Soziale Klasse und psychische Erkrankung - Hans Joachim Salize Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim

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Soziale Klasse und psychische Erkrankung - Hans Joachim Salize Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim
20. SpDi-Tagung Bildungswerk Irsee, 22. September 2021

Soziale Klasse und psychische
          Erkrankung

                   Hans Joachim Salize
      Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim

                               Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
Soziale Klasse und psychische Erkrankung - Hans Joachim Salize Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim
Zwischen sozialer Lage und psychischen Erkrankungen
besteht ein Zusammenhang.

Das ist seit Jahrzehnten bekannt und unbestritten.

Wie gehen Psychiatrie, Gesundheitspolitik und
Gesellschaft damit um?

Welche Konsequenzen erwachsen daraus?
Indikatoren sozialer Ungleichheit
                        Indikator                                Operationalisierung

                        Armutsrisikoquote                        Anteil der Personen, die unterhalb der
                                                                 Armutsgefährdungsschwelle leben, die bei 60% des Medians der
                                                                 Nettoäquivalenzeinkommen der Bevölkerung liegt
                                                                 häufigstes Ungleichverteilungsmaß als Ableitung der
Einkommensverteilung                                             Einkommensverteilung der Bevölkerung, wobei das Verhältnis
                        Gini-Koeffizient                         der idealen Gleichverteilung zur realen Verteilung als Wert
                                                                 zwischen 0 (gleichmäßige Verteilung) und 1 (maximale
                                                                 Ungleichverteilung) angegeben wird

                                                                 durch Fehlen finanzieller Ressourcen entstandener Mangel an
                                                                 Gebrauchsgütern des allgemeinen Lebensstandards der
                        Materielle Deprivation                   Gesellschaft inklusive die Nichteinhaltung regelmäßiger
Materielle Ressourcen                                            Zahlungsverpflichtungen
                                                                 Sammelbegriff für Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit (Leben in
                        Wohnungslosenquote                       Schutz- und Wohnungsloseneinrichtungen) und prekäre
                                                                 Wohnsituationen
                                                                 Prozentualer Anteil (in Prozentanteilen der
                                                                 Vollzeitbeschäftigung) auf Haushaltsebene der tatsächlich
                        Sehr geringe Erwerbsintensität           Erwerbstätigen unter den potenziell angenommenen
Erwerbstätigkeit                                                 erwerbsfähigen Personen zwischen 18 u. 59 Jahren (unter 20%)

                                                                 Anteil der Personen, die seit mindestens einem Jahr arbeitslos
                        Langzeitarbeitslosenquote
                                                                 gemeldet sind
                                                                 zusammengesetztes Maß für das Risiko der sozialen Exklusion
                                                                 aus dem Vorliegen eines Einkommens unterhalb der
                        At risk of poverty or social exclusion
Soziale Teilhabe                                                 Armutsgefährdungsschwelle oder einer erheblichen materiellen
                        (AROPE) Index
                                                                 Deprivation oder einer sehr geringen Erwerbsintensität
Sozioökonomischer Status (SES)

heutzutage häufig gebrauchter Indikator

vertikales Aggregatmaß, verknüpft miteinander

• schulische und/oder berufliche Ausbildung
• berufliche Stellung
• Haushaltseinkommen
Zusammenhang mit psychischen Störungen

Bruttonationaleinkommen und soziale Ungleichverteilung

variiert mit

• psychiatrischer Prävalenz
• Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen
• Gesundheitsverhalten

Bsp: Länder mit hoher Einkommensungleichheit haben
     eine höhere Schizophrenieprävalenz

Burns JK, Tomita A, & Kapadia AS (2014) Income inequality and schizophrenia: increased schizophrenia incidence in countries
                          with high levels of income inequality. The International journal of social psychiatry 60(2):185-196.
Datenquellen: Bevölkerungsstudien

Bundesgesundheitssurvey BGS                                        1998 - 1999
      Zusatzsurvey „psychische Störungen“
      repräsentative Bevölkerungsstichprobe 18-65jährige n=4.181

Studie zur Gesundheit Erwachsener DEGS1                            2008 - 2011
repräsentative Bevölkerungsstichprobe 18-79jährige n=8.152
         Nettostichprobe n=7.988, davon aus BGS 1998 n=3.959

         Zusatzsurvey „DEGS1-MH “
         repräs. Bevölkerungsstichprobe 18-79jährige, n=5.318

