Soziale Klasse und psychische Erkrankung - Hans Joachim Salize Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim
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20. SpDi-Tagung Bildungswerk Irsee, 22. September 2021 Soziale Klasse und psychische Erkrankung Hans Joachim Salize Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
Zwischen sozialer Lage und psychischen Erkrankungen besteht ein Zusammenhang. Das ist seit Jahrzehnten bekannt und unbestritten. Wie gehen Psychiatrie, Gesundheitspolitik und Gesellschaft damit um? Welche Konsequenzen erwachsen daraus?
Indikatoren sozialer Ungleichheit Indikator Operationalisierung Armutsrisikoquote Anteil der Personen, die unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle leben, die bei 60% des Medians der Nettoäquivalenzeinkommen der Bevölkerung liegt häufigstes Ungleichverteilungsmaß als Ableitung der Einkommensverteilung Einkommensverteilung der Bevölkerung, wobei das Verhältnis Gini-Koeffizient der idealen Gleichverteilung zur realen Verteilung als Wert zwischen 0 (gleichmäßige Verteilung) und 1 (maximale Ungleichverteilung) angegeben wird durch Fehlen finanzieller Ressourcen entstandener Mangel an Gebrauchsgütern des allgemeinen Lebensstandards der Materielle Deprivation Gesellschaft inklusive die Nichteinhaltung regelmäßiger Materielle Ressourcen Zahlungsverpflichtungen Sammelbegriff für Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit (Leben in Wohnungslosenquote Schutz- und Wohnungsloseneinrichtungen) und prekäre Wohnsituationen Prozentualer Anteil (in Prozentanteilen der Vollzeitbeschäftigung) auf Haushaltsebene der tatsächlich Sehr geringe Erwerbsintensität Erwerbstätigen unter den potenziell angenommenen Erwerbstätigkeit erwerbsfähigen Personen zwischen 18 u. 59 Jahren (unter 20%) Anteil der Personen, die seit mindestens einem Jahr arbeitslos Langzeitarbeitslosenquote gemeldet sind zusammengesetztes Maß für das Risiko der sozialen Exklusion aus dem Vorliegen eines Einkommens unterhalb der At risk of poverty or social exclusion Soziale Teilhabe Armutsgefährdungsschwelle oder einer erheblichen materiellen (AROPE) Index Deprivation oder einer sehr geringen Erwerbsintensität
Sozioökonomischer Status (SES) heutzutage häufig gebrauchter Indikator vertikales Aggregatmaß, verknüpft miteinander • schulische und/oder berufliche Ausbildung • berufliche Stellung • Haushaltseinkommen
Zusammenhang mit psychischen Störungen Bruttonationaleinkommen und soziale Ungleichverteilung variiert mit • psychiatrischer Prävalenz • Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen • Gesundheitsverhalten Bsp: Länder mit hoher Einkommensungleichheit haben eine höhere Schizophrenieprävalenz Burns JK, Tomita A, & Kapadia AS (2014) Income inequality and schizophrenia: increased schizophrenia incidence in countries with high levels of income inequality. The International journal of social psychiatry 60(2):185-196.
