in einem multivariaten Logit-Modell. Die Daten der abhängigen Variablen wurden von der Internetseite der Berner Staatskanzlei bezogen20. Die Daten der Panaschierstimmen für Anhang I wurden von der Berner Stadtkanzlei auf Anfrage digital bezogen21. 3.2 Unabhängige Variablen Die folgende Aufzählung dient als Übersicht über die modellrelevanten unabhängigen Variablen, ihre Ausprägungen und ihre Kodierung: Stärke der Liste/Partei22 Um einen besseren Vergleich zwischen den Wahlkreisen zu ermöglichen, wurde nicht das Total der Parteistimmen als Mass für die Stärke einer Liste gewählt, da dieses To- tal massgeblich durch die Anzahl Mandate im betreffenden Wahlkreis beeinflusst wird. Stattdessen wurde die so genannte Zahl der Wählerstimmen (Parteistimmen dividiert durch Anzahl Mandate des Wahlkreises) berechnet. Bisher-Status 23 Der Bisher-Status ist eine Dummy-Variable, die nur die Ausprägung „bisher” (kodiert mit 1) oder „nicht bisher” (0) annimmt. 20 Quelle: Staatskanzlei des Kantons Bern, 2010. URL: http://www.sta.be.ch/wahlen10 21 Quelle: Stadtkanzlei der Stadt Bern: Manuel Megert, 2010. 22 Quelle: Staatskanzlei des Kantons Bern, 2010. URL: http://www.sta.be.ch/wahlen10 23 Ibid. - 26 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 Vorkumulierung24 Auch Vorkumulierung ist eine Dummy-Variable, welche die Ausprägung „vorkumu- liert” (kodiert mit 1) oder „nicht vorkumuliert” (0) annimmt. Listenplatz 25 Auf eine Standardisierung des Listenplatzes wurde aus zwei Gründen verzichtet. Ers- tens kann die kontrollierende Variable „Wahlkreisgrösse” allfällige Verzerrungen kor- rigieren, zweitens wurde von Lutz (2010) postuliert, dass der Effekt des Listenplatzes bei kürzeren Listen kleiner ist. Bei vorkumulierten Kandidierenden wurde der bessere der beiden Listenplätze erfasst und der andere ignoriert. Die Ausprägungen der Variab- le Listenplatz liegen also zwischen 1 und 26. Regierungsratskandidatur26 Kandidierte jemand zusätzlich für den Regierungsrat, wurde diese Dummy-Variable mit 1 kodiert, andernfalls mit 0. Geschlecht 27 Kandidaten wurde die Ausprägung 1 zugeteilt, Kandidatinnen sind mit 0 kodiert. Alter28 Für die Berechnung des Alters wurden die Jahrgänge der Kandidierenden erfasst und von 2010 abgezogen. Aufgrund dieser vereinfachten Berechnungsmethode können kleine Abweichungen von maximal einem Jahr zum tatsächlichen Alter der Kandidie- renden zum Zeitpunkt der Wahlen auftreten. Natürlich hätte man auch das Modell mit Jahrgängen rechnen können (mit denselben Ergebnissen), doch lässt sich das Alter in- tuitiver interpretieren und wurde deshalb hier als Variable bevorzugt. 24 Quelle: Staatskanzlei des Kantons Bern, 2010. URL: http://www.sta.be.ch/wahlen10 25 Ibid. 26 Ibid. 27 Ibid. 28 Ibid. - 27 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 Alter im Quadrat 29 Wie im Theorieteil dargelegt, wird beim Alter ein quadratischer Zusammenhang ver- mutet. Wird zusätzlich zum Alter das Alter im Quadrat berechnet, kann ein solcher Zu- sammenhang statistisch festgestellt werden. Smartvote-Teilnahme30 Kandidierende, die bis zum 28. März 2010 ein Smartvote-Profil aufgeschaltet hatten, wurden als 1 erfasst, Kandidierende ohne Smartvote-Profil als 0. Facebook31 Die Anzahl Unterstützungsmitglieder in einer Facebookgruppe wurden am 29. März 2010, also am Tag nach den Grossratswahlen, mittels der Facebook-Suchfunktion er- fasst. Mittels der Suchbegriffe „Grosser Rat” und „Grand Conseil” konnten die meis- ten Gruppen gefunden werden, allerdings lässt sich nicht ausschliessen, dass einzelne Gruppen ohne diese Bezeichnungen nicht erfasst wurden. Berücksichtigt wurden alle Unterstützungsgruppen und Fanseiten, welche sich auf die Berner Grossratswahlen 2010 bezogen. Die Anzahl Mitglieder von Facebookgruppen, die mehrere Kandidie- rende zusammen unterstützten, wurden allen zugerechnet. Gruppen oder Fanseiten von Parteien wurden hingegen nicht weiter berücksichtigt. 3.3 Kontrollierende Variablen Wahlkreisgrösse32 Die Wahlkreisgrösse wird hier als Kontrollvariable berücksichtigt, um allfällige Ver- zerrungen zu korrigieren, die aufgrund der unterschiedlichen Wahlkreisgrösse auftre- ten können. Den kleinsten Wahlkreisen Berner Jura und Oberaargau sind je zwölf Sitze zugeteilt, der grösste Wahlkreis, Biel-Seeland, wird von 26 Grossratsmitgliedern ver- treten. 29 Quelle: Staatskanzlei des Kantons Bern, 2010. URL: http://www.sta.be.ch/wahlen10 (2. Februar 2011). 