Kinder- und Jugend-Gesundheitssurvey KiGGS                         ab 2003
        7.641 Kinder und Jugendliche von 0 bis 17 Jahren

 Nationale Kohorte NaKo                                            derzeit laufend
 u.a. Symptomfragebögen bzgl. Angst, Depression
50
                                Gesamtprävalenz psychischer Störungen 2011
                                                                             (DEGS1-MH, n=5.318 mit M-CIDI/DSM-IV 12-Monats-Diagnose)

         40

                                                                                                                                                                                                                                                         34,4

         30
                                                                                                                                                                                                                                               27,7

         20
                         16,6
                                                                                                15,3
                                          13,1
                                                                                                                                    10,3                   9,3
         10

                                   5,7
                                                                                                               4                                                     6
                                                              3                                                                             3,6                                                                          3,5            3,2
                                                    1,8              1,6
                                                                                      2,6              2             2,2 2,7                        2,3                            1,6 0,9
                                                                             0,5                                                                                            2              0,7 0,2 0,1                           0,8
           0
                                                                                                        k ie                                        S
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                                                                                                                                                                                                                                                    ko
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                                                                       Datenquelle: Jacobi et al.: Twelve‐month prevalence, comorbidity and correlates of mental disorders in Germany: the Mental Health Module of the German
                                                                                                           Health Interview and Examination Survey for Adults (DEGS1‐MH) Int J Methods Psychiatr Res. 2014 Sep; 23(3): 304–319
Behandlungsprävalenz psychischer Störungen 2011
                          (gelbe Säulen in %, DEGS1-MH, n=1.194 mit DSM-IV 12-Monats-Diagnose u. Information über Inanspruchnahme)

                            84,2           87,1                 65,7     59,5           76,5                    57,4       51,8          81,1            81,8      69              67,1      65,4       75,2         73,5        74,1

                                                                                                                42,6
                                                                                                                           48,2
                                                                         40,5
                                                                34,3                                                                                                               32,9      34,6
                                                                                                                                                                   31
                                                                                                                                                                                                         24,8        26,5        25,9
                                                                                         23,5
                            15,8                                                                                                         18,9            18,2
                                             12,9

                                             it                          se             lle                 t            ie                              ng       BS              le          n                e                              e
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hä                               di                                                                                                                                                    International Journal of Methods in Psychiatric Research 2014
DEGS-Studie: Erwachsene

• allgemeine psychiatrische 12-Monats-Prävalenz:
                    niedriger SES: 37,9 %
                    mittlerer SES: 27,6 %
                    hoher SES:     22,0 %

• 12-Monats-Prävalenz Depression bei niedrigem SES verdoppelt
  (8,5% vs. 4,5%)

• 12-Monats-Prävalenz depressiver Symptome bei niedrigem SES
  verdreifacht (13,6% vs. 4,6%)
KiGGs-Studie: Kinder und Jugendliche

•   Verhaltensauffälligkeiten, Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität,
    emotionale u. Verhaltensprobleme bei Haupt- und
    Realschülern 1,5 bis 2,5-fach höher als bei Gymnasiasten (9)

•   Prävalenzunterschied psychischer Auffälligkeiten zwischen
    niedrigem und hohem SES beträgt > 20 %

•   Kinder mit niedrigem SES haben 3,6-fach erhöhtes Risiko für
    psychische Auffälligkeiten (11)
Zusammenhang zwischen Sozialstatus und Erkrankung

variiert

• mit der enormen Bandbreite psychiatrischer Störungen
• mit unterschiedlichen Entstehungsbedingungen und Verläufen

d.h.
nach der Logik gängiger sozialer Klassifikationsschemata
(z.B. SES) sind Menschen mit Schizophrenie, Sucht oder Depression
Angehörige unterschiedlicher Schichten oder Klassen
hohe Variabilität psychischer Erkrankungen

erschwert die Adressierung sozialer Probleme psychisch Kranker
als genuin krankheitsspezifische Symptomatik

auch professionell diese werden heutzutage allenfalls
phänomenologisch wahrgenommen, d.h.
als Begleiterscheinung der Erkrankung und nicht als kausal
verknüpfte therapierelevante Symptomatik

thematisiert und „versorgt“ werden sie im Kontext der
„komplementären“ oder „Sozial-“Psychiatrie,
nicht in der Akutbehandlung
Historische Dominanz psychiatrischer Theoriemodelle

auf dem Hintergrund des bio-psycho-sozialen Modells

- 1950er Jahre   Biologie       (Lithium-Therapie, Chlorpromazin, Haloperidol)

- 1960er Jahre   Psychologie/Psychodynamik                     (Psychoanalyse,
                                                   R. Laing, Antipsychiatrie etc.)