Datenquellen: Bevölkerungsstudien Bundesgesundheitssurvey BGS 1998 - 1999 Zusatzsurvey „psychische Störungen“ repräsentative Bevölkerungsstichprobe 18-65jährige n=4.181 Studie zur Gesundheit Erwachsener DEGS1 2008 - 2011 repräsentative Bevölkerungsstichprobe 18-79jährige n=8.152 Nettostichprobe n=7.988, davon aus BGS 1998 n=3.959 Zusatzsurvey „DEGS1-MH “ repräs. Bevölkerungsstichprobe 18-79jährige, n=5.318 Kinder- und Jugend-Gesundheitssurvey KiGGS ab 2003 7.641 Kinder und Jugendliche von 0 bis 17 Jahren Nationale Kohorte NaKo derzeit laufend u.a. Symptomfragebögen bzgl. Angst, Depression
50 Gesamtprävalenz psychischer Störungen 2011 (DEGS1-MH, n=5.318 mit M-CIDI/DSM-IV 12-Monats-Diagnose) 40 34,4 30 27,7 20 16,6 15,3 13,1 10,3 9,3 10 5,7 4 6 3 3,6 3,5 3,2 1,8 1,6 2,6 2 2,2 2,7 2,3 1,6 0,9 0,5 2 0,7 0,2 0,1 0,8 0 k ie S ) it h it 2) ) ni t ie en ng PTB F3) n ie , II e ie ie ng le /6 erz otin otin igke rauc igke uch keit se (F ,F41 Pa hob ngs ob bi öru ( ssio hym re I n al orex ulim eati al SSI4 hm tin) tin) h . i k i k g b g ra ig o 0 ap te A le P Pho gsst le pr e Di st ola e An B ge Stör Sc ko Ni itNi ko l. N ne N bhä Mis n s än issb äng sych (F4 or r n r. a rDe ip rung in inc a l bh M Abh P lle Ag lisie sozia ielle wa tö B ö B rm ne m eit t( o h ti n oh o ol A nt e st a ra ez Z eS ajo sst ofo oh lle ( igk gkei Niko Alk lkoh me en te Ang e ne sp k tiv M Es at l l e( a g m h hä n ng i A ika am g Af fe so h a isc ed edik isc ych Ab bhä M yc h P s A M Ps Datenquelle: Jacobi et al.: Twelve‐month prevalence, comorbidity and correlates of mental disorders in Germany: the Mental Health Module of the German Health Interview and Examination Survey for Adults (DEGS1‐MH) Int J Methods Psychiatr Res. 2014 Sep; 23(3): 304–319
Behandlungsprävalenz psychischer Störungen 2011 (gelbe Säulen in %, DEGS1-MH, n=1.194 mit DSM-IV 12-Monats-Diagnose u. Information über Inanspruchnahme) 84,2 87,1 65,7 59,5 76,5 57,4 51,8 81,1 81,8 69 67,1 65,4 75,2 73,5 74,1 42,6 48,2 40,5 34,3 32,9 34,6 31 24,8 26,5 25,9 23,5 15,8 18,9 18,2 12,9 it se lle t ie ng BS le n e e tin ) ke eit ho a gs ob ie n ru PT sio al all e all o ig igk yc gst An h ob tö r. a es n r. ch i k än g g Ps An te eP h ss Stö ep r ge Stö is ne N hä n er ial eP ng e un ch bh b li si so z iel l a ti v r D ör rm Psy h A eA ez Zw fek ajo sst ofo (o ho l era Af Es at keit k o e nt ge n sp M m ng ig Al ka m Datenquelle: Mack et al. Self -reported utilization of mental health services so in the adult German Population (DEGS-1-MH) hä di International Journal of Methods in Psychiatric Research 2014
DEGS-Studie: Erwachsene • allgemeine psychiatrische 12-Monats-Prävalenz: niedriger SES: 37,9 % mittlerer SES: 27,6 % hoher SES: 22,0 % • 12-Monats-Prävalenz Depression bei niedrigem SES verdoppelt (8,5% vs. 4,5%) • 12-Monats-Prävalenz depressiver Symptome bei niedrigem SES verdreifacht (13,6% vs. 4,6%)
KiGGs-Studie: Kinder und Jugendliche • Verhaltensauffälligkeiten, Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität, emotionale u. Verhaltensprobleme bei Haupt- und Realschülern 1,5 bis 2,5-fach höher als bei Gymnasiasten (9) • Prävalenzunterschied psychischer Auffälligkeiten zwischen niedrigem und hohem SES beträgt > 20 % • Kinder mit niedrigem SES haben 3,6-fach erhöhtes Risiko für psychische Auffälligkeiten (11)
Zusammenhang zwischen Sozialstatus und Erkrankung variiert • mit der enormen Bandbreite psychiatrischer Störungen • mit unterschiedlichen Entstehungsbedingungen und Verläufen d.h. nach der Logik gängiger sozialer Klassifikationsschemata (z.B. SES) sind Menschen mit Schizophrenie, Sucht oder Depression Angehörige unterschiedlicher Schichten oder Klassen
