SOZIALE ISOLATION IM HÖHEREN ERWACHSENENALTER
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
ANALYSEN SOZIALE ISOLATION IM HÖHEREN ERWACHSENENALTER EINFLÜSSE VON LEBENSSITUATION, SOZIOÖKONOMISCHER LAGE UND GESUNDHEIT ANNA REINWARTH (BiB); VOLKER CIHLAR (BiB) Soziale Distanzierung ist eine wirksame Maßnahme zur Verlangsamung der COVID-19-Pande- mie. Diese Strategie birgt allerdings die Gefahr einer Zunahme sozialer Isolation bei bestimmten gesellschaftlichen Gruppen, mit negativen Folgen für die physische und mentale Gesundheit (Pie- trabissa & Simpson 2020). Die vorliegenden Befunde zeigen, dass alleinlebende und partnerlose Menschen im höheren Erwachsenenalter bereits vor der COVID-19-Pandemie häufiger von sozia- ler Isolation berichteten. Außerdem erfahren ältere Menschen mit geringen finanziellen Möglich- keiten mehr soziale Isolation als diejenigen mit größerem finanziellen Spielraum. Welche Maß- nahmen können getroffen werden, damit soziale und gesellschaftliche Teilhabe für möglichst alle älteren Menschen ein erreichbares Ziel darstellt? Die COVID-19-Pandemie zeigt aktuell, wie Einschränkungen der körperlichen Leistungs- das Fehlen sozialer Kontakte die Lebensqualität fähigkeit, Mobilität und sozialen Teilhabe sowie reduzieren und das Risiko von Erkrankungen er- durch sensorische Defizite herbeigeführte Ein- höhen kann. Soziale Isolation, das substanzielle schränkungen der Kommunikation (Luhmann & Fehlen von sozialen Kontakten (EU-Kommissi- Bücker 2019). Gerade mit steigendem Alter geht on 2019), ist seit Beginn der Pandemie für viele die Leistungs-, Anpassungs- und Erholungsfä- Menschen zu einer ungewollten Normalität ge- higkeit zurück, so dass Erkrankungen häufiger worden. Dabei waren besonders ältere Menschen auftreten können und sich die Verletzlichkeit er- von den Folgen der Kontaktbeschränkungen zum höht. Die COVID-19-Pandemie könnte dazu füh- Schutz vor einer lebensbedrohlichen Ansteckung ren, dass in den nächsten Jahren insbesondere mit COVID-19 betroffen. Soziale Isolation kann bei älteren Menschen die negativen Auswirkun- langfristig leichte kognitive Beeinträchtigungen, gen von sozialer Isolation in stärkerem Maße in eine Schwächung des Immunsystems, ein erhöh- Erscheinung treten. Aus diesem Grund ist es von tes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Relevanz, zu erforschen, welche Personengrup- eine gesteigerte Mortalität zur Folge haben (Pie- pen unter den älteren Menschen bereits vor der trabissa & Simpson 2020). Insbesondere bei Al- COVID-19-Pandemie häufiger von sozialer Iso- leinlebenden kann soziale Isolation auf Dau- lation betroffen waren und welche Ressourcen er zu depressiver Symptomatik (z. B. depressive soziale Isolation im Alter verringern. Daraus kön- Verstimmung, Schlafstörungen, Müdigkeit oder nen Empfehlungen abgeleitet werden, wie sozi- Energieverlust) und so zu einem weiteren Ver- ale Isolation und deren Folgen entgegengewirkt lust sozialer Kontakte führen. Aus der Forschung werden kann. Die Kommission für Beschäftigung, bekannte Risikofaktoren, also Lebensumstän- Soziales und Integration der Europäischen Uni- de, die das Auftreten sozialer Isolation begüns- on vertritt die Auffassung, dass die Ausbildung tigen können, sind etwa der Verlust sozialer Rol- von Ressourcen zur Verhinderung von sozialer len (z. B. durch den Übergang in den Ruhestand), Isolation auf mehreren Ebenen stattfinden soll- 3 BEVÖLKERUNGSFORSCHUNG AKTUELL 3| 2021