30 Quelle: Smartvote, 2010. URL: http://www.smartvote.ch (29. März 2010) 31 Quelle: Facebook, 2010. URL: http://www.facebook.com (29. März 2010) 32 Quelle: Staatskanzlei des Kantons Bern, 2010. URL: http://www.sta.be.ch/wahlen10 (2. Februar 2011). - 28 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 Listen-interner Wettbewerb33 Je mehr Kandidierende auf einer Liste kandidieren, desto mehr listen-internen Wett- bewerb gibt es. Wenn auf einer Liste X mit zwölf Plätzen nur sechs Leute kandidieren, machen diese wahrscheinlich – ceteris paribus – mehr Stimmen, als wenn die Liste mit zwölf Kandidierenden gefüllt wäre. Der Wert dieser Variable liegt zwischen 0 und 1, wobei 1 für maximale Konkurrenz steht. Wahlkreis-interner Wettbewerb Der Wahlkreis-interne Wettbewerb ist nicht in allen Wahlkreisen gleich stark, vergli- chen mit der Anzahl der zu vergebenden Mandate. So stellten sich im Wahlkreis Ober- aargau 143 Kandidierende für 12 Sitze zur Wahl, während im Wahlkreis Berner Jura nur 103 für 12 Sitze kandidierten. Der Wert dieser Variable liegt wiederum zwischen 0 und 1 (maximale Konkurrenz). 3.4 Heteroskedastizität Wie die folgende Abbildung beispielhaft zeigt, liegt bei einigen der verwendeten Da- ten Heteroskedastizität vor. D.h. je näher die unabhängige Variable auf der X-Achse (Stärke der Liste) an 0 liegt, desto kleiner ist die durchschnittliche Abweichung der abhängigen Variable auf der Y-Achse (Stimmenzahl) zum geschätzten Mittelwert. Je grösser der Wert auf der X-Achse, desto breiter sind die Werte auf der Y-Achse ge- streut. Liegt wie in diesem Fall Heteroskedastizität vor, leidet die Qualität des statisti- schen Modells darunter. 33 Ibid. - 29 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 Abbildung 6: Ein Beispiel für Heteroskedastizität Stimmenzahl 12000 10000 8000 6000 R2 = 0.7453 4000 2000 Wählerzahl der Liste 0 0 1000 2000 3000 4000 5000 6000 7000 8000 Quelle: Staatskanzlei des Kantons Bern, 2010, eigene Darstellung. 3.5 Clustereffekte Um allfällige Clustereffekte zu korrigieren, wurde das Modell auf die drei Cluster Wahlkreis, Liste und Partei überprüft (vgl. Anhang II). - 30 -
Bachelorarbeit Samuel Timutschin Kullmann 28. Februar 2011 4 Resultate 4.1 Kurzanalyse der Daten 1938 Kandidatinnen und Kandidaten traten zu den Berner Grossratswahlen 2010 an. Sie erzielten zusammen über 3,6 Millionen Stimmen und im Durchschnitt 1873 Stim- men, wobei 50 Prozent der Kandidierenden mehr als 1237 Stimmen erhielten und die andere Hälfte darunter lag. Das beste Ergebnis konnte Beatrice Simon-Jungi (BDP/ Biel-Seeland) mit 12’519 Stimmen verbuchen; sie wurde gleichzeitig in den Regie- rungsrat gewählt.34 Am wenigsten Stimmen erhielt Corinne Anderegg (jevp/Oberaar- gau) mit 65 Stimmen. Entsprechend gross ist die Standardabweichung zum Mittelwert mit 1780 Stimmen. Acht Prozent der Kandidierenden wurden gewählt. Der Frauenanteil unter den Kandidierenden liegt mit 32 Prozent etwas höher als der Anteil der gewählten Grossrätinnen (26 Prozent). Auf eidgenössischer Ebene lag der Frauenanteil 2007 bei 30 Prozent (Nationalrat), 22 Prozent (Ständerat) und 29 Prozent (Bundesrat)35. Somit liegt der Kanton Bern hier ziemlich genau im relativ tiefen Schweizer Mittel. Zwölf Prozent der Kandidierenden wurden vorkumuliert auf ihren Listen aufge- führt, sieben Prozent konnten als Bisherige antreten, 77 Prozent haben den Fragebogen von Smartvote ausgefüllt und 0,4 Prozent der Kandidierenden traten zugleich zu den Regierungsratswahlen an. Das Durchschnittsalter der Kandidierenden lag bei 43 Jah- ren. Nadine Löffel (jevp/Mittelland-Nord) wurde einen Monat vor dem Wahltag voll- jährig und war somit die jüngste Kandidatin. Mit Jahrgang 1932 war Eliette Rollier (EDU/Berner Jura) die älteste Kandidatin. Für 204 Kandidierende war auf Facebook eine Unterstüt-zungsgruppe zu finden, ihre durchschnittliche Grösse betrug 114 Mit- glieder. Die kleinste Gruppe bestand aus drei Mitgliedern, während Patrik Locher (jevp/Mittelland-Süd) mit 696 Mitgliedern die meisten Facebook-User hinter sich scharen konnte. 34 Wobei sie 13’693 Stimmen aus dem Wahlkreis Biel-Seeland erhielt. 35Mit der Wahl von Doris Leuthard (CVP/AG) und Simonetta Sommaruga (SP/BE) stieg der Frauenanteil im Bun- desrat zwischen 2008 und 2010 auf ausserordentliche 57 Prozent. - 31 -
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