hohe Variabilität psychischer Erkrankungen erschwert die Adressierung sozialer Probleme psychisch Kranker als genuin krankheitsspezifische Symptomatik auch professionell diese werden heutzutage allenfalls phänomenologisch wahrgenommen, d.h. als Begleiterscheinung der Erkrankung und nicht als kausal verknüpfte therapierelevante Symptomatik thematisiert und „versorgt“ werden sie im Kontext der „komplementären“ oder „Sozial-“Psychiatrie, nicht in der Akutbehandlung
Historische Dominanz psychiatrischer Theoriemodelle auf dem Hintergrund des bio-psycho-sozialen Modells - 1950er Jahre Biologie (Lithium-Therapie, Chlorpromazin, Haloperidol) - 1960er Jahre Psychologie/Psychodynamik (Psychoanalyse, R. Laing, Antipsychiatrie etc.) - 1955 - 1980er Sozialpsychiatrie (Faris & Dunham, Chicago-/Midtown- Manhattan-Studie, Dohrenwend, Test & Stein, Psychiatriereform, Gemeindepsychiatrie etc.) - seit 1990 Biologie (Genetik, Biochemie, bildgebende Verfahren)
Sozialpsychiatrische Debatte der 1960er Jahre • social drift-Hypothese versus • social causation-Hypothese ausgehend von dem vor allem in den USA empirisch beobachteten Phänomen, dass sich chronisch psychisch Kranke vorwiegend in den ärmeren (innerstädtischen) Quartieren finden ließen.
Zentrale Forderungen der Psychiatrie-Enquete • gemeindenahe Versorgung • bedarfsgerechte und umfassende Versorgung • Koordination aller Versorgungsdienste • Gleichstellung psychisch und somatisch Kranker
Historische Dominanz psychiatrischer Theoriemodelle auf dem Hintergrund des bio-psycho-sozialen Modells - 1950er Jahre Biologie (Lithium-Therapie, Chlorpromazin, Haloperidol) - 1960er Jahre Psychologie/Psychodynamik (Psychoanalyse, R. Laing, Antipsychiatrie etc.) - 1955 - 1980er Sozialpsychiatrie (Faris & Dunham, Chicago-/Midtown- Manhattan-Studie, Dohrenwend, Test & Stein, Psychiatriereform, Gemeindepsychiatrie etc.) - seit 1990 Biologie (Genetik, Biochemie, bildgebende Verfahren) … und was kommt nun ?
Folgen der Dominanz des biologischen Paradigmas • Konkurrenz der psychologisch/psychotherapeutischen, sozialen und biologischen Psychiatrie statt Kooperation • Wortführerschaft der stationären Psychiatrie und psychiatrisches Krankenhaus nach wie vor als Angelpunkt der Versorgung • reduziertere Bedeutung sozialer Fragen in Forschung und Therapie • vollständige Übertragung der sozialen Versorgungslast an die komplementäre oder Gemeindepsychiatrie (Wohnen, Arbeit, Sozialbeziehungen) • neuere krankenhausbasierte Konzepte wie StÄB oder Home- Treatment meist ohne epidemiologische Versorgungsrelevanz
• die Dominanz neuropsychiatrischer Perspektiven und die Krankenhauszentriertheit der deutschen Psychiatrie setzen sich auch in der Gegenwart fort • angesichts der Faszination genetischer und bildgebender Verfahren und der Lukrativität entsprechender Forschungsetats spielen die Lebenswelten und Lebensbedingungen der Betroffenen nur eine Nebenrolle • die Auswirkungen auf die Ausgestaltung der Versorgungs- landschaft und die Lebenswelten der Betroffenen sind gravierend
Sozialgesetzgebung ist für psychisch Kranke besonders komplex (aufgrund der spezifischen Versorgungsanforderungen psychischer Störungen) folgt einer fragmentierenden Struktur (Sozialrecht generell) trennt und verteilt Zuständigkeiten, Anspruchsberechtigungen und Hilfemaßnahmen auf unterschiedliche Sozialgesetzbücher und Versorgungssektoren verästelt und verfeinert sich immer weiter, ohne einheitliche Logik begünstigt die soziale und gesundheitliche Gefährdung von relevanten psychiatrischen Risikogruppen
innerpsychiatrisch benachteiligte Risikogruppen • Wohnungslose • Arme, Hartz IV- und Sozialgeld-Empfänger • Kinder- u. Jugendliche in prekären Verhältnissen • psychisch Kranke während und nach Strafvollzug • entlassene forensisch-psychiatrische Patienten • Angehörige psych. Kranker (Kinder, Jugendliche, Pflegende) • Emigranten, Asylanten, Flüchtlinge • usw.