ANALYSEN ABB. 1: Soziale Isolation im höheren Erwachsenenalter mografische Merkmale, Aspekte der Wohn- und Lebensumstände sowie in Prozent der subjektive Gesundheitszustand 60 und die finanzielle Situation berück- 58,8 sichtigt. Die Analysestichprobe um- 50 fasst 1.559 Personen im Alter von 60 bis 77 Jahren. Von den befragten Per- 40 sonen geben 10,5 Prozent an, sich 26,4 oft/manchmal sozial isoliert zu füh- 30 len, weitere 30,7 Prozent empfinden 18,9 30,7 selten und 58,8 Prozent nie das Ge- fühl von sozialer Isolation (Abbildung 20 19 1). Von den Frauen fühlen sich 12,1 Prozent oft/manchmal sozial isoliert, 10 © BiB 2021 10,5 von den Männern 8,9 Prozent. Betrachtet man die Häufigkeit von 0 sozialer Isolation nach Haushaltsgrö- Oft/Manchmal Selten Nie ße, wird deutlich, dass 13,0 Prozent Datenquelle: Transitions and Old Age Potential, Welle 4 (N=1.559), gewichtete Daten. der Personen, die alleine leben, sich oft/manchmal sozial isoliert fühlen. Bei Personen aus Zwei-, Drei- oder te und individuelle, umweltbedingte als auch ge- Mehrpersonenhaushalten sind die Anteile mit sellschaftliche Einflussfaktoren berücksichtigt 9,8 Prozent und 8,5 Prozent geringer (Abbildung werden müssen (EU-Kommission 2019). Insbe- 2). Rund 17 Prozent der 60- bis 77-Jährigen, die sondere die Wohn- und Lebensumstände, der in- einen Partner haben, aber nicht mit diesem zu- dividuelle Gesundheitszustand sowie die finanzi- sammenleben, geben an, oft/manchmal sozial elle Situation spielen dabei eine entscheidende isoliert zu sein, während dies bei nur 9,3 Prozent Rolle und werden in diesem Beitrag als zentra- der Personen der Fall ist, die mit ihrem Partner le Einflussfaktoren für soziale Isolation im Alter zusammenleben. untersucht. In Abbildung 2 wird zudem die Verteilung von sozialer Isolation zwischen Partnerlosen und Soziale Isolation unter den 60- bis 77-Jährigen Personen in einer Beziehung deutlich: 12,7 Pro- insgesamt eher selten zent der partnerlosen Personen und 9,8 Prozent Zur Analyse der Häufigkeit von sozialer Iso- der Personen mit Partner fühlen sich oft/manch- lation werden die Daten des Lebensphasensur- mal sozial isoliert. veys „Transitions and Old Age Potential (TOP)“ Weitere Auswertungen zum Zusammenhang genutzt (Mergenthaler et al. 2020). Soziale Iso- der Kinderzahl und dem Auftreten von Gefühlen lation wird als eines von drei Einsamkeitsgefüh- von sozialer Isolation verdeutlichen, dass Perso- len erstmals im Jahr 2019 gemessen. Die Befrag- nen mit mehr Kindern seltener von Gefühlen so- ten konnten angeben, wie häufig sie sich sozial zialer Isolation berichten als Personen mit weni- isoliert fühlen: oft/manchmal, selten oder nie. gen Kindern. Um zu untersuchen, welche Gruppen Älterer be- Zum einen wird deutlich, dass sich nur ein ge- sonders von sozialer Isolation betroffen sind und ringer Anteil der 60- bis 77-Jährigen häufig sozi- welche Faktoren mit der Verbreitung von sozialer al isoliert fühlt. Zum anderen zeigt sich jedoch, Isolation in Verbindung stehen, werden soziode- dass die Häufigkeit von sozialer Isolation je nach 4 BEVÖLKERUNGSFORSCHUNG AKTUELL 3| 2021
ANALYSEN Wohn- und Lebensumständen sowie soziode- ABB. 2: Häufigkeit sozialer Isolation nach Haushaltsgröße und mografischen Merkmalen variiert. Partnerschaft* in Prozent Ausreichend körperlich aktive, gesunde und 20 nicht von Armut gefährdete Personen im hö- 58,8 heren Erwachsenenalter leiden seltener unter sozialer Isolation 15 Die Auswertungen hinsichtlich der körper- lichen Aktivität verdeutlichen, dass aktive Per- 26,4 13,0 12,7 sonen im höheren Erwachsenenalter seltener 10 soziale Isolation empfinden als weniger akti- 9,8 30,7 9,8 ve (Abbildung 3). So berichten Ältere, die drei- 8,5 mal in der Woche oder öfter in einem Umfang 5 von mindestens 30 Minuten körperlich aktiv © BiB 2021 sind, in geringerem Maße von sozialer Isolati- on (9,1 Prozent) als unzureichend aktive Perso- 0 nen (≤ zweimal aktiv in der Woche, 13,6 Prozent). 