- 1955 - 1980er Sozialpsychiatrie          (Faris & Dunham, Chicago-/Midtown-
                                   Manhattan-Studie, Dohrenwend, Test & Stein,
                                   Psychiatriereform, Gemeindepsychiatrie etc.)

- seit 1990      Biologie   (Genetik, Biochemie, bildgebende Verfahren)
Sozialpsychiatrische Debatte der 1960er Jahre

• social drift-Hypothese

        versus

• social causation-Hypothese

ausgehend von dem vor allem in den USA empirisch beobachteten
Phänomen, dass sich chronisch psychisch Kranke vorwiegend
in den ärmeren (innerstädtischen) Quartieren finden ließen.
Zentrale Forderungen der Psychiatrie-Enquete

• gemeindenahe Versorgung

• bedarfsgerechte und umfassende Versorgung

• Koordination aller Versorgungsdienste

• Gleichstellung psychisch und somatisch Kranker
Historische Dominanz psychiatrischer Theoriemodelle

auf dem Hintergrund des bio-psycho-sozialen Modells

- 1950er Jahre   Biologie       (Lithium-Therapie, Chlorpromazin, Haloperidol)

- 1960er Jahre   Psychologie/Psychodynamik                     (Psychoanalyse,
                                                   R. Laing, Antipsychiatrie etc.)

- 1955 - 1980er Sozialpsychiatrie          (Faris & Dunham, Chicago-/Midtown-
                                   Manhattan-Studie, Dohrenwend, Test & Stein,
                                   Psychiatriereform, Gemeindepsychiatrie etc.)

- seit 1990      Biologie   (Genetik, Biochemie, bildgebende Verfahren)

                 … und was kommt nun ?
Folgen der Dominanz des biologischen Paradigmas

•   Konkurrenz der psychologisch/psychotherapeutischen, sozialen
    und biologischen Psychiatrie statt Kooperation

•   Wortführerschaft der stationären Psychiatrie und psychiatrisches
    Krankenhaus nach wie vor als Angelpunkt der Versorgung

•   reduziertere Bedeutung sozialer Fragen in Forschung und Therapie

•   vollständige Übertragung der sozialen Versorgungslast an die
    komplementäre oder Gemeindepsychiatrie (Wohnen, Arbeit,
    Sozialbeziehungen)

•   neuere krankenhausbasierte Konzepte wie StÄB oder Home-
    Treatment meist ohne epidemiologische Versorgungsrelevanz
• die Dominanz neuropsychiatrischer Perspektiven und die
  Krankenhauszentriertheit der deutschen Psychiatrie setzen sich
  auch in der Gegenwart fort

• angesichts der Faszination genetischer und bildgebender
  Verfahren und der Lukrativität entsprechender Forschungsetats
  spielen die Lebenswelten und Lebensbedingungen der
  Betroffenen nur eine Nebenrolle

• die Auswirkungen auf die Ausgestaltung der Versorgungs-
  landschaft und die Lebenswelten der Betroffenen sind gravierend
Sozialgesetzgebung
ist für psychisch Kranke besonders komplex (aufgrund der
spezifischen Versorgungsanforderungen psychischer Störungen)

folgt einer fragmentierenden Struktur (Sozialrecht generell)

trennt und verteilt Zuständigkeiten, Anspruchsberechtigungen und
Hilfemaßnahmen auf unterschiedliche Sozialgesetzbücher und
Versorgungssektoren

verästelt und verfeinert sich immer weiter, ohne einheitliche Logik

begünstigt die soziale und gesundheitliche Gefährdung von relevanten
psychiatrischen Risikogruppen
innerpsychiatrisch benachteiligte Risikogruppen

• Wohnungslose
• Arme, Hartz IV- und Sozialgeld-Empfänger
• Kinder- u. Jugendliche in prekären Verhältnissen
• psychisch Kranke während und nach Strafvollzug
• entlassene forensisch-psychiatrische Patienten
• Angehörige psych. Kranker (Kinder, Jugendliche, Pflegende)
• Emigranten, Asylanten, Flüchtlinge
• usw.
Fragmentierungsbeispiel I

• psychisch Kranke: „Eingliederungshilfe“ SGB XI § 53

• Wohnungslose :    „Hilfe zur Überwindung bes. sozialer
                     Schwierigkeiten“        SGB XII § 67

Sätze weichen ca. 50% voneinander ab, für Wohnungslose faktisch
eine legislative Zugangssperre zur psychiatrischen Versorgung
Versorgung psychisch kranker Wohnungsloser

•   bündelt die klassischen sozialpsychiatrischen Themen- und
    Handlungsfelder (Wohnen, Arbeit, Sozialbeziehungen)

•   kann somit als geradezu idealtypisches sozialpsychiatrisches
    Paradigma gesehen werden

•   wird aber in einem getrennten Hilfesystem geregelt
Wohnungslose in Deutschland

1.400.000
            Aussiedler, Asylsuchende, Flüchtlinge
            Wohnungslose (ohne Aussiedler, Flüchtlinge, Asylsuchende)
1.200.000

1.000.000

 800.000

 600.000

 400.000

 200.000

       0
       92
       94
       95
       96
       97
       98
       99
       00
       01
       02
       03
       04
       05
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       07
       08
       09
       10
       11
       12
       13
       14
       15
       16
       17
       18
     19
     19
     19
     19
     19
     19
     19
     20
     20
     20
     20
     20
     20
     20
     20
     20
     20
     20
     20
     20
     20
     20
     20
     20
     20
     20
                                                                Datenquelle: BAG Wohnungslosenhilfe 2019
Psychiatrische Morbidität Wohnungsloser

Metaanalyse 11 Studien 1995-2013 deutschlandweit, ca. 1.200 Probanden

                              78,0 %

                         Metaanalyse 2017
                                                         Quelle: Schreiter et al. 2017
Wohnungslose - psychiatrische Prävalenz

    60
%        56,9

                                                                               Wohnungslose

                                        14,7

                         8,9
                                                        6,9             6,9
                                                                                         2,9
                                                                                                         2
     0
           F1             F4             F6               F3              F2             F7               F5            so
                Ab           An              Pe               Aff            Sc             Int              Ve            ns
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Psychische Störungen – erwachsene Wohnungslose
                        Mannheim (Punktprävalenz, n=101)

       nur Suchterkrankung
              34,3 %
                                                                    psychische Störung
                                                                        plus Sucht
                                                                          21,6 %

                                                                     psychische Störung
                                                                         ohne Sucht
                                                                           12,7 %
                   keine
            psychische Störung
                  31,4 %

                                 Datenquelle : Salize et al (2006) Drohende Wohnungslosigkeit und psychische Gefährdung –
                                      Prävalenz und Einflussfaktoren bei Risikopopulationen. Der Nervenarzt 77, 1345-1354
Psychiatrisches Versorgungsnetz und Wohnungslosenhilfe
                                           Mannheim
Psychiatrische Morbidität Wohnungslose - Mannheim
                                         (lebenszeitlich)

100                         82,4 %

80

        nie Kontakt
60
      zur Psychiatrie     46,1 %

40

20

 0
                        Wohnungslose
Risikogruppe: von Wohnungsverlust Bedrohte

•   Räumungsbeklagte
•   Mietschuldner
•   Messies
•   usw.

    2014:   bundesweit ca. 172.000 Haushalte

            bei 50 % Abwendung des Wohnungsverlusts
            bei 19 % Zwangsräumung
            bei 31 % „kalter“ Wohnungsverlust
Übersehene Risikogruppen - psychiatrische Prävalenz

    60               55,5
%        56,9

                                                                           Wohnungslose
                                                                           Risiko Wohnraumverlust

                                   27,7

                                                  18,8
                                          14,7                   13,9

                            8,9
                                                          6,9             6,9
                                                                                                  4               2
                                                                                           2,9                                   1
                                                                                                            2
    0
                F1             F4             F6              F3              F2             F7              F5              so
                     Ab           An              Pe              Aff            Sc             Int              Ve             ns
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                                                            g
Psychiatrische Morbidität Wohnungslose - Mannheim
                                                 (lebenszeitlich)

100
             82,4 %                  86,1 %

80

60
          46,1 %                 43,5 %
          nie Kontakt            nie Kontakt
        zur Psychiatrie        zur Psychiatrie
40

20

 0
       Wohnungslose       Risiko Wohnraumverlust
Primär- und Sekundärprävention

es gibt administrative Ansatzpunkte,

die psychische Lage dieser Klientel zu verbessern
und den weiteren sozialen Abstieg zu verhindern.

werden diese genutzt?
Kooperierendes Netzwerk ?