Fragmentierungsbeispiel I • psychisch Kranke: „Eingliederungshilfe“ SGB XI § 53 • Wohnungslose : „Hilfe zur Überwindung bes. sozialer Schwierigkeiten“ SGB XII § 67 Sätze weichen ca. 50% voneinander ab, für Wohnungslose faktisch eine legislative Zugangssperre zur psychiatrischen Versorgung
Versorgung psychisch kranker Wohnungsloser • bündelt die klassischen sozialpsychiatrischen Themen- und Handlungsfelder (Wohnen, Arbeit, Sozialbeziehungen) • kann somit als geradezu idealtypisches sozialpsychiatrisches Paradigma gesehen werden • wird aber in einem getrennten Hilfesystem geregelt
Wohnungslose in Deutschland 1.400.000 Aussiedler, Asylsuchende, Flüchtlinge Wohnungslose (ohne Aussiedler, Flüchtlinge, Asylsuchende) 1.200.000 1.000.000 800.000 600.000 400.000 200.000 0 92 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 19 19 19 19 19 19 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 Datenquelle: BAG Wohnungslosenhilfe 2019
Psychiatrische Morbidität Wohnungsloser Metaanalyse 11 Studien 1995-2013 deutschlandweit, ca. 1.200 Probanden 78,0 % Metaanalyse 2017 Quelle: Schreiter et al. 2017
Wohnungslose - psychiatrische Prävalenz 60 % 56,9 Wohnungslose 14,7 8,9 6,9 6,9 2,9 2 0 F1 F4 F6 F3 F2 F7 F5 so Ab An Pe Aff Sc Int Ve ns hä gs rs ek hiz el rh tig ng t-/B ön tiv op lig alt es igk ela lich eS hre enz en eit stu ke tör nie m sau its un ind ffä ng störu g . llig ss en k. tör n g un g
Psychische Störungen – erwachsene Wohnungslose Mannheim (Punktprävalenz, n=101) nur Suchterkrankung 34,3 % psychische Störung plus Sucht 21,6 % psychische Störung ohne Sucht 12,7 % keine psychische Störung 31,4 % Datenquelle : Salize et al (2006) Drohende Wohnungslosigkeit und psychische Gefährdung – Prävalenz und Einflussfaktoren bei Risikopopulationen. Der Nervenarzt 77, 1345-1354
Psychiatrisches Versorgungsnetz und Wohnungslosenhilfe Mannheim
Psychiatrische Morbidität Wohnungslose - Mannheim (lebenszeitlich) 100 82,4 % 80 nie Kontakt 60 zur Psychiatrie 46,1 % 40 20 0 Wohnungslose
Risikogruppe: von Wohnungsverlust Bedrohte • Räumungsbeklagte • Mietschuldner • Messies • usw. 2014: bundesweit ca. 172.000 Haushalte bei 50 % Abwendung des Wohnungsverlusts bei 19 % Zwangsräumung bei 31 % „kalter“ Wohnungsverlust
Übersehene Risikogruppen - psychiatrische Prävalenz 60 55,5 % 56,9 Wohnungslose Risiko Wohnraumverlust 27,7 18,8 14,7 13,9 8,9 6,9 6,9 4 2 2,9 1 2 0 F1 F4 F6 F3 F2 F7 F5 so Ab An Pe Aff Sc Int Ve ns hä gs rsö ekt hiz ell rha tig ng t-/B nli iv op ige l t es igk ela ch eS hre nz en eit stu ke tör nie mi sau ng its un nd ffä ss stör ge . llig tör un n k. un g g
Psychiatrische Morbidität Wohnungslose - Mannheim (lebenszeitlich) 100 82,4 % 86,1 % 80 60 46,1 % 43,5 % nie Kontakt nie Kontakt zur Psychiatrie zur Psychiatrie 40 20 0 Wohnungslose Risiko Wohnraumverlust
Primär- und Sekundärprävention es gibt administrative Ansatzpunkte, die psychische Lage dieser Klientel zu verbessern und den weiteren sozialen Abstieg zu verhindern. werden diese genutzt?