1 Person 2 Personen 3 und Mit Partner Ohne Partner Hinsichtlich des Gesundheitszustands der 60- bis mehr Personen 77-Jährigen geht aus Abbildung 3 hervor, dass Haushaltsgröße Partnerschaft Befragte mit guter subjektiver Gesundheit selte- ner von Gefühlen sozialer Isolation berichten als *Anmerkung: Angaben der Kategorie „Oft/Manchmal“. Personen dieser Altersgruppe, die einen schlech- Datenquelle: Transitions and Old Age Potential, Welle 4 (N=1.559), ten Gesundheitszustand aufweisen: 6,8 Prozent gewichtete Daten. der Personen mit sehr guter und 9,5 Prozent mit eher gut eingeschätzter Gesundheit geben an, Haushaltsgröße, dem Vorhandensein einer Part- sich oft/manchmal sozial isoliert zu fühlen. Bei nerschaft, der körperlichen Aktivität, der subjek- Personen mit eher schlechter bzw. sehr schlech- tiven Gesundheit und dem sozioökonomischen ter subjektiver Gesundheit sind es 17,6 Prozent Status zusammenhängen. Anhand der identifi- bzw. 29,6 Prozent. Die Unterschiede hinsichtlich zierten Faktoren – die sich auch in anderen Un- der finanziellen Situation können aus Abbildung tersuchungen finden – lassen sich Handlungs- 3 entnommen werden. Es zeigt sich, dass vor al- empfehlungen ableiten, um sozialer Isolation lem armutsgefährdete Personen von sozialer Iso- von älteren Menschen entgegenzuwirken. Auf- lation betroffen sind: 19,9 Prozent der armuts- grund des Zusammenhangs zwischen sozialer gefährdeten Personen berichten oft/manchmal Isolation und Haushaltsgröße sowie Partner- von sozialer Isolation, während es bei den mitt- schaft erscheint es notwendig für ältere Men- leren Einkommensklassen und reichen Personen schen, bewusst und verstärkt Kommunikation nur 9,9 Prozent bzw. 6,0 Prozent sind . zu betreiben, wenn sie alleine leben und/oder partnerlos sind. Insbesondere dann, wenn Ein- Fazit: Ausbildung von sozialen und finanziellen samkeitsgefühle auftreten, sollten Ältere aktiv Ressourcen kann sozialer Isolation im höheren in Austausch mit ihrer sozialen Umwelt treten, Erwachsenenalter entgegenwirken um dem Verlust sozialer Kontakte entgegenzu- Infolge der COVID-19-Pandemie könnten wirken. Die Enttabuisierung von Einsamkeitsge- besonders ältere Menschen von sozialer Isola- fühlen im Alter sollte auch auf gesellschaftlicher tion betroffen sein. Unsere Analysen verdeut- Ebene gefördert und gefordert werden. Auf in- lichen, dass Gefühle sozialer Isolation mit der dividueller Ebene könnten etwa gesundheitsför- 5 BEVÖLKERUNGSFORSCHUNG AKTUELL 3| 2021
ANALYSEN ABB. 3: Häufigkeit sozialer Isolation nach gesundheitlichen und finanziellen Ressourcen* in Prozent 30 29,6 58,8 25 20 19,9 13,0 12,7 17,6 15 30,7 9,8 13,6 10 9,5 9,9 9,1 5 6,8 6,0 © BiB 2021 0 Aus- Unzu- Sehr gut Eher gut Eher Sehr Armuts- Mittlere Reichtum reichend reichend schlecht schlecht ge- Ein- aktiv aktiv fährdung kommen Körperliche Subjektive Gesundheit Sozioökonomischer Aktivität Status** * Anmerkung: Angaben der Kategorie „Oft/Manchmal“. ** Als armutsgefährdete Personen werden diejenigen bezeichnet, deren monatliches Einkommen weniger als 60 Prozent des medianen Nettoäquivalenzeinkommens der Stichprobe beträgt. Personen, die über ein monatliches Einkommen von mehr als 200 Prozent des medianen Nettoäquivalenzeinkommens verfügen, gelten in diesem Zu- sammenhang als reich (Median=2.000 Euro). Datenquelle: Transitions and Old Age Potential, Welle 4 (N=1.559), gewichtete Daten. dernde Maßnahmen sowie ein gesunder Lebens- schen verwirklicht, was insbesondere für Grup- stil eine soziale Isolation von älteren Menschen pen mit niedrigem sozioökonomischen Status verringern. Gleichzeitig sollten Angebote für die gilt (UNECE/EU-Kommission 2017). Aktives Al- Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für Älte- tern und die Beteiligung von Menschen im höhe- re geschaffen und so gestaltet werden, dass sie ren Erwachsenenalter an der Gesellschaft sollten unabhängig von finanziellen Ressourcen und ge- ähnlich wie bereits in anderen EU-Mitgliedsstaa- sundheitlichen Einschränkungen wahrgenom- ten verstärkt Eingang in die Entwicklung politi- men werden können. Im europäischen Vergleich scher Strategien zur Verringerung sozialer Isola- ist in Deutschland eine gesellschaftliche Teilhabe tion finden. Hierfür müssen bestehende Ansätze nur bei einem geringen Prozentsatz älterer Men- wie die eines altersgerechten Wohnens und zur 6 BEVÖLKERUNGSFORSCHUNG AKTUELL 3| 2021