Wohnungs-
losenhilfe                           Gemeinde-
                                     psychiatrie
Soziale
Sicherung

                      Arbeits-
                      verwaltung
Verbesserung der psychiatrischen
 Behandlungsprävalenz bei Personen
 mit Risiko des Wohnraumverlustes                           MOTIWOHN

    Vorgehen:

• Rekrutierung von Risikopersonen
   (Räumungsklage o. Mietschulden plus
    unbehandelter psychischer Erkrankung)        Mannheim
   in Ämtern für Wohnraumversorgung,
   Jobcenter etc.

• Psychiatrische Diagnostik
• Motivierung zur Behandlungsaufnahme
• Kontaktherstellung zu psych. Fachdiensten
• Motivierende Begleitung
                                      Freiburg
• Erfolgskontrolle (Monate 6 u. 12)
    Behandlungsprävalenz
    Besserung Symptomatik
    Besserung Wohnsituation
    Lebensqualität
MOTIWOHN Studiendesign

                                                      Follow-up
                                                      - Behandlungsbeginn
Intervention (6-8 Wochen)                             - Behandlungsadhärenz
                                                      - Lebensqualität
- motivational
                                                      - Empowerment
  interviewing                                        - Bedarfsdeckung
                                                      - soziale Unterstützung etc.

   T0 (baseline)                      T1 (6 Monate)                     T2 (12 Monate)

                   Überweisung zu psychiatrischer Einrichtung
                              kontinuierliche motivationale Betreuung
Diagnosen bei Studieneinschluss (n=58)

 F10   Sucht                                     15,9 %

 F20   Schizophrenie                              1,7 %

 F30   Affektive Störung, Depression             25,8 %

 F40   Angststörung                              24,1 %

 F60   Persönlichkeitsstörung                    17,2 %

 nicht diagnostizierbar (mangelnde Compliance)   15,5 %
Verweisungen an die Studie
Überleitung in psychiatrische Fachdienste nach 6 Monaten
zugeleitet          Job Center                77              130      100 %
                    soziale Sicherung         23
                    gemeinnütziger Wohnungsbau 7
                    Wohnungslosenhilfe         7
                    gesetzliche Betreuer       9
                    andere                     7

kein Einschluss   (nicht erschienen, bereits in Behandlung,    72     55,4 %
                   keine Einwilligung, mangelnde Sprach-
                   kenntnisse)

Studieneinschluss                                             58      44,6 %        100 %
Dropouts                                                      26                    44,8 %
Completer                                                     32                   55,1 %
                                                                    % Completer   % Einschluss
Outcome            stabilisiert ohne Behandlung                8       25,0 %      13,7 %
                   Suchtambulanz/-tagesklinik                  8       25,0 %      13,7 %
                   Psychotherapeut/Psychologe                  6       18,8 %      10,3 %
                   Psychiater (ambulant)                       5       15,6 %       8,6 %
                   Sozialpsychiatrischer Dienst                2        6,3 %       3,4 %
                   Psychiatrische Institutsambulanz            2        6,3 %       3,4 %
                   Psychiatrische Klinik                       1        3,1 %       1,7 %
Schlussfolgerungen aus MOTIWOHN

• Risikopersonen   sind identifizierbar

• individuelles Leid, fachlicher Hilfebedarf und unbehandelte
 Prävalenz sind hoch

• Behandlungseinsicht ist vorhanden oder kann erzeugt werden

• Vermittlung in psychiatrische Fachbehandlung gelingt

• Wohnungsverlust kann verhindert werden

• dauerhafte Behandlungsadhärenz ist noch unbekannt

• ebenso der Grad der Symptomreduzierung, sozialer Entlastung
  und Lebensqualitätssteigerung
Kooperierendes Netzwerk ?       Bermuda Dreieck !!!!

   Wohnungs-
   losenhilfe                            Gemeinde-
                                         psychiatrie
   Soziale
   Sicherung

                   Arbeits-
                   verwaltung
Fragmentierungsbeispiel II

      Reformstufe III des BTHG             ab 1.1.2020

• Herauslösung der Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe:

• Eingliederungshilfe wird Fachleistung nach SGB IX „Rehabilitation
  und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen“

• Existenzsicherung bleibt Sozialhilfeleistung nach SGB XII

• d.h. formale Trennung von Leistungen für Lebensunterhalt,
  Kosten Unterkunft usw. (Existenzsicherung) und
  Fachleistungen wie SPDi, Wohnbetreuung (Eingliederungshilfe)
Reformstufe III des BTHG                    ab 1.1.2020
Durchführungsfragen vielfach noch ungeklärt, Folgen in der Praxis:

• Bezieher von Eingliederungshilfe brauchen obligatorisch ein Girokonto
  (für Bezug von Sozialhilfe, Rente, Werkstattlohn, Kinder- u. Wohngeld usw.),
  bedeutet obligate rechtliche Betreuung
• Heimbewohner müssen per neuer Vertragsregelung die Kosten für Unterkunft
  und Verpflegung an Einrichtungsträger rücküberweisen

• evtl. Splittung von Einzelleistungserbringung beim gleichen Klient in
  verschiedene Träger
• signifikante Erhöhung von Verwaltungs- und Koordinationsaufwand

• Stärkung der Finanzierungsträger, Schwächung von Fachkompetenz

• Schaffung neuer Sektoren und Schnittstellenproblemen (ohne Not)

• Erhöhung des Risikos der Überforderung von Betroffenen, insb. des
  Risikos von Wohnraumgefährdung und Wohnraumverlust
Herausforderung BTHG

SGB V stationäre Psychiatrie        SGB XII & IX komplementäre Psychiatrie

• integrierte Versorgung                 • Desintegration

• Überwindung von Sektorengrenzen        • Schaffung neuer Sektoren

• Flexibilisierung von Schnittstellen    • Schaffung neuer Schnittstellen

• Entfragmentisierung                    • Erhöhung der Fragmentierung

   diametral entgegengesetzte Entwicklungsrichtungen !!!
systemimmanente soziale Marginalisierungsrisiken

die gegenwärtige (gemeindepsychiatrische) Praxis
• orientiert sich immer noch am Paradigma Schizophrenie

•   konzentriert sich weiterhin auf chronisch psychisch Kranke
    („Enthospitalisierte“)

•   begnügt sich mit der Bewahrung und Verteidigung erreichter
    gemeindepsychiatrischer Strukturen und Versorgungsstandards
    anstatt diese fortzuschreiben

•   verwaltet die soziale Not ihrer Klientel, anstatt das Ziel zu
    verfolgen, diese zu beseitigen

•   ist deshalb inflexibel hinsichtlich neuer Herausforderungen
Psychiatrische Belastung der aktuellen Flüchtlingspopulation

 ca. 20% - 30% affektive und posttraumatische Belastungsstörungen
 bei ca. 1,66 Mio. Geflüchteten und Asylsuchenden 2013 – 2017

  = ca. 330 - 500 Tsd. zusätzliche psychiatrische Patienten
gesundheitspolitische Antwort

aktueller Förderschwerpunkt „Forschungsverbünde zur psychischen
     Gesundheit geflüchteter Menschen“, gestartet 2016, wird
     mindestens 5 Jahre brauchen, bis er belastbare Ergebnisse bringt,
     die ab dann erst in den gesundheitspolitischen Diskurs und
     eingespeist und - wenn überhaupt - implementiert werden können

geförderte Projekte fokussieren häufig vermeintlich „moderne“
     Versorgungskonzepte (peer-Versorgung, e-mental health)
     diese priorisieren die traditionelle Akutversorgung
     und können den Vorwurf der Mangelversorgung und Begünstigung
     weiterer Ausgrenzung kaum widerlegen
Gewaltzyklen aufgrund unbehandelter Traumata

reaktiver Gewaltzyklus:    angetrieben durch die Hoffnung, die Bedrohung und
                           die einhergehenden negativen Gefühle zu überwinden
appetitiver Gewaltzyklus: genährt durch positives Erleben eigener Gewalt-
                           ausübung, verstärkt durch Drogen und ideologische
                           Rechtfertigung, die wiederum die moralische
                           Hemmschwelle weiter senken
weltweite soziale u. politische Entwicklungstrends
 •   Globalisierung
 •   Verstädterung
 •   Dysfunktionalität ländlicher Regionen
 •   Entzivilisierung und Dehumanisierung
 •   Arbeits-, Elends- und Kriegsmigration
 •   Verringerung von Sozialkapital
 •   Veränderung der Geschlechterrollen
 •   elektronische Revolution der Kommunikation
 •   kybernetische Steuerung von Individuen/Gesellschaft
 •   Konzentration von Reichtum
 •   Anwachsen absoluter und relativer Armut
 •   Krise der Demokratie, Partikularisierung
 •   wachsender Autoritarismus und Autokratismus
                                        nach N. Sartorius, 17. EPA Section Meeting Ulm, 2014
hinsichtlich gegenwärtiger und kommender gesellschaftlicher
Verwerfungen und den sozialen Folgen für die Klientel fehlt es der
Psychiatrie an:

•     Wahrnehmung, Sensibilität und Verantwortungsbewusstsein
•     Zielrichtung und Strategie
•     innerpsychiatrischem Diskurs und Programmatik
•     Identität

Folgen (u.a):

•      strategische Defensive des Fachs
•      Politik als eigentlicher Gestalter der Versorgungsrealität
•      Lückenhaftigkeit und Zufälligkeit der Versorgung
•      Akzeptanz legislativer und administrativer Ausgrenzung
•      Vernachlässigung hochvulnerabler Risikogruppen
•      Perpetuierung von sozialem und psychischem Leid
alle beschriebenen Versorgungslücken und Defizite werden bleiben,
erreichten Versorgungsstandard droht eher Ab- als Ausbau,

wenn eine fundierte programmatische Debatte und Neu-
Identitätsbildung der (Sozial-) Psychiatrie nicht stattfindet.

d.h.
die Psychiatrie muss gesellschaftliche Herausforderungen
wahrnehmen, analysieren, als Zielfelder begreifen
und absehbare negative Entwicklungen antizipieren.
Historische Dominanz psychiatrischer Theoriemodelle

auf dem Hintergrund des bio-psycho-sozialen Modells

- 1950er Jahre   Biologie       (Lithium-Therapie, Chlorpromazin, Haloperidol)

- 1960er Jahre   Psychologie/Psychodynamik                     (Psychoanalyse,
                                                   R. Laing, Antipsychiatrie etc.)

- 1955 - 1980er Sozialpsychiatrie          (Faris & Dunham, Chicago-/Midtown-
                                   Manhattan-Studie, Dohrenwend, Test & Stein,
                                   Psychiatriereform, Gemeindepsychiatrie etc.)

- seit 1990      Biologie   (Genetik, Biochemie, bildgebende Verfahren)

                 … und was kommt nun ?
Ein Paradigmenwechsel ist unumgänglich

 bisher - Integration psychisch Kranker in die Gesellschaft bei
          fehlender Hinterfragung des „Sozialen“
        - Verbesserung der Versorgungsstandards

 künftig - Adressierung des gesellschaftlichen Wertes
            psychischer Gesundheit
         - Identifizierung, Bewertung und Bekämpfung
           psychischer Risikopotentiale in der Gesellschaft

parallel zu den bisherigen Reform- u. Versorgungsbemühungen!
alte und neue Paradigmen

 bisher:                                            Defizitorientierung
 Integration psychisch Kranker                      Akuttherapie und Reha
 Verbesserung der Versorgungsstandards              Klientelpolitik

                     (Sozial-) Psychiatrie
                         der Zukunft

künftig:                                         Ressourcenoptimierung
gesellschaftlicher Wert psychischer Gesundheit   Prävention, Gesundheitsförderung
Bekämpfung psychischer Risikopotentiale
                                                 Gesellschaftspolitik
gesellschaftspolitische Sub- und Metathemen

 Kognition (fake news, Verschwörungstheorien usw.)
 Gier, Suchtverhalten
 Angst
 Autoritarismus

 sind entscheidende Faktoren in der derzeitigen
 politischen Auseinandersetzung und weltweiten
 gesellschaftlichen Entwicklung

 Wer ist der Spezialist für diese Felder ?
gesellschaftspolitische Sub- und Metathemen

   die wichtigste gesellschaftliche Ressource
   sind nicht Rohstoffe,
   klimaneutrale Industrien,
   reine Luft oder Grünflächen,
   sondern es ist

      die psychische Gesundheit !
Die Psychiatrie muss wieder politisch werden !

Philippe Pinel befreit 1793 in der Bicêtre die Kranken von ihren Fesseln

                                                          Gemälde von Charles-Louis Mullet
                                                                           Sekundär-Bildquelle: Wikipedia
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