Kooperierendes Netzwerk ? Wohnungs- losenhilfe Gemeinde- psychiatrie Soziale Sicherung Arbeits- verwaltung
Verbesserung der psychiatrischen Behandlungsprävalenz bei Personen mit Risiko des Wohnraumverlustes MOTIWOHN Vorgehen: • Rekrutierung von Risikopersonen (Räumungsklage o. Mietschulden plus unbehandelter psychischer Erkrankung) Mannheim in Ämtern für Wohnraumversorgung, Jobcenter etc. • Psychiatrische Diagnostik • Motivierung zur Behandlungsaufnahme • Kontaktherstellung zu psych. Fachdiensten • Motivierende Begleitung Freiburg • Erfolgskontrolle (Monate 6 u. 12) Behandlungsprävalenz Besserung Symptomatik Besserung Wohnsituation Lebensqualität
MOTIWOHN Studiendesign Follow-up - Behandlungsbeginn Intervention (6-8 Wochen) - Behandlungsadhärenz - Lebensqualität - motivational - Empowerment interviewing - Bedarfsdeckung - soziale Unterstützung etc. T0 (baseline) T1 (6 Monate) T2 (12 Monate) Überweisung zu psychiatrischer Einrichtung kontinuierliche motivationale Betreuung
Diagnosen bei Studieneinschluss (n=58) F10 Sucht 15,9 % F20 Schizophrenie 1,7 % F30 Affektive Störung, Depression 25,8 % F40 Angststörung 24,1 % F60 Persönlichkeitsstörung 17,2 % nicht diagnostizierbar (mangelnde Compliance) 15,5 %
Verweisungen an die Studie Überleitung in psychiatrische Fachdienste nach 6 Monaten zugeleitet Job Center 77 130 100 % soziale Sicherung 23 gemeinnütziger Wohnungsbau 7 Wohnungslosenhilfe 7 gesetzliche Betreuer 9 andere 7 kein Einschluss (nicht erschienen, bereits in Behandlung, 72 55,4 % keine Einwilligung, mangelnde Sprach- kenntnisse) Studieneinschluss 58 44,6 % 100 % Dropouts 26 44,8 % Completer 32 55,1 % % Completer % Einschluss Outcome stabilisiert ohne Behandlung 8 25,0 % 13,7 % Suchtambulanz/-tagesklinik 8 25,0 % 13,7 % Psychotherapeut/Psychologe 6 18,8 % 10,3 % Psychiater (ambulant) 5 15,6 % 8,6 % Sozialpsychiatrischer Dienst 2 6,3 % 3,4 % Psychiatrische Institutsambulanz 2 6,3 % 3,4 % Psychiatrische Klinik 1 3,1 % 1,7 %
Schlussfolgerungen aus MOTIWOHN • Risikopersonen sind identifizierbar • individuelles Leid, fachlicher Hilfebedarf und unbehandelte Prävalenz sind hoch • Behandlungseinsicht ist vorhanden oder kann erzeugt werden • Vermittlung in psychiatrische Fachbehandlung gelingt • Wohnungsverlust kann verhindert werden • dauerhafte Behandlungsadhärenz ist noch unbekannt • ebenso der Grad der Symptomreduzierung, sozialer Entlastung und Lebensqualitätssteigerung
Kooperierendes Netzwerk ? Bermuda Dreieck !!!! Wohnungs- losenhilfe Gemeinde- psychiatrie Soziale Sicherung Arbeits- verwaltung
Fragmentierungsbeispiel II Reformstufe III des BTHG ab 1.1.2020 • Herauslösung der Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe: • Eingliederungshilfe wird Fachleistung nach SGB IX „Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen“ • Existenzsicherung bleibt Sozialhilfeleistung nach SGB XII • d.h. formale Trennung von Leistungen für Lebensunterhalt, Kosten Unterkunft usw. (Existenzsicherung) und Fachleistungen wie SPDi, Wohnbetreuung (Eingliederungshilfe)
Reformstufe III des BTHG ab 1.1.2020 Durchführungsfragen vielfach noch ungeklärt, Folgen in der Praxis: • Bezieher von Eingliederungshilfe brauchen obligatorisch ein Girokonto (für Bezug von Sozialhilfe, Rente, Werkstattlohn, Kinder- u. Wohngeld usw.), bedeutet obligate rechtliche Betreuung • Heimbewohner müssen per neuer Vertragsregelung die Kosten für Unterkunft und Verpflegung an Einrichtungsträger rücküberweisen • evtl. Splittung von Einzelleistungserbringung beim gleichen Klient in verschiedene Träger • signifikante Erhöhung von Verwaltungs- und Koordinationsaufwand • Stärkung der Finanzierungsträger, Schwächung von Fachkompetenz • Schaffung neuer Sektoren und Schnittstellenproblemen (ohne Not) • Erhöhung des Risikos der Überforderung von Betroffenen, insb. des Risikos von Wohnraumgefährdung und Wohnraumverlust
Herausforderung BTHG SGB V stationäre Psychiatrie SGB XII & IX komplementäre Psychiatrie • integrierte Versorgung • Desintegration • Überwindung von Sektorengrenzen • Schaffung neuer Sektoren • Flexibilisierung von Schnittstellen • Schaffung neuer Schnittstellen • Entfragmentisierung • Erhöhung der Fragmentierung diametral entgegengesetzte Entwicklungsrichtungen !!!
systemimmanente soziale Marginalisierungsrisiken die gegenwärtige (gemeindepsychiatrische) Praxis • orientiert sich immer noch am Paradigma Schizophrenie • konzentriert sich weiterhin auf chronisch psychisch Kranke („Enthospitalisierte“) • begnügt sich mit der Bewahrung und Verteidigung erreichter gemeindepsychiatrischer Strukturen und Versorgungsstandards anstatt diese fortzuschreiben • verwaltet die soziale Not ihrer Klientel, anstatt das Ziel zu verfolgen, diese zu beseitigen • ist deshalb inflexibel hinsichtlich neuer Herausforderungen
Psychiatrische Belastung der aktuellen Flüchtlingspopulation ca. 20% - 30% affektive und posttraumatische Belastungsstörungen bei ca. 1,66 Mio. Geflüchteten und Asylsuchenden 2013 – 2017 = ca. 330 - 500 Tsd. zusätzliche psychiatrische Patienten
gesundheitspolitische Antwort aktueller Förderschwerpunkt „Forschungsverbünde zur psychischen Gesundheit geflüchteter Menschen“, gestartet 2016, wird mindestens 5 Jahre brauchen, bis er belastbare Ergebnisse bringt, die ab dann erst in den gesundheitspolitischen Diskurs und eingespeist und - wenn überhaupt - implementiert werden können geförderte Projekte fokussieren häufig vermeintlich „moderne“ Versorgungskonzepte (peer-Versorgung, e-mental health) diese priorisieren die traditionelle Akutversorgung und können den Vorwurf der Mangelversorgung und Begünstigung weiterer Ausgrenzung kaum widerlegen
Gewaltzyklen aufgrund unbehandelter Traumata reaktiver Gewaltzyklus: angetrieben durch die Hoffnung, die Bedrohung und die einhergehenden negativen Gefühle zu überwinden appetitiver Gewaltzyklus: genährt durch positives Erleben eigener Gewalt- ausübung, verstärkt durch Drogen und ideologische Rechtfertigung, die wiederum die moralische Hemmschwelle weiter senken
weltweite soziale u. politische Entwicklungstrends • Globalisierung • Verstädterung • Dysfunktionalität ländlicher Regionen • Entzivilisierung und Dehumanisierung • Arbeits-, Elends- und Kriegsmigration • Verringerung von Sozialkapital • Veränderung der Geschlechterrollen • elektronische Revolution der Kommunikation • kybernetische Steuerung von Individuen/Gesellschaft • Konzentration von Reichtum • Anwachsen absoluter und relativer Armut • Krise der Demokratie, Partikularisierung • wachsender Autoritarismus und Autokratismus nach N. Sartorius, 17. EPA Section Meeting Ulm, 2014
hinsichtlich gegenwärtiger und kommender gesellschaftlicher Verwerfungen und den sozialen Folgen für die Klientel fehlt es der Psychiatrie an: • Wahrnehmung, Sensibilität und Verantwortungsbewusstsein • Zielrichtung und Strategie • innerpsychiatrischem Diskurs und Programmatik • Identität Folgen (u.a): • strategische Defensive des Fachs • Politik als eigentlicher Gestalter der Versorgungsrealität • Lückenhaftigkeit und Zufälligkeit der Versorgung • Akzeptanz legislativer und administrativer Ausgrenzung • Vernachlässigung hochvulnerabler Risikogruppen • Perpetuierung von sozialem und psychischem Leid
alle beschriebenen Versorgungslücken und Defizite werden bleiben, erreichten Versorgungsstandard droht eher Ab- als Ausbau, wenn eine fundierte programmatische Debatte und Neu- Identitätsbildung der (Sozial-) Psychiatrie nicht stattfindet. d.h. die Psychiatrie muss gesellschaftliche Herausforderungen wahrnehmen, analysieren, als Zielfelder begreifen und absehbare negative Entwicklungen antizipieren.
Historische Dominanz psychiatrischer Theoriemodelle auf dem Hintergrund des bio-psycho-sozialen Modells - 1950er Jahre Biologie (Lithium-Therapie, Chlorpromazin, Haloperidol) - 1960er Jahre Psychologie/Psychodynamik (Psychoanalyse, R. Laing, Antipsychiatrie etc.) - 1955 - 1980er Sozialpsychiatrie (Faris & Dunham, Chicago-/Midtown- Manhattan-Studie, Dohrenwend, Test & Stein, Psychiatriereform, Gemeindepsychiatrie etc.) - seit 1990 Biologie (Genetik, Biochemie, bildgebende Verfahren) … und was kommt nun ?
Ein Paradigmenwechsel ist unumgänglich bisher - Integration psychisch Kranker in die Gesellschaft bei fehlender Hinterfragung des „Sozialen“ - Verbesserung der Versorgungsstandards künftig - Adressierung des gesellschaftlichen Wertes psychischer Gesundheit - Identifizierung, Bewertung und Bekämpfung psychischer Risikopotentiale in der Gesellschaft parallel zu den bisherigen Reform- u. Versorgungsbemühungen!
alte und neue Paradigmen bisher: Defizitorientierung Integration psychisch Kranker Akuttherapie und Reha Verbesserung der Versorgungsstandards Klientelpolitik (Sozial-) Psychiatrie der Zukunft künftig: Ressourcenoptimierung gesellschaftlicher Wert psychischer Gesundheit Prävention, Gesundheitsförderung Bekämpfung psychischer Risikopotentiale Gesellschaftspolitik
gesellschaftspolitische Sub- und Metathemen Kognition (fake news, Verschwörungstheorien usw.) Gier, Suchtverhalten Angst Autoritarismus sind entscheidende Faktoren in der derzeitigen politischen Auseinandersetzung und weltweiten gesellschaftlichen Entwicklung Wer ist der Spezialist für diese Felder ?
gesellschaftspolitische Sub- und Metathemen die wichtigste gesellschaftliche Ressource sind nicht Rohstoffe, klimaneutrale Industrien, reine Luft oder Grünflächen, sondern es ist die psychische Gesundheit !
Die Psychiatrie muss wieder politisch werden ! Philippe Pinel befreit 1793 in der Bicêtre die Kranken von ihren Fesseln Gemälde von Charles-Louis Mullet Sekundär-Bildquelle: Wikipedia
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