ANALYSEN Förderung der Gesundheit weiterentwickelt wer- LITERATUR den. Zudem ist eine effektive Zusammenarbeit auf nationaler Ebene, die regionale sowie lokale EU-Kommission (2019): Peer review on strate- Akteure einbezieht, ebenso wichtig wie die Ko- gies for supporting social inclusion at older operation zwischen Politik, Wohlfahrtsorgani- age. Brüssel: Europäische Kommission. sationen und Zivilgesellschaft (EU-Kommission Luhmann, Maike; Bücker, Susanne (2019): Ein- 2019). samkeit und soziale Isolation im hohen Alter. Kampagnen zur Verringerung sozialer Isola- Bochum: Ruhr-Universität. tion sollten Bewegungs- und Freizeitangebo- Mergenthaler, Andreas; Konzelmann, Laura; Cih- te, Nachbarschaftstreffen sowie psychologische lar, Volker; Micheel, Frank; Reinwarth, Anna; Beratungen beinhalten und damit etwa Mög- Bohnen, Celine; Schneider, Norbert F. (2020): lichkeiten schaffen, bestehende soziale Kontak- TOP – Transitions and Old Age Potential: Me- te zu stärken und neue zu knüpfen (Williams et thodenbericht zur dritten Welle der Studie. al. 2021). Außerdem muss die öffentliche Sicht- Wiesbaden: Bundesinstitut für Bevölkerungs- barkeit der Kampagnen erhöht werden, um ge- forschung. zielt ältere Menschen anzusprechen und so einen Pietrabissa, Giada; Simpson, Susan G. (2020): besseren Zugang zu den Angeboten zu schaffen. Psychological consequences of social isolati- Auch der Ausbau webbasierter Angebote in- on during COVID-19 outbreak. In: Frontiers in nerhalb der Kampagnen erscheint sehr lohnens- Psychology 11: 2201. wert. Allerdings müssen dafür Schulungspro- DOI: 10.3389/fpsyg.2020.02201. gramme für den Umgang mit digitalen Medien UNECE/EU-Kommission (2017): Criteria-speci- im Hinblick auf die Bedürfnisse verschiedener fic analysis of the Active Ageing Index (AAI) gesellschaftlicher Gruppen gestaltet werden. at national level in Germany. Bericht ange- Staatliche Unterstützungsmaßnahmen erschei- fertigt von Bauknecht, Jürgen; Hess, Moritz; nen notwendig, um die Anschaffung von Com- Tiemann, Elias (Institut für Gerontologie, TU putern und Smartphones für Ältere mit geringen Dortmund), im Rahmen eines Vertrags mit der finanziellen Mitteln und für Senioreneinrichtun- Wirtschaftskommission der Vereinten Nati- gen zu subventionieren und somit die Möglich- onen für Europa (UNECE, Genf), kofinanziert keiten des Internetzugangs Älterer zu fördern. von der Kommission für Beschäftigung, Sozi- Ältere Erwachsene sollten nicht von einer dop- ales und Integration der Europäischen Union pelten Ausgrenzung – sozial sowie digital – be- (Europäische Kommission, Brüssel). troffen sein. Rahmenbedingungen für eine Williams, Christopher Y. K.; Townson, Adam T.; selbstbestimmte und aktive Teilhabe am gesell- Kapur, Milan; Ferreira, Alice F.; Nunn, Rebec- schaftlichen Leben von Personen im höheren Er- ca; Galante, Julieta; Phillips, Veronica; Gentry, wachsenenalter zu schaffen, ist ebenso wichtig, Sarah; Usher-Smith, Juliet A. (2021): Interven- wie die Herausforderungen des demografischen tions to reduce social isolation and loneliness Wandels und der COVID-19-Pandemie als Chan- during COVID-19 physical distancing mea- cen zur Förderung des gesellschaftlichen Zusam- sures: A rapid systematic review. In: Plos One menhalts zu begreifen. 16: e0247139. DOI: 10.1371/journal.pone.0247139. 7 BEVÖLKERUNGSFORSCHUNG AKTUELL 3| 2021
Sie können